Wo die Unheimlichen wohnen: Gruselsammlung Oktober 2021 - Alfred Bekker - E-Book

Wo die Unheimlichen wohnen: Gruselsammlung Oktober 2021 E-Book

Alfred Bekker

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Beschreibung

Dieses Buch enthält folgende Gruselgeschichten: (499) Horst Friedrichs: Mordrausch der Dämonen Alfred Bekker /W.A.Hary : Wo das Grauen herrscht... Alfred Bekker: Das Ende aller Tage Alfred Bekker: Kreaturen der Apokalypse W.A.Hary & Art Norman: Herr der Würmer Cedric Balmore:Die Nacht der wilden Bestien A.F.Morland: Die Gestalt im Nebel Glenn Stirling: Kodiak – Der Manntöter Wolf G. Rahn: Begräbnis einer Dämonin Alfred Bekker: Wölfe in der einsamen Geisterstadt Die wankenden Gestalten näherten sich. Dumpfe, murmelte Laute kamen über ihre zerstörten Lippen. Die Gesichter waren bleich, an manchen Stellen konnte man auf blanke Knochen blicken. Dasselbe galt für die Hände. Manche glichen Skeletthänden. Die Kleider hingen wie Säcke an den dürren, auf gespenstische Weise abgemagerten Gestalten. Wie Sinnbilder des Todes wirkten sie. Untote, nicht wirklich zum Reich des Todes und nicht ganz zum Reich der Lebenden gehörig. Leere Augenhöhlen blickten Murphy an. Und der Geruch! Ein Pesthauch hing über der ganzen Stadt und er wurde jetzt noch stärker, da sich die Untoten ihm näherten. Murphys Nase war wie betäubt. Er glaubte fast, ersticken zu müssen. Der Gestank der Verwesung und des Verfalls, ging es ihm durch Kopf. Murphy fühlte deutlich Panik in sich aufkeimen. Was war aus London geworden? Eine Stadt der halbverwesten Zombies... Ich bin zu spät gekommen, dachte Murphy. Zu spät, um zu verhindern, was geschehen ist. Zu spät... Murphy wich weiter zurück. Seine Beine fühlten sich schwer an.

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Alfred Bekker, Horst Friedrichs, W.A.Hary, Art Norman, Cedric Balmore, Glenn Stirling, A.F.Morland

UUID: d3648c24-5f73-46c2-9048-3b5ed8ca2a66
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Inhaltsverzeichnis

Wo die Unheimlichen wohnen: Gruselsammlung Oktober 2021

Copyright

​Mordrausch der Dämonen

WO DAS GRAUEN HERRSCHT

DAS ENDE ALLER TAGE

Kreaturen der Apokalypse

Herr der Würmer

Die Nacht der wilden Bestien

Die Gestalt im Nebel

Kodiak – Der Manntöter

Begräbnis einer Dämonin

Wölfe in der einsamen Geisterstadt

Wo die Unheimlichen wohnen: Gruselsammlung Oktober 2021

Alfred Bekker, Horst Friedrichs, W.A.Hary, Art Norman, Cedric Balmore, Glenn Stirling, A.F.Morland

Dieses Buch enthält folgende Gruselgeschichten:

Horst Friedrichs: Mordrausch der Dämonen

Alfred Bekker /W.A.Hary : Wo das Grauen herrscht...

Alfred Bekker: Das Ende aller Tage

Alfred Bekker: Kreaturen der Apokalypse

W.A.Hary & Art Norman: Herr der Würmer

Cedric Balmore:Die Nacht der wilden Bestien

A.F.Morland: Die Gestalt im Nebel

Glenn Stirling: Kodiak – Der Manntöter

Wolf G. Rahn: Begräbnis einer Dämonin

Alfred Bekker: Wölfe in der einsamen Geisterstadt

Die wankenden Gestalten näherten sich. Dumpfe, murmelte Laute kamen über ihrezerstörten Lippen. Die Gesichter waren bleich, an manchen Stellen konnte man auf blankeKnochen blicken. Dasselbe galt für die Hände. Manche glichen Skeletthänden. Die Kleiderhingen wie Säcke an den dürren, auf gespenstische Weise abgemagerten Gestalten. WieSinnbilder des Todes wirkten sie. Untote, nicht wirklich zum Reich des Todes und nicht ganzzum Reich der Lebenden gehörig.

Leere Augenhöhlen blickten Murphy an.

Und der Geruch!

Ein Pesthauch hing über der ganzen Stadt und er wurde jetzt noch stärker, da sich dieUntoten ihm näherten. Murphys Nase war wie betäubt. Er glaubte fast, ersticken zu müssen.

Der Gestank der Verwesung und des Verfalls, ging es ihm durch Kopf. Murphy fühltedeutlich Panik in sich aufkeimen. Was war aus London geworden? Eine Stadt derhalbverwesten Zombies...

Ich bin zu spät gekommen, dachte Murphy. Zu spät, um zu verhindern, was geschehen ist.

Zu spät...

Murphy wich weiter zurück.

Seine Beine fühlten sich schwer an.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, ALFREDBOOKS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© Cover: Werner Öckl

© dieser Ausgabe 2021 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.

Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten.

www.AlfredBekker.de

[email protected]

​Mordrausch der Dämonen

Horst Friedrichs

Die Finger des Mannes glitten zielsicher über eine verwirrende Vielfalt von Hebeln und Knöpfen. Der Dieselmotor dröhnte. Druckluft fauchte. Wieder und wieder gruben sich die blankgewetzten Zähne der mächtigen Stahlschaufel in das feuchte schwarze Erdreich.

Plötzlich gab es einen Widerstand. Der Baggerführer spürte es durch die Hebel und Knöpfe in seinen Fingerspitzen. Er wollte die Schaufel hochkommen lassen.

Im gleichen Moment gab der Widerstand nach, hatte dem Druck des schweren Stahls also nicht trotzen können.

Verwundert blickte der Mann durch die Frontscheibe seines Führerhäuschens. Die Baggerschaufel grub sich weiter in die Erde, entschwand seinem Blick.

Erst jetzt sah er das Mauerwerk an den Rändern des Loches. Brüchige alte Quadersteine, von der riesigen Stahlschaufel regelrecht durchstoßen.

Er zerrte an den Hebeln. Hämmerte mit geballten Fäusten auf die Knöpfe. Ohne Erfolg. Schon setzte sich der Bagger in Bewegung, wurde von einer rätselhaften Kraft gezogen. Den Mann im Führerhaus packte das Entsetzen. Er wollte die Tür aufstoßen, hinaus, nichts wie weg… Zu spät. Es war, als quoll plötzlich glühende Lava aus der Tiefe empor. Die Erde riß auf, begleitet von einem Donnern, das den Wahnsinnsschrei des Mannes im Führerhaus verschluckte. Mit dem Bagger stürzte er in eine bodenlose Tiefe. Die verzehrende Glut erfaßte ihn, verschlang ihn, erlöste ihn von den Höllenqualen…

Spielend leicht wurde der Land Rover mit der beträchtlichen Steigung und den Unebenheiten des Bodens fertig.

Die Zigarette wippte in Carters linkem Mundwinkel auf und ab. Wegen der Schaukelei brauchte er beide Hände, um das Lenkrad zu halten.

Noch bevor er die Kuppe des Hügels erreichte, sah er die Wolken, die wie eine düstere Wand über den Baumwipfeln heraufzogen. Im gleichen Augenblick setzte der Sturm ein. Die Bäume bogen sich bedrohlich. Morsche Äste knickten ab, wurden durch die Luft gewirbelt.

Carter spürte die Kraft der Böen selbst in seinem schweren Geländefahrzeug. Der Land Rover legte sich nach rechts - wie ein Schiff mit Schlagseite.

Unvermittelt war ein dumpfes Grollen zu hören. Im ersten Moment ließ es auf ein Gewitter schließen.

Doch keine Blitze zuckten vom Himmel herab, kein wolkenbruchartiger Regen prasselte auf die Erde.

Carter stutzte. Fluchend schleuderte er die Zigarette aus dem offenen Seitenfenster und kurbelte die Scheibe hoch.

Jetzt spürte er, daß dieses merkwürdige Grollen aus der Erde zu kommen schien. Die Karosserie des Land Rover begann zu vibrieren, und es war nicht der Motor, der das verursachte.

Die Hände des Mannes verkrampften sich um das Lenkrad. Er kümmerte sich nicht mehr um die Unebenheiten des schmalen Sandweges. Entschlossen trat er das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Wagen machte einen Satz, jagte rumpelnd voran. Die durchschlagenden Stoßdämpfer übertönten das Heulen der Sturmböen.

Der Weg führte am Waldrand entlang, beschrieb einen weiten Bogen. Noch zweihundert Meter bis zur anderen Seite der Hügelkuppe, wo sich die Baustelle befand.

Das Grollen nahm zu. Gleichzeitig das Vibrieren der Karosserie. Es ging Carter durch Mark und Bein. Aus den Augenwinkeln heraus sah er die Bäume, deren Stämme sich wie Peitschengerten durchbogen. Jeden Augenblick konnte ein Baum entwurzelt werden.

Trotz der Gefahr wurde der junge Bauingenieur von einer unbestimmten Ahnung vorangetrieben. Er spürte, daß er womöglich sein Leben aufs Spiel setzte. Aber er kam nicht auf den Gedanken, umzukehren.

Carter bemerkte nicht sofort, daß das Rumpeln des Wagens von einem Schlingern begleitet wurde. Das kantige Heck wedelte nach beiden Seiten - wie bei überhöhter Geschwindigkeit auf vereister Fahrbahn.

Dann, als sich der Land Rover immer bedenklicher zur Seite neigte, spürte Carter eine eisige Faust des Schreckens, die seinen Nacken erfaßte.

Noch hundertfünfzig Meter bis zur Baustelle. Die Bäume versperrten die Sicht.

Mit geweiteten Augen sah Carter, wie der Erdboden vor ihm in Bewegung geriet. Gras, Büsche und Bäume schienen plötzlich auf einer schwammigen, morastigen Masse zu wachsen, die von den Orkanböen in Bewegung gebracht wurde.

Noch sekundenlang war Carter wie erstarrt, nicht fähig, Gas wegzunehmen.

Die letzte Wegbiegung lag vor ihm.

Der Land Rover raste schlingernd darauf zu.

Jäh kippten die ersten Bäume weg, waren wie ausgelöscht.

Zehn, zwanzig Meter vor dem Wagen neigte sich ein Stamm zur Seite. Der Sturm zerrte wütend an den Ästen. Die Wurzeln lösten sich aus dem wabernden Boden.

Carter zuckte zusammen, trat auf die Bremse. Es war mehr der Instinkt, der ihn dazu veranlaßte.

Nur ein dumpfer Laut war zu hören, als der Baum quer auf den Weg schlug.

Das Grollen aus der Erde übertönte alles.

Buchstäblich im letzten Augenblick brachte Carter den Land Rover vor dem Baumstamm zum stehen.

Er sprang ins Freie und verlor das Gleichgewicht. Der Erdboden unter ihm schien zu tanzen. Der Land Rover schaukelte, hüpfte wie auf einem Trampolin.

Carter rieb sich Dreck aus den Augen. Fluchend versuchte er, sich aufzurappeln. Vergeblich. Der Sturm preßte ihn auf den Boden.

Im Inferno der entfesselten Gewalten kroch der Bauingenieur mühsam auf den umgestürzten Baumstamm zu, krallte seine Finger in die rissige Rinde und zog sich langsam daran hoch.

Um ihn herum tobte der Orkan, nahm das Grollen aus der Erde zu. Die Wolken jagten vor dem Himmel entlang. Laub und Zweige wirbelten durch die Luft. Die Oberfläche der Erde schien zu brodeln.

Carter gelang es, den Kopf über den Baumstamm hinauszuschieben.

Etwas durchzuckte sein Inneres wie eine glühende Lanze.

Für Minuten waren seine Sinne wie gelähmt. Er war zu keiner Reaktion fähig. Sein Mund öffnete sich, doch kein Schrei kam über seine Lippen. Das Grauen sträubte die Nackenhaare des jungen Mannes, ohne daß er es spürte. Er lag da wie ein erstarrtes, lebloses Bündel Mensch - zu ohnmächtiger Hilflosigkeit verdammt.

Das Unfaßbare war stärker als alle menschliche Kraft.

Carter sah jedes Detail, nahm alles in sich auf, ohne daß er sich dessen bewußt wurde.

Da waren keine Bäume mehr, die den Blick auf die Baustelle versperrten. Aber da war auch keine Baustelle mehr.

Nur gähnende Tiefe.

Ein riesiger Spalt klaffte in der Erde. An den Rändern des Spalts quoll das Erdreich auf, verformte sich und floß wie brodelnde Lava in die Tiefe.

Nur um Steinwurfweite entfernt bröckelte der Rand des Erdspalts weiter ab, kam unaufhaltsam näher.

Carter mußte die Augen schließen, als sein Blickwinkel bis in den gähnenden Abgrund fiel.

Grellrotes Licht blendete ihn, ließ schwarze Kreise vor seinen Pupillen tanzen. Nur langsam konnte er die Augen wieder öffnen, um blinzelnd in die Tiefe zu starren.

Der Rand des Erdspalts war nur noch zehn Meter von dem umgestürzten Baumstamm entfernt, an den Carter sich klammerte.

Doch es war die Vision in der feurigen Tiefe, die ihm einen furchtbaren Schock versetzte.

Es konnte nur eine Vision sein.

Menschliche Körper schienen auf der Glut zu schwimmen, wurden von Feuerfontänen emporgewirbelt, um anschließend zu versinken. Die Konturen lösten sich auf, die Körper verfärbten sich für Sekundenbruchteile wie Papierfetzen, die man ins Feuer wirft.

Danach gab es nur noch die Höllenglut in der Tiefe des Erdspalts.

Reste von schweren Maschinen, zersplitterte Bretter von Baubuden und Abgrenzungen wurden auf die gleiche Weise von der feurigen Lohe verschlungen.

Dann war auch das vorbei.

Carter rieb sich die Augen. Nein, es konnte nicht Wirklichkeit sein, was er gesehen hatte! Mochte der Teufel wissen, durch welche verrückte Laune diese grauenhaften Halluzinationen durch sein Bewußtsein geisterten.

Als er von neuem in die Tiefe starrte, war die Vision verschwunden. Die Glut am Boden des Erdspalts begann zu erlöschen wie erkaltende Lava. Auch die schwarzgrauen Erdmassen an den Rändern kamen zum Stillstand.

Immer noch fassungslos stellte Carter fest, daß er jetzt nur noch fünf Meter von dem gähnenden Abgrund entfernt war. Er schüttelte den Kopf, wie um eine quälende Benommenheit loszuwerden.

Auch das Toben des Orkans schwoll ab. Der Land Rover stand wieder ruhig auf festem Untergrund, und Carter hörte nichts mehr von dem Grollen, das aus der Tiefe gekommen war.

Langsam richtete er sich auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung - bedächtig, sorgfältig, als sei dies das Wichtigste, was es im Moment zu tun gab.

Er sah sich um. Sein Blick war staunend wie der eines Kindes in einem Märchenpark.

Der Erdspalt war Realität. Ebenso wirklich mußte das Unwetter gewesen sein, die Ursache der Katastrophe.

Aber diese merkwürdige Glut, das Höllenfeuer, das Menschen und Maschinen verschlungen hatte?

Carter schüttelte von neuem den Kopf. Es konnte nur eine Art Wahnvorstellung von ihm gewesen sein. Anders war es nicht zu erklären. Der Erdspalt war jetzt nichts weiter als ein dunkler, schwindelerregender Abgrund.

Doch die Baustelle war wie ausgelöscht, als hätte sie nie existiert.

Sekundenlang kreiste dieser Gedanke durch Carters Gehirn.

Jäh zuckte er zusammen, wirbelte herum und hastete auf den Land Rover zu. Am ganzen Körper bebend, wendete er das Fahrzeug, jagte zurück in die Stadt.

Schweißüberströmt erreichte er die ersten Häuser. Er sah Menschenansammlungen auf den Bürgersteigen, hörte aufgeregtes Stimmengewirr und erblickte die von Fassungslosigkeit gezeichneten Gesichter.

Aber er nahm dies alles nicht bewußt wahr.

Keuchend stürmte er in den erstbesten Hauseingang, entdeckte ein Telefon an der Korridorwand und riß den Hörer von der Gabel. Mit fliegenden Fingern wählte er die Nummern, die er auswendig kannte. Er schrie etwas in den Hörer, ohne selbst genau zu wissen, was es war. Er bemerkte nicht einmal, daß die Hausbewohner jetzt hinter ihm standen und in stummen Entsetzen das Unfaßbare mithörten.

Dann, als er die Gespräche beendet hatte, wurden seine Knie weich. Schleier wallten vor seinen Augen auf. Er griff sich an die Stirn, auf der der kalte Schweiß stand. Taumelnd suchte er Halt an der Wand.

Hilfreiche Hände stützten ihn, brachten ihn in ein Zimmer. Kurz darauf rann guter irischer Whisky durch seine Kehle. Ein Mittel, das hierzulande gegen alles nur Erdenkliche angewendet wurde.

Auch Les Carter half es.

***

»… anschließend bin ich sofort in die Stadt geeilt und habe den Katastrophenschutz und meinen Chef in Dublin verständigt«, schloß Carter seinen Bericht. Er atmete tief durch, wie von einer schweren Last befreit. Dennoch hatte er den Schock noch nicht vollends überwunden.

»Das kann ich bestätigen«, sagte John Reilly, der neben Carter auf einem der primitiven Besucherstühle des Polizeibüros von Grimshaw saß.

»Danke, Sir«, nickte Chef-Konstabler Williams und wandte den kantigen Schädel zu seiner Sekretärin. »Schreiben Sie als letzten Satz, Miß O’Shaughnessy: Direktor John Reilly von der Firma Northwestern Construction Enterprises, Dublin, bestätigte diesen letzten Punkt der Aussage des Zeugen Carter.«

Der Bleistift der jungen rothaarigen Frau flog über den Stenogrammblock. Chef-Konstabler Williams wartete, bis sie alles notiert hatte, und blickte dann wieder die beiden Männer an, die vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatten. Williams war ein breitschultriger, untersetzter Mann, dessen leichtgerötete Gesichtshaut den Schluß zuließ, daß er den Außendienst der Schreibtischarbeit vorzog.

»Nun noch Ihre Personalien, Mr. Carter«, bat er, »eine notwendige Formsache. Sie verstehen…«

»Selbstverständlich«, erwiderte der Bauingenieur. »Ich heiße Les Carter, bin achtundzwanzig Jahre alt, unverheiratet und wohne in Dublin, Minerva Lane drei - zwo - acht. Genügt das?«

»Nur noch Ihren Geburtsort, Sir«, entgegnete Miß O’Shaughnessy.

»Dublin.«

»Und Sie besitzen die irische Staatsbürgerschaft«, fügte der Chef-Konstabler hinzu. Es war gleichzeitig Frage und Feststellung.

»Ja - ja, natürlich«, murmelte Carter geistesabwesend. Er hatte Verständnis für die Formalitäten. Doch er war in Gedanken bereits weit entfernt. Er ahnte, daß es zu viele Ungereimtheiten geben würde, über die er sich noch den Kopf zermartern mußte. Dinge, die sich durch keine routinemäßige polizeiliche Ermittlungen klären ließen.

Chef-Konstabler Williams erhob sich. Die Uniformjacke spannte sich über seinem mächtigen Oberkörper.

»Ich danke Ihnen, Gentlemen. Sie werden verstehen, daß sich meine Aufgabe in diesem Fall hauptsächlich auf die Feststellung von Fakten beschränken muß. Die Polizei hat keine Fachleute für Naturkatastrophen.«

Reilly schüttelte dem Beamten die Hand.

»Ich habe beim Ministerium ein Geologen-Team angefordert, Konstabler. Sie können sicher sein, daß wir bald Näheres über dieses schreckliche Unglück wissen.«

Naturkatastrophe…

Das Wort hallte in Carters Gedanken nach. Er wußte nicht, weshalb, aber das Wort erschien ihm auf merkwürdige Weise unzutreffend.

Minuten später stieg er gemeinsam mit Reilly in den Land Rover. Die Hauptstraße von Grimshaw war wie ausgestorben. Erst vier Stunden waren vergangen, seit die Erde Menschen und Maschinen verschluckt hatte. Die Einwohner der kleinen Stadt hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. In den Wohnstuben und an den Theken der Gaststätten gab es nur ein einziges Gesprächsthema. Es war ein Schock, der die ganze Stadt vorübergehend lähmte. Niemand dachte an diesem Tag noch daran, sich wieder dem geregelten Arbeitsablauf zu widmen.

John Reilly war ein hagerer Mittvierziger. In seinem schmalen Gesicht lagen harte Furchen, die unübersehbar zeigten, wie sehr ihn die furchtbare Nachricht getroffen hatte.

»Ich würde es Ihnen nicht übelnehmen, wenn Sie in der Stadt bleiben wollen«, sagte Reilly, nachdem sich Carter hinter das Lenkrad geschwungen und den Motor angelassen hatte.

»Nein, Sir«, entgegnete Carter, »ich muß wieder hinaus. Ich muß sehen, wie es da draußen aussieht. Sonst hätte ich keine Ruhe.«

»Ja«, erwiderte Reilly leise, »man braucht sehr lange, um es zu begreifen.«

Carter wendete wortlos den Land Rover und jagte dem nördlichen Ausgang der Stadt entgegen.

Der Hügel, nur eineinhalb Meilen von Grimshaw entfernt, war die größte Bodenerhebung im Umkreis. Die Provinzialstraße nach Dublin führte am Fuß des Hügels entlang. Zu beiden Seiten der Asphaltfahrbahn erstreckten sich mannshohe Steinwälle, hinter denen die sorgsam bestellten Felder und die sattgrünen Weiden der Bauern des Grimshaw County zu erkennen waren.

Schon von weitem sahen Carter und Reilly, welches Riesenaufgebot inzwischen eingetroffen war, um das Ausmaß der Katastrophe zu sondieren. Daß es nicht mehr möglich war, Menschenleben zu retten, stand nach den ersten Untersuchungen bereits fest.

Besonders stachen die knallrot lackierten Fahrzeuge des Katastrophenschutzes aus Dublin ins Auge. Es handelte sich um eine Spezialeinheit der Feuerwehr - Männer, die dafür ausgebildet waren, mit modernen Maschinen und Geräten den Kampf gegen entfesselte Naturgewalten aufzunehmen.

Carter verlangsamte das Tempo. Er schämte sich beinahe, den Katastrophenschutz alarmiert zu haben. Jetzt, im Nachhinein, wußte er, daß die Spezialisten nicht das Geringste ausrichten konnten.

Ein Streifenwagen der Polizei von Grimshaw stand zehn Meter vor der Abzweigung. Einer von Chef-Konstabler Williams’ Beamten hob die Kelle und veranlaßte Carter, anzuhalten.

Der Uniformierte trat an das Seitenfenster, warf einen kurzen Blick auf den Ausweis des Bauingenieurs und salutierte.

»Sie können passieren, Sir. Bitte, stellen Sie Ihren Wagen im Gelände ab. Wir brauchen viel Platz. Der Weg ist jetzt die einzige Zufahrt zur Baustelle.«

Carter nickte geistesabwesend und ließ die Kupplung kommen.

Die Baustelle…

Dem Polizeibeamten ging es nicht anders als allen übrigen Leuten von Grimshaw. In den paar Wochen hatten sie sich bereits daran gewöhnt, nur noch von der Baustelle zu reden - nicht mehr vom Hügel. Daran änderte sich selbst jetzt nichts. Und vermutlich würde nie wieder eine Baumaschine auf den Hügel rollen. Doch auch dann würde er im Sprachgebrauch weiter als Baustelle rangieren. Zu viele Hoffnungen und Wünsche hatten sich für die Menschen von Grimshaw damit verbunden - zu viele tiefgreifende Änderungen, die sie erwarten durften. Denn die Fabrik, die auf dem Hügel gebaut werden sollte, bedeutete den größten Aufschwung, den die kleine Stadt jemals erlebt hatte.

Niemand konnte sich jetzt schon daran gewöhnen, daß es mit dieser Zukunftsaussicht vorbei war.

Carter am allerwenigsten.

Er zog den Land Rover auf den schmalen Sandweg. Zu beiden Seiten parkten Limousinen, die hastig ins Gebüsch rangiert worden waren. Den Nummernschildern nach zu urteilen, stammten die Wagen vorwiegend aus Dublin. Reporter, Polizeibeamte, Fachleute von der Baubehörde… und möglicherweise auch schon die Geologen, die Reilly angefordert hatte.

Die Fahrzeuge des Katastrophenschutzes standen oben beim Wald, der zur Hälfte versunken war. Uniformierte und zivilgekleidete Männer bildeten ein unüberschaubares Durcheinander. Blitzlichter zuckten, Fotoreporter versuchten, das trübe Licht dieses Tages aufzuhellen. Zwei, drei Ambulanzwagen waren ebenfalls zu erkennen. Die Sanitäter und Notärzte standen tatenlos herum.

Carter fand eine Lücke zwischen den parkenden Limousinen und ließ den Land Rover weit genug ins Gelände rollen, so daß er keine Behinderung für die großen Fahrzeuge bildete.

Mit einem kurzen Seitenblick sah Carter, daß Reillys Gesichtszüge wie versteinert waren. Die schmalen Lippen des Mannes schienen blutleer.

Carter konnte die Gefühle seines Chefs nur zu gut verstehen. Für die Firma hatte dieser Auftrag ebensoviel bedeutet wie die Errichtung der Fabrik für Grimshaw. Jetzt war alles aus. Die Konsequenzen ließen sich noch nicht absehen.

»Sir…«, sagte Carter leise, während er den Zündschlüssel nach links drehte und die Handbremse anzog.

»Ja?« Reilly wandte den Kopf.

Carter lehnte sich zurück, holte tief Luft.

»Sir, ich habe beim Polizeichef nicht alles zu Protokoll gegeben…«

Reilly stutzte.

»Menschenskind, Les!« stieß er hervor. »Sie müssen das sofort nachholen! Noch ist es nicht zu spät. Williams wird Verständnis dafür haben, daß Sie ziemlich durcheinander waren.«

Carter schüttelte den Kopf.

»Es handelt sich nicht um eine Beobachtung, von der ich hundertprozentig überzeugt bin, Sir.«

»Was dann?«

»Vielleicht war es eine Sinnestäuschung. Aber ich habe dieses Bild noch immer vor Augen. Es läßt sich nicht wegwischen. Lodernde Glut am Grund des Erdspalts. Ein furchtbares Feuer, das sie alle verschlungen hat. Alle unsere Mitarbeiter, alle Maschinen…« Er brach ab, konnte nicht weiterreden.

John Reilly blickte ihn minutenlang forschend an. Dann atmete er auf. Gleichzeitig nickte er verständnisvoll.

»Denken Sie nicht mehr daran, Les«, riet er väterlich, »versuchen Sie es wenigstens. Es gibt Situationen, in denen ein Mensch dem Schock erliegt und Dinge sieht, - die ihm seine aufgepeitschten Sinne vorgaukeln. Wegen des Protokolls brauchen Sie sich also keine Sorgen zu machen.«

Carter blickte durch die Windschutzscheibe. Seine Augen fixierten einen imaginären Punkt in unendlicher Ferne.

Hatte er diese Reaktion seines Chefs nicht erwarten müssen?

Vielleicht war es besser, wenn er nicht mehr von dem redete, was er gesehen hatte.

***

Es mußte daran liegen, daß sie Direktor Reilly aus Dublin kannten. Mit ihrer beruflichen Spürnase folgerten die Reporter daraus, daß der Mann in Reillys Begleitung jener einzige Zeuge der Katastrophe sein mußte, von der inzwischen alle gehört hatten.

Sie stürmten auf ihn los, als er sich gemeinsam mit Reilly den roten Katastrophenschutzfahrzeugen näherte.

Blitzlichter zuckten in rascher Reihenfolge.

Carter schloß geblendet die Augen. Und plötzlich sah er sie wieder vor sich, diese lodernde Glut, die hilflosen Menschen, die von ihr verschlungen wurden…

Fragen prasselten auf ihn ein.

Carter verstand kein einziges Wort.

In ihm riß der Faden.

»Aufhören!« brüllte er, riß die Augen auf. Seine Schläfenadern schwollen an, als von neuem die Blitzlichter aufglühten.

Er ballte die Fäuste, machte einen drohenden Schritt auf die Zeitungsleute zu.

Die Front der Reporter wich erschrocken zurück. Sie erkannten, welchen Zorn sie in diesem athletisch gebauten Mann hervorgerufen hatten.

Reilly legte ihm behutsam die Hand auf die Schulter.

»Les, bitte!«

Carter ließ die Arme sinken, nickte müde.

»Schon gut«, murmelte er. »Es tut mir leid.«

»Gentlemen!« wandte sich Reilly an die Reporter. »Bitte haben Sie Verständnis dafür, daß Mr. Carter zu diesem Zeitpunkt noch nicht über seine Eindrücke reden möchte! Ich kann Ihnen aber versichern, daß so bald wie möglich eine Pressekonferenz stattfinden wird. Voraussichtlich schon heute abend.«

Die Presseleute murrten, machten Einwände, wiesen auf ihren Redaktionsschluß hin und versuchten, doch noch etwas aus Reilly und Carter herauszuquetschen. Aber die beiden Männer blieben hart.

Dennoch hielten sich die Reporter auch weiterhin in ihrer Nähe auf - wie Wölfe, die eine schon sicher geglaubte Beute belauerten.

Reilly und Carter schritten die Kolonne der rotlackierten Fahrzeuge ab und erreichten den umgestürzten Baumstamm, hinter dem der vorderste Wagen der Kolonne stand. Dieser schwere Truck verfügte über eine Seilwinde, die zur Hälfte abgespult war. Am Ende des dicken Drahtseils war eine kleine Plattform befestigt, die an der vorderen Kante eine Gummiwalze besaß. Mit der Plattform hatten sich ungefähr dreißig Männer des Katastrophenschutzes in die Tiefe abgeseilt. Unten hatten sie eine Reihe von Brettern ausgelegt, auf denen sie sich sicher bewegen konnten. Vermutlich war das Erdreich weich, und es bestand die Gefahr, daß ein Mann versinken konnte.

Stumm beobachtete Les Carter die Szenerie, die sich ihm bot.

Der Abgrund mochte fünfzig Meter tief sein. Es ließ sich schwer schätzen. Der gesamte Erdspalt hatte eine Länge von annähernd hundert Metern. An der breitesten Stelle klafften die Ränder dreißig bis vierzig Meter weit auseinander.

Die Männer vom Katastrophenschutz trugen orangefarbene Overalls und weiße Schutzhelme. Auf dem Boden des Abgrunds waren sie mit modernen, hochempfindlichen Sonden an der Arbeit. Einige von ihnen benutzten Holzstangen und Schaufeln, mit denen sie im weichen Erdreich stocherten.

Gut zwei Stunden dauerte der Einsatz bereits.

Ein Mann, der ein ovales Metallabzeichen an seinem orangefarbenen Overall trug, trat auf Reilly und Carter zu. Er stellte sich als Captain O’Rourke vor, Leiter des Einsatzes.

Schon die Miene des Captains zeigte, daß er mit keiner positiven Nachricht aufwarten konnte.

»Können Sie schon etwas sagen?« fragte Reilly mit gepreßter Stimme.

O’Rourke schüttelte bedauernd den Kopf.

»Nichts, Mr. Reilly. Wir stehen buchstäblich vor einem Rätsel. Und wenn ich nicht genau wüßte, daß sich hier auf dem Hügel eine Baustelle befunden hat, würde ich glatt das Gegenteil behaupten. Wir haben nicht die geringsten Anzeichen dafür entdeckt, daß dort unten im Abgrund überhaupt Menschen oder Maschinen verschüttet sind. Zum Beispiel reagieren unsere Sonden besonders empfindlich auf Metall bis zu einer Tiefe von fünfzig Meter. Doch es wurde absolut keine Messung registriert.«

Reilly und Carter starrten ihn verblüfft an.

»Aber wir hatten Maschinen im Wert von hunderttausend Pfund im Einsatz!« rief Carter. »Bagger, Planierraupen, Erdhobel, Schwenkschaufler… Das ist eine verdammte Menge Metall, Captain!«

»Was nicht heißen soll, daß uns die Maschinen wichtiger sind als die Menschen«, fügte Reilly hinzu.

Captain O’Rourke nickte verständnisvoll.

»Mir ist das Ganze ebenso unerklärlich wie Ihnen, Gentlemen. Wir müssen zunächst abwarten, bis die ersten Meßergebnisse der Geologen vorliegen. Wahrscheinlich wird das noch heute der Fall sein. Dann können wir entscheiden, ob und wie weit wir den Boden des Erdspalts ausbaggern.«

Carter blickte erneut in die Tiefe. An der gegenüberliegenden Seite des Abgrunds waren auf halber Höhe Reste von Mauern aus Quadersteinen zu erkennen. Es handelte sich nur um Fragmente. Die Steine waren herausgebrochen, lagen weit verstreut und waren teilweise zerbröckelt.

»Hat das etwas zu bedeuten?« wandte sich Carter an den Captain und deutete auf die Mauerreste.

O’Rourke zuckte die Achseln.

»Kaum. Als Baufachmann wissen Sie es sicherlich selbst. Egal, wo Sie in Irland anfangen zu graben - meistens stoßen Sie auf stumme Zeugen der Vergangenheit.«

In der Beziehung konnte Carter nicht widersprechen.

Trotzdem sagte ihm ein unerklärliches Gefühl, daß die alten Quadersteine nicht so bedeutungslos waren, wie O’Rourke glaubte. Aber davon sprach Les Carter vorläufig nicht mehr.

Er war sich selbst nicht sicher, ob er seinen eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen überhaupt noch trauen konnte.

***

Der Abend hatte sein tintenblaues Samttuch über die kleine irische Stadt ausgebreitet. Straßenlampen brannten, warfen mattgelbe Lichtkreise auf Hauswände und Bürgersteige und erzeugten eine Atmosphäre ländlicher Geborgenheit und Beschaulichkeit, wie sie dem Großstadtmenschen Les Carter anfangs fremdartig und unwirklich erschienen war.

Er trat durch die Hoteltür ins Freie, blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an. Tief inhalierte er den ersten Zug und blies den Rauch in die kühle Luft. Seine Nerven waren noch immer nicht topfit. Zwei Tage waren seit der Katastrophe vergangen, und seine Erinnerung an das grauenvolle Geschehen begann zu verblassen.

Doch wenn er allein war, tauchte stets von neuem das gräßliche Bild vor seinem geistigen Auge auf. Die lodernde Glut in der Tiefe des Erdspalts, die menschlichen Körper, die wie Papierfetzen welkten und sich in Nichts auflösten.

Carter hatte sich deshalb in den letzten beiden Tagen bemüht, ständig Leute um sich zu haben, mit denen er reden konnte. Nur die Nächte im Hotelzimmer waren schlimm. Alpträume rissen ihn aus dem Schlaf. Nach dem morgendlichen Erwachen fühlte er sich hundeelend und zerschlagen.

So hätte er es auch vorgezogen, die Abendstunden in der gemütlichen kleinen Hotelgaststätte zu verbringen. Aber als leitender Ingenieur des Bauvorhabens Grimshaw war er verpflichtet, an der Versammlung teilzunehmen, die er persönlich für völlig sinnlos hielt.

Ehe er losschlenderte, sah er sich nach beiden Seiten um. Er tat es aus einem Instinkt heraus, ohne Grund. Und innerlich fluchte er deshalb auf sich selbst, weil er allmählich den Eindruck hatte, ein immer verrückteres Verhalten an den Tag zu legen. Gewiß, er hatte einen beträchtlichen Schock hinter sich. Aber war das ein Grund, durchzudrehen?

Die schmale Gasse war menschenleer. Das betagte Kopfsteinpflaster schimmerte im Abendnebel. Zwischen den einzelnen Straßenlampen lagen lange Dunkelzonen.

Carters Schritte hallten dumpf von den Hauswänden zurück.

Er hatte Zeit. Die Versammlung begann erst in einer halben Stunde. Und er würde nur fünf Minuten brauchen, bis er die Hauptstraße erreichte.

Hinter den meisten Fenstern der Häuser brannte Licht. Teilweise war der bläuliche Schimmer von Fernsehgeräten zu erkennen. Auf Carter machten diese Fenster einen anheimelnden Eindruck. Er beneidete die Leute, die in ihren gemütlichen Wohnstuben saßen und sich um nichts zu kümmern brauchten.

Carter war noch hundert Meter von der Einmündung in die Hauptstraße entfernt.

Er horchte auf das Echo seiner eigenen Schritte. Und er ärgerte sich darüber, weil er es wieder für eine seiner Verrücktheiten hielt.

Doch im nächsten Atemzug wurde ihm bewußt, daß es nicht nur seine eigenen Schritte waren.

Das dumpfe Echo hatte sich verdoppelt.

Er schnippte die Zigarettenkippe in den Rinnstein. Nun, er war zweifellos nicht der einzige, der auf dem Weg zur Versammlung war. An Verfolgungswahn litt er jedenfalls noch nicht.

Trotzdem drehte er sich um. Vielleicht kannte er den Mann, konnte mit ihm gemeinsam gehen.

Die Silhouette tauchte aus einer Dunkelzone zwischen zwei Straßenlampen auf.

Derbe Schnürstiefel, an denen feuchte Erdklumpen klebten. Blaue Latzhose, speckig und mit Ölflecken übersät. Blau-weiß kariertes Baumwollhemd. Schirmmütze aus blauem Köper.

Carter blieb stehen, obwohl er es eigentlich nicht wollte.

Die Silhouette erreichte den Lichtkreis der nächsten Straßenlampe.

Der Schatten, den der Mützenschirm auf das Gesicht des Fremden warf, wurde schwächer.

Carter stand wie festgenagelt. Eiseskälte durchzuckte seine Adern, ließ sein Blut gefrieren, lähmte seine Muskeln.

»Hirst!« hörte er sich tonlos flüstern. »Ian Hirst!«

Der Baggerführer kam langsam näher. Er nickte bedächtig.

Carter glaubte, ein Grinsen auf den Lippen des Mannes zu erkennen.

»Ja, ich bin’s«, erwiderte Hirst mit einer merkwürdig hohl klingenden Stimme. »Freut mich, Sie zu sehen, Mr. Carter!«

Der Mann, der eigentlich tot sein mußte, war noch drei, vier Schritte entfernt, als es Carter unvermittelt gelang, sich aus seiner Erstarrung loszureißen. Er wußte selbst nicht, wie er dies schaffte. Vielleicht war es die Erkenntnis, daß hier etwas vorging, was es nach menschlicher Vernunft nicht geben konnte.

Carter machte einen Schritt vorwärts, versuchte vergeblich, den Blick des anderen aufzufangen.

Der Baggerführer prallte zurück. Seine Gesichtshaut zuckte.

Carter kam nicht dazu, über diese Reaktion zu staunen.

»He, was ist?« knurrte er noch.

Im nächsten Moment klappte sein Unterkiefer herunter.

Als Hirst weiter zurückwich, waren seine Schritte nicht mehr zu hören. Er schien förmlich über das Pflaster zu schweben.

Als er den Lichtkreis der nächsten Straßenlampe erreichte, zerfaserten seine Konturen. Sein Körper verfärbte sich grau, hellgrau, weiß. Das Licht fiel durch ihn hindurch wie durch einen Nebelschleier. Dann, wie von einem nicht spürbaren Windstoß zerfetzt, löste sich dieser Schleier auf und stieg empor, um von der Lampe aufgesogen zu werden.

Carter wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, schüttelte den Kopf, sah sich nach allen Seiten um.

Nein, der Baggerführer war verschwunden.

Aber es war auch niemand in der Nähe, der die Erscheinung ebenfalls hätte beobachten können.

Carters Finger bebten, als er sich eine neue Zigarette anzündete. Er mußte sich an die nächste Hauswand lehnen, denn seine Knie wurden weich.

Einen Moment lang fragte er sich, ob dies der Anfang des Wahnsinns war. Hatte er den Schock unterschätzt? Kamen erst jetzt die Nachwirkungen seines grauenvollen Erlebnisses auf dem Hügel?

Nein.

Mit einem Ruck schleuderte er die gerade angerauchte Zigarette in den Rinnstein.

Hölle und Teufel, sein Verstand funktionierte! Er wußte, was er sah und was er tat.

Die Schlußfolgerung war im Grunde sogar einfach: Hätte der Baggerführer sich als ein Wesen aus Fleisch und Blut präsentiert, so wäre zu vermuten gewesen, daß er auf rätselhafte Weise die Katastrophe überlebt hatte.

Aber kein lebendiger Körper löste sich in Luft auf!

Carter genoß es in diesen Minuten förmlich, seinen Verstand messerscharf arbeiten zu lassen. Er bewies sich selbst, daß er keineswegs durchgedreht war. Präzise reihte er in Gedanken die Fakten aneinander.

Da war einmal das seltsame Unwetter gewesen, das Grollen, das nicht von einem Gewitter hergerührt hatte, und das Beben, das die Erdoberfläche zu Butter gemacht hatte.

Offenbar war dies aber nur auf dem Hügel der Fall gewesen. Denn die Stadtbewohner hatten davon nichts gespürt.

Dann die Glut in der Tiefe des Erdspalts, die menschlichen Körper… Carter wußte jetzt, daß es keine Vision gewesen sein konnte.

Und schließlich das Auftauchen des Baggerführers Ian Hirst, der ohne jeden Zweifel mit seinen Kollegen zusammen in der Tiefe versunken war.

Das war alles.

Bislang.

Daß es dabei nicht bleiben würde, stand für Les Carter jetzt schon fest. Er setzte seinen Weg fort. Die Überzeugung hatte in seinem Gehirn so feste Formen angenommen, daß es für ihn keinen Grund gab, sie in Frage zu stellen: Hier in Grimshaw entfalteten sich unbekannte Mächte, die nicht irdischer Natur waren.

***

Der kleine Saal war bis auf den letzten Platz besetzt. An die sechzig Männer und Frauen hatten sich eingefunden. Schon nach der ersten Viertelstunde vor Versammlungsbeginn hingen dichte Rauchschwaden unter der niedrigen, holzgetäfelten Decke. Unterdrücktes Stimmengemurmel füllte den Raum aus.

Carter saß neben Direktor Reilly an dem Tisch, der quer zum Sitzungstisch des Stadtrates aufgestellt worden war. John Reilly war in seinem Bentley aus Dublin herübergekommen. Er erledigte von seinem dortigen Büro aus die vielfältigen Aufgaben, die nach der Katastrophe auf ihn eingestürmt waren.

Carter war froh, daß neben Reilly der geschäftsführende Direktor jenes Industriekonzerns Platz genommen hatte, der den Auftrag für das Projekt Grimshaw erteilt hatte. Der Mann hieß McBurney, war elegant gekleidet und unterhielt sich angeregt mit Reilly. Daher brauchte sich Carter keinem gezwungenen Gespräch zu widmen. Er konnte seinen Gedanken nachhängen, die immer wieder bei der einen Frage endeten: Was war die Ursache der Katastrophe?

Es mußte eine Erklärung geben. Carter war indessen überzeugt, daß man diese Erklärung nicht nach den Maßstäben der Logik finden konnte.

Einen Moment lang mußte er schmunzeln, denn genaugenommen war es verrückt. Er, der Techniker und Verstandesmensch, begann, sich von Vermutungen leiten zu lassen, die im Bereich des Übersinnlichen lagen.

Aber vielleicht lag es gerade daran, daß sein auf Präzision geschulter Verstand erfaßte, wie wenig die Geschehnisse von Grimshaw mit rationalen Methoden aufgeklärt werden konnten.

Das Bimmeln einer kleinen Glocke wehte durch das Gemurmel, ließ es nach und nach verstummen.

Bürgermeister Humphrey Miles erhob sich, ließ die Glocke auf die Tischplatte sinken und bat mit einer endgültigen Handbewegung um totale Ruhe. Er hätte sich diese Aufforderung ersparen können, denn zwölf Ratsherren, vierzig Zuhörer und acht Sachverständige sahen voll aufmerksamer Gespanntheit der nun folgenden Debatte entgegen.

Bei den Sachverständigen handelte es sich neben Carter, Reilly und McBurney um zwei Geologen, Chef-Konstabler Williams, Captain O’Rourke und seinen Stellvertreter vom Katastrophenschutz. Diese acht Männer waren eingeladen worden, um den Rat von Grimshaw bei seiner Meinungsbildung zu unterstützen.

»Ladies and Gentlemen, die Sitzung ist hiermit eröffnet!« rief Bürgermeister Miles mit dröhnender Baßstimme. Er war ein massiger Mann, dessen Kopf bis auf einen spärlichen Haarkranz kahl war. »Ich danke Ihnen für Ihr Kommen und rufe nunmehr den einzigen Punkt der Tagesordnung auf: die Beschlußfassung darüber, ob die Bauarbeiten auf dem Hügel fortgeführt oder eingestellt werden sollen.«

Ein Raunen setzte ein. Bürgermeister Miles wartete, bis wieder Stille eingekehrt war, um dann fortzufahren.

»Liebe Mitbürger, gestatten Sie mir zunächst einige grundsätzliche Worte, Ich glaube, es gibt keinen unter uns, der nicht das furchtbare Ausmaß der Katastrophe ermessen könnte. Wir alle wissen, welches menschliche Leid durch das Unglück ausgelöst wurde. Aber wir wissen auch, daß man selbst in Stunden der Trauer und Resignation nicht den Blick auf die Zukunft verschließen soll! Bitte, halten Sie mich nicht für hartherzig, wenn ich dies sage. Trotz aller Niedergeschlagenheit sollten wir die Zukunft unserer Stadt nicht vergessen. Denn von der Entwicklung, die Grimshaw nehmen wird, hängt das Schicksal jedes einzelnen Bürgers ab!«

Irgendwo in den Zuhörerreihen klatschte jemand zögernd Beifall. Halblautes Gemurmel folgte. Dann wurde es wieder still, als Bürgermeister Miles sich räusperte und seine Rede fortsetzte, »Ladies and Gentlemen, heute abend geht es meiner Meinung nach um die Klärung folgender Punkte: Erstens, was ist die Ursache der Katastrophe? Zweitens, besteht die Gefahr, daß sich etwas Ähnliches wiederholt? Drittens, wird es möglich sein, den Bau ohne Risiko an der vorgesehenen Stelle fortzuführen? Die Aufgabe des Stadtrates ist es, das Für und Wider bei allen drei Fragen sorgfältig abzuwägen und dann eine Entscheidung zu treffen. Ich darf vorausschicken, daß der Konzern bereit ist, das Projekt wiederaufzunehmen. Ebenso hat sich auch die Baufirma bereit erklärt, die Arbeiten fortzusetzen…« Miles warf einen Blick zu Reilly und McBurney.

Die beiden Direktoren nickten bestätigend.

»An uns liegt es nun, ja oder nein zu sagen«, fuhr der Bürgermeister fort, »das heißt, wir müssen uns entschieden, ob wir auch weiterhin das Baugelände zur Verfügung stellen oder nicht.«

Einer der Ratsherren stand auf.

»Wäre es nicht möglich, dem Konzern ein anderes Grundstück anzubieten?«

Miles schüttelte bedächtig den Kopf. Erneut blickte er zum Tisch der Sachverständigen.

»Mr. McBurney, wollen Sie die Frage beantworten?«

»Selbstverständlich gern.« Der Direktor erhob sich. »Herr Bürgermeister, Ladies and Gentlemen… Wenn Sie sich an die ersten Verhandlungen mit der Stadt Grimshaw erinnern, dann wissen Sie vermutlich noch, warum wir uns damals gerade für Ihre Stadt entschieden haben. Es handelt sich um eine Fertigungsanlage für Chemieprodukte, die wir hier errichten wollen. Und der Standort auf dem Hügel bietet uns ideale Voraussetzungen, die Bedingungen der Umweltschutzgesetze zu erfüllen. Nirgendwo anders in der Umgebung könnten wir diese Bedingungen erfüllen. Wenn wir daher das Projekt Grimshaw doch noch durchführen wollen, dann nur auf dem Hügel.«

»Vielen Dank«, sagte Bürgermeister Miles.

McBurney setzte sich wieder. Ebenso der Ratsherr, der die Frage gestellt hatte.

»Ich möchte vorschlagen, daß wir nun zur ersten Frage kommen«, erklärte Miles, »zur Ursache der Katastrophe. Wenn ich einen der Herren Geologen bitten darf…«

Les Carter war fassungslos. Er hatte vorher gewußt, um welches Thema es bei dieser Versammlung gehen würde. Doch erst jetzt wurde ihm klar, was es wirklich bedeutete. Die Leute, die hier vorgaben, das Für und Wider sorgfältig abzuwägen, wollten im Grunde nur eines: das Geschehen vergessen und so rasch wie möglich von vorn beginnen. Die ganze Debatte, wie sie es nannten, erschien Carter als eine Farce. Er mußte es erst verdauen, brachte es nicht fertig, sich jetzt schon einzumischen.

Der Mann zu seiner Linken stand auf. Einer der Geologen. Carter kannte ihn nur flüchtig.

»Ich möchte Sie nicht mit komplizierten Fachausdrücken langweilen«, erklärte der Geologe. »Ich werde mich daher auf das wesentliche Ergebnis unserer Untersuchungen beschränken. Ein Erdbeben als Ursache der Katastrophe ist mit absoluter Sicherheit auszuschließen. Unsere Messungen haben das einwandfrei belegt. Ohnehin wurde in diesem Gebiet noch niemals ein Erdbeben registriert. Sie werden jetzt natürlich fragen, auf welche andere Weise dann ein so gewaltiger Erdspalt entstehen konnte, der eine ganze Baustelle verschluckte. Nun, es gibt nach unserer Meinung nur eine einzige Erklärung dafür: Haargenau unter der Baustelle befanden sich alte Gewölbe, deren Größe und genaue Lage vorher nicht ausreichend oder überhaupt nicht sondiert wurden. Durch die Baggerarbeiten stürzten die Gewölbe ein. Es entstand ein Erdrutsch ungeahnten Ausmaßes.«

Der Geologe mußte seine Ausführungen beenden, denn aufgeregte Gespräche setzten in den Zuhörerreihen ein. Bürgermeister Miles brauchte Minuten, um wieder für Ruhe zu sorgen.

Carter sah sich erstaunt um. Seine Fassungslosigkeit wich vorübergehend einer jähen Gespanntheit. Niemand hatte bislang über die Gewölbe geredet. Aber jetzt schien es, als wußte jeder der hier Anwesenden von dem, was sich unter der Baustelle verborgen hatte.

»Chef-Konstabler Williams!« rief der Bürgermeister. »Ich erteile Ihnen das Wort!«

Als Williams aufstand, hefteten sich alle Augen auf ihn.

»Ich habe persönlich die Rettungsarbeiten überwacht«, erklärte der Polizeichef von Grimshaw mit Stentorstimme, »der Boden des Erdspalts wurde bis zu einer Tiefe von drei Metern mit Erdbohrern systematisch abgesucht. Ohne jedes Ergebnis…«

Captain O’Rourke und sein Stellvertreter nickten zustimmend.

»Das bedeutet, daß von den Gewölben nichts mehr vorhanden ist«, fuhr Williams fort. »Es besteht also keine Gefahr mehr, daß ein erneuter Erdrutsch entstehen wird. Inwiefern allerdings der Vorwurf zu erheben ist, daß vor Baubeginn die Dichte des Bodens nicht ausreichend überprüft wurde, bleibt zu klären. Es ist Sache der Staatsanwaltschaft, ob sie in diesem Zusammenhang ein Eingreifen für notwendig hält.«

Bürgermeister Miles bedankte sich mit einer Handbewegung.

Chef-Konstabler Williams setzte sich.

»Wir können etwaigen Ermittlungen mit ruhigem Gewissen entgegensehen«, erklärte Miles, ehe wieder Gemurmel einsetzen konnte, »meines Erachtens trifft in diesem Zusammenhang weder die Stadt noch die Baufirma ein Vorwurf. Wir wissen zwar, daß bis vor rund zweihundert Jahren auf dem Hügel eine Burg gestanden hat. Wir kennen auch die Geschichte der früheren Burgherren. Doch wir konnten alle nur von der Annahme ausgehen, daß keine Reste der Burg mehr vorhanden waren. Aber das ist im Moment nur ein Gesichtspunkt am Rande. Wesentlich erscheint mir, daß die ersten beiden Fragen geklärt sind. Wir kennen die Ursache der Katastrophe, und wir wissen, daß sich etwas Ähnliches mit Sicherheit nicht wiederholen wird. Bliebe nun die Frage, ob der Bau ohne Risiko fortzuführen ist?«

Der Bürgermeister blickte zum Tisch der Sachverständigen hinüber.

»Unsere Firma ist bereit, die Arbeiten wiederaufzunehmen«, antwortete Direktor Reilly, »diese Zusicherung kann ich Ihnen hiermit geben. Nach unseren Vorstellungen muß die Hügelkuppe teilweise abgetragen werden. Der dadurch anfallende Boden wird verwendet, um den Erdspalt aufzufüllen. Nach der Planierung wird mit Sicherheit kein zu großer Höhenverlust entstehen, als daß die Bedingungen des Umweltschutzes nicht mehr erfüllt werden könnten. Über Einzelheiten, die den Ablauf des Baues betreffen, wird Ihnen gern unser leitender Ingenieur, Mr. Carter, Auskunft geben.«

»Danke«, erwiderte Bürgermeister Miles. »Mr. Carter, würden Sie uns kurz schildern, wie eine Wiederaufnahme des Bauvorhabens ablaufen müßte?«

Carter spürte die Blicke. Er blinzelte, schüttelte kaum merklich den Kopf, wie, um eine Benommenheit loszuwerden. Dann richtete er sich langsam auf.

»Ich bin dagegen, daß der Bau fortgesetzt wird.«

Seine Worte fielen wie Keulenschläge in die Stille. Die Mienen der Anwesenden versteinerten.

Der Bürgermeister fand seine Fassung als erster wieder.

»Mr. Carter!« stieß er tonlos hervor. »Ich glaube, für diese Ansicht sind Sie uns eine Erklärung schuldig!«

»Les!« flüsterte Reilly. »Um Himmels willen, Mann! Machen Sie keinen Unsinn!«

Carter hörte nicht hin.

»Die Erklärungen, die hier geliefert wurden, sind nicht umfassend!« rief Carter. »Ich gebe zu, daß möglicherweise Gewölbe eingestürzt sind. Aber das war nicht die alleinige Ursache der Katastrophe. Ich bin der einzige Zeuge, der zum Zeitpunkt des Unglücks an Ort und Stelle war! Und ich bin heute überzeugt, daß dort auf dem Hügel Dinge geschehen sind, für deren Erforschung der menschliche Verstand nicht ausreicht.«

Bedrückende Stille lag in dem Saal.

Bürgermeister Miles war bleich geworden.

»Wie sollen wir das verstehen?« fragte er leise. »Es ist nicht zu verstehen«, entgegnete Carter. »Es gibt nur eine Möglichkeit, um weiteres Unheil zu vermeiden: Der Bau muß eingestellt werden. Ich selbst lehne es ab, die Bauleitung wieder zu übernehmen. Wenn meine Firma dennoch das Risiko eingeht, so tut sie das auf ihre Verantwortung.«

Noch sekundenlang herrschte Ruhe.

Dann setzten erregte Diskussionen unter den Zuhörern ein.

Bürgermeister Miles klingelte vergeblich um Ruhe.

»Die Sitzung wird unterbrochen!« rief er schließlich.

Die wenigsten hörten es.

Carter setzte sich nicht wieder. Er wandte den Kopf zur Seite und sah seinen Vorgesetzten an, der ihn mit offenem Mund anstarrte.

»War das Ihr letztes Wort, Les?« keuchte Reilly.

»Ja, Sir«, nickte Carter.

Reilly preßte die Lippen aufeinander.

»Wie Sie wollen, Les. Ich muß Sie von Ihrem Posten entheben. Eine andere Wahl habe ich nicht. Die weiteren Konsequenzen lassen sich noch nicht absehen. Sie müssen mit einer Kündigung rechnen. Der Schaden, den Sie unserer Firma zugefügt haben…«

Carter hörte nicht mehr hin, drehte sich einfach um und ging zur Tür.

Das Stimmengewirr hallte noch in seinen Ohren, als er schon auf der Straße stand.

***

In der Hotelgaststätte kaufte Carter zwei Flaschen Bier und klemmte sie sich unter den Arm. Er wollte allein sein, hatte keine Lust, den Fragen der Leute ausgesetzt zu sein, die unter Umständen nach der Versammlung auftauchen würden, um einen Drink zu nehmen. Am allerwenigsten wollte Carter mit seinem Direktor aneinandergeraten. Es war sinnlos, noch an diesem Abend über den entstandenen Zwist zu reden. John Reilly brauchte Zeit, um darüber nachzudenken.

Unter dem Teppich knarrten die Treppenstufen, als Carter in das obere Stockwerk des Hotels hinaufstieg. Der Treppenabsatz mündete rechtwinklig in den Korridor, dessen holzgetäfelte Wände von mattleuchtenden Wandlampen erhellt waren. Der Fußboden war mit einem roten Läufer ausgelegt. Die Türen trugen Ziffern aus blankpoliertem Messing.

Carter hatte sich von Anfang an in der behaglichen Atmosphäre dieses kleinstädtischen Hotels wohl gefühlt. Jetzt empfand er beinahe Wehmut, als er daran dachte, daß er nicht mehr lange hierbleiben würde. Es war ein Gedanke, mit dem er sich noch nicht vertraut machen konnte.

Sein Zimmer hatte die Nummer acht, lag rechts am Ende des Korridors. Er schloß auf, drückte die Tür nach innen und tastete mit der Rechten nach dem Lichtschalter.

Die Deckenlampe flammte auf. Carter erstarrte.

Der Mann lehnte an der Kommode neben dem Fenster.

Ian Hirst, der Baggerführer.

Deutlich konnte Carter jetzt sein Gesicht erkennen.

Die Augen des Mannes waren stumpf, hatten keine Pupillen, ähnelten den blicklosen Augen von antiken Marmorstatuen.

»Hallo, Mr. Carter!« sagte der Tote mit dumpfer Grabesstimme. »Diesmal kriege ich Sie!«

Carter war so erstaunt, daß er seinen Schreck überwand.

»Was soll das heißen?« knurrte er.

Die Haltung des Wesens straffte sich.

»Sie werden sterben!« schrie Hirst. »Sie werden der erste sein!«

Carter spürte, daß die Drohung ernst gemeint war. Äußerlich war dieses Wesen Ian Hirst, und doch war es nicht der Baggerführer, den Carter gekannt hatte.

Der Ingenieur handelte, ohne nachzudenken. Zwei Schritte rechts von der Tür befand sich das Bett mit dem Nachtschränkchen, und in der Schublade lag die Pistole.

Carter packte eine der Bierflaschen mit der Rechten.

In dem Moment, als der Tote auf ihn losstürzen wollte, schleuderte er ihm die Flasche mit aller Kraft entgegen.

Im nächsten Atemzug warf sich Carter zur Seite, ließ die zweite Flasche auf das Bett fallen, wollte die Schublade des Nachtschränkchens aufreißen.

Er kam nicht mehr dazu.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie der Tote von der Flasche getroffen wurde.

Doch es schien nur so.

Das Wurfgeschoß traf auf keinen Widerstand, obwohl es sich durch den Brustkorb des Baggerführers bohrte.

Als die Bierflasche krachend an der Wand zerplatzte, löste sich der Körper des Mannes mit den toten Augen auf.

Seine Konturen zerfaserten. Es bildeten sich milchige Schwaden, die rasch emporstiegen und scheinbar von der Deckenlampe aufgesogen wurden.

Eine Sekunde später war es vorbei. Nur noch die Scherben der zerschellten Bierflasche erinnerten an die grauenvolle Erscheinung.

Carter entspannte seine Muskeln, setzte sich auf die Bettkante und stützte den Kopf in beide Hände.

Grenzenlose Ermattung befiel ihn.

Dann, nach einer Weile, gab er sich einen Ruck, öffnete die heile Bierflasche und setzte sie an die Lippen.

Er fand keine Erklärung für die Geschehnisse. Doch eines stand für ihn von diesem Moment an fest: Er würde Grimshaw nicht eher verlassen, bis er das Geheimnis des Hügels enthüllt hatte.

Er spürte instinktiv, daß er die Kraft besaß, um dies zu schaffen.

***

Hinter einem Vorhang aus Tabakrauch und Männerstimmen klimperte das Klavier. Der Pianist bediente die Tasten lustlos, wußte, daß er kaum Gehör fand, nahm nach jedem Stück einen langen Schluck aus seinem Bierglas.

»Die letzte Runde!« brüllte O’Toole gegen den Lärm an, schob die Hemdsärmel ein Stück höher und machte sich daran, die leeren Gläser zu spülen.

Die Männer an der Theke murrten, kippten sich das restliche Bier in die Kehle, um rascher an den Nachschub zu kommen.

O’Toole reihte die gespülten Gläser auf, betätigte den Zapfhahn. Die Gespräche der Männer gingen weiter, bildeten die ewig gleiche Geräuschkulisse im Stars of Eire, der kleinen Schenke am Stadtrand.

Niemand achtete darauf, als der Pianist wieder einmal sein Geklimper unterbrach.

Doch die Pause dauerte länger - zu lange für einen Schluck Bier.

»He, Pat!« rief einer der Männer an der Theke. »Hast du die Gicht in den Fingern, oder was ist los?«

Der Pianist antwortete nicht.

Erst jetzt blickten zwei, drei Thekensteher zu ihm hinüber. Beiläufig, gelangweilt, ohne sonderliches Interesse.

Der Mann am Klavier saß wie versteinert, starrte mit hervorquellenden Augen zur Tür, die er als einziger im Blickfeld hatte.

»Der gute Pat redet nicht mehr mit uns!« lachte der, der eben die Bemerkung vom Stapel gelassen hatte.

Das aufkommende Gelächter versiegte rasch.

O’Toole blickte vom Zapfhahn auf.

Als ihm das halbgefüllte Bierglas aus der Hand fiel und krachend zersplitterte, war es das Zeichen für endgültige Stille.

Lähmende Stille.

Der Mann stand an der Eingangstür der Schenke. Er hielt die Tür auf und schien zu warten.

Es dauerte nur wenige Atemzüge.

Dann kamen sie herein. Nacheinander, polternd und verdreckt, wie immer nach dem späten Feierabend.

Ian Hirst und die vier anderen aus seiner Arbeitsgruppe.

Alle trugen sie die gewohnten Schnürstiefel, Latzhosen, derbe Baumwollhemden und Schirmmützen.

Es war wie an jedem Tag, wenn die Arbeit auf der Baustelle beendet war. Hirst und seine Kollegen waren stets die ersten gewesen, die ihre Stammkneipe ansteuerten, um vor der Polizeistunde noch einen Drink zu erwischen. »Die Augen!« flüsterte O’Toole hinter seiner Theke und sprach das aus, was alle dachten, was allen eine geradezu panische Furcht einjagte.

Und nicht nur die Augen. Allein das Erscheinen der fünf Bauarbeiter genügte, um die Männer im Stars of Eire das Grauen zu lehren.

Patrick Kirby, der Pianist, begann am ganzen Körper zu zittern. Es sah aus, als würde er jeden Moment von seinem Drehschemel kippen.

Hirst und die anderen Toten aus dem Erdspalt schoben sich langsam auf die Theke zu.

O’Toole hob fahrig die Rechte, deutete ein zittriges Winken an. Mühsam quetschte er die Worte durch die Lippen.

»Ha-hal-lo, Jungs! Teufel auch, mi-mit euch… haben wir nicht mehr gerechnet!« Den Rest des Satzes haspelte er blitzschnell herunter und kam sich im gleichen Augenblick lächerlich vor.

O’Toole biß sich auf die Lippen, daß ein winziger Blutstropfen hervortrat.

Die Männer mit den stumpfen Augen schwenkten plötzlich herum, steuerten auf das Klavier zu, das an der linken Stirnwand der Schenke stand.

Patrick Kirby sprang auf, schlotternd vor Angst. Sein Drehschemel polterte zu Boden. Mit dem Rücken preßte sich Kirby an das Klavier. Grollende Dissonanzen tönten aus dem Instrument, als Kirbys Hände haltsuchend auf die Tasten drückten.

Die Blicklosen kamen näher.

O’Toole und die anderen hatten den Schock noch nicht überwunden, waren zu keiner Reaktion fähig.

»Nein!« kreischte Kirby. Abwehrend streckte er die Hände aus.

Wie Donner dröhnte es aus dem Klavier, als er mit dem Gesäß auf die Tasten rutschte.

»Verschwindet!« wimmerte Kirby. »Laßt mich! Weg mit euch! Ich…« Er brach jäh ab, als die Blicklosen wie eine Mauer vor ihm standen.

Patrick Kirby konnte nur noch zittern.

Ein hohles Lachen ertönte. Allen Anwesenden jagte es einen eisigen Schauer über den Rücken.

Plötzlich zuckten beide Fäuste des Baggerführers vor.

Kirby spürte, wie er am Hemd gepackt wurde. Doch es waren nicht die Fäuste, die er spürte, sondern eine Eiseskälte, die schmerzhaft seinen Oberkörper traf, sich rasch ausbreitete und ihn in eine todesähnliche Starre versetzte.

Dicht vor sich sah Kirby die stumpfen Augen, die fratzenhaften Gesichtszüge des Baggerführers und der anderen. Kein Atem war von den Wesen zu spüren - statt dessen ein feuchtkalter Hauch, der an die Unwirtlichkeit irischer Nächte erinnerte.

Von neuem erscholl das hohle Lachen, das so klang, als käme es aus einer Gruft.

Der Pianist war ohnehin wehrlos. Und O’Toole und seine Gäste hatten sich noch immer nicht von ihrem Schreck erholt. Sie konnten Kirby nicht helfen.

Jäh zog der blicklose Baggerführer sein Opfer vom Klavier herunter. Mit spielerischer Leichtigkeit hob er Kirby ein Stück empor.

Im nächsten Atemzug schleuderte er den Mann von sich.

Wieder dröhnte das Klavier. Das massive Eichenholz des Instruments zerbarst unter dem Anprall wie Sperrholz.

Patrick Kirby schlug mit dem Hinterkopf gegen die Oberkante des Klaviers. Sein Körper erschlaffte. Mit dem Klavier, das in zwei Hälften geteilt wurde, sackte er in sich zusammen. Saiten zersprangen mit schrillen Mißtönen.

Dann blieb nur noch ein Haufen von zersplittertem Holz, Tasten und aufgerollten Saiten. Alles wurde vom Blut des Toten gefärbt.

Die Blicklosen drehten sich um, hefteten ihre stumpfen Augen auf die Männer an der Theke.

O’Toole war so kreidebleich wie seine Gäste. Die Stille des Todes lastete in dem kleinen Schankraum.

Einer von denen, die an der Theke standen, machte den Anfang. Er wich zurück bis an die gegenüberliegende Wand. Nur vier oder fünf Schritte war er von der Tür entfernt.

Die Blicklosen ließen es geschehen. Doch dann, als der Mann sich zitternd dem Ausgang nähern wollte, ließ der Baggerführer sein schauriges Lachen hören. Auf sein Handzeichen huschte einer seiner Gefährten zur Tür, um sich dort aufzubauen.

Der Mann erstarrte. Die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen, als er sich mit dem Rücken an die Wand preßte.

Im gleichen Augenblick geschah es.

Der Baggerführer stieß ein wütendes Fauchen aus. Es war das Zeichen für seine Gefährten.

Lautlos und blitzschnell stürzten sie sich auf den Mann, der es gewagt hatte, an Flucht zu denken.

Gellend hallte der Todesschrei durch die Gaststätte.

O’Toole sah, wie die Wesen ihr Opfer packten und den Mann mit dem Kopf auf die Wand zuschleuderten.

Doch O’Toole sah auch, daß die Aufmerksamkeit der Blicklosen wenigstens vorübergehend abgelenkt war. Es war kein Mut, der den Wirt veranlaßte, zum Telefonhörer zu greifen. Es war purer instinktiver Überlebenswille. Das Telefon stand in einem Fach neben den Zapfhähnen. Es war von vorn nicht mal zu sehen.

Mit zitternden Fingern wählte O’Toole die Nummer des Hotels, während die Toten aus dem Erdspalt noch mit ihrem Opfer beschäftigt waren. Als er den Hörer ans Ohr hob, verbarg er sich hinter einem der Männer, die wie gelähmt an der Theke standen.

»Geben Sie mir Mr. Carter!« stieß O’Toole leise in die Sprechmuschel. »Um Himmels willen, machen Sie schnell!« Bebend vor Angst, wartete er. Er wußte selbst nicht, weshalb er Carter anrief. Vielleicht deshalb, weil Carter der Vorgesetzte dieser Mordbestien war, die eigentlich tot sein müßten.

Die Sekunden wurden zu Ewigkeiten.

»Hallo?« flüsterte O’Toole verzweifelt.

Endlich knackte es im Hörer. Vorn, beim Eingang der Schenke, wandten sich die Blicklosen um. Hinter ihren Beinen war das blutige Bündel zu erkennen, das bis vor wenigen Minuten ein Mensch gewesen war.

»Mr. Carter!« rief O’Toole halblaut. »Kommen Sie schnell! Es - es sind Ihre Leute - der Baggerführer… Hier, im Stars of Eire - mein Gott, sie töten uns alle!«

Der Wirt konnte nicht mehr weiterreden, als er das teuflische Grinsen auf den Fratzen der Blicklosen sah. Es schien so, als konnten sie durch die Männer an der Theke hindurchsehen.

Und O’Toole hatte die schlimme Ahnung, daß zumindest der Baggerführer haargenau wußte, wen er angerufen hatte.

***

»Hallo!« schrie Carter in die Membrane. »He, Mann! Reden Sie weiter!«

Keine Antwort. Nicht einmal die übliche Kneipengeräuschkulisse klang aus dem Hörer.

»So melden Sie sich doch! Was ist geschehen?« versuchte Carter es noch einmal. Bis er begriff, daß es sinnlos war.

Der Mann am anderen Ende hatte noch nicht aufgelegt. Dennoch war seine Stimme wie abgeschnitten.

Carter wußte jetzt, was es bedeutete - auch wenn er die Schreckensnachricht noch nicht verdaut hatte. Er sprang auf, schmetterte den Hörer in die Gabel.

Fast unnatürliche Ruhe befiel ihn, als er die Pistole aus der Schublade nahm. Eine Hochleistungswaffe aus der Schweiz. SIG P 240, Kaliber .38 Special Wadcutter. Carter benutzte diese Pistole normalerweise für seine Freizeitbeschäftigung, den Schießsport. Aber meistens nahm er sie auch dann mit, wenn er außerhalb von Dublin arbeitete. Aus Sicherheitsgründen. Auch in Irland war das keine unbegründete Vorsichtsmaßnahme.

Carter schob eines der gefüllten Magazine ins Griffstück der Waffe, zog den Schlitten zurück und beförderte die erste Patrone in die Kammer. Bevor er die langläufige Pistole in den Hosenbund schob, überzeugte er sich, daß der Sicherungshebel auf S stand. Das zweite Magazin verstaute er in der Jackentasche.

Dann hastete er los.

Keine zwei Minuten waren nach dem Anruf vergangen, als Carter aus dem Hotel stürmte. Es war sinnlos, den Land Rover zu benutzen. Bis zum Stars of Eire betrug die Entfernung knapp fünfhundert Meter.

Carter rannte mit langen, federnden Sätzen. Sein Körper war durchtrainiert, sportgestählt.

Durch ein Labyrinth von schmalen Gassen näherte er sich zielstrebig dem Stadtrand. Er kannte sich gut genug in Grimshaw aus, brauchte also nicht zu befürchten, daß er die Orientierung verlor.

Mit wehendem Jackett hastete er um die letzte Gebäudeecke.

Am Ende der Straße sah er die Lichter. Die Lichtquadrate der Fenster und der Schein der gußeisernen Laterne, die über dem Eingang der Schenke hing.

Carter beschleunigte seine Schritte. Ein unerklärlicher Zwang trieb ihn voran - mehr als nur der Wille, zu helfen.

Er war noch fünfzig Meter von der Schenke entfernt.

Ein markerschütternder Schrei zerriß die Stille des Abends.

Carter zog die Pistole, entsicherte im Laufen. Er wußte nicht einmal, ob er die Wesen mit dieser Waffe bekämpfen konnte. Aber es war ein beruhigendes Gefühl, ihnen nicht mit bloßen Fäusten gegenüberstehen zu müssen.

Als Carter den Eingang des Stars of Eire erreichte, hörte er ein hohles, höhnisches Lachen.

Wieder folgte ein Schrei. Es war der Schrei eines Menschen, der sich in höchster Todesangst befand.

Mit der Linken stieß Carter die Tür auf. Das Licht flutete ihm entgegen, blendete ihn jedoch nur einen Sekundenbruchteil lang. Breitbeinig blieb er in der offenen Tür stehen. Blitzschnell erfaßte er die Situation. Und er empfand keine Angst. Seine Entschlossenheit, die finsteren Mächte zu bezwingen, war stärker. Die Gesichter der Blicklosen hatten nichts Menschliches mehr. Der Blutrausch hatte ihre Züge zu Fratzen entstellt. Nur noch entfernt war die Ähnlichkeit mit denen, die Carter gekannt hatte.

Ian Hirst, der Baggerführer, hielt einen Mann gepackt, der sich verzweifelt in dem gnadenlosen Griff wand. Der Mann schrie noch immer. Es mußte mehr von den Fäusten des Blicklosen ausgehen als nur körperlicher Schmerz.

Die anderen umringten den Baggerführer, bereit, ebenfalls das Opfer zu packen.

Hirst hatte Carter zuerst erblickt. Nun wandten sich auch seine Gefährten zur Tür um.

Aus den Augenwinkeln heraus sah der Bauingenieur die beiden Toten und die Männer, die, starr vor Angst, an der Theke verharrten.

»Packt ihn!« schrie Hirst, ohne sein Opfer loszulassen.

Die Bauarbeiter schnellten vorwärts. Sie bewegten sich lautlos und blitzartig, schienen auf die gleiche Weise über den Boden zu schweben, wie Carter es schon vorher bei Hirst beobachtet hatte.

Er reagierte im Bruchteil eines Atemzugs, riß die Pistole in Anschlag, visierte an und zog durch.

Feuerrot sprang der Mündungsblitz den vordersten der Blicklosen an. Ohrenbetäubend hallte der Donner des Schusses von den Wänden des Schankraumes zurück.

Carter zögerte nicht, schwenkte den Lauf der Waffe nur knapp herum und drückte rasend schnell hintereinander ab.

Viermal spie die SIG stumpfe Wadcutter-Kugeln aus. Geschosse, deren Spitzen flach waren, damit sie präzise, kreisrunde Löcher in Zielscheiben stanzten.

Und viermal traf Carter, ohne die Männer an der Theke in Gefahr zu bringen.

Erst danach nahm er die Wirkung der Schüsse wahr. Schon im Begriff, erneut zu feuern, ließ er die schwere Pistole sinken.

Verblüfft öffnete er den Mund.

Die vier getroffenen Bauarbeiter waren wie zu Statuen versteinert, mitten in der Bewegung zur Leblosigkeit verdammt.

Den einen hatte Carter in der Stirn erwischt. Nur die Einschußöffnung war zu sehen. Kein Blut. Ebenso verhielt es sich bei den anderen.

Hirst stieß einen lästerlichen Fluch aus. Er schleuderte den Mann von sich, den er bis eben festgehalten hatte. Der Baggerführer schien zu ahnen, welche Gefahr von Carter ausging. Hirst versuchte, seine erstarrten Gefährten beiseite zu drängen. Es gelang ihm nicht.

Fluchend umrundete er die anderen.

Und lief Carter haargenau vor den Lauf.

Der Bauingenieur wartete keinen Augenblick. Anvisieren und Abdrücken waren eines.

Im Krachen des Schusses wurde Hirst gestoppt. Er erstarrte vornübergebeugt, schon im Sprung. Auf seinem Rücken war das mächtige Ausschußloch zu erkennen, das die Wadcutter-Kugel gerissen hatte. Aber auch hier war kein Blut.

Nur das Ächzen des Mannes war zu hören, der um Haaresbreite dem Tod entronnen war.

Keiner der Anwesenden rührte sich.

Und nun sah Carter die Veränderung, die plötzlich mit den Blicklosen vor sich ging.

Ihre Augen begannen zu leben, flackerten auf. Die Pupillen wurden sichtbar.

»Nein«, flüsterte Carter tonlos. Die anderen konnten nicht beobachten, was er sah. Wieder war er es allein, der das Grauenvolle, das Unfaßbare erlebte.

So rasch, wie die Augen der Bauarbeiter aufgeflackert waren, erloschen sie. Ihre zu kurzem Leben erwachten Blicke brachen.

Im gleichen Moment sanken ihre Körper in sich zusammen. Hart schlugen sie auf die Bodendielen.

Blut strömte aus den Wunden, die Carters Kugeln verursacht hatten.

Ihm wurde klar, daß die Männer erst in diesem Moment wirklich gestorben waren. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte sie getötet. Aber war er verantwortlich? Hatte er nicht in Notwehr gehandelt? Sicher, dafür gab es genügend Zeugen. Und dennoch… Es waren keine menschlichen Wesen, die vor ihm in ihrem Blut lagen.

Carter wischte sich mit der Linken über die Stirn. Dann sicherte er die Pistole, schob sie hinter den Gürtel. Er verscheuchte die bohrenden Gedanken. Es war zuviel, um es jetzt schon verarbeiten zu können.

Allmählich überwanden auch der Wirt und die übrigen Männer ihren Schreck. Die furchtbare Angst der letzten Minuten wich erlösendem Aufatmen.

O’Toole schrie sich die Erleichterung von der Seele.

»Auch wenn die Polizeistunde vorbei ist, Jungs… Jetzt gibt’s für alle einen doppelten Tullamore! Auf Kosten des Hauses!«

Die Männer brüllten Beifall. Sie bemühten sich, die Toten nicht mehr anzusehen.

O’Toole kam hinter der Theke hervor, als Carter sich näherte. Der hemdsärmelige Wirt klopfte ihm auf die Schulter.

»Menschenskind, Mr. Carter! Bin ich froh, daß ich Sie angerufen habe! Es ist - ach, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Vielleicht finde ich später die richtigen Worte.«

Carter nickte versonnen.

»Rufen Sie die Polizei an, Mr. O’Toole. Und den Arzt.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Mann, der noch am Boden hockte und sich den schmerzenden Arm rieb.

O’Toole eilte ans Telefon. Carter kümmerte sich um den Mann, der mit dem Leben davongekommen war. Er half ihm auf die Beine, dirigierte ihn zu einem Stuhl.

»Wie heißen Sie?« fragte er.

»Shannon, Sir. Delbert Shannon.«

»Mr. Shannon, Sie haben diese Wesen aus nächster Nähe gesehen. Werden sie vor der Polizei bezeugen, was Sie gesehen haben?«

»Darauf können Sie sich verlassen, Sir«, ächzte der Mann, »und ich werde auch bezeugen, was diese Kerle mit Kirby und Grumble gemacht haben.«

Grumble war der Tote, der an der Wand neben der Tür lag.

»In Ordnung«, murmelte Carter, »ich werde einen guten Zeugen brauchen können. Aber jetzt bringe ich Ihnen Ihren doppelten Whisky.«

Shannon versuchte ein Lächeln. Es mißlang.

***

Chef-Konstabler Williams stapfte als erster in den Raum. Ihm folgten vier uniformierte Beamte. Er hatte alles mobilisiert, was die Polizeigewalt von Grimshaw aufzubieten hatte.

Vor den toten Bauarbeitern verharrte der Polizeichef. Er ließ seinen Blick über die erstarrten Körper gleiten. Seiner verkniffenen Miene war anzusehen, daß er sich alle Mühe gab, seine innersten Gefühle nicht zu zeigen.

Anders bei den vier Männern, die Williams mitgebracht hatte. Die bleichen Gesichter der Beamten zeigten deutlich, wie wenig alltäglich der Anblick von Toten, für sie war.

Der Chef-Konstabler ging zu dem blutigen Trümmerhaufen, der einmal ein Klavier gewesen war. Stumm betrachtete er den grauenhaft verstümmelten Leichnam des Pianisten Patrick Kirby. Dann ging er - immer noch wortlos - zu dem Toten namens Grumble. Nachdem er auch dessen leblosen Körper eingehend gemustert hatte, wandte sich Williams seinen Beamten zu.

»Zwei Mann bleiben draußen als Posten!« befahl er barsch. »Die Tür wird verriegelt. Nur den Doktor laßt ihr herein!« Er machte eine Kopfbewegung zum rückwärtigen Teil der Schenke. »Donaghan, Sie bewachen die Hintertür!«

Der Beamte rannte los. Desgleichen die beiden anderen, die draußen Posten beziehen sollten. Der vierte blieb an der Tür und schob den schweren eisernen Riegel vor.

Williams trat auf die Theke zu, wo Carter mit den anderen Männern stand.

Breitbeinig baute sich der Polizeichef auf.

»Ich höre!« bellte er.

Wortlos schlug Carter sein Jackett auf, so daß der Griff der schweren SIG-Pistole zu erkennen war.

Williams’ Blick heftete sich auf die Waffe. Doch er verkniff sich sowohl einen Wutausbruch als auch eine Bemerkung.

»Weiter!« forderte er.

Carter berichtete von dem Zeitpunkt an, als ihn O’Toole im Hotel angerufen hatte. Er verschwieg, daß ihm der Baggerführer schon zweimal vorher begegnet war.

Als Williams auch auf die Schilderung der blicklosen Wesen keine erkennbare Reaktion zeigte, kam Carter allmählich zu der Überzeugung, daß der Chef-Konstabler hinter seiner ruppigen Maske lediglich seine Unsicherheit verbarg.

»Sir!« rief der Beamte an der Tür.

»Ja?« antwortete Williams, ohne sich umzudrehen.

»Der Doktor!«

»Reinlassen!«

Ein kleiner bebrillter Mann schlüpfte herein. In der Rechten trug er den typischen Lederkoffer der Landärzte. Carter glaubte, den Doktor unter den Zuhörern bei der Versammlung gesehen zu haben.

Der Doktor stand mit offenem Mund da, während der Beamte hinter ihm die Tür wieder verriegelte.

»Sir, wir haben einen Verletzten«, sagte Carter in die Stille. Er deutete auf Shannon, der neben ihm stand.

Williams kniff die Augen zusammen, blickte Shannon an und nickte.

»Doktor!« rief er. Wieder drehte er sich nicht um. »Kümmern Sie sich um Mr. Shannon! Anschließend nehmen Sie sich die Toten vor!«

»J-ja«, krächzte der Arzt mit zittriger Stimme.

Der Polizeichef gab Shannon einen Wink. Shannon stieß sich von der Theke ab und stelzte mit steifen Bewegungen zu einem der Tische, wo er sich auf einen Stuhl setzte. Der Doktor kam heran und klappte seinen Koffer auf.

»Mr. O’Toole!« sagte Williams. »Sie sind dran!«

Der Wirt stemmte seine Fäuste auf die Theke und begann zu reden. Anfangs stockend, dann zusehends flüssiger, schilderte er das grausige Geschehen, das mit dem Auftauchen der Bauarbeiter begonnen hatte.

Williams verzog keine Miene, als er hörte, wie Kirby und Grumble umgekommen waren.

Dann traf der Chef-Konstabler eine schnelle Entscheidung.

»Carter, O’Toole und Shannon… Sie kommen mit in mein Büro. Die anderen gehen nach Hause und halten sich ab morgen früh für die Vernehmung bereit. Die Schenke steht ab sofort unter amtlichem Verschluß. Mr. O’Toole, Sie und Ihre Angehörigen dürfen bis auf weiteres nur die Wohnung im hinteren Teil des Hauses benutzen.«

O’Toole nickte.

»Meine Frau und die Kinder sind bei Verwandten in Dublin… Gott sei Dank.«

»Gehen wir«, ordnete Williams an.

Der Doktor trat auf ihn zu.

»Chef-Konstabler, ich muß darauf bestehen, Mr. Shannon in meiner Praxis zu untersuchen. Er hat zahlreiche Druckstellen, die wie Würgemale aussehen. Außerdem steht er unter Schockeinwirkung. Möglicherweise muß ich ihn ins Hospital einweisen.«

»Auch gut«, brummte Williams, »dann ziehen wir seine Vernehmung nach. Wie bei den anderen.«

Auf Anweisung des Polizeichefs warteten die Männer an der Theke noch, damit die Beamten ihre Personalien aufnehmen konnten. Den beiden Posten vor der Tür teilte Williams mit, daß er ein Spurensicherungskommando der Kriminalpolizei schicken werde.

Dann machte er sich gemeinsam mit Carter und O’Toole auf den Weg.

Vor der Schenke hatte sich eine unübersehbare Menge versammelt. Wie es schien, war ganz Grimshaw auf den Beinen. Gleich vorn standen die Teilnehmer der Versammlung. Carter erkannte Direktor Reilly unter ihnen, auch den Bürgermeister.

»Keine Fragen, kein Kommentar!« rief Williams, bevor jemand etwas sagen konnte. »Macht Platz, Leute! Und geht nach Hause! Es gibt nichts zu sehen!«

Die Bürger schienen ihren Polizeichef zu kennen. Keiner richtete das Wort an ihn, als sie eine Gasse bildeten, um ihn und seine beiden Begleiter durchzulassen. Doch die Leute harrten aus. Sie wußten, daß sie von den anderen Polizeibeamten erfahren würden, was geschehen war.

Im Polizeigebäude mußten Carter und O’Toole auf einer Holzbank im Korridor warten, bis Williams seine Anrufe erledigt hatte. Dann würde der Wirt des Stars of Eire ins Büro des Chef-Konstablers zitiert. Inzwischen war die Sekretärin eingetroffen, die Carter bereits kannte.

Eine gute halbe Stunde lang hockte er allein in dem kahlen, ungemütlichen Korridor. In seinem Kopf herrschte eine unerklärliche Leere. Er hätte Zeit gehabt, sich mit Überlegungen zu plagen, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen zu treffen. Doch er hockte einfach da, rauchte eine Zigarette nach der anderen und starrte die gegenüberliegende Wand an.

Endlich öffnete sich die Tür. O’Toole kam heraus.

»Ich habe alles gesagt«, flüsterte er Carter zu. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«