Woanders ist es anders - Ilsebill Hobbeling - E-Book

Woanders ist es anders E-Book

Ilsebill Hobbeling

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Beschreibung

Beim Familienurlaub in Frankreich drängt die impulsive Charlotte darauf, sich dauerhaft in Frankreich niederzulassen. Ihr Mann Thomas ist deutlich besonnener als sie; trotz allerhand Bedenken lässt er sich aber von der Begeisterung anstecken. Die beiden beginnen mit der Suche nach einem Standort im Périgord, besonders Charlotte treibt die Auswanderpläne voran. Nicht immer im Einklang mit Thomas. Und was sagen die Kinder, der sechsjährige Anton und die zwölfjährige Emily? Konflikte sind vorprogrammiert, äußere und innere Widerstände tauchen auf, und Zweifel begleiten das Projekt. Wird die Familie sich dauerhaft ein neues Zuhause im Ausland schaffen oder doch im schönen Wiesbaden bleiben?

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Das Buch

Charlotte träumt davon, sich mit ihrem Mann Thomas und ihren Kindern Emily und Anton dauerhaft in Frankreich niederzulassen. Sie möchte im Périgord alte Gemäuer in attraktive Ferienwohnungen verwandeln. Thomas lässt sich trotz Bedenken von ihrer Begeisterung anstecken, und sie beginnen mit der Suche. Doch das Projekt steckt voller Tücken, und die Kinder sind alles andere als begeistert. Auch Charlotte und Thomas sind nicht immer einer Meinung, Konflikte und Zweifel werden zum ständigen Begleiter. Und nicht nur die fremde Sprache erweist sich als große Herausforderung. Es ist ein Weg mit vielen Klippen. Wohin wird er sie führen?

Die Autorin

Die Liebe zum Schreiben und Lesen zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Ilsebill Hobbeling. Nach dem Studium der Germanistik war sie über zwanzig Jahre lang verantwortlich für Werbung und PR in einer großen Fachverlagsgruppe. Sie absolvierte Fernlehrgänge für Belletristik und Kinder- und Jugendliteratur, bloggt und ist passionierte Tagebuchschreiberin. Neben einer Biografie über das Leben ihrer Mutter veröffentlichte sie den Roman, „Zu jung für sie?“ Die Autorin wurde in Krefeld geboren, sie lebt seit vielen Jahren mit ihrem Mann im Rheingau, in der Nähe von Wiesbaden. Sie hat zwei Kinder und vier Enkelinnen.

Für Julia und Benjamin

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

1

„Das hat die Mama doch nicht so gemeint!“ Thomas drehte sich zur Rückbank um und wuschelte leicht durch die lockigen Haare seines Sohnes Anton. „Jetzt machen wir das versprochene Picknick, wir suchen eine schöne Stelle am Wasser.“

„Das habe ich sehr wohl so gemeint.“ Charlotte blitzte ihren Mann an, bevor sie das Auto schwungvoll in einen Schrägparkplatz lenkte, zum Stehen brachte und mit einem energischen Ruck die Handbremse anzog. „Schaut euch doch mal um, wie schön es hier ist.“ Sie breitete die Arme aus, dann zeigte sie auf den Fluss, der sich durch saftig grüne Wiesen vorbei an üppig wuchernden Büschen durch die Landschaft schlängelte. Einen Steinwurf entfernt überspannte eine alte Bogenbrücke die Dordogne. Dahinter säumten, dicht an dicht, helle Häuschen mit dunkelroten Spitzdächern wie Hexenhüte das Ufer zur Rechten. Die Häuserreihe duckte sich an den Fuß einer schroffen Felswand. Am Vormittag hatten sie eine Burg besichtigt, die ihnen einen grandiosen Blick auf die zahlreichen Schleifen, Schluchten und Kalkfelsen der Dordogne gewährt hatte.

Thomas’ Lippen wurden schmal, er stieg wortlos aus. Anton klickte auf den Gurt seines Kindersitzes und wand sich geschickt aus dem Auto. Seine Schwester Emily, eine dünne Zwölfjährige mit endlos langen Beinen, öffnete die hintere Wagentür und setzte langsam einen Fuß nach dem anderen auf das Pflaster. Sie streckte sich einmal durch, dann schaute sie auf ihr Handy. „Zwanzig Grad, na immerhin.“

„Könnt ihr euch noch erinnern, wie trostlos das Wetter in Wiesbaden war? Hier ist die Luft so seidig und das Licht so sanft“, sagte Charlotte. Emily schaute kurz zu ihrer Mutter, drehte sich um und tippte kaum merkbar mit dem Finger an die Stirn. Bezog es sich auf die Aussage im Auto? Oder auf die blumige Formulierung übers Wetter? Oder war es vager Unmut, der neuerdings anscheinend grundlos von ihr Besitz ergriff?

Thomas holte einen Korb aus dem Kofferraum, drückte Emily eine grün-weiß karierte Decke in die Hand und Anton ein Federballspiel. Charlotte griff nach ihrem Rucksack und einer Tasche mit den Trinkflaschen. Als sie hinter den Dreien hertrabte, biss Charlotte sich auf die Lippen. Das war mal wieder typisch für sie, einfach so rauszuplatzen. Es würde bestimmt auf dieser Reise noch bessere Gelegenheiten geben, um ihrer Familie die Idee nahezubringen, die sich in ihrem Kopf verfestigte. Aber in ihr brodelte es. Warum musste Thomas so tun, als seien solche Gedanken völlig abwegig. Schließlich sprachen sie seit fast drei Jahren immer mal wieder darüber, dass sie sich einen Neuanfang in einem anderen Land vorstellen könnten – und jetzt diese ablehnende Reaktion – manchmal verstand sie ihren Mann nicht.

Thomas breitete die Picknick-Decke auf einer ebenen Grasfläche direkt am Flussufer aus. Paddler in ihren schmalen Kanus glitten nahezu lautlos flussabwärts; die Sonne ließ die roten und gelben Boote leuchten und malte glitzernde Kringel auf das Wasser. Charlotte nahm das Tuch vom Korb und entnahm ihm die Lebensmittel, die sie im supermarché gekauft hatten.

„Dieses Brot ist so knusprig und innen weich, und die pâté zergeht auf der Zunge. Das können nur die Franzosen.“ Charlotte holte ihr Taschenmesser heraus, schnitt mehrere Stücke Käse zurecht und arrangierte sie auf einem Holzbrett, legte Weintrauben daneben. „Hm, riecht doch mal, himmlisch!“ Anton griff nach einem größeren Stück, Thomas ebenso. Emily schaute lange auf das Brett und nahm sich einen kleinen Streifen Hartkäse. Mit einem „Tataa!“ zog Charlotte kleine Gläschen mit crème brûlée aus dem Korb. Anton hatte seins ruckzuck leer gelöffelt, Emily kratzte das Glas geräuschvoll klappernd aus.

„Der fromage blanc ist auch göttlich, warum gibt es so etwas bei uns nicht?“ Charlotte drehte und wendete den Löffel in ihrem Mund, leckte ihn ausgiebig ab. „In Frankreich ist ...“, Thomas warf seiner Frau einen scharfen Blick zu, und sie verstummte.

Nach der Burgbesteigung am Vormittag und dem üppigen Picknick ergriff alle eine große Trägheit. Nur der nimmermüde Anton schaute in die Runde und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann knöpfte er seinem Vater das Versprechen ab, später eine Runde Federball mit ihm zu spielen. „Von dir kann ich wohl nichts erwarten“, er schaute zu seiner Schwester. „Das siehst du völlig richtig“, sagte Emily und ließ sich auf die Decke sinken.

„Ich spiele auch mit dir“, sagte Charlotte, „aber ein wenig später.“ Thomas deckte das Tuch über die verbliebenen Lebensmittel im Korb und legte die Wasserflaschen in den Schatten. Er wirkte immer noch verärgert. Charlotte umfasste ihre Knie und schloss die Augen. Ihre Gedanken kreiselten wie Autoscooter – bremsten, nahmen Fahrt auf, stießen an, stießen sich wieder ab. Das nächste Mal würde sie das Thema Neuanfang in Frankreich auf jeden Fall diplomatischer angehen.

Als die Kinder sich abends in ihr Zimmer verzogen hatten, machten es sich Thomas und Charlotte auf der Terrasse ihrer Ferienwohnung gemütlich. Thomas entkorkte eine Flasche trockenen Weißwein, Charlotte legte ein Baguette, ein paar Weintrauben und einen Picandou, einen cremigen, zart schmelzenden Ziegenkäse aus dem Périgord, auf ein Holzbrett.

Die Wohnung befand sich auf einem Hügel, der einen weiten Blick in die sanft gewellte Landschaft bot. Unterhalb der Terrasse bauschten sich üppige, grau-grüne Lavendelbüsche. Im Sommer dürften sie für prachtvolles Lila, herrlichen Duft und Bienengesumme sorgen. Dahinter leuchtete das frische Grasgrün der Wiesen rechts und links der geschotterten Zufahrt. Halbhohe Büsche standen zur Linken, ein paar Zypressen ragten etwas weiter entfernt ins Bild. Rechts vom Weg, halb verdeckt von einer Hecke, war ein einzelnes, für die Gegend so typisches Haus zu sehen. Aus sandfarbenem Stein, mit einem tief heruntergezogenen dunkelroten Dach. Ab und an raschelte ein Windhauch durch die Büsche, ansonsten war es still.

Charlotte räkelte sich und sagte: „Ist es nicht wunderbar, dass wir Ende März noch so lange abends draußen sitzen können?“ Thomas nickte. „Das geht hier bis weit in den November hinein. Und dieser Blick, diese vielen unterschiedlichen Grüntöne. Grandios.“

Thomas räusperte sich. „Hoffentlich gefällt es den Kindern hier, so ganz ohne Nähe zum Meer.“ „Anton war begeistert von der Burg, und das war nur eine von vielen, die wir besichtigen können. Es gibt so viel zu sehen“, sagte Charlotte mit Nachdruck.

Natürlich würden sie den Kindern etwas bieten müssen. Der sechsjährige Anton machte bei allem freudig mit. Bei Emily war es inzwischen schwieriger, sie für etwas zu begeistern. Zwar liebte sie Frankreich, genau wie ihre Eltern, aber was brauchte eine Zwölfjährige im Urlaub? Strandleben und Schwimmen im Meer waren auf den ersten Blick schwer zu ersetzen. Und wenn sie eine Halbwüchsige dazu bringen sollten, ihr gut verankertes Leben in Deutschland für ein Leben im Ausland aufzugeben, würden sie kreativ werden müssen. Aber Kindern die Möglichkeit zu geben, Menschen mit anderen Lebensentwürfen kennenzulernen und ihren Horizont zu erweitern, das war doch wohl mehr als sinnvoll. Ach, wird schon werden, dachte Charlotte und zerdrückte ein Stück Käse mit der Zunge.

Bevor die Kinder zur Welt kamen, hatten sie große Fernreisen unternommen, Indien und Indonesien bereist und waren lange durch Südamerika getourt. Mit den Kindern hatte es sie von Anfang an nach Frankreich gezogen, ohne dass es eine Diskussion zwischen ihnen brauchte. Aber immer war das Meer in der Nähe gewesen, ob in der Normandie, der Bretagne oder ganz im Süden, an der Côte d’Azur. Dann hatten Freunde vom Urlaub an der Dordogne geschwärmt, und sie waren sich sofort einig, dass sie eine neue Region Frankreichs kennenlernen wollten.

Charlotte beugte sich vor. „Da hinten, die roten Dächer, die durchblitzen, das wird Sarlat sein, ich bin sehr gespannt auf das mittelalterliche Städtchen.“

„Könnte von der Richtung her stimmen.“ Thomas griff mit seinen langen dünnen Fingern nach dem Glas mit dem Rotwein und ließ ihn sanft hin und her schaukeln, bevor er einen Schluck nahm. „Ausgezeichnete Wahl“, murmelte er.

Wie gutaussehend Thomas doch war. Vor allem seine Augen – mit einer Iris von fast unnatürlich intensivem Blau, das ans Türkis grenzte – waren bemerkenswert. Sie hatten Charlottes Mutter seinerzeit dazu veranlasst zu sagen: „Auf den musst du aufpassen.“ Ach ja, ihre Mutter, ein Thema für sich. Thomas scherte sich wenig darum, dass Frauen ihn attraktiv fanden. Sonst hätte er wohl auch sein dichtes, mittelbraunes, ziemlich langes Haar nicht sommers wie winters unter einer Mütze oder Kappe versteckt. Sein T-Shirt zierte heute der Schriftzug ’Ich würde dir ohne Bedenken meine Mütze schenken’. Charlotte war sich nicht sicher, ob er seine – nahezu sämtlich mit Sprüchen versehenen – T-Shirts und Sweatshirts bewusst nach den Texten auswählte oder einfach wahllos danach griff. Mit Anfang Zwanzig hatten sie sich kennengelernt, seit knapp siebzehn Jahren waren sie ein Paar, doch manchmal hatte sie das Gefühl, ihren Mann noch immer nicht richtig zu kennen.

Sie drehte sich zu ihm. „Warum hast du heute Morgen so getan, als sei es überhaupt kein Thema, nach Frankreich zu ziehen? Ich dachte, wir wären uns einig, das als Möglichkeit mal zu prüfen.“

„War das nicht eher Spinnerei?“

„Spinnerei?“ Charlotte richtete sich ruckartig auf. „Was soll das? Du bist doch derjenige, der sich über seinen Job beklagt und sich am liebsten selbstständig machen würde.“ Sie pflückte ein paar Weintrauben vom Stiel, es knackte vernehmlich, als sie sie im Mund zerdrückte. „Du schimpfst ständig über die starren Vorschriften in Deutschland, über die unglaubliche Bürokratie – keine Treppe ohne TÜV, kein Bleistift ohne DIN-Norm – Deine Worte. Und Dein Chef bremst dich aus. Träumst du etwa nicht davon, Gebäude in Eigenregie zu renovieren?“

„Ja schon“, sagte Thomas gedehnt, „aber muss es dann gleich im Ausland sein?“

„In Deutschland ist so vieles festgefahren. Wir haben über Frankreich gesprochen. Hier gibt es ganz andere Möglichkeiten, und hier wäre es ein echter Neuanfang, Abenteuer pur, das wollten wir doch immer.“

„Okay, lass’ uns ein wenig rumspinnen.“ Er ignorierte, dass Charlotte die Augen verdrehte. „Aber doch nicht vor den Kindern! Anton ist sechs. Es macht ihm Angst, wenn du sagst, lass’ uns unser Leben in Deutschland aufgeben und für immer nach Frankreich ziehen.“

„Anton ist glücklich, wenn er seine Familie um sich hat. Völlig egal, ob in Deutschland oder Frankreich.“ Sie warf sich ein paar Weintrauben in den Mund, schloss die Augen und genoss die Süße.

„Lotti! Hast du bemerkt, wie verschreckt Anton gefragt hat: für immer?“ (Thomas wusste, wie sehr seine Frau es hasste, wenn er sie Lotti nannte.) „Und willst du wirklich Emily mit ihren zwölf Jahren aus ihrer gewohnten Umgebung reißen und sie zu einem schulischen Neuanfang in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache zwingen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Emily liebt Frankreich. Sie hat Französisch als erste Fremdsprache gewählt, nicht wir haben sie dazu gedrängt. Und sie erzählt gerne, sie hätte französisches Blut in den Adern, von ihrem Uropa.“ Charlottes Stimme bekam wieder diesen ganz bestimmten Klang, den Thomas so gut kannte. Eindringlich, bohrend. Er seufzte, nahm das Messer und verstrich ein wenig Ziegenkäse auf einem Stück Brot.

„Thomas, als Bauingenieur hast du super Chancen in Frankreich. Ich habe mich schlau gemacht im Internet.“ Sie beugte sich zu ihm. „Und als Physiotherapeutin finde ich so gut wie sicher einen Arbeitsplatz. Aber das ist nur für den Hinterkopf. Eigentlich ist ja unser Traum, alte Gebäude zu finden, zu renovieren und sie in Schmuckkästchen zu verwandeln. Schau dir diese Wohnung an, was die Vermieter aus dem ollen alten Haus gemacht haben. Du hast die Fotos im Flur gesehen.“ Charlottes Stimme klang nun zart schmelzend wie französischer Brie, und um Thomas’ Lippen legte sich ein leichtes Lächeln.

Die Ferienwohnung war geräumig und hell und verfügte über zwei Terrassen und einen kleinen Garten mit einer Schaukel und einer steinernen Tischtennisplatte. Vor allem die Küche begeisterte sie beide, es fehlte an nichts, hier hatte jemand wirklich nachgedacht und sich in die Bedürfnisse von Urlaubern eingefühlt. Beim Blick in Schränke und Schubladen hatten sie alles gefunden, was man brauchte: Es gab genügend Messer (wichtig für Thomas) und Schneidebretter aus Holz in mehreren Größen (wichtig für Charlotte). Und genug Geschirr, sodass man nicht jeden Tag die Spülmaschine anwerfen musste.

Charlotte griff nach dem Ringordner, der umfangreiches Kartenmaterial und zahlreiche Tipps für Touren in der näheren und weiteren Umgebung enthielt, mit dicken farbigen Kartons thematisch unterteilt. „Guck mal, wie liebevoll das zusammengestellt ist. Das wäre dein Job. Und ich würde auf jeden Fall Blumensträuße in den Wohnungen verteilen, die müssen ja nicht riesig sein, ein Väschen mit ein paar Gräsern und einer einzelnen Blüte ...“, sie verstummte, als sie Thomas’ Gesicht sah.

„Blümchen? Wohnungen? Gleich mehrere?“

„Ja, nein, ich meine ja nur, natürlich würden wir mit einer Wohnung beginnen.“ Charlotte griff nach den letzten Weintrauben. „Leben und Arbeiten in Frankreich – wäre das nicht ein Traum?“, sagte sie versonnen.

„Du stellst dir alles immer so einfach vor. Wie willst du das finanzieren?“

„Wir verkaufen unser Häuschen, wenn das nicht reicht, bitte ich meine Mutter um vorzeitige Auszahlung meines Erbes.“ Thomas verschränkte seine Arme. „Und du glaubst wirklich, deine Mutter macht da mit?“ Charlotte zuckte mit den Schultern. Das würde nicht einfach werden, das war ihr natürlich klar. Die Beziehung zu ihrer Mutter war gelinde gesagt nicht die beste. „Dann müssen wir es eben anders schaffen“, sagte sie mit trotzigem Unterton. Und schob betont langsam hinterher: „Das Einzige, was ich im Moment will, ist, dass wir beide uns darauf einigen, also, dass wir uns einig sind, dass wir es wollen würden.“ „Wir einigen uns, dass wir es wollen würden?“ Thomas lachte, und Charlotte stimmte froh mit ein.

„Ich bin bereit, mich damit zu beschäftigen, aber nur, wenn wir die Kinder außen vor lassen. Komplett, Charlotte! Und ich möchte entspannt Urlaub machen.“

„Das wirst du, das werden wir“, sagte sie eifrig. „Wir halten unterwegs die Augen auf, vielleicht begegnet uns etwas Schönes. Und bei der nächsten Gelegenheit gehe ich alleine in eine Immobilienagentur in Sarlat, die Kinder bekommen das gar nicht mit. Aber wir brauchen eine Auflistung unserer Anforderungen, unserer Wünsche. Ich hole etwas zum Schreiben.“ Sie war schon halb auf dem Weg in die Wohnung, aber Thomas winkte ab. „Nicht mehr heute Abend.“

„Aber morgen, versprochen?“ Er lächelte leicht. „Ich würde nicht wagen, dir das abzuschlagen.“

Charlotte ging mit einem Spruch ihrer Mutter zu Bett: ’Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe’. Sie würde Wege finden.

2

Am nächsten Morgen maulten die Kinder kurz, dass sie zu Fuß nach Sarlat laufen sollten. Der Weg begann unspektakulär; er führte sie den Hügel hinunter, vorbei an schlichten Einfamilienhäusern beidseits der Straße. „Toll hier“, murmelte Emily und verzog das Gesicht, „Sarlat ist ja so schön.“ Charlotte, wie immer mit ihren langen Beinen mit forschem Schritt voraus, stoppte an einer größeren Kreuzung, um sich zu orientieren. „Geradeaus“, rief Thomas. Sie folgten einer Weile einem unscheinbaren schmalen Sträßchen; nach einer Biegung blieb Charlotte abrupt stehen – „et voilà“, rief sie und breitete die Arme aus. Sandsteinfarbene, mit Glyzinien berankte Altbauten säumten die gepflasterte Gasse rechts und links, an geschwungenen, schmiedeeisernen Halterungen baumelten kunstvoll beschriftete Schilder oder altertümliche Laternen. Vor einem Lädchen türmten sich Korbwaren auf dem schmalen Bürgersteig, dazwischen waren große und kleine hölzerne Gartenlaternen gruppiert: auf Stühlen, einem runden Tisch und schmalen Bänkchen. Eine mit Sukkulenten bepflanzte Zinkwanne stand auf einer schrägen Fensterbank, es sah so aus, als würde sie jeden Moment herunterrutschen. Gegenüber duftete es nach Kaffee und Croissants. Ein die Abschüssigkeit der Straße ausgleichendes, einfach gezimmertes Holzpodest beherbergte die Terrasse eines Cafés. Die meisten Tische waren besetzt. Drei Frauen waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Die eine griff in ihren Korb, holte einen Käse heraus und pries ihn den anderen lautstark an, mit wild gestikulierenden Händen. Ein alter Mann war tief über die Tageszeitung gebeugt, hob den Kopf nur, um an seinem Kaffee zu nippen und die Tasse geräuschvoll wieder abzustellen. Es war eine Szenerie wie aus einem Reiseführer.

„Oh, schaut mal“, rief Emily und blieb vor einem Lädchen stehen, in dem es Schmuck und allerhand Krimskrams gab. „Wir wollen uns erst mal einen Überblick verschaffen“, sagte Charlotte, legte ihr die Hand auf die Schulter und wollte sie sanft weiter schieben. Mit einer abrupten Bewegung schüttelte Emily sie ab. Kurz darauf öffnete sich die Gasse auf einen in helles Licht getauchten großen Platz, von dem Stimmengewirr zu ihnen heraufdrang.

„Place de la Liberté“, las Charlotte vor.

„Ich brauche meine Sonnenbrille“, rief Emily. „Bitte sehr, eine Runde Sonnenschutz.“ Charlotte kramte aus ihrem Rucksack ein schickes, blau-grünes Modell für Emily, gab Anton seine kleine runde Brille und setzte ihr schon älteres Gestell auf. „Du könntest dir mal eine neue Sonnenbrille zulegen, Mama.“ Emily rümpfte die Nase. Charlotte lächelte etwas verkrampft. Sie war gewohnt, dass ihre Mutter an ihrem Äußeren herumkrittelte und kaum eine Gelegenheit ausließ zu sagen, sie sollte mehr aus sich machen. Ihre überschulterlangen, roten, lockigen Haare hatte Charlotte meist achtlos am Hinterkopf zusammengesteckt; zu ihrer Lieblingshose, einer weiten Jeans, die ihre schlanke Figur allenfalls erahnen ließ, trug sie meist schlichte T-Shirts und darüber nahezu immer ihre ausgebeulte graue Strickjacke. Aber dass ihre Tochter nun auch schon begann, sie kritisch zu mustern! „Wenigstens Wimperntusche und Lidstrich könntest du benutzen, Mama“, hatte Emily vor Kurzem gesagt. „Deine Augen (sie waren groß und schilfgrün) sind ganz okay, aber ohne Schminke ...“

Charlotte schob die Ärmel hoch, atmete tief durch und betrat den Platz, der in seinem riesigen Rund wie eine Theaterkulisse wirkte. Vor den mehrstöckigen, honigfarbenen Häusern mit hohen, vielfach unterteilten Fenstern und den typisch französischen Klappläden, hatten die gut besuchten Cafés ihre Markisen ausgefahren. Dazwischen lockten viele kleine Geschäfte mit bunten Auslagen vor der Tür. Rechter Hand stieg der Platz ein wenig an, geführt von einem kleinen Mäuerchen, an das sich Touristen mit Reiseführern in der Hand anlehnten. Quer zur Laufrichtung saß oben auf einer etwas erhöhten Mauer eine lebensgroße bronzene Figur, ein Mann in lässiger Haltung. Die Beine waren leicht geöffnet vor dem Körper aufgestellt; die Arme berührten nur ganz leicht die Knie, baumelten entspannt vor dem Körper. Anton stürmte hinauf und rief von oben herunter: „Er sieht aus wie Papa!“ Alle lachten, Charlotte sagte: „Ja, da ist was dran.“ Nicht nur dass die Figur üppiges, stark gewelltes Haar hatte, markant waren auch die dünnen langen Finger. Die waren es, die bei Thomas schnell ins Auge fielen. Wenn er stand, ließ er sie oft zu seinen Ohrläppchen wandern – als wüsste er nicht wohin damit. Seine ungewöhnlich langen dünnen Arme schob er im Sitzen häufig unter die Oberschenkel. Nachdem sie die Figur ausgiebig betrachtet hatten (Anton tätschelte ihr immer wieder über die Arme.), beugten sich alle vier über die Mauer und genossen den Blick auf den Platz hinunter. „Kein schlechter Ort“, sagte Thomas, „hier hat man einen guten Überblick.“ „Deshalb haben sie ihn genau hierhin gesetzt“, sagte Anton zufrieden. „Er hat alles im Blick.“

„Habt ihr schon einmal so eine große Tür gesehen?“ Thomas deutete auf eine schmale, extrem hohe, doppelflügige Tür zur Rechten. „Das war mal die Kirche Sainte-Marie, das ist heute ein Markt“, sagte Charlotte, die im Reiseführer blätterte. „Es gibt in Sarlat achtundsechzig weltweit anerkannte historische Monumente, also los.“ Emily rollte mit den Augen, und Charlotte beeilte sich zu sagen: „Hier muss ein kleines nettes Plätzchen mit bronzenen Enten sein, mal sehen, wer das als erstes findet.“ Sofort setzte Emily sich in Bewegung, Charlotte und Thomas wechselten einen Blick. An Emilys Ehrgeiz zu appellieren funktionierte immer.

Die Kinder hatten inzwischen ihre Sweatshirts ausgezogen, ebenso Thomas, dessen Shirt heute der Schriftzug Vive la France zierte. Charlotte schlang ihre Strickjacke um die Taille, am liebsten wäre sie ewig stehengeblieben, um die Sonnenstrahlen auf der Haut auszukosten, der frühlingsfrischen Luft nachzuspüren und dem Treiben auf dem Platz zuzuschauen.

Drei Stunden später ließen sie sich erschöpft auf die Stühle eines Cafés fallen und schnatterten durcheinander, tauschten ihre Eindrücke aus. Jeder war auf seine Art begeistert, sogar die Kinder. Für Charlotte waren es nicht so sehr die Sehenswürdigkeiten, die sie so beeindruckten; es waren die gekrümmten, verwinkelten Gässchen in der durch und durch romantischen Szenerie, die vielen niedrigen Torbögen, die Ecken, Winkel und verzierten Dachfirste. Aus den dicht an dicht gestellten Tontöpfen auf den Balkonen, aufgereiht hinter schmiedeeisernen Geländern, duftete es durchdringend nach Basilikum, Zitronenmelisse, Pfefferminze, Salbei und nach Leben in südlichen Gefilden.

Thomas schwärmte von den Fotomotiven. Jedes Mal, wenn man um eine Ecke bog, eröffnete sich ein neues Bild, ein jedes ein Leckerbissen für einen Fotografen. Emily hatte das Fleckchen mit den Enten entdeckt. Und sie war fasziniert von dem wuseligen Treiben auf den vielen Plätzen. Vor allem die Jongleure hatten es ihr angetan. Anton war entzückt, weil er an einer Hausecke einen Minibalkon von der Größe eines kleinen Blumenkübels entdeckt hatte. Hinter dem Gitterchen saß ein Teddy, der mit seinen dunklen Knopfaugen auf sie herabsah. Und als er hörte, dass knapp dreißig Kinofilme in der Stadt gedreht worden waren, nahm er seinen Eltern das Versprechen ab, davon einige zu Hause anzuschauen. „Es ist cool hier, großartig“, schob er nach, sein neues Lieblingswort, das er bei einer Nachbarin aufgeschnappt hatte.

Thomas schaute zu Emily. „Es ist okay“, sagte sie und schob eine Haarsträhne hinters Ohr. Anton biss in seine mit Schokoladencreme gefüllte Crêpe, fuhr sich anschließend mit dem Handrücken über den Mund und verteilte die braune Masse schön gleichmäßig im Gesicht und an der Hand. Thomas konnte ihn gerade noch darin hindern, die Hand an der Hose abzuwischen.

Charlotte stieß einen glücklichen Seufzer aus und sagte: „Das Périgord ist eine historische Region. Es gibt unglaublich viele Burgen in der Gegend, die wir uns ansehen können. Und tolle Schlösser. Die sind viel uriger als die an der Loire, in denen sich die Touristen drängeln. Manche sind regelrechte Märchenschlösser. Und natürlich werden wir uns Kanus leihen und die Dordogne vom Wasser aus erobern“, sagte sie mit Blick auf ihre Tochter, die eine Wasserratte war. Die nickte gelangweilt und sagte: „Lascaux mit seinen prähistorischen Höhlenmalereien interessiert mich am meisten.“ Thomas und Charlotte verzogen keine Miene, so kannten sie ihre Tochter, gerne ein wenig aufsässig, immer für eine Überraschung gut, und vor allem schlau und wissbegierig.

Als sie sich von ihren Stühlen erhoben, träge vom Essen, gewärmt von der Sonne, ertönten plötzlich Akkordeonklänge. Wenige Meter entfernt begann ein junger Mann in einem blau-weiß gestreiften Sweatshirt, die typische Baskenmütze auf dem Kopf, mit geschlossenen Augen Chansons von Jacques Brel zu spielen. Thomas blieb abrupt stehen, seine Hand zuckte zur Kamera, zu gern hätte er den Mann gefragt, ob er ihn fotografieren dürfte, aber Anton zog heftig an seinem Arm und Emily war schon ein paar Schritte entfernt. Thomas seufzte bedauernd. „Wir kommen doch wieder“, sagte Charlotte.

3

Ja, wiederkommen würden sie. Nicht nur nach Sarlat. Das Périgord war mehr als eine Reise wert. Die zwei Wochen waren wie im Flug vergangen; sie waren ständig unterwegs gewesen, immer mit dem Gefühl, es gäbe noch so viel zu sehen und zu erleben. Sie hatten Anton versprochen, sich auf jeden Fall vor der Abreise noch einen Campingplatz im Hinterland von Sarlat anzuschauen. „Es ist ein ganz besonderer Zeltplatz, ein Glamping“, hatte er eifrig erklärt. „Mit Luxus oder Glamour oder wie das heißt, auf jeden Fall großartig.“ Sein Freund hatte dort Urlaub mit der Familie gemacht und von den Safari-Zelten erzählt und dem tollen Unterhaltungsprogramm für Familien mit Kindern. Thomas und Charlotte wollten ihrem Jüngsten den Gefallen tun, obwohl sie die Zeit lieber genutzt hätten, um sich nochmals im Städtchen Sarlat umzuschauen, vor allem nach zum Verkauf stehenden Häusern. Die wenigen, die der Makler Charlotte auf Bildern gezeigt hatte, waren entweder vom Preis her indiskutabel, oder sie sahen alles andere als einladend aus. Charlotte musste sich eingestehen, dass sie sich die Sache deutlich einfacher vorgestellt hatte. Aber es würde nicht der letzte Urlaub in der Gegend sein, da waren Thomas und sie sich einig. Und sie würde das Thema Neuanfang in Frankreich zu ihrem Projekt machen. Es gab ein Buch, ’Auswandern für Dummies’, das würde ihre Bibel werden.

Unterwegs stellten sie fest, dass sie nur eine ungefähre Vorstellung davon hatten, wo der Campingplatz zu finden sein sollte. Nachdem sie Sarlat verlassen hatten, führten die kleiner werdenden Straßen über sanft gewellte Hügel, vorbei an ausgedehnten Walnuss- und Obstplantagen, immer wieder boten sich ihnen weite Ausblicke. Sie fuhren durch mehrere kleinere Ortschaften, hielten vergeblich nach einem Hinweisschild Ausschau und wendeten mehrmals. Nach einiger Zeit des Herumirrens zuckte Charlotte mit den Schultern und zeigte nach rechts auf einen holprigen Feldweg. „Lass´ uns mal diesen Weg probieren, der Campingplatz muss hier irgendwo sein.“

Thomas’ Blick folgte zweifelnd ihrer ausgestreckten Hand. „Nur zu“, ermunterte ihn Charlotte. Sie rumpelten über den enger werdenden Feldweg, die Gräser zwischen den Spurrinnen wischten am Bodenblech, ab und an schabten Zweige an den Seitentüren. Irgendetwas klapperte. Thomas stöhnte. Charlotte beugte sich vor und schaute intensiv nach rechts und links. Auf einmal tat es einen heftigen Schlag. „Merde“, fluchte Thomas, „ich hoffe, das war nichts Schlimmes.“„Ach was“, sagte Charlotte leichthin. Thomas stieg aus, Charlotte ebenso.

„Schau dir diesen Stein an, wer fährt denn auch solche Wege!“ Thomas beugte sich vor, um den Schaden zu begutachten. „Ich hab’s mir gedacht, das Auspuffrohr ist fast durchgebrochen, und das wundert mich gar nicht. Merde, mitten in der Pampa. Wahrscheinlich ist das ein Privatweg, und wir bekommen Ärger. Was für eine blöde Idee!“ Er zog seine Mütze ab und fuhr sich durchs dichte Haar. „Haben wir eine Getränkedose dabei?“ „Wieso eine Getränkedose?“, fragte Charlotte verdutzt. „Nee, nur unsere Wasserflaschen.“

„Was ist los?“ Anton war ausgestiegen, Emily hatte das Seitenfenster heruntergekurbelt und lehnte sich hinaus.

„Mit einer Getränkedose könnte ich das provisorisch reparieren“, sagte Thomas. „So können wir nicht weiterfahren. Der Auspuff fällt bald ganz ab. Und das Geräusch ist eine Zumutung.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragten die Kinder unisono – Anton mit gespanntem Unterton, Emily mit leicht genervtem.

„Wenn ich eine Getränkedose hätte ...“

„Hätte, haben wir aber nicht. Jetzt gibt es erst einmal etwas zu essen und zu trinken, und wir überlegen, was zu tun ist. Es gibt immer eine Lösung.“ Charlotte holte für jeden einen Apfel aus dem Korb. Als sie Antons Gesicht sah, kramte sie nach etwas Süßem, fand aber nichts. „Hm, wir müssen erst einkaufen gehen“, sagte sie. „Und wie und wo bitteschön?“ Emily, die inzwischen auch ausgestiegen war, rollte mit den Augen.

Thomas ging hinter dem Auto in die Hocke, um den Schaden genauer in Augenschein zu nehmen, die Kinder lehnten sich an die Motorhaube, Charlotte lief auf und ab. Ein markantes Motorengeräusch veranlasste alle vier, sich umzudrehen. Ein Citroën 2CV, eine Ente, näherte sich in forschem Tempo und kam kurz vor ihrem Auto zum Stehen. Ein älterer Mann von rundlicher Statur, dunkel gekleidet, mit einer Baskenmütze auf dichtem grauen Haar, stieg aus und kam auf sie zu. Er trug Hosenträger, die seine wie ein Tönnchen geschnittene Hose bis fast unter die Brustwarzen hochzogen.

Sein „bonjour, ça va?“ klang freundlich. Er beugte sich zu Thomas hinab und betrachtete den Schaden, wiegte den Kopf hin und her. „Oh là là.“ Dann richtete er sich auf, zeigte nach vorn und sagte langsam, so dass sein Französisch gut zu verstehen war: „Da ist unser Haus, das Stückchen schaffen Sie mit dem Auto. Und dann reparieren wir.“ Er nickte zur Bekräftigung. „C’est pas grand chose, keine große Sache.“ Erneutes Nicken. „Dies ist kein Weg für ein normales Auto, das geht nur mit dem deux chevaux.“ Er deutete auf die Ente, der stumpfe graublaue Lack wies an einigen Stellen Beulen auf, aber insgesamt machte das Gefährt noch einen rüstigen Eindruck. „Damit komme ich überall hin, so komfortabel gefedert ist kein anderes Auto, selbst die Eier bleiben ganz beim Transport.“ Stolz schwang in seiner Stimme. „Und wenn etwas nicht reinpasst, mache ich das Schiebedach auf. Voilà.“ Er zeigte auf das halb aufgeschobene Faltdach. „Allez, fahren wir, nur ein Stück geradeaus. Madame, Sie gehen am besten zu Fuß mit den Kindern.“

Thomas setzte sich ins Auto, es röhrte gewaltig, als er seiner Familie vorsichtig über den holprigen Feldweg folgte. Nach einer scharfen Biegung standen sie vor einer Toreinfahrt. An den verwitterten steinernen Pfosten rechts und links hingen verschnörkelte Eisentore schief in den Angeln. „Allez, allez“, rief der alte Mann, den Kopf aus dem Klappfenster der Ente herausgestreckt, mit der linken Hand heftig wedelnd. Der Weg endete kurz hinter der Einfahrt, und sie schauten auf ein flaches, langgestrecktes, aus dem typischen hellen Stein gemauertes Gebäude. Vermutlich eine alte Tabakscheune, wie es sie in dieser Gegend häufig gab. Direkt angebaut war zur linken ein winziges Häuschen, nicht größer als ein Schuppen, rechts ein geringfügig größeres, doppelstöckiges Haus. Beide hatten in einem matten Rosa gestrichene Fensterläden und Haustüren, von denen die Farbe abblätterte. Der durch die U-förmige Anordnung der Gebäude entstandene Platz in der Mitte wurde beschattet von einem großen Kastanienbaum. Auf einer mit grauen Steinplatten ausgelegten Fläche stand ein langer Holztisch, an einer Ecke bedeckt von einem verblichenen, mit Steinen beschwerten Wachstuch. Rund um den Tisch fand sich eine Sammlung unterschiedlichster Stühle, allesamt nicht vertrauenerweckend. Die Sitzflächen der zwei Exemplare an der Ecke mit der Tischdecke waren mit Kissen versehen. Ein goldfarbener Hund kam schwanzwedelnd um die Ecke gelaufen, sprang kurz an seinem Herrchen hoch und schnüffelte dann an Charlotte und den Kindern. Anton wich ein Stückchen zurück, Emily streckte dem Hund die Hand hin, er schnupperte, dann ließ er sich bereitwillig von ihr kraulen.

Der alte Mann deutete Thomas an, das Auto in die hintere Ecke des Hofes zu fahren, zu einem großen offenen Schuppen. Er forderte Charlotte und die Kinder auf, am Tisch Platz zu nehmen. Als er ihren Blick bemerkte, grinste er. „Die Stühle haben schon Generationen von uns getragen, nur Mut. Ich bin Eduard“, sagte er und streckte erst Charlotte,