Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Sufi-Mystiker Rumi ist einer der bedeutendsten persischen Dichter. In diesem Jahr erinnern sich seine Anhänger weltweit an seinen 750. Todestag. Bekannt geworden ist er insbesondere durch seine sinnlich-erotische Liebeslyrik und die wirbeln-den Derwische. Die Faszination für ihn ist bis heute ungebrochen. Seine eingängigen Verse sprechen das Elementare des Menschlichen an: die Fragen nach dem Sinn des Daseins und die Erfüllung von tiefen Sehnsüchten. Viele spirituell Suchende finden heutzutage bei ihm Antworten, die sie ermutigen und weiterführen. Michael Gmelch hat Sufi-Mystiker in verschiedenen Ländern besucht. Dabei fragt er: Welchen Beitrag können sie im Sinne eines interreligiösen Dialogs nicht nur für die Kir-chen, sondern auch für spirituell Interessierte leisten, die Gotteserfahrungen woanders suchen?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 306
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Michael Gmelch
Wirbeltanz im Wartesaalder Ewigkeit
Michael Gmelch
Im Dialog mit Rumiund der Sufi-Mystik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
1. Auflage 2023
© 2023 Echter Verlag GmbH, Würzburg
www.echter.de
Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen
Umschlagbild: © Chung Hao-Lee/Shutterstock
Innengestaltung: Crossmediabureau
E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de
ISBN
978-3-429-05880-7
978-3-429-05286-7
978-3-429-06629-1
Dank
Geleitwort
Die 18 Eingangsverse aus dem Mathnawi
Hinführung
„Wir haben gehört, Gott ist mit euch“ – Gott suchen mit anderen: ein Ortswechsel
Vor der Begegnung mit dem Sufismus: Theologie an einem „Anders-Ort“
Rumi und der Sufismus
Popularität und Aktualität von Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī
Was versteht man unter Sufismus?
Begegnungen mit dem Sufismus in Deutschland, Indien, Türkei, Usbekistan und Bulgarien
Nürnberg – tanzende Derwische in einem Sufi-Konvent
New Delhi – Ein Abend in der Dargah von Nizamuddin Auliya
Istanbul – Derwischtanz und Sufi-Musik an einem „Anders-Ort“
Buchara – Ursprung der „Schweigenden Derwische“
Plovdiv: Der Weg zu Gott führt durch die Küche
Konya – Rumi und der Tod als Hochzeitsnacht
Rumi – Biographie, Charakteristik seiner Dichtkunst, historische Einordnung
Rumis Biographie als hermeneutischer Schlüssel für seine Mystik
Rumi – ein orientalischer Wortmagier: Lesen, Deuten und Verstehen
Mystik in epochalen gesellschaftlichen Umbrüchen: das 13. Jahrhundert
Tropfen aus Rumis mystischem Ozean
Liebe und Gotteserkenntnis: Als Erotik noch von Allah gewollt war
Gott näher als die Halsschlagader: ein „Anders-Ort“ in uns
„Unser Abenteuer ist größer!“ Von Gottesliebe, glücklicher Lebensführung und der Institutionskritik der Seelenschmiede
Das Lied der Rohrflöte: Die Einleitung zum Mathnawi
Lachen verboten? Sufismus kann Humor
„Wenn ein Papagei entflogen ist, was tue ich dann mit dem Käfig?“
Von Liebe berauscht: Quantenphysik, ein göttlicher Mundschenk, biblischer Gratiswein und ein Rotweinbrunnen
Interreligiöser Dialog und pastoralpraktische Zukunftsperspektiven
„Religion matters“: Perspektiven zum interreligiösen Dialog
„Die Welt verschwindet, aber Gott bleibt“ (Rumi) – Zukunftsoffene Mystik in Kirche und Sufismus
Zu guter Letzt
Anmerkungen
Vielmals danke ich Herrn Abdulhasib Hakim. Er ist Afghane, kommt also aus dem Land, in dem Rumi geboren wurde. Hakim ist Lehrer für Farsi und Arabisch am Bundessprachenamt in Hürth. Neben dem Koran stehen auch Werke von Rumi selbstverständlich in seiner Hausbibliothek. Ebenso danke ich Herrn Oberstleutnant Jörg Meene, damals in Vorbereitung zu seiner jetzigen Verwendung als Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Teheran. In unserer kleinen aber effektiven Arbeitsgemeinschaft haben wir zu dritt viele der in diesem Buch verwendeten Texte Rumis aus dem Persischen ins Deutsche übertragen und vor dem Hintergrund seines Gesamtwerks interpretiert. Dr. Alberto Fabio Ambrosio, Spezialist für die Geschichte des ottomanischen Sufismus, Professor an der „School of Religion & Society“ in Luxemburg, danke ich für seine freundliche Unterstützung im Blick auf die Konzeption dieses Buches.
Vor dem Hintergrund vielfältiger Erfahrungen und Begegnungen führt uns Michael Gmelch detailreich, anschaulich und sachkundig in den Sufismus ein. Man kann den Sufismus als die Mystik des Islams bezeichnen. Er ist gleichsam die spirituellste Dimension dieser Religion, die dem Westen so viel Angst macht.
Michael Gmelch geht wesentlich über die formale Darstellung der facettenreichen Architektur des Sufismus hinaus. Er wagt eine intensive Auseinandersetzung mit seiner eigenen spirituellen Tradition. Er interpretiert den Sufismus und insbesondere Rumi (1207–1273), den großen mystischen Dichter des Islam, mit der Absicht, etwas für das Eigene zu lernen und Impulse für ein spirituelles Weiterdenken zu setzen. Er fragt: Wie kann das zentrale Thema der Liebe neu so buchstabiert werden, dass es die Herzen der Menschen im Sinne einer reflektierten Innerlichkeit erreicht und ihr Handeln transformiert? Dies gilt insbesondere für jene Christen und andere Zeitgenossen, die sich zwar universal dünken, aber jeden Tag in Gefahr laufen, sich in falschen Überzeugungen und kleinkarierten Vorurteilen zu verfangen.
Der dazu erforderliche Dialog, den der Autor führt, ist weit davon entfernt, sich nur auf einen rationalen Austausch zu beschränken, bei dem am Ende der Diskussion die Beteiligten wieder auseinandergehen, ohne auch nur im Geringsten etwas an ihrer eigenen Position und Denkweise verändert zu haben. Ein echter Dialog kann sich nicht darauf beschränken, nur die Version der anderen Weltanschauung zur Kenntnis zu nehmen. Und er kann vor allem nicht nur in Konferenzsälen stattfinden. Diese Art von interreligiösem Dialog hat sich schon seit mehreren Jahren als gescheitert erwiesen, denn er hat den Charakter von etwas Künstlichem, das nur für Spezialisten bestimmt ist. Dadurch wird er marginalisiert. Ich bezeichne das als eine „Industrialisierung“ der Spiritualität. Die religiösen Gemeinschaften, die Alltagschristen genauso wie die Alltagsmuslime verlangen nach etwas Wahrem und Authentischen. Nur das kann verhindern, dass überall in Europa die Spannungen und Missverständnisse zwischen den Religionsgemeinschaften weiter zunehmen und in kriegerischen Konflikten ausarten.
Michael Gmelch bringt den Mut auf, Rumi, seine Spiritualität und den Sufismus im Allgemeinen als Grundlage für einen intra-religiösen Dialog zu nutzen. Diesen prägnanten und in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreichen Begriff verdanken wir dem Theologen und Religionsphilosophen Raimon Pannikar (1918–2010). Der erste Schritt eines solchen Dialogs besteht darin, sich selbst zu verändern. Er gelingt, wenn man nicht davor zurückschreckt, eine andere Religion in einer Art und Weise wertzuschätzen, dass sie einem dabei hilft, die eigene besser zu verstehen und sich zu ihrem ursprünglichen Wesen zu bekehren. Beispiele dafür gibt es viele. Unter anderen ist hier Louis Massignon (1883–1962) zu nennen. Er gehörte zu den bedeutendsten französischen Orientalisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er fand deshalb zum christlichen Glauben zurück, weil er während seiner Krankheit im Irak glaubwürdigen Muslimen begegnete. In der Tat: Die interreligiöse Freundschaft kann einen auf dem Weg der eigenen Bekehrung voranbringen. Der Autor des Buches bringt den Sufismus nicht nur mit der christlichen Reflexion ins Gespräch, sondern vertieft darüber hinaus die Mystik mit Erkenntnissen der Neurophysiologie. Er tut das aus der Überzeugung, dass die innere Weisheit, die Spiritualität und das wahre Wohlbefinden sich nur vor dem Hintergrund der Konzeption einer psychosomatischen Ganzheit verwirklichen lassen.
Wie könnte man allerdings über all dem vergessen, dass sich über uns der Himmel wölbt und dass es in diesem Himmel eine Sonne gibt! Es sind ganz einfache Symbolbilder, die Rumi in seiner mystischen Poesie in allen möglichen Varianten verwendet, um zu erklären, was das innere Leben der Liebe bedeutet. Er lehrt uns, dass die Spiritualität heute wieder zu etwas Wesentlichem und Einfachen zurückkehren muss. Dies tut der Autor dieses Buches mit Bescheidenheit und Kompetenz. Seine Texte werden die Leserinnen und Leser in vielerlei Hinsicht bereichern. Rumi wird dabei ein großartiger Begleiter auf dieser Lesereise sein, ähnlich wie Vergil zum Begleiter von Dante auf dessen Initiationsreise in der „Göttlichen Komödie“ wurde. Diese Reise hat einen herausfordernden Charakter, denn: „Rumi hätte relativ leicht in die Koordinaten seiner früheren Lehrtätigkeit und Lebensweise zurückkehren und so die traditionellen bürgerlichen Erwartungen vieler erfüllen können. Hätte er das getan, wäre er längst vergessen!“
Das Buch nimmt die Möglichkeit einer inneren spirituellen Transformation ins Visier, die sich im alltäglichen Handeln beweist. In seinem großen mystischen Lehrwerk Mathnawi, dessen berühmte erste achtzehn Verse Gmelch kommentiert, behauptet Rumi, dass das Hören zur Vision wird. Das ist eine bislang wenig beachtete Einsicht. Intensives inneres Hören verwandelt sich in Sehen. Wenn wir bewusst und anders als gewohnt hören und sehen, wird sich auch unsere Alltagsethik verändern. Rumi ist es in seinem Leben wie in seiner Lehre gelungen, das Hören, also die orientalisch geprägte biblische Spiritualität, mit dem Sehen, also die analytische Reflexion der griechisch-westlichen Welt, zu verbinden. In diesem Sinn ist er ein begnadeter Mentor, der uns für Wesentliches im Leben und für den Elan der Liebe sensibilisieren kann, deren friedensstiftendes Potential in einer von Konflikten und Kriegen geprägten Welt immer notwendiger wird. Dank des Buches von Michael Gmelch kann Rumi letztlich auch ein Inspirator für Christen und andere Sinnsucher werden, die sich den Herausforderungen einer unerlässlichen spirituellen Erneuerung stellen.
Alberto Fabio Ambrosio
Professor an der „School of Religion & Society“ in Luxemburg
Hör zu, wie dieses Schilfrohr sich beklagt,
wie es von seinem Trennungsschmerz erzählt:
„Seit man mich abgeschnitten hat vom Röhricht,
klagt Mann und Frau in meinen Flötentönen.
Ein Herz, zertrümmert von der Trennung, wünsch ich,
damit ich ihm vom Sehnsuchtsschmerz berichte.
Wer immer fern von seinem Ursprung weilt,
sucht nach der Zeit, da er mit ihm noch Eins war.
In alle Kreise trug ich schon mein Klagen,
gesellte mich zu Gut- und Schlechtgestellten;
ein jeder wähnte gleich, mein Freund zu sein,
und suchte nicht in mir drin mein Geheimnis.
Und dieses ist nicht fern von meinem Klagen,
doch Aug und Ohr fehlt es an der Erleuchtung;
Seele und Körper trennen keine Schleier,
doch keiner darf die Seele jemals schauen.“
Der Flöte Klang ist Feuer und nicht Atem.
Wer es nicht hat, dies Feuer, schleich sich fort!
Der Liebe Feuer lodert in der Flöte,
der Liebe Gären brodelt in dem Wein.
Wer fern vom Freund ist, ist der Freund der Flöte,
ihr Lied riss uns die Schleier stets entzwei.
Wer sah ein Gift und Gegengift wie sie?
Wer einen sehnsuchtsvollen Freund wie sie?
Von Straßen voller Blut erzählt sie uns
und von dem Liebeswahnsinn des Madschnun.
Nur wer von Sinnen, weiß um diesen Sinn,
die Zunge hat als Kunden nur die Ohren.
In unserm Kummer werden lang die Tage,
sie gehn mit heißem Schmerz im gleichen Schritt.
Vergehn die Tage, sag: „Geht fort, was schert’s mich!
Du aber bleib, Du bist so rein wie keiner!“
Jeden ertränkt Sein Wasser, nur den Fisch nicht;
dem sind die Tage lang, dem’s täglich Brot fehlt.
Der Rohe kann den Reifen nicht verstehen,
deshalb sei meine Rede kurz. – Salam!1
„Vergessen Sie mir die Mystik nicht!“ Diesen Satz legte mir ein Philosophieprofessor am Ende meines Studiums ans Herz. Ich war einer seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter und reichte bei ihm meine Diplomarbeit über Meister Eckhart ein, bevor ich eine Promotion in Pastoraltheologie begann. Vergessen habe ich die Mystik nicht wirklich. Immer mal wieder habe ich bei Johannes Tauler, Heinrich Seuse, Jabob Böhme, Hildegard von Bingen oder auch bei Charles de Foucauld „reingeschaut“. Die Mauern der „Seelenburg“ der Teresa von Ávila waren mir im Berufsalltag jedoch viel zu dick und die „Dunkle Nacht“ des Johannes vom Kreuz zu undurchdringlich. Mystik erschien mir eher wie ein Luxusthema. Damit ist auch schon das Fatale unserer kirchlichen Pastoral vielerorts, aber auch unseres Lebensstils im Allgemeinen angedeutet. Die Franzosen sprechen hier von „tourner la boutique“. Der Laden muss am Laufen gehalten werden mit allerlei Aktivitäten von früh bis spät. Die Verantwortlichen rotieren immer mehr in den aus Personalmangel errichteten XXL-Gemeinden der pastoralen Großräume. Sie teilen damit die berufliche Situation vieler, denen es ähnlich ergeht: in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Handwerksbetrieben oder anderen Institutionen, in denen Arbeitsverdichtung, Leistungsdruck und Personalmangel Hand in Hand gehen. Im Rotieren, im Hamsterrad geht schnell und unmerklich das „innerste Pünktlein“ verloren, von dem Mystiker wie Meister Eckhart sprechen. Gemeint ist damit nicht nur das seelische Gleichgewicht, sondern die uns tragende und umfassende göttliche Wirklichkeit. Wo diese abhanden kommt, drehen viele erschöpft, müde, resigniert und ausgebrannt buchstäblich „am Rad“, das keine Mitte mehr hat. Dann tourt man nur noch um die vulnerabel gewordene eigene Achse. Man erhöht zwar die Drehzahl, aber ohne wirklich voranzukommen.
Genau diese Diagnose wird der katholischen Kirche seit Jahren gestellt: Sie drehe sich nur noch um sich selbst, vervielfältige Kommissionen und Ausschüsse, verstärke den Papierausstoß und setze zunehmend mehr auf fromme klassische Formate. Erneuerungsversuche blieben aber im Blick auf die breite Masse weitgehend erfolglos. Selbstkritisch wird kirchenamtlich konstatiert, dass das Bedürfnis nach einer pluralen Spiritualität noch nie so groß gewesen sei. Deshalb müsse man gewohnte Grenzen überschreiten und nach neuen Wegen suchen – auch im Sinne des Dialogs mit anderen Formen des Religiösen oder anderen Religionen.1
Die Aufforderung des Propheten Jesaja: „Mach den Raum deines Zeltes weit“ (Jes 54,2)2 bedeutet heute in theologischer Hinsicht, sich auf die Suche nach der Wahrheit der anderen zu begeben! Und dies in der Absicht, die der deutsch-iranische Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani so beschreibt: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“3 Im Sinne des angesprochenen kirchlichen Narrativs vom „Suchen nach neuen Wegen“ wäre es zielführend, lernbereit in das Gespräch mit jenen zu treten, die bereits etwas gefunden haben. Dies erfordert zwei Fähigkeiten, die zu den Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts gehören: religiöse Dialogfähigkeit und interkulturelle Kompetenz. Es gilt, an den Fremden und mit ihnen etwas zu lernen für das Eigene und für das Gemeinsame, das gerade bei Christen und Sufi-Mystikern eine große Schnittmenge aufweist. Dies zu betonen ist mir deswegen ein Anliegen, weil der öffentlich ausgetragene Diskurs zwischen Christentum und Islam, besonders in den sozialen Medien, oft einem Stellungskrieg ohne Landgewinn gleicht. Er wird von Hasspredigern genauso geführt wie von westlichen Polit-Strategen, die den Islam zum Feindbild stilisieren. Wenn man vorankommen will, muss man im Sinne Kermanis über den eigenen Schatten springen und die bisherigen Verteidigungslinien aufgeben.
Warum beschäftige ich mich als katholischer Theologe gerade mit Rumi und dem Sufismus und nicht etwa mit einem „eigenen“ Mystiker? Dies hat eine Reihe von biographischen Motiven. Begegnet bin ich Rumi in englischen Teilübersetzungen seines Werks zum ersten Mal in New Delhi während meiner dreijährigen Zeit als Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Indien. Später folgten Studienreisen, die ich als Dozent für interkulturelle Kompetenz und religiöse Dialogfähigkeit u. a. mit Studierenden der Universität der Bundeswehr in München durchführte. In den Kontakt mit Derwischen und dem Sufismus kamen wir in Istanbul und in Usbekistan. Private Reisen haben mich in Länder mit starker muslimischer Präsenz geführt. Nicht zuletzt spielt meine Auseinandersetzung als Mitglied der Priestergemeinschaft Jesus Caritas mit der Wertschätzung des Islam durch Charles de Foucauld (1858–1916) eine Rolle. Er gilt als einer der „Pioniere“ des interreligiösen Dialogs mit dem Islam.4 Bei seiner Forschungsreise durch Marokko im Auftrag der Geographischen Gesellschaft von Paris war er zutiefst fasziniert vom Glauben der Muslime, insbesondere der Sufi-Mystiker. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass er sein Wissen gerade über die Sufis durch den brieflichen Austausch und die persönlichen Gespräche mit seinem Freund Louis Massignon (1883–1962) vertiefte.5 Dieser war in den Anfangszeiten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung des Westens mit der muslimischen Welt einer der bedeutendsten französischen Arabisten und Islamologen. Er schrieb damals seine Dissertation6 über den Sufi-Mystiker Al Hallāj (857–922), der in Bagdad als Häretiker hingerichtet wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde Foucaulds Islamverständnis auch von ihm beeinflusst.7
Die tatsächliche Brisanz des Dekretes „Nostra Aetate“, dem kürzesten und – für damalige Verhältnisse – mutigsten Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seiner radikalen Kehrtwende anderen Religionen gegenüber, ist mir in multireligiösen Begegnungen vor Ort erst richtig bewusst und wichtig geworden. Es gilt bis heute als die „Magna Charta des katholisch-islamischen Dialogs“.8 Mit „aufrichtigem Ernst“ wird all das anerkannt, was in anderen Religionen (insbesondere werden die Muslime (!) genannt) „wahr und heilig“ ist. Es geht darum, die „Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern.“9 Der darin enthaltene Auftrag zum interreligiösen Dialog gehört seither nicht mehr nur zur Kür, sondern zur Pflicht eines katholischen Christseins ohne Scheuklappen! Seither treibt mich eine theologische Leidenschaft dazu an, einen Beitrag in jenen Bereichen zu leisten, in denen „wir uns ähnlich sind“ (vgl. Konzilsdokument Nostra Aetate 1). Ich teile die Auffassung von Alberto Ambrosio, dass es gerade die sufistische Ausprägung des Islam mit ihren spirituellen, künstlerischen, ästhetischen und sozialen Dimensionen ist, die heute die größten Fähigkeiten besitzt, sich mit den Gläubigen anderer Religionen und der gegenwärtigen Gesellschaft auszutauschen.10 Diese Verständigung auf den unterschiedlichen Ebenen unserer Gesellschaft ist enorm wichtig. Die Tatsache, dass die Theologische Fakultät Trier seit kurzem einen Masterstudiengang „Interreligiöser Dialog“ eingerichtet hat und sich die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart schon seit Jahren einen eigenen Fachbereich „Interreligiöser Dialog“ zusammen mit dem Projekt „Islam-Beratung“ leistet, nenne ich als stellvertretende Beispiele dafür, dass dieses Anliegen inzwischen auch in kirchlichen Aus- und Weiterbildungstätten zusätzlich zu universitären Lehrstühlen für Islamwissenschaft bzw. islamische Theologie angekommen ist.
Wer sich mit einem islamischen Mystiker beschäftigt, muss sich klar darüber sein, dass er sich auf ein gesellschaftlich wie kirchlich schwieriges Terrain begibt. Das konfliktuelle Beieinander oder Gegeneinander von Christen und Muslimen ist keine neue Erscheinung: Seit es den Islam gibt, wurde er vom Zusammentreffen der beiden Weltreligionen bestimmt. Wohin immer er sich ausbreitete, fast immer waren die Christen schon da oder kamen ebenfalls dorthin. Der Angst vieler Muslime vor der Ansteckung mit einer immer wieder kolportierten westlichen Dekadenz entspricht auf der anderen Seite die Angst vor der Islamisierung Europas. Die zunehmende wechselseitige Durchdringung der islamischen Welt und des Westens im Zeichen von weltweiter Migration, Rückkehr der Geopolitik und ökonomischer Globalisierung macht beide Seiten nervös. Muslime sehen sich als Opfer einer feindseligen Stimmung. Es existieren nicht nur – zum Teil durch muslimischen Terrorismus verursachte – islamophobe Ressentiments, sondern bei vielen noch immer oder wieder neu aufkochend, Gefühle einer (postkolonialen) europäisch-christlichen Überheblichkeit. Gemeint ist damit, dass „wir im Westen“ für uns – eben zu Unrecht und aufgrund einer Reihe von einseitigen (historischen, kulturellen, politischen, bildungsmäßigen, theologischen etc.) Argumentationen – eine höhere Ethik, eine entwickeltere Humanität, eine bessere Theologie und Glaubensweise reklamieren. Und dass wir von „den anderen“ – eben den Muslimen –, von denen populistische Warnrufer meinen, dass sie „gerade wieder einmal im Vormarsch“ seien – im Grunde doch wohl nichts zu lernen hätten.
Das Verhältnis der Europäer gegenüber dem Islam war und ist von starken Ängsten und Vorurteilen bestimmt, die durch jeden terroristischen Anschlag und jede Gewalttat neu befeuert werden. Der Islam fungiert gewissermaßen als Gegenbild aufgeklärter europäischer Werte und wird bzw. wurde entsprechend verteufelt. Und dies nicht erst seit den Anschlägen vom 11. September, sondern schon im Verlauf einer langen Geschichte der europäisch-orientalisch/islamischen Beziehungen, die bis ins frühe Mittelalter zurückreichen.11 Ein Beispiel dazu bietet die Darstellung des Propheten Mohammed in der Basilika S. Petronio in Bologna. Auf dem berühmten, zu einer Touristenattraktion gewordenen Fresko „Das Jüngste Gericht“ von Giovanni da Modena (1415), wird Mohammed – deutlich mit seinem Namen gekennzeichnet – völlig nackt in der Hölle von einem Dämon gequält. Die Hypotheken auf beiden Seiten sind beträchtlich! Hier ist ein gewaltiger historischkritischer Aufklärungsbedarf anzumelden. Um potentiellen Verdächtigungen hinsichtlich einer Einstellung von ideologischer Naivität, einer „political correctness“ auf dem Hintergrund einer Multi-Kulti-Gesellschaft oder der Romantisierung des Orientalischen vorzubeugen, gilt für mich selbstverständlich, dass auch das Trennende, das Unverständliche, das Irritierende und Nichtakzeptable auf der Basis des gemeinsam anzuerkennenden Rechtsraums des Grundgesetzes und der europäischen Verfassung in den Dialog und die Auseinandersetzung gehören.
Das intensive Studium von Rumis Texten und anderer Sufi-Mystiker führte mich zu einer überraschenden Entdeckung: Wie groß ist doch – zumindest auf literarisch-theologischer Ebene – die Schnittmenge unserer Übereinstimmungen! Etwas ganz anderes als akademische Dialoge auf Augenhöhe, die ich bei interreligiösen Tagungen im In- und Ausland erleben konnte, sind persönlich bereichernde Begegnungen, in denen einer den anderen achtet wie sich selbst. Genau solche Erfahrungen habe ich nicht nur mit Angehörigen unterschiedlicher Religionen in Indien gemacht, sondern in besonderer Weise mit muslimischen Freunden in Nordafrika, die als Beduinen meine spirituellen Kameltouren in der Sahara begleiteten. Sie wirkten auf mich wie Fremdpropheten, durch deren Art des Umgangs mit uns wir anders ausgerichtet werden, als durch die heimischen Buch-Gelehrten. Im Spiegel der anderen können wir das Eigene besser sehen. Gerade deshalb übernehme ich mit Absicht Aussagen von christlichen Mystikern und stelle sie neben Zitate von Rumi und anderen Sufi-Theologen. Anhand dieser Querverweise möchte ich im Sinne einer interspirituellen Perspektive zeigen, wie ähnlich sich diese Konzepte sind, bei allen bleibenden Differenzen. Neuere Forschungen verdeutlichen beispielsweise den Zusammenhang zwischen Sufismus und Meister Eckhart oder Johannes vom Kreuz.12 Aus dem großen Schatz der Poesie christlicher und islamischer Mystik ergeben sich viele Parallelen in den Symbolen, Metaphern, Bildern und allegorischen Darstellungen. Das Bewusstsein für eine Verbundenheit der Mystiker über dogmatische Grenzen hinweg wächst und eröffnet Chancen für weiterführende Gesprächsmöglichkeiten.
In Europa leben derzeit ca. 50 Millionen Muslime, Tendenz steigend. Eine zahlenmäßig starke muslimische Minderheit wird es in auch Deutschland in Zukunft geben. Daher gibt es zum Dialog zwischen Minderheit und Mehrheitsgesellschaft keine Alternative. Dieser Dialog muss das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Religionen, aber auch mit nichtreligiösen Menschen zum Ziel haben. Heute wird die Mystik verstärkt als Kern der Religionen und als Brücke zwischen ihnen bezeichnet. Schön wäre es, würde dieses Buch einen kleinen Beitrag für den Religionsfrieden leisten, wie ihn Hans Küng in seinem Projekt „Weltethos“ beschreibt: „Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen. Kein Friede unter den Religionen ohne Dialog unter den Religionen.“ Das ist derzeit auf dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse keine leichte Aufgabe und wird es auch in Zukunft nicht sein.
Ich lege in diesem Buch vor, was mich seit vielen Jahren in Anspruch genommen und fasziniert hat: die Mystik, Rumi, der Sufismus und der Orient. Sich über Rumi und seine mystische Poesie bzw. seine poetische Mystik zu äußern, führt in ein riesiges Labyrinth aus Ansichten, Fragen und einander widersprechenden Antwortversuchen. Ich halte es hier mit Annemarie Schimmel, der „Grande Dame“ der Orientalistik: „Über den Sufismus oder die islamische Mystik zu schreiben, ist fast unmöglich. Beim ersten Schritt erscheint einem eine ausgedehnte Bergkette vor Augen, und je länger man den Pfad verfolgt, desto schwieriger scheint es, überhaupt irgendein Ziel zu erreichen.“13 Das Mystische ist das Eine, ohne das im Leben und im Glauben so vieles unbedeutend und unverständlich bliebe. Darüber verfügen können wir nicht. Was es im Letzten ist, wie wir es aufnehmen und zu vermitteln versuchen, das ist in epistemischer Eindeutigkeit kaum darzustellen. Wer sich daran versucht, macht sich angreifbar. Vermeintliche Gewissheiten gib es nicht und die Suchbewegungen werden weitergehen. In diesem Zusammenhang verweise ich auf eine sich selbst bescheidende Lebensweisheit des Apostels Paulus, die ich für mich in Anspruch nehme: „Ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte“ (Phil 3,13).
Dieses Zitat Rumis auf einer Holztafel in Konya bedeutet für mich, meine Absichten klar zu machen. Dies gilt um so mehr, wenn ich als katholischer Theologe in einen Dialog mit Rumi trete, der als einer der exponiertesten muslimischen Dichter und Mystiker des Sufismus gilt. Es geht mir bei diesem Unterfangen nicht primär um meine Kirche, selbst wenn ich von diesem hermeneutischen Stand- und Startpunkt aus meine eigene real existierende ekklesiale Realität sowie deren theologische wie spirituelle Tradition in kritischer Perspektive stets mitbedenke und am Ende dorthin zurückkehre. Wie bei einem großen Bühnenstück tauchen aus dem kirchlichen Hintergrund, manchmal auch eher von der Seite her, gewisse Themen in Form von Protagonisten auf, von denen ich den einen oder anderen stärker beleuchte, andere belasse ich im Dunkeln. Dialog bedeutet, in gegenseitiger Verschränkung Argumente und Gegenargumente einzubringen und am Ende die gewonnenen Erkenntnisse weiterführend auf das Eigene zurückzuspiegeln. Es muss einen konstruktiven Output geben. Ansonsten wäre alles zwar freundlich und interessant gewesen, in gewisser Weise dann aber auch beliebig und bliebe im Schöngeistigen hängen. Von da aus versteht sich auch der Aufbau meines Buches. Eine Anmerkung möchte ich zur induktiven Vorgehensweise machen, die mir als Pastoraltheologe eigen ist und die sich in der Gliederung widerspiegelt. Im Sinne einer explorativen Theologie habe ich mich mit gewissen Vorkenntnissen auf die Reise begeben und mich mit zunehmendem Wissen und Erfahrungen auf weitere Orte und Begegnungen eingelassen. Erst dann und auf der Basis dieser Erkenntnisse habe ich mich intensiver mit der Person und Biographie Rumis, mit seinem Werk, seiner Geschichte und den historischen Zusammenhängen des Sufismus beschäftigt.
Grundsätzlich habe ich die Absicht, den für viele weitgehend unbekannten Sufismus vertrauter zu machen und den theologischen Horizont zu weiten. Durch die inhaltliche Nähe zwischen christlichen und sufistischen Mystikern möchte ich dazu beitragen, Berührungsängste auf beiden Seiten zu reduzieren und zu dialogischen Begegnungen ermutigen. Überlegungen zum interreligiösen Dialog sind dazu unerlässlich! Das Buch richtet sich an religiös suchende und offene Menschen jedweder Denomination, an Interessierte am muslimisch-christlichen Dialog, an kirchliche wie nichtkirchliche Christen, an Muslime und Sufis, an Rumi-Liebhaber, an Freunde des Sufismus und der Mystik. Schließlich ist es ein Beitrag zum 750. Todesjahr Rumis (1207–1273), dessen hoch angesehenes dichterisches Werk zum Weltkulturerbe gehört, aber in theologischer Perspektive zumindest im deutschen Sprachraum bislang relativ wenig beachtet wurde. Das Bedeutsame der folgenden Texte wird nicht so sehr das sein, was ich an bestmöglichem Wissen und Erfahrungen hineinlege, sondern weit mehr das, was Leserinnen und Leser darin von sich selbst wiederfinden und als Inspiration zu persönlichem Weiterdenken und Weitergehen nutzen können.
Aufgrund der einfacheren Lesbarkeit verzichte ich in der Regel auf Gendersternchen, auf geschlechtsbezogene Suffixe oder Doppelungen. Ich unterstütze das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und includiere stets (m/w/d), ohne die Begriffe linguistisch zu markieren.
Soweit die Fundorte von Zitaten quellenmäßig belegt sind, zeige ich sie an. Sehr viele Stellen sind im Internet oder in der Sekundärliteratur ohne Belege aufgeführt. Oft sind es Rückübersetzungen ins Deutsche, die vielfach auf Übersetzungen aus dem Persischen ins Englisch oder Französische beruhen. Es war mir unmöglich, mich in den Zigtausenden von Rumis Versen – noch dazu in unterschiedlichen Übersetzungsvarianten – auf die Suche nach dem richtigen Fundort zu begeben und diese dann in der Originalsprache zu überprüfen.
Begriffe aus dem Persischen, Arabischen oder Türkischen werden in der deutschen Literatur in unterschiedlich möglichen Transkriptionen dargestellt, die ich als solche übernehme. Das bedeutet, dass ein und dasselbe Wort anders geschrieben werden kann, wie z. B. Mathnawi, Masnawi, Mesnevi, Masnawī, manchmal mit und manchmal ohne das Makron (diakritisches Zeichen zur Kennzeichnung der besonderen Betonung eines Vokals) oder weiteren Vokalphonemen. Die geschätzten Orientalisten, Iranisten und Arabisten bitte ich um geflissentliche Nachsicht.
„Gott selbst ist es, der unsere Verhältnisse gründlich aufmischt, um uns auf Neuland zu locken“1. Diesen Satz formulierten die deutschen Bischöfe im Jahr 2004. Das ist jetzt fast zwei Jahrzehnte her. Die Umbruchszeit wurde als eine „Gnadenzeit“ betitelt, die „Lust zur Innovation“ machen sollte. Abschied also vom Gewohnten – Aufbruch ins Neuland! Wo aber liegt dieses? Jedenfalls nicht in den bisherigen binnenkirchlichen Gefilden! Der Euphemismus hat angesichts der erdrutschartigen Kirchenaustritte nicht funktioniert. Die Datenlage ist von den Soziologen ausgiebig erforscht, aber das praktische Kirchenleben geht weiter, als gebe es die desaströsen Entwicklungen nicht. Außer Maßnahmen zu flächendeckenden Restrukturierungen „im alten Land“ ist nicht viel passiert. Da kann ein Restaurantbesitzer die Außenfassade noch so hübsch aufstylen. Wenn drinnen die Küche nicht stimmt, gehen die Leute eben anderswo zum Essen. Inzwischen ist längst eingetreten, was die Bischöfe vor zwei Jahrzehnten befürchteten: „Wir sind dabei, unser kostbarstes Erbe zu verschleudern: Gott zu kennen“2. Der weitgehende Plausibilitätsverlust der Wirklichkeit Gottes wird allenthalben konstatiert. Die Gottesfrage ist für viele obsolet geworden.
Auf einem Studientag zur Zukunft der Kirche formulieren die Bischöfe im Jahr 2021: „Alles hängt davon ab, ob heute und morgen der Christ eine solche ‚mystische‘ Erfahrung macht und ob diese im kirchlichen Leben und in den christlichen Gemeinschaften ermöglicht und von ihnen getragen wird.“3 Dass „alles davon abhängt“ ist eine starke Aussage! In ihr schwingt so etwas mit wie der Mut der Verzweiflung, nach dem Motto: Jetzt oder nie! Es ist eine richtige Erkenntnis, allerdings bislang ohne Umsetzung. Schon vor über fünfzig Jahren hat der Neutestamentler Hans-Josef Klauck auf die Misere hingewiesen, dass sich die Trennung von Theologie und Mystik zu einem sich ausschließenden Gegensatz ausgeweitet hat, der letztendlich dazu führte, dass die Mystik ganz versiegte und nur noch in einigen Trümmern in frömmelnder Erbauungsliteratur ein kümmerliches Dasein fristete. Diese Entwicklung sei „für die Kirche eine echte Verarmung“4. Dabei sollte sie doch Geburtshelfer der „Gottesgeburt im Menschen“ sein, wie es Meister Eckhart ausdrückte. Inzwischen ist es jedoch so, dass amtliche Vertreter und Vertreterinnen der Kirchen zunehmend keine derartigen Erfahrungen mehr zugänglich machen können, weil sie selber keine haben. Zitatensammlungen von Mystikern in Predigten, Lektürekreise, universitäre Vorlesungen oder Akademietagungen über deren Texte bewegen sich auf der Meta-Ebene. Genau das hat Meister Eckhart moniert: „Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott“5.
Es ist längst an der Zeit, einen ressourcenorientierten interspirituellen Ansatz im Verbund mit anderen Religionen zu forcieren. Das bedeutet, tatsächlich einen Ortswechsel vorzunehmen, „Neuländer“ zu betreten und zu fragen: Wie können wir uns im Blick auf mystische Erfahrungen gegenseitig stärken? Wo können wir an den Erkenntnissen „der anderen“ partizipieren? Sind wir mutig und frei genug, uns mit Menschen anderer mystischer Traditionen in Kontakt zu bringen, die uns mit ihren inneren Schätzen Gott bezeugen können? Sich damit zu begnügen, eine mystisch interessierte Klientel wie bisher in schön renovierte Exerzitienhäuser zum Meditieren zu schicken reicht nicht, wenn man tatsächlich ernst nimmt, dass „alles davon abhängt“! Das obige Zitat Rumis bringt es auf den Punkt: Er warnt „die Suchenden vor Lehrern, denen es nur auf den Wortlaut der Schriften ankommt, denen also die Hülse ausreicht, wo es doch auf den Kern ankäme.“6 Ein Sufi hingegen ist ein Mystiker, also ein Eingeweihter, der eigene Erfahrungen mit dem „inneren“ Islam gemacht hat. Er unterscheidet sich von theologisch gebildeten Vorbetern beim Freitagsgebet in der Moschee oder von Erstellern von Rechtsgutachten. Im Gegensatz zu ihnen wird er lebendige Zugänge zu Gotteserfahrungen erschließen können.7 Erst eine biographisch verankerte, erfahrungsgesättigte Spiritualität wird jene Faszination erzeugen können, von der der Prophet Sacharja (um 520 v. Chr.) angesichts des Wiederaufbaus der Ruinen des Jerusalemer Tempels spricht: Dass Menschen kommen werden und sagen: „Wir wollen mit euch gehen; denn wir haben gehört: Gott ist mit euch“ (Sach 8,23).
Bevor wir uns dem Kosmos von Rumi, des Sufismus und der tanzenden Derwische zuwenden, ist eine Reflexionsschleife hinsichtlich des damit verbundenen theologischen wie tatsächlichen Ortswechsels einzulegen. Diese Überlegungen sind deshalb notwendig, um nicht naiv, unvorbereitet und unbedacht ins Fremde, ins „Neuland“ hineinzustolpern. Ein Symbol für eine solche bedarfsfreie Haltung sind die bei Touristen beliebten „Hop-on-hop-off-Busse“ in vielen Städten dieser Welt. Sie sind ein typisches Phänomen für die Nicht-Begegnung mit dem Anderen an fremden Orten. Im bequemen Vorbeifahren schießt man ein paar Fotos, die irgendwann einmal als Erinnerungsstütze herhalten müssen, damit man später noch weiß, dass man überhaupt dort gewesen ist. Weil man sich nicht die Mühe macht, sich intensiver darauf einzulassen und damit auseinanderzusetzen, bleibt das Andere bestenfalls ein ästhetisches oder exotisches Objekt in der privaten Sammlung. Man begibt sich der Chance, dass das Fremde eine Dynamik entfaltet, die einem etwas sagen, möglicherweise verändern und innerlich weiterbringen kann. Die hier dargelegten Gedanken verstehe ich als Vorzeichen vor der Klammer, mit der ich die folgenden Kapitel eröffne und sie am Ende des Buches schließe.
In einer nachchristentümlichen Zeit, in der aktive Christinnen und Christen längst eine gesellschaftliche Minderheit darstellen, lautet eine entscheidende Frage: Wie hältst du’s theologisch mit der kirchlichen Außengrenze, dem Außen der anderen Religionen und Weltanschauungen? Stellt sie für dich eher eine dogmatische Schmerzgrenze dar, eine No-go-Area, ein Tabu, ein möglicherweise zwar interessantes, aber letztendlich entbehrliches Betätigungsfeld oder eine Reizschwelle für ein neues interspirituelles Lernen? Schließlich gibt es doch noch ganz andere Orte, an denen Gott zur Sprache gebracht wird, als in unseren Kirchen! Gleichzeitig ist es ja nicht so, dass die Anderen uns so sehr bräuchten, sondern vielmehr wir die anderen. Der andere wird nach der paradigmatischen Wende des letzten Konzils zu einem konstitutiven Element der Theologie. Er fehlt im eigenen System und macht damit einen Mangel deutlich. Aufgabe der Theologie ist es, sich auf den Weg zu diesem anderen zu machen. Und zwar um des Christseins und ihrer selbst willen, und nicht etwa, um ihn als Betreuungsobjekt kirchlicher Praxis erreichen zu wollen. Die anderen mit ihren kulturellen Traditionen, mit ihren Religionen und auch mit ihren Gotteserfahrungen können dabei helfen, den eigenen Glauben zu klären, zu vertiefen und zu stärken. Jürgen Habermas spricht von „beißenden“ Fragen im Sinne einer „bewusst machenden und rettenden Kritik“. Die Bereitschaft, sich selbst zum anderen hin zu transzendieren, gehört jedenfalls zu den Fähigkeiten einer genuinen Mystik, denn wir alle empfangen uns selbst entscheidend von anderen und vom Anderen her.
In diesem Zusammenhang hat sich der Begriff des „Anders-Orts“ unter anderem im fundamtentaltheologischen1 und pastoraltheologischen Diskurs eingebürgert.2 Mit „Anders-Orten“3 („Heterotopien“) beschreibt der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) Orte, die es als soziale, gesellschaftliche, religiöse oder kulturelle Tatsachen inmitten der Realitäten des Gewohnten gibt und an denen zugleich eine andere Ordnung der Dinge herrscht. „Anders-Orte“ sind gleichsam „Gegenplatzierungen“ zu unseren Alltags-Orten. Sie haben vor allem eines gemeinsam: Sie sind für uns emotions-basiert und verunmöglichen deshalb ein abstraktes Räsonnement. Da gibt es nicht einfach nur „Geburt“ und „Tod“, sondern den Kreißsaal mit den Presswehen einer Gebärenden und das Bett im Hospiz, in dem ein Mensch seine letzten Atemzüge macht. Da gibt es nicht „Neuropathie“ und „Strafvollzug“, sondern Patienten und Patientinnen in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses und den zu lebenslänglicher Haft verurteilten Mörder in seiner Zelle. Da gibt es nicht „Allah“ und „den Islam“, sondern konkrete gläubige Menschen beim Beten in einer Moschee und Sufi-Derwische, die sich im Rundtanz drehen. Weil kein Ort und keine Gelegenheit Gott fremd sind, ist auch dort die Möglichkeit der Erfahrung von Transzendenz gegeben. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um religiöse „Anders-Orte“ handelt: wo Menschen mit elementaren und existentiellen Fragen konfrontiert werden und den Sinn und das Glück ihres Lebens finden. Sie bieten Metaphern, Riten und Praktiken, die für die Lebensbewältigung grundlegend sind.
Eine Theologie, die sich am „Anders-Ort“ weiterentwickelt, braucht das Fremde und das unbekannte Gegenüber, um etwas Neues über ihre eigene sich je und je neu konstituierende Identität zu erfahren. Das Fremde begegnet uns u. a. in einer anderen Kultur, Mentalität oder Religion. Oder auch an unserer „Peripherie“ (Papst Franziskus). Einzig die persönliche Begegnung gibt der Faszination oder auch der Ungewissheit, die das Fremde in uns auslösen können, einen Ort. Sie macht jedoch auch neugierig auf jene Anteile, die das Fremde für uns als Gegenüber in unserer Ergänzungsbedürftigkeit bereithält. Es gilt, die Wirklichkeit Gottes aus mehr als einer Perspektive zu betrachten und ihn am „locus alienus theologicus“4 tatsächlich als „den ganz anderen“ zu entdecken. Das setzt voraus, dass man den Wandel einer einseitigen ekklesialen Codierung des Glaubens zu einer Vielzahl von Orten – eben auch in anderen Religionen – anerkennt.
Viele haben nicht selten das Gefühl, dass sie die Präsenz Gottes im herkömmlichen kirchlichen Routinebetrieb vermissen. Die Rede von ihm ist zunehmend bedroht und in Gefahr, zu einer leeren Hülse zu verkommen. Dies mag uns einen Anlass dazu geben, die Gottes-Suche über die etablierten Orte und Räume hinaus auszuweiten. Wer eine Theologie am „Anders-Ort“ betreiben will, muss sich im Sinne einer explorativen Recherche ins wirkliche Leben von andern trauen. Das kann mühsam sein und herausfordernd! Denn wer aus der angestammten Ekklesiosphäre hinaustritt, wagt sich auf unbekanntes Terrain. Und zwar dorthin, wo im „Horizont des Unbekannten“ (Karl Rahner) zwar Gott, aber nicht die Kirche ist. Er muss sich auf die religiösen Sprachspiele (z. B. in Poesie und Mystik) der anderen einlassen. Aufzugeben ist dabei eine epistemisch-klerikalistische Einstellung, ein „olympischer Metastandpunkt“ (Jürgen Habermas) sowie eine hegemonial-theologische Milieuabschottung (im Sinne von: „Wir sind ja im Besitz der vollen Wahrheit und brauchen deshalb die anderen nicht“) zugunsten von religionssensiblen pluriformen Redeversuchen von Gott. Die Zukunft der Theologie wird sich daran entscheiden, ob sie eine kontextsensible, offene und selbstkritische Reflexion betreibt, die den Diskus prinzipiell nach außen hin offen hält. Erkenntnistheoretisch bedeutet dies eine Selbstverpflichtung auf jene theologiekonstitutiven Anders-Orte, ohne die die Rede von Gott nicht nur ärmer, sondern auch gar nicht sie selbst wäre.5
Wer sich „Anders-Orten“ in theologischer Neugier aussetzen will, braucht dafür eine spirituelle Kraft. Denn im Außen von anderen begegnen wir Gott nur, wenn wir ihn im eigenen Innern glauben. Dies ist die soziologische Implikation des Augustinischen Satzes: „Deus interior intimo meo“ (Gott ist mir innerlicher als ich mir selbst). Wer auf ihn treffen will, muss sich also auch zu jenen Menschen hinbegeben, die anders an Gott glauben. Sie sind im Sinne der „Zeichen der Zeit“ des Zweiten Vatikanischen Konzils „Orte Gottes im Heute“. Wer sich auf sie einlässt, dem kann möglicherweise die überraschende Erfahrung Jakobs zuteil werden, der nach einem Traum irgendwo in der Wüste aufwachte, den Stein, auf dem er schlief salbte und sagte: „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht. (…) Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Er ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels.“ (Gen 28,16f).