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Als die knapp 40-jährige Marie dem Mittzwanziger Jan-Jonas in ihrem neuen Job in Wiesbaden begegnet, scheint es, als seien sie füreinander geschaffen. Doch er ist ein zielstrebiger BWLer, der von einer klassischen Familie träumt, sie eine alleinerziehende Mutter mit zwei Teenagern, die in einer WG lebt. Zögernd nähern sie sich an. Marie kämpft mit großen Ängsten wegen des Altersunterschieds, er erfährt heftigen Gegenwind von seinen Eltern. Und da ist Jan-Jonas' starker Wunsch nach eigenen Kindern! Hat diese Liebe überhaupt eine Chance?
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Seitenzahl: 395
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Marie ist glücklich über ihren neuen Job. Und zwischen ihr und ihrem netten Kollegen Jan-Jonas knistert es heftig. Aber sie ist deutlich älter als er und steht an einem ganz anderen Punkt im Leben. Nach Familienpause und Studium will sie durchstarten und ist froh, dass ihre beiden Kinder aus dem Gröbsten heraus sind. Er möchte Karriere machen, aber auch eine Familie gründen, ganz klassisch, mit eigenen Kindern. Wie soll das gehen? Und zusätzlich zu den Zweifeln der beiden gibt es noch die Kommentare der Umwelt: Kollegen und Vorgesetzte, Freunde und Bekannte, seine Eltern und ihre Kinder, alle mischen mit, gefragt und ungefragt ...
Wird die Liebe größer sein als alle Bedenken? Wird es eine gemeinsame Zukunft für Marie und Jan-Jonas geben?
Die Liebe zum Schreiben und zur Literatur zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Ilsebill Hobbeling. Nach dem Studium der Germanistik war sie über zwanzig Jahre lang verantwortlich für Werbung und PR in einer großen Fachverlagsgruppe. Sie absolvierte einen Fernkurs Belletristik, veröffentlichte eine Biografie über das Leben ihrer Mutter, betreibt einen eigenen Blog und schreibt passioniert Tagebuch. Mit ihrem dreizehn Jahre jüngeren Mann lebt sie im Rheingau, in der Nähe von Wiesbaden. Ilsebill Hobbeling hat zwei Kinder und drei Enkelinnen.
Für Rolf-Günther, den jüngeren Mann an meiner Seite
Alle Charaktere sind fiktiv. Auch wenn sich gewisse Ähnlichkeiten der beiden Hauptfiguren mit lebenden Personen nicht ganz leugnen lassen, sind es dennoch erfundene Romanfiguren, die beim Schreiben schnell ein beträchtliches Eigenleben entwickelt haben. Für alle anderen Figuren gilt das umso mehr, es sind erfundene Charaktere. Bei der Handlung gibt es manches, das Ähnlichkeiten mit der Realität aufweist, aber nichts hat sich exakt so zugetragen wie erzählt.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
„Wenn du meine Meinung wissen willst: Ihr könnt euch noch zehn schöne Jahre zusammen machen, vielleicht sogar fünfzehn. Dann bist du Mitte fünfzig und das war’s dann.“
Marie zuckte bei Haukes Worten zusammen, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube erhalten. Mit so einer harschen Aussage hatte sie nicht gerechnet. Suchend schaute sie sich in der Küche der Freunde nach einer Sitzgelegenheit um. Auf allen Stühlen standen halb ausgepackte Umzugskartons, sie gab es auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle. Dort stand sie, klein und schmal, und zupfte an ihrem Pony. Sie bemühte sich, keine Miene zu verziehen. Doch in ihr brodelte es.
Imke, Maries beste Freundin, legte einen Pinsel aus der Hand und funkelte ihren Mann an: „Wie meinst du das, mit Mitte fünfzig war’s das?“
„Du weißt, wie deine Mutter in ihren Fünfzigern abgebaut hat“, entgegnete Hauke, gähnte und strich sich die schwarz glänzenden Haare aus der Stirn. „Frauen sind nun mal ab einem gewissen Alter nicht mehr so attraktiv.“
„Ha!“ Imkes Augen blitzten und schienen grüne Funken zu sprühen. „Meine Mutter sieht immer noch klasse aus mit Mitte sechzig – zum Glück denken nicht alle Kerle so wie du!“ Sie knallte ihren Teebecher auf den Küchentisch. Etwas von der Flüssigkeit schwappte über den Rand und bildete eine kleine Lache auf der ausgeblichenen, grauen Wachsdecke.
„Marie hat uns gefragt, wie wir das finden“, Hauke zuckte mit den Schultern, „und ungewöhnlich ist es, das musst du zugeben, eine Beziehung zwischen einer fast Vierzigjährigen und einem Jungspund von siebenundzwanzig Jahren.“
„Und wenn es umgekehrt wäre?“ Imke schüttelte den Kopf. „Dann ...“
„Lass mal“, unterbrach Marie und bemühte sich um eine feste Stimme, „ich habe nach eurer Meinung gefragt und die von Hauke kenne ich jetzt.“
„Was sagt denn der Jüngling dazu?“, brummte der und beugte sich über den Werkzeugkasten. Imke tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Er ist gerade mal drei Jahre jünger als du.“
Marie zögerte kurz, dann sagte sie: „Ausgesprochen ist noch nichts.“ Sie nahm ihren Armreif ab und ließ ihren Zeigefinger darin kreisen. „Aber ich glaube, ich bin mir eigentlich sicher – Jan-Jonas mag mich auch. Wir verbringen viel Zeit miteinander; zu Beginn war das nur zwangsläufig so durch den Job, wir durchlaufen zusammen das Einarbeitungsprogramm für neue Mitarbeiter. Inzwischen sehen wir uns in jeder Mittagspause. Und letzte Woche waren wir abends in der Kneipe, der Vorschlag kam von ihm.“ Sie lächelte versonnen. „Er ist witzig, wir haben viel gelacht. Der Abend war wunderschön, so ... so unkompliziert. Nähergekommen sind wir uns noch nicht,“ schob sie hinterher. Eine sanfte Röte überzog ihr Gesicht, als sie sagte: „Aber es knistert gewaltig.“
Hauke legte sich einen großen Hammer auf den ausgestreckten rechten Unterarm und ging langsam Richtung Küchentür, dort drehte er sich um und blickte zu Marie. „Ihr könnt es doch wenigstens probieren, was hast du denn zu verlieren?“
„Manchmal ist der Typ zum Haare raufen,“ grummelte Imke, als sich die Tür hinter Hauke geschlossen hatte.
„Ach Imke.“ Marie versuchte ein Lächeln, das etwas schief geriet, zuckte mit den Schultern und sagte mit belegter Stimme: „Wenn er es so sieht. Und vielleicht liegt er gar nicht mal falsch mit seiner Einschätzung. Ich will mich doch auch nicht verrennen.“ Sie schaute auf die Uhr und sagte: „Oh, ich habe nicht mehr viel Zeit, die Kinder kommen um sieben zurück. Bring mir doch noch schnell das Teegeschirr zum Abwaschen, dann kannst du weiter Kisten auspacken.“
Imke stapelte das Geschirr neben dem Emaille-Becken und verschwand dann im Nebenzimmer.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihrer Freundin geschlossen, wanderten Maries Gedanken zu Jan-Jonas. Schon Tage vor ihrem ersten Zusammentreffen hatte sie seinen Namen erfahren.
Wir begrüßen als neue Mitarbeiter zum 1. April Marie Sand-Hollerbüh und Jan-Jonas Henneroh. Die beiden Bindestrich-Wort-Ungetüme standen untereinander auf der Tafel im Eingangsbereich des Verlags. Jan-Jonas bekam Marie in den ersten Arbeitstagen nicht zu Gesicht. Ein Kollege erwähnte einen Urlaub auf den Malediven: „Der kommt erst nach Ostern.“
Klar, typisch BWLer, da mussten es gleich die Malediven sein! Und als Assistent des Geschäftsführers konnte er es sich erlauben, in einem neuen Job erst mal Urlaub zu machen. Dann hatte sich herausgestellt, dass Jan-Jonas die Stelle nur deshalb später angetreten hatte, weil sein Chef in Urlaub gewesen war. Marie schämte sich, dass sie den Gerüchten geglaubt hatte. Tja, Gerüchte – ob die Kollegen schon über sie beide tuschelten? Man hatte sie mittags bestimmt zusammen gesehen. Und zwischendurch kam Jan-Jonas öfter mal in ihrem Büro vorbei, öfter als notwendig! Eigentlich musste man ihr anmerken, dass ... ja, was? Dass sie auf dem besten Wege war, sich ernsthaft zu verlieben? In Jan-Jonas, der nicht nur so viel jünger war als sie, sondern dazu noch ein Kollege, ein Kollege mit Ambitionen auf Karriere?
Ihr wurde heiß, als sie daran dachte, dass sie ihn am nächsten Tag im Verlag wiedersehen würde. Sie pustete ihren Pony hoch, schob die Ärmel des Pullovers zurück und tauchte ihre Hände ins Wasser, es war gut, etwas Sinnvolles zu tun zu haben. Beschäftigung half immer.
Marie rückte noch ein Stückchen näher an den Computer heran und blinzelte. Ihre Kontaktlinsen scheuerten neuerdings ständig. Die Luft in den Verlagsbüros war sehr trocken, wahrscheinlich lag es an den vielen Büchern und den Papierbergen, die sich, aller Elektronik zum Trotz, überall türmten.
Sie starrte auf den Bildschirm und fragte sich, wie sie am besten vorgehen solle, um die gewünschte Analyse der Honorardaten der letzten drei Jahre anzulegen. Sie hätte vielleicht doch zugeben sollen, dass sie sich mit Excel kaum auskannte. Aber natürlich hatte sie in dem Bewerbungsgespräch, das sich über Stunden hingezogen hatte – als gelte es, eine wichtige Führungskraft einzustellen und nicht eine kleine Lektoratsassistentin – eine möglichst gute Figur machen wollen. Wider Erwarten hatte sich die Stelle sehr interessant angehört, auch wenn es sich um Fachliteratur handelte und nicht um einen Belletristik-Verlag, wie sie es sich natürlich erträumt hatte. Aber sie musste realistisch bleiben. Hauptsache, der Job war halbwegs befriedigend und einigermaßen gut bezahlt. Und der Raum, in dem das Gespräch stattfand, der hatte es ihr wirklich angetan!
So hatte sie sich das Innere eines Verlags vorgestellt: Eine riesige Bücherwand erstreckte sich über die komplette Längsseite des Zimmers. Die wenigen Utensilien auf dem modernen Schreibtisch waren schlicht, aber edel. An der Wand neben der Tür hing ein großes abstraktes Bild in vielen unterschiedlichen Blautönen. Eine Glasvase, prall gefüllt mit Tulpen und Ranunkeln in einem leuchtenden, orangefarbenen Gelb, prangte auf dem Besprechungstisch, daneben stapelten sich verschiedene Fachzeitschriften. Der gesamte Raum hatte etwas Einnehmendes, Inspirierendes.
Dass sie nun hier saß, in ihrem Alter, ohne betriebswirtschaftliches oder juristisches Studium, noch dazu als alleinerziehende Mutter mit zwei halbwüchsigen Kindern, das war schon ein Wunder. Aber offensichtlich hatte sie überzeugt (oder die Not war so groß?) und nur wenige Tage später hatte sie den Anruf bekommen, man freue sich auf die Zusammenarbeit.
Nun hockte sie in ihrem kleinen, länglichen Büro, ihre Schultern schmerzten und die Augen brannten. Wahrscheinlich musste sie sich diesen Arbeitsplatz bequemer einrichten, den Bildschirm etwas höherstellen oder vielleicht die Stuhllehne anders ausrichten? Und sie würde sich ein richtig schönes Ablagekörbchen kaufen – und auf jeden Fall ein Poster in fröhlichen Farben. Aber jetzt konzentriere dich auf diese Analyse, ermahnte sie sich.
„Hallo!“ Die helle, weiche Stimme ließ ihr Herz hopsen. Hastig strich sie sich über die Haare und setzte sich aufrecht hin.
„Ich soll dir ausrichten, dass unsere Infoveranstaltung in der Produktion eine Stunde später beginnt.“ Jan-Jonas lehnte im Türrahmen, blond, schlaksig, jungenhaft, in dunkelgrauer Hose und dunkelgrauem Hemd. Er lächelte sie an.
„Oh je“, sagte Marie und zupfte an ihrem Pony, „ich muss um halb sechs gehen, ich habe Lukas versprochen, beim Fußballtraining zuzuschauen und seinen Freund mit nach Hause zu nehmen. Ich bin dran mit Fahren.“
„Das klappt schon, wir hören einfach rechtzeitig auf, Fragen zu stellen, dann kommen wir pünktlich weg.“
Maries Mundwinkel zuckten, seine Unbekümmertheit hatte etwas Erfrischendes und dieses kleine Wörtchen „wir“ – es tat so gut.
„Na, wenigstens habe ich auf diese Weise noch ein bisschen Zeit, mich mit der Analyse zu beschäftigen, aber ich tue mich ganz schön schwer mit dem blöden Excel-Programm.“ Sie seufzte.
„Excel? Lass mal sehen, damit kenn ich mich aus.“ Jan-Jonas stand inzwischen neben ihr, legte ihr ganz leicht die Hände auf die Schultern und schob sie sanft beiseite, um sich vor den PC zu setzen. Für einen kurzen Moment waren sie sich ganz nah und Maries Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, er könne es hören.
„Oh“, sagte Jan-Jonas, als der Bildschirmschoner erschien und beim Drauftippen das Passwort gefordert wurde. „Du hast aber eine kurze Einschaltzeit für den Schoner.“
„Ich habe gar nichts gemacht“, beteuerte Marie, „aber es nervt, einmal umgedreht und schon will er die Kennung.“
„Das kann ich ändern, wenn du willst. Gib mal dein Passwort ein.“
Er wollte aufstehen, um ihr Platz zu machen, doch Marie sagte rasch: „Lukas:1998!“
Jan-Jonas machte: „tz tz tz“, tippte aber die Kombi aus Buchstaben und Zahlen.
Das Eingabefeld wackelte heftig. Er tippte ein zweites Mal und das Kästchen für das Passwort schien noch stärker als zuvor zu ruckeln. Er tat so cool, aber auch er war nervös! Bei der dritten Eingabe, bei der er mit dem rechten Zeigefinger (er hatte sehr gepflegte, kräftige Hände mit kurzgeschnittenen Fingernägeln) jede einzelne Taste niederdrückte, erschien auf dem Bildschirm die von Marie begonnene Excel-Tabelle.
Er wandte sich um und blickte sie an: „Dein Sohn spielt also Fußball – wo trainiert er? Ich würde gerne mal zugucken, kann ich mitkommen?“ Er strich sich mit zwei Fingern über die Nase.
Sie zögerte, sie hatte ihn ihren Kindern natürlich noch nicht vorgestellt. Sie hatten sich doch auch erst einmal abends, außerhalb des Jobs, verabredet, es war alles noch so frisch, fast wie ein Traum. Aber sie würden gemeinsam eine Informations-Broschüre für neue Mitarbeiter erarbeiten, nach Feierabend und am Wochenende, das bedeutete sehr viel Zeit miteinander ... Und in ihren Mittagspausen tauschten sie sich zunehmend über private Dinge aus. Die Luft brannte zwischen ihnen, eindeutig!
„Also?“ Jan-Jonas schaute Marie erwartungsvoll an. Warum eigentlich nicht, das heißt ja gar nichts, beruhigte sie sich. Grundlegende Entscheidungen konnte man auch später noch treffen.
Schon von weitem hörten sie das Johlen und Kreischen der Kinder, dazwischen immer wieder die kräftigen Stimmen der Trainer. Lukas‘ Gruppe spielte in der hintersten Ecke des riesigen Geländes. Mehrere Mütter saßen auf der Zuschauertreppe und unterhielten sich. Eine ältere Frau, die Marie noch nie auf dem Fußballplatz gesehen hatte, hielt ihr Gesicht in die wärmenden Sonnenstrahlen. Die Väter kamen in der Regel erst später, aber heute standen zwei von ihnen am Spielfeldrand, gestikulierten heftig und riefen ihren Söhnen Anweisungen zu. Marie stellte Jan-Jonas als Arbeitskollegen vor.
„Wie läuft es denn in Ihrem Job?“, fragte Pauls Mutter und wandte sich zu Marie. Ihre zu einem exakten Pagenkopf geschnittenen dunklen Haare schwangen leicht vor und zurück.
„Danke, gut, es macht Spaß, aber es ist natürlich unglaublich viel Neues, es ist anstrengend und wenn ich abends nach Hause komme, dann …“
„Abends?“ Karlies Mutter, eine kräftige Blondine, erhob sich von den Treppenstufen und trat einen Schritt näher.
„Mittags sind Sie nicht zuhause? Und Ihre Kinder?“
Marie bemerkte zu ihrer Verärgerung, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. „Anfangs bin ich tatsächlich in der Mittagspause nach Hause gefahren, aber das war eine einzige Hetzerei. Ich habe eine Mikrowelle gekauft und koche abends etwas für den nächsten Tag“, fügte sie hastig hinzu.
„Wie Sie das alles hinbekommen.“ Pauls Mutter schaute sie bewundernd an.
„Erst das Abitur nachholen, dann studieren und jetzt haben Sie so schnell einen Job gefunden.“
Marie lächelte verlegen. „Es ist alles eine Frage der Organisation. Na ja, und etwas Glück gehört auch immer dazu. Mit den Kindern – Anna wird schließlich bald vierzehn, Lukas ist elf – das klappt ganz gut. Oft ist auch jemand aus der Wohngemeinschaft mittags zu Hause und kümmert sich ein bisschen um sie.“
„Ach stimmt, Sie wohnen ja in einer Wohngemeinschaft.“ Karlies Mutter spitzte die Lippen, als ob sie noch etwas sagen wollte, ließ es aber sein.
Marie spürte Jan-Jonas’ Blick auf sich ruhen und wandte sich zu ihm um, er lächelte ihr aufmunternd zu und eine Woge des Glücks durchströmte sie. Als sie sich zurückdrehte, erhaschte sie gerade noch den Blick, den die beiden Mütter tauschten.
Weitere Frauen gesellten sich zu der Gruppe; Jan-Jonas und Marie gingen die restlichen Stufen hinunter und lehnten sich an das Geländer, um das Spiel der kickenden Jungen besser verfolgen zu können. Als kurz darauf die durchdringende Trainer-Stimme erklang: „Schluss für heute“, zuckte Marie zusammen. Was nun? Unruhig trat sie von einem Bein aufs andere. Lukas blödelte noch mit seinem Freund am Spielfeldrand, aber gleich würde er kommen. Sie hoffte, sie würde unbefangen klingen, wenn sie ihm Jan-Jonas als Arbeitskollegen vorstellte. Das war ja immerhin nicht gelogen, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Na ja, eigentlich doch, wenn man es genau betrachtete, schließlich war bisher nichts „passiert“.
Jan-Jonas durchbrach ihre Gedanken. „Ich mach mich dann mal auf den Weg, wir sehen uns morgen.“ Er guckte zu Marie und sagte dann in die Runde: „Tschüss, die Damen.“ Marie merkte, wie sich Erleichterung in ihr breitmachte. Gleichzeitig war sie enttäuscht. Warum eigentlich, fragte sie sich verwirrt. Sie schaute ihm hinterher, er näherte sich dem roten Törchen, das das Trainingsgelände vom Parkplatz trennte, legte eine Hand auf die Klinke – und dann drehte er sich um und winkte. Marie hob ihre Hand und winkte zurück. Sie spürte die Blicke der Frauen im Rücken, doch es war ihr egal.
Marie stand vornübergebeugt an der Anrichte der großen Wohngemeinschafts-Küche und formte Hackfleischklösschen. Bine, ihre Mitbewohnerin, hatte sich an dem zerfurchten Holztisch niedergelassen und schnitt Tomaten.
„Wir brauchen Pfeffer“, sagte Marie und drehte sich halb zu Peter um, „das reicht jetzt gerade noch.“
„Schreibs auf“, sagte der und hob den Kopf nicht vom Sportteil der FAZ, die er am anderen Ende des Tisches ausgebreitet hatte. Marie räusperte sich: „Hallo!“ Sie reckte ihr Kinn zu ihren hackfleischverklebten Händen. Peter schaute sie an und brummte etwas Unverständliches. Nach einem kurzen Blick zu Bine, die ungerührt weiter Tomaten zerteilte, stand er auf und durchquerte den Raum. „Sonst noch was?“, fragte er und griff nach der Kreide, die am Rand der alten Schiefertafel mit einem Bindfaden befestigt war.
„Momentan nicht, aber uns fällt bestimmt noch was ein“, entgegnete Bine. „Du weißt, dass du zum Kartoffelschälen eingeteilt bist?“
„Wir müssen alle in die Haushaltskasse einzahlen“, sagte Peter, warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Zeitung, dann faltete er sie laut raschelnd zusammen. Er griff nach einer großen, braunen Papiertüte, zog die Schublade des alten Weichholzschranks auf und kramte nach dem Kartoffelschäler.
„Wie viele Leute kommen heute Abend? Soll ich die große oder die mittlere Schüssel für den Kartoffelsalat nehmen?“
„Nimm die große, wir können morgen den Rest essen, ich koche nicht, weil die Kinder erst abends von ihrem Vater wiederkommen.“ Marie strich sich mit dem abgewinkelten Handgelenk die Haare aus der Stirn.
Sie lebten nun schon fast fünf Jahre als Wohngemeinschaft zusammen: Marie mit ihren Kindern Anna und Lukas, der zweiunddreißigjährige Peter und die achtundzwanzigjährige Sabine, von allen Bine genannt. Eigentlich war genug Raum für einen vierten Erwachsenen, immerhin betrug die Wohnfläche knapp zweihundert Quadratmeter – es war eine der typischen Wiesbadener Altbauetagen –, aber momentan war das dritte Zimmer zur Straße nicht belegt. Sie nutzten es als Abstellraum und zum Wäschetrocknen, das war praktisch, aber eine geringere Miete für alle wäre auch nicht schlecht. Sie waren mal wieder auf der Suche, keiner der bisherigen Mitbewohner hatte es lange ausgehalten; vielleicht waren die drei Erwachsenen mit den beiden Kindern eine zu eingeschworene Gemeinschaft geworden.
Für Peter war das Zimmer in der WG nur als Übergangslösung nach der Trennung von seiner Freundin Monica gedacht gewesen, aber dann war er geblieben, zur großen Freude von Marie. Kurz darauf war Bine mit ihren beiden Katern Erwin und Ottokar eingezogen. Ihr hatten sie die seit kurzem quietschgelbe Küche zu verdanken. Bine, die Innenarchitektur studierte, hatte von gelben Küchen geschwärmt, Marie hatte Bedenken angemeldet, aber schließlich nachgegeben.
Mit der gelben Farbe, die einen leichten Stich ins Grünliche hatte, war niemand glücklich, auch Bine selber nicht. Marie musste sich sehr am Riemen reißen, um nicht darauf herumzureiten, dass sie von Beginn an vor Gelb gewarnt hatte. Die Kinder nannten sie „unsere KaKü“, die Erwachsenen argwöhnten, das stehe für „Kack-Küche“, doch beide beteuerten, sie hätten beim „Ka“ nur an Kanarienvögel gedacht. Alle meckerten über das Gelb, doch sie konnten sich nicht aufraffen, die Küche erneut zu streichen. Früher hatten sie viele Feste gefeiert und ständig waren Leute dagewesen, hatten stundenlang in der geräumigen Küche gehockt und einen Kaffee nach dem anderen getrunken. Meistens waren es Studienkollegen von Bine und Peter; wenn Marie mittags etwas für die Kinder kochen wollte, musste sie sie erst vom Frühstückstisch vertreiben.
In letzter Zeit war es deutlich ruhiger geworden. Bine steckte in einer schwierigen Phase ihres Studiums, Peter fuhr häufig nachts Taxi, um sein Wirtschaftsinformatik-Studium zu finanzieren, Marie war nun seit neun Wochen berufstätig. Die Arbeit strengte sie an, es gab so viel zu beachten, ständig hatte sie mit neuen Kollegen zu tun, musste die unterschiedlichsten Aufgaben bewältigen, immer bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Abends fiel sie todmüde ins Bett.
Aber heute wollten sie mal wieder feiern; Bine hatte eine gute Zwischenprüfung abgelegt, Marie so unerwartet schnell einen Job gefunden und Peter vor kurzem Geburtstag gehabt. Um halb zehn war die Party schon in vollem Gange (das war früher anders gewesen), als plötzlich Maries Handy klingelte. Sie verzog sich in ihr Zimmer, auf der Party vermisste sie sowieso niemand. Ihr Herz bubberte. Jan-Jonas wusste, dass sie heute feierten, aber vielleicht ...
„Marie Sand-Hollerbüh.“ Seit wann meldete sie sich mit ihrem Doppelnamen am Handy?
„Hallo Hollerbüh, hier ist Jan-Jonas. Ich habe gerade gesehen, dass in der Spätvorstellung Dirty Dancing läuft. Wollen wir zusammen reingehen? Bitte, bitte.“ Diese Stimme, sie machte Marie weiche Knie.
„Dirty Dancing“, sagte sie gedehnt und versuchte, den Aufruhr in ihrem Inneren zu überspielen, „das ist doch dieser kitschige Teenie-Tanzfilm.“
„Mann, das ist Kult, das muss man gesehen haben – ich denke, du bist Kino-Fan. Also, was ist?“ Seine Stimme nahm einen schmeichelnden Klang an.
Marie ließ sich kurz durch den Kopf gehen, ob sie ihn doch herbitten sollte, aber nein, das hatte sie sich ja vorher sorgfältig überlegt. Jetzt noch ins Kino?
Bine schaute zur Tür rein: „Hier bist du.“ Als sie sah, dass Marie telefonierte, flüsterte sie: „Jan-Jonas?“
Marie nickte und Bine wedelte mit der rechten Hand. „Trau dich“, zischte sie.
„Na gut, ich komme“, sagte Marie hastig ins Telefon, „bis gleich.“
Mit zittrigen Fingern drückte sie die Aus-Taste.
„Ich glaub’s nicht.“ Bine zog einen Schmollmund. „Das wäre die Gelegenheit für uns gewesen, den Wunder-Mann kennenzulernen.“
„Wunder-Mann?“ Marie blickte hoch. Ihre Stimme sollte Verwunderung ausdrücken, doch ihre strahlenden Augen sagten etwas anderes.
„Na, wenn du so verknallt bist, dann will das doch was heißen.“
„Keine Zeit für Diskussionen.“ Marie zog ihr dunkelblaues Sweatshirt über den Kopf und riss die oberste Schublade der Kommode auf. Sie zerrte ihren Lieblingspulli heraus – ein orangerot geringeltes Teil – und stürzte ins Bad. Mit fliegenden Fingern griff sie nach ihrem Schminktäschchen.
„Du siehst gut aus.“ Bine war ihr gefolgt und lehnte lässig am Türrahmen, die langen Beine gekreuzt, die Arme übereinandergeschlagen. „Steht dir gut, verliebt zu sein.“
„Pfft“, machte Marie und versuchte, das inzwischen vertraute Jan-Jonas-Herzklopfen zu ignorieren.
„Es könnte jetzt wirklich nicht schaden, etwas besser auszusehen, eine Schönheit bin ich nicht, das musst du zugeben.“ Fahrig fuchtelte sie mit der Wimperntusche herum und fauchte ärgerlich, als ein Teil der schwarzen Farbe unter der Augenbraue landete.
„Man ist doch nie schön genug“, gab Bine zurück.
„Du weißt schon, wie ich das meine, in dieser Konstellation ...“
Während sie ganz nah an den Spiegel heranrückte und sich betrachtete, als gälte es den letzten Mitesser zu finden, tastete Marie mit der rechten Hand nach dem kürzlich erworbenen Rougedöschen, setzte einen Tupfer auf jede Wange, zog eine Grimasse und schaute zu Bine: „Hat es das jetzt gebracht?“
Die grinste nur: „Viel Spaß – oder sollte ich besser sagen: viel Erfolg.“
Marie streckte ihr die Zunge heraus.
Anfangs fand Marie den Film tatsächlich ein wenig kitschig, aber nach einer gewissen Zeit – nachdem ihr Herz nicht mehr so wild klopfte – gelang es ihr doch, sich hineinfallen zu lassen und die fetzigen Tanzeinlagen und die eingängigen Songs zu genießen. Jan-Jonas hatte schon früh nach ihrer Hand gegriffen. Obwohl sie insgeheim damit gerechnet hatte, zuckte sie zusammen: Hoffentlich fühlte sich ihre Hand nicht verschwitzt an, wie bei einem verliebten Teenager, fehlte nur noch, dass sie anfing zu kichern. Die Songs Be my Baby, Hungry Eyes, Time of my Life, erschienen plötzlich so passend.
Anschließend gingen sie in eine neue Kneipe am Luisenplatz. Der altmodische Schriftzug an der Fassade erinnerte daran, dass die Räumlichkeiten ehemals einen Frisörsalon beherbergt hatten. Im Türrahmen blieb Marie stehen und schaute sich unschlüssig um. Dann steuerte sie auf die Theke zu, schnappte sich einen Barhocker und hievte sich schwungvoll hinauf; fast wäre sie am anderen Ende wieder runtergefallen. Sie ruckelte eine Weile herum, bis sie sicher saß. Sie spürte Jan-Jonas’ Blick, eine Mischung aus amüsiert und etwas, das sie nicht deuten konnte, und zupfte verlegen an ihrem Pony.
„Wie hat dir der Film gefallen?“ Jan-Jonas schob einen der hohen Schemel zur Seite und stellte sich dicht neben sie. Er roch so gut, es erinnerte sie an etwas, am liebsten hätte sie an ihm geschnuppert.
„Hm ja, der ist tatsächlich nett.“
„Nett?“
„Na ja, er hat tolle Songs, er ist romantisch – er weckt Sehnsüchte.“
Sie biss sich auf die Zunge. Verflixt, sie war doch nicht mit einer Freundin unterwegs!
„Hast du einen Lieblingsfilm?“, fragte er und lehnte sich mit dem Rücken an die Theke, wodurch sich der Abstand zu Marie ein klein wenig vergrößerte.
„Wenn die Gondeln Trauer tragen“, sagte sie ohne nachzudenken.
Jan-Jonas kannte den Film nicht und wollte wissen, worum es ging und was ihn so besonders machte.
„Er hat die schönste Liebesszene (Bettszene!), die ich jemals gesehen habe“, – wäre eine ehrliche Antwort gewesen. Aber dieses Mal tappte sie nicht in die Falle. Auch die etwas unverfänglichere Variante: „Er hat eine der berühmtesten und schönsten Liebesszenen der Filmgeschichte“, verwarf sie in Sekundenschnelle.
Stattdessen stammelte sie: „Eine berührende Geschichte, tolle Darsteller, super spannend, obwohl es kein Krimi ist. Und du?“
„Paris Texas.“
„Ah, warum?“
„Er hat eine ganz eigene Stimmung und wunderbare Bilder. Nastassja Kinski ist umwerfend. Und Frühstück bei Tiffany. Alle Filme mit der jungen Audrey Hepburn sind toll. Diese Augen, dieser Blick, diese Figur.“
Marie schrumpfte zunehmend auf ihrem Hocker.
Obwohl Jan-Jonas sein Auto in der Nähe des Kinos geparkt hatte und Marie mit dem Fahrrad gekommen war, bestand er darauf, sie zu Fuß nach Hause zu bringen. Mit der linken Hand führte er das Rad, mit der rechten griff er nach ihrer. Die Hände fügten sich weich ineinander und nun genoss sie es. Die Nacht war lau und windstill, außer ihnen schien niemand unterwegs zu sein.
Sie schlenderten durch die Straßen. Mehrstöckige klassizistische Wohnhäuser säumten ihren Weg. Marie machte ihn auf die Prachtbauten aufmerksam, deutete zu den mit schmiedeeisernen Ranken verzierten Balkongittern, den weiß gestrichenen Stuckverzierungen der Fassaden, den vorgesetzten Erkern und aufgesetzten Türmchen. Immer häufiger blieb Jan-Jonas stehen, um die Fülle an Ornamenten und figürlichem Schmuck zu bewundern. Marie hatte das alles zigmal zuvor bestaunt, aber heute erschien es ihr noch glanzvoller als sonst, als trüge sie schärfere Kontaktlinsen.
„Eine Stadt, so schön, dass man sogar bleiben könnte“, sagte er. Wie meinte er das? Marie traute sich nicht nachzufragen. Zögerlich näherten sie sich ihrer Wohnung am Ersten Ring. Sie überquerten die mehrspurige, in der Mitte mit einer Baumallee begrünte Hauptstraße. An der Ampel stand ein dunkelblaues, chromblitzendes Cabrio, in dem ein junges Pärchen sich unablässig abwechselnd küsste und seine Nasen aneinander rieb. Marie riss ihren Blick los. Zu gerne hätte sie eine flapsige Bemerkung gemacht. Aber in ihrem Kopf war nur Leere. Jan-Jonas wirkte unbefangen.
Vor ihrem Haus blieb sie stehen und zögerte. Ein Drittel der Eingangstür war mit einer Sperrholzplatte vernagelt, der Glasteil schmutzig, die fünf Namensschilder auf der rechten Seite viel zu klein für die Menge der größtenteils handschriftlichen, teilweise hingeschmierten Namen. Sie blickte unbehaglich zu Jan-Jonas.
Der löste seine Hand, stellte das Fahrrad ordentlich auf den Halter, umfasste mit beiden Händen Maries Schultern und drückte sie leicht gegen die Hauswand. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er und schaute zu ihm hoch. Er beugte seinen Kopf und küsste sie fest auf den Mund, entschieden, aber dennoch behutsam. Es fühlte sich gut an, gut und richtig. Und seltsam vertraut.
„Wir müssen reden.“ Er löste sich zögernd von ihr und trat einen Schritt zurück.
„Ist das nicht normalerweise der Text der Frau?“
Er verzog keine Miene. „Wie wäre es mit einem Spaziergang morgen Vormittag?“
Marie nickte.
„Ich hole dich ab, um elf?“ Kaum dass sie ein Ja herausgebracht hatte, küsste er sie noch einmal, länger, zärtlicher, inniger.
„Marie, ich nehm’ dich mit in meine Träume. Schlaf gut, bis morgen – oder besser gesagt, bis später.“
Time of my Life summend ging er davon. Sie schaute ihm nach, bis er die Straßenecke erreicht hatte. Er wandte sich zurück und winkte. Unbeholfen hob sie den Arm und winkte zurück.
Sie hoffte inständig, dass sie unbemerkt in ihr Zimmer kommen würde. Oh, fast vier Uhr, da würden Bine und Peter schlafen.
Nach der kürzesten Katzenwäsche ihres Erwachsenenlebens lief sie in ihr Zimmer, machte ihre Balkontür auf, nahm einen Schluck frischer Morgenluft, schlüpfte unter das Laken und nahm den Kampf in ihrem Kopf auf: Küsse gegen Gedankenkarussell.
„Lass uns nach Wiesbaden-Frauenstein fahren und zum Aussichtsturm gehen, der Blick ist einmalig und man bekommt den Kopf frei. Wir wollen ja reden“, fügte Marie hinzu und sah sich neugierig in Jan-Jonas’ Smart um, fuhr mit der Hand über das lederbezogene Armaturenbrett und die Konturen der kugelrunden Aufsätze mit Drehzahlmesser und Uhr.
„Wollen, von wollen kann keine Rede sein.“ Jan-Jonas strich sich mit Zeige- und Mittelfinger über die Nase. Sie war recht lang und sehr gerade, bis auf einen winzigen Knubbel im oberen Teil. „Igelnase“ hatte Marie sie getauft.
Seine blonden Haare waren nach hinten gekämmt und wellten sich etwas im Nacken, es verlieh ihm eine künstlerische Aura.
Die Kirschblüte in Frauenstein war schon eine Weile vorbei. Wie gerne hätte sie ihm das gezeigt, dieses Meer aus weiß blühenden Obstbäumen. Vielleicht im nächsten Jahr, begann sie zu träumen und schüttelte den Kopf über sich.
Der Himmel war bedeckt, es blies ein frischer Wind, und ihnen begegneten nur wenige Spaziergänger. Der Wein hatte bereits Blätter von Männerhand-Größe, die streng ausgerichteten Reben-Reihen boten ein schönes Bild. Aber noch schöner war es im Herbst, kurz vor der Lese.
Die ersten Windungen des Weges gingen sie stumm nebeneinander her. Als bereits das hohe Goethe-Denkmal im Blickfeld auftauchte, räusperte sich Marie.
„Wie fandst du die Informationsstunde mit dem Meierling? Ich habe wenig begriffen, diese ganzen Produktionsdetails müssen wir doch nicht wissen, oder?“
„Der schwallt wirklich viel“, stimmte Jan-Jonas zu. Schweigend gingen sie weiter.
Zum Glück schien niemand auf dem Turm zu sein. Auf den letzten Stufen der dreistöckigen Treppe prustete Marie: „Ich muss was für meine Fitness tun.“
Jan-Jonas drängte sich an ihr vorbei und betrat die überdachte hölzerne Plattform. Er schaute lange in alle Himmelsrichtungen.
„Toller Ausblick, hm?“, sagte Marie. Sie zog die Luft ein, als hätte man sie vorher unter Wasser getaucht.
Sie lehnte in einiger Entfernung von Jan-Jonas an der hölzernen Brüstung, in die haufenweise Herzchen, Namen und Sprüche geschnitzt waren. Zwischen ihnen befand sich eine aufgesetzte kleine Plattform, vielleicht dreißig Zentimeter höher, zu der zwei Stufen führten und die mit einem Geländer versehen war.
Jan-Jonas deutete verwundert darauf und Marie zuckte mit den Schultern, sie hatte sich auch schon gefragt, wozu sie diente, sie erschien ohne jegliche Funktion.
„Ist es nicht wunderschön hier?“ Aus Maries Stimme klang Stolz auf die Wahlheimat.
„Wunderschön ist ein gutes Stichwort, komm doch mal her zu mir.“
Als Marie zögerte, umrundete er das Podest, kam auf sie zu und schloss die Arme um ihren Körper. Sie versteifte sich. Er ließ ein kleines bisschen locker, gerade genug, um Raum zwischen ihre Gesichter zu bringen. Sein Kuss war dieses Mal fester, fordernder. Ihr schoss durch den Kopf, wie sie sich mit ihren Freundinnen als junge Mädchen immer gefragt hatten: „Und, hat er dich richtig geküsst – oder nur so?“
Nur so war gestern, heute war richtig.
Als sie voneinander abrückten, flüsterte sie: „Wir wollten doch reden.“
„Du bist wohl die Vernünftige in dieser Beziehung, hm?“ Jan-Jonas legte die Stirn in Falten.
Marie sog das Wort „Beziehung“ in sich auf. Es klang wundervoll in ihren Ohren und öffnete einen Kosmos voller Verheißung. „Ich erzähl dir jetzt mal was.“ Er lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer und knetete seine Finger. „Du weißt, dass ich bisher kaum Freundinnen gehabt habe, es gab immer etwas, das nicht stimmte.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich hatte stets diese Vorstellung, schon als kleiner Junge, dass mir eines Tages meine Traumfrau begegnet, die Frau, die zu mir passt, die ich heirate, und mit der ich ganz klassisch eine Familie gründe. Viele haben sich darüber lustig gemacht, aber ich wusste, dass es sie gibt.“
Er breitete die Arme aus. „Und nun habe ich sie gefunden.“
Marie umklammerte das Holzgeländer.
„Sie steht vor mir“, er ließ die Arme sinken, „und sie ist dreizehn Jahre älter als ich.“ Er stockte und sah für einen Moment sehr mutlos aus.
„Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass sie gleichaltrig ist, na ja, plus minus fünf Jahre ..., aber dreizehn Jahre älter …“, fuhr er nach einer langen Pause fort und legte seine Fingerspitzen zusammen. „Das geht mir nicht in die Birne.“
Er schaute Marie an, sie kaute am Wort „Traumfrau“.
„Was heißt schon Traumfrau“, stammelte sie.
Jan-Jonas fuhr mit dem Zeigefinger über die Brüstung. „Autsch, jetzt habe ich mir wohl einen Splitter reingezogen.“
„Zeig mal“, sagte Marie und trat einen Schritt näher.
„Nee, ist schon in Ordnung.“
Er zuckte mit den Schultern: „Du weißt, ich bin Westfale, ich bin stur, konservativ und schwerfällig – aber auch absolut zuverlässig. Ich fange nicht einfach eine Beziehung an und lasse das dann laufen, das liegt mir nicht.“
„Mir auch nicht“, murmelte Marie und räusperte sich. „Ich bin froh, dass die Kinder die Scheidung einigermaßen überstanden haben – soweit man das heute schon sagen kann. Ich will sie nicht mit einem neuen Mann an meiner Seite konfrontieren, wenn es so viele Fragezeichen gibt.“
Sie beugte sich über die Brüstung: „Oh schau mal, da kommt jemand.“
Ein Paar mittleren Alters bewegte sich auf den Turm zu; der Mann zeigte mit dem Finger nach oben und beschrieb mit dem Arm einen Kreis. Die Frau schüttelte den Kopf und tippte mit den Fingern auf ihre Uhr. Ihr Begleiter antwortete etwas Unverständliches und wie es schien Unfreundliches, dann drehten die beiden ab.
„Tja, die Kinder.“ Jan-Jonas schob seine Brille zurecht. „Sie sind ja nun auch keine zwei und drei Jahre mehr, wie ich anfangs gedacht habe, sondern elf und dreizehn. Und einen Vater gibt es auch. Nach unserem Abend in der Kneipe habe ich mir vorgestellt, was für ein toller Papa ich für die beiden sein würde.“
Die Art, wie er lachte, gab Marie einen Stich.
„Und, tja, dass ich dich anfangs für viel jünger gehalten habe, weißt du.“
„Selbst schuld.“ Sie grinste. „Ich habe dir gesagt, dass beide Kinder aufs Gymnasium gehen, und nach allem, was ich erzählt habe, musste dir klar sein, dass ich bald vierzig bin.“
Jan-Jonas rollte mit den Augen. „Man sagt immer, Liebe macht blind. Aber sie macht wohl auch taub. Jetzt haben wir den Schlamassel.“
„Danke“, sagte Marie, „von der Traumfrau zum Schlamassel.“
„Aber ich …“
Sie winkte ab und fragte zögerlich: „Über so etwas“, mit ihren Zeigefingern malte sie Zitatzeichen in die Luft, hast du schon nach unserem ersten Abend nachgedacht?“
Er nickte, griff nach Maries Händen und wollte sie an sich ziehen, aber sie sträubte sich und begann auf und ab zu gehen, die Bohlen knarrten unter ihren festen Schritten.
„Es mag oberflächlich und kleinkariert sein ...“ Sie blieb stehen und wischte sich über die Augen, vorsichtig, weil sie Kontaktlinsen trug. „Mir macht das Äußere am meisten zu schaffen. Noch fällt der Altersunterschied vielleicht nicht so sehr auf (Jan-Jonas nickte heftig), aber was ist in zehn Jahren, da werde ich fünfzig, brrr, wie sich das anhört.“ Sie blies ihren Pony hoch.
„Und ich bin dann Mitte dreißig und habe eine fünfzigjährige Freundin.“
Er fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht.
„Aber jetzt, nachdem ich dich endlich gefunden habe, kann ich dich doch nicht wieder loslassen“, rief er. „Das ist ü.ber.haupt.nicht.vor.stell.bar!“
Er sah auf einmal aus wie ein trotziger kleiner Junge. Marie lachte gequält.
„Und du lachst!“ Er fuhr nun mit beiden Händen über die Brüstung, immer schneller. Marie hätte am liebsten gesagt, pass auf, dass du dir nicht noch einen Splitter einhandelst, aber sie biss sich auf die Zunge.
„So wie es aussieht, sind wir eben beide nicht der Typ Mensch, uns einfach darauf einzulassen.“ Sie schlenkerte mit den Händen. „Das zu leben. Wie andere das vielleicht machen würden.“
Auch Jan-Jonas begann nun, auf und ab zu gehen, umrundete kopfschüttelnd die hölzerne Mini-Plattform.
Leise sagte Marie: „Und was würden sie im Verlag sagen, wenn wir als Paar auftreten?“
Er blieb abrupt stehen und schnaubte: „Das ist mir egal, so etwas von egal.“
„Aber du willst Karriere machen, du hast Ambitionen.“
„Na und, du hast doch gehört, was Frenzel-Fallou gesagt hat, wir beide sind ein tolles Team, unseren Auftritt im Junioren-Programm fanden alle klasse.“
Das stimmte. Die neuen Mitarbeiter der letzten Monate – sie waren insgesamt zu zehnt – waren zu einem Junioren-Workshop geladen worden.
Es gab ein paar Vorträge, Rollenspiele und Projektarbeiten. Marie hatte spöttisch gesagt, das dient der Potential-Auslese, aber die Herausforderungen dann doch sehr genossen. Sie hatten sich zusammen für eine Aufgabe gemeldet. Sein betriebswirtschaftlicher Hintergrund und ihre Formulierungsfreude ergänzten sich, es sprühte zwischen ihnen. Auch die Arbeit an der Broschüre für neue Mitarbeiter lief prächtig. Ja, sie waren in der Tat ein gutes Team.
„Aber die Leute werden – würden – reden, das muss dir doch klar sein.“ Sie klopfte mit der Hand aufs Geländer.
„Na und, lass sie reden.“ Er wirkte fast ärgerlich. „Was geht uns das an.“
Marie zog den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts etwas höher und steckte die Hände tief in die Taschen, der Wind pfiff beachtlich in dieser Höhe. Sie bewunderte ihn um seine Sichtweise, sie war nie ganz frei von der Meinung anderer Menschen.
Mit belegter Stimme fragte sie: „Hast du mit jemandem darüber gesprochen?“
Zu ihrer Überraschung antwortete er: „Ja, mit Michael. Schwer vorstellbar, aber interessant, hat er gesagt.“
„Interessant?“ Marie runzelte die Stirn. „Wie meint er das?“
Jan-Jonas zuckte mit der Schulter. „Weiß ich auch nicht. Mag sein, dass es sich abstrakt verrückt anhört – aber wenn ich dich so vor mir sehe, finde ich es klar, dass ich mich verliebt habe. Und dir geht es genauso, gib es zu. Jetzt komm doch endlich mal her.“
Er zog sie zu sich heran und legte ihr die Hände um die Taille: „Du fühlst dich gut an und du riechst so gut.“ Er schnupperte an ihrem Hals.
Dann griff er nach ihren Händen; sie entzog sie ihm, ihre Hände verrieten ihr Alter mehr als alles andere an ihr.
„Und du, hast du mit deinen vielen Freunden über uns gesprochen?“
Marie nickte: „Ja, habe ich. Hauke kann es sich nur schwer vorstellen, aber er meinte, wir könnten uns doch zehn oder fünfzehn schöne Jahre machen. Imke findet mich mal wieder viel zu kopfgesteuert, einfach leben, ist ihre Devise, sie ist so unkompliziert.“
Sie dachte an das, was eine Kollegin aus dem Verlag gesagt hatte und überlegte, ob sie es ihm erzählen sollte: „In einer Beziehung geht es immer auch um Macht, und die hängt vom individuellen Wert des Einzelnen ab. In die Zukunft geguckt, ist das für die ältere Frau ein Verliererspiel, ihr Wert sinkt, der des jungen Mannes steigt, so ist das nun mal in unserer Gesellschaft. Vieles dreht sich um Macht.“
Marie hatte sich innerlich geschüttelt, es war ihr fremd, über Macht im Zusammenhang mit einer Liebesbeziehung nachzudenken (und wie es klang: Macht, das harte ch in der Mitte, das spitze t am Ende, unangenehm).
Aber die Worte hatten sie getroffen, denn ihr war schmerzlich bewusst, dass sie einen wahren Kern enthielten. Sie schwieg.
Jan-Jonas legte die Hände in den Nacken und dehnte und reckte sich, es knackte.
„Momentan hast du mir auf jeden Fall viel voraus, auf allen Gebieten, ich finde das reizvoll, aber es macht mir auch Angst.“
Dass er das einfach so aussprach – Marie stieß hörbar die Luft aus.
„Weißt du, was mir wirklich zu schaffen macht?“ Er vergrub sein Gesicht in den Händen und sagte langsam: „Es ist doch nicht normal, darüber nachzudenken, ob man das leben will, wenn man sich verliebt. Das ist absurd.“ Er hämmerte mehrmals mit dem Handballen vor die Stirn. „Absurd, wirklich absurd.“
Marie dachte, sein „r“ hört sich an wie meins, man merkt, dass wir beide aus dem Norden kommen.
„Sag mal.“ Er drehte sich abrupt zu ihr, seine Mundwinkel wurden breiter und seine Augen lächelten. „Findest du, dass wir überhaupt eine Wahl haben?“
Stimmengewirr ertönte, eine Familie mit drei halbwüchsigen Kindern näherte sich dem Turm, zwei der Jungs zeigten nach oben.
„Oh je“, sagte Marie, „das war’s mit der Ruhe.“
Die Kinder polterten die Treppe herauf, dahinter erklangen mahnende Rufe der Erwachsenen. Der Vater, groß, dünn und etwas hektisch, zog einen Fotoapparat aus seiner Anoraktasche und lichtete die drei Jungen ab, wie sie am Geländer standen und mit ihren Fingern in die Landschaft deuteten. Die Mutter, eine Rothaarige mit langen Locken (oh wie Marie sie um diese Haare beneidete), grüßte freundlich und fragte, nachdem sie ausgiebig die Aussicht bewundert hatte: „Ist das da hinten Mainz?“
Als Marie bejahte, sagte sie: „Das ist ein wunderbares Plätzchen, sind Sie öfter hier?“ Marie nickte, Jan-Jonas schüttelte den Kopf.
„Oh, ich dachte, Sie gehören zusammen“, sagte die Frau.
„Das tun wir auch.“ Jan-Jonas zog Marie zu sich heran. „Ich lasse mir gerade von meiner Freundin diese wunderbare Umgebung zeigen.“
Marie wandte sich ab, um die aufsteigende Röte zu verbergen.
„Kommt Kinder, wir haben noch viel vor.“ Der Vater klatschte knallend in die Hände. „Auf geht’s, ich habe Hunger.“
„Tschüss!“ Die Kinder wedelten mit der Hand und trappelten unter Gelächter die Treppe hinunter.
„Auf Wiedersehen.“ Die Mutter lächelte den beiden zu und folgte, wie es schien, etwas widerwillig, dem Rest der Familie.
„Da siehst du es“, sagte Jan-Jonas, „für die Welt gehören wir zusammen.“
Marie lächelte schwach, in ihrem Inneren breitete sich etwas aus, etwas Wohliges, Warmes, Weiches. Und nirgendwo ein Fünkchen Widerstand.
„Hunger ist übrigens ein gutes Stichwort.“ Sie klopfte sich auf den Bauch. „Ich habe dir schon mal gesagt, ich muss in regelmäßigen Abständen etwas essen, sonst werde ich unleidlich.“
„Das wäre ja einen Versuch wert, ich würde dich gerne mal mit schlechter Laune erleben.“ Jan-Jonas grinste übers ganze Gesicht.
„Das willst du lieber nicht, wenn ich Hunger habe, verstehe ich keinen Spaß.“
Marie versuchte ihre Kinder-es-wird-ernst-Miene aufzusetzen.
Ihr Gesicht glühte wie der alte Heizstrahler im Badezimmer, doch was scherte sie das.
Jan-Jonas lächelte liebevoll und zog sie an seine Brust, schob sie aber sofort wieder von sich.
„Und jetzt will ich ... “ Er löste sich vom Geländer, sprang mit einem Satz auf die obere Plattform und breitete seine Arme aus. „Und zwar sehr bald, Marie Sand-Hollerbüh, deine Wohngemeinschaft kennenlernen und vor allem deine Kinder.“
Der Termin, den sie für Jan-Jonas’ „Antrittsbesuch“ in der Wohngemeinschaft ausgeguckt hatten, war der darauffolgende Donnerstag. Gerade als Marie ihren Schreibtisch aufräumen wollte – extrem früh für ihre Verhältnisse – , stand Frenzel-Fallou, der Geschäftsführer, im Türrahmen ihres Zimmers und deutete fragend auf das benachbarte Büro: „Ist er da?“ Sie nickte und ärgerte sich, jetzt konnte sie schlecht so früh Feierabend machen, musste zumindest warten, bis Filou (das war sein Spitzname im Verlag) gegangen war, das konnte dauern. Doch zum Glück öffnete sich schon nach ein paar Minuten die Tür und Frenzel-Fallou eilte hinaus. Schulte, ihr direkter Vorgesetzter, ein baumlanger, hagerer Endzwanziger, trat neben Marie und fragte, ob sie den Klappentext und die vierte Umschlagseite für das neue Buch Korrektur lesen wolle: „Sind leicht verständliche Texte, müsste aber jetzt sein.“
Sie schwankte kurz, sie wollte unbedingt noch die Kinderzimmer aufräumen, aber wenn man ihr schon mal etwas zutraute ... „Natürlich“, sagte sie, und nahm die beiden Ausdrucke entgegen. Sie kannte die Texte bereits aus dem Entwurfsstadium und es juckte sie in den Fingern, richtig einzusteigen. Aber sie rief sich zur Ordnung, strich zwei Fehler an und wollte die Papiere schon eilig zurückbringen, dann hielt sie doch inne und überlegte kurz, bevor sie die Tür zum Nebenzimmer öffnete.
„Schon fertig?“ Schulte blickte angestrengt in den Bildschirm. „Legen Sie es da hin.“
„Ähm, ich hätte da noch einen Vorschlag.“
„Ja?“ Etwas unwillig wandte er den Kopf zu Marie.
„Man könnte den Text deutlich kürzen. Und man könnte ihn lesefreundlicher machen, wenn man ihn in einzelne Punkte untergliedert.“
„Ach ja?“ Der Lektor zupfte abwesend an seinem Kinnbärtchen. „Wenn Sie meinen.“
„Schicken Sie mir die Datei?“
„Kommt.“ Das klang unwirsch.
Marie strich komplett das einleitende Bla Bla („im Zeichen ständig fortschreitender Globalisierung“, „sich den Herausforderungen stellen“) und kürzte zwei endlos lange Sätze. Die im Fließtext versteckten Aussagen zum Nutzen des Lesers filterte sie heraus und machte Aufzählungspunkte daraus. Dann schickte sie die korrigierte Datei zurück zu Schulte, schaute in ein paar zwischenzeitlich hereingekommene E-Mails – nichts, das nicht bis morgen warten konnte. Sie blickte auf die Uhr, jetzt wurde es aber wirklich Zeit. Sie steckte den Kopf ins Nebenzimmer und fragte vorsichtig: „Ist das so in Ordnung?“
„Noch keine Zeit, das Zeug zu lesen“, sagte Schulte und sah sie dabei nicht an.
„Ich würde dann gehen, ich müsste ...“
„Schon gut, bis morgen.“ Der Lektor bedachte sie doch noch mit einem Blick; er hat schon freundlicher geguckt, ging ihr durch den Kopf.
Zuhause stürzte Lukas auf sie zu: „Mama, ich will Rollerskates, aber nicht die von Aldi, ich will die, die der Tim hat.“
„Du möchtest“, entgegnete Marie.
„Was?“ Lukas hielt einen Moment inne und ließ den Ball von seinem Fuß abtropfen.
„Du möchtest, nicht du willst, und es heißt wie bitte, nicht was. Wir reden noch über die Rollerskates, aber später.“
„Warum nicht jetzt?“ Lukas zog mit den Zähnen an der Unterlippe und produzierte ein quietschendes Geräusch, Marie wandte sich ab.
„Ich möchte aufräumen, wir bekommen …“ Sie brach ab. Warum den Kindern schon jetzt sagen, dass sie einen Gast zum Abendessen hatten, einen Gast, den sie noch nicht kannten, aber zu dem sie bitte, bitte ganz nett sein sollten. Anna und Lukas waren Besuch in der Wohngemeinschaft gewöhnt und sie war sich nicht sicher, ob sie unbefangen klingen würde. Sie griff nach einem Paar Turnschuhe, schnüffelte daran und stellte sie zum Auslüften auf die Fensterbank.
„Wir bekommen was? Mama – Mama?“
„Wir bekommen ein Platzproblem, schau dich doch mal um. Wollten wir nicht mal wieder den Stand-Kicker aufstellen, wie wäre es, wenn wir das heute machen?“
„Kickern, das ist eigentlich keine schlechte Idee.“ Lukas schnalzte anerkennend.
„Gut, dann lass uns jetzt Platz dafür schaffen.“ Marie sammelte im Zimmer herumliegende Kleiderstücke ein, hängte sich zwei Hosen und einen Stapel T-Shirts über den Arm und eilte in Richtung Badezimmer, um die Waschmaschine zu füllen.
Es war nicht einfach, die Sachen der Kinder und die drei Zimmer, die sie bewohnten, in Ordnung zu halten und dazu noch ihre eigenen Klamotten, denen sie nun wesentlich mehr Sorgfalt widmete. Vor fünf Uhr war sie nie zu Hause, oft später.
Zum Glück lief es mit Bine und Peter gut, sie konnten sich aufeinander verlassen. Die beiden sprangen ein, wenn es Schwierigkeiten mit der Kinderbetreuung gab. Marie sah gerne zu, wenn Peter seine Späße mit den Kids machte und mit ihnen herumtobte, wie sie es nie tat. Bine bewunderte sie für die Ausdauer, mit der sie ihnen Dinge erklärte oder ihnen half, etwas zu reparieren – die Lieblings-Tasse zu kleben oder eine verdrehte Halskette zu entwirren.
Zu Beginn ihrer gemeinsamen Zeit war Marie schnell in die Rolle der Dränglerin gerutscht; sie hatte auf einem Putzplan bestanden und auf gleichmäßiger Verteilung der Pflichten. Ihre Idee war es auch gewesen, die Pitch Pine Böden, die sich im endlos langen Flur und in fast allen Zimmern befanden, vom ekligen Teppichboden zu befreien und abzuschleifen. Meine Güte, hatten sie geflucht. Aber nun blieb sie manchmal – mitten im Lauf von Zimmer zu Zimmer – stehen, blickte hinunter und freute sich an dem rötlich schimmernden, gemaserten Holz.
Irgendwann hatten Bine und Peter ihr den Spitznamen „Knute“ verliehen. Sie war mit den Kindern aus den Sommerferien zurückgekehrt, und alle saßen gemütlich in der Küche, als Bine plötzlich losprustete und erzählte, wie die beiden sich zwei Tage vorher zum Groß-Reinemachen verabredet hatten: „Die Knute kommt zurück.“
Marie schluckte und lächelte etwas gequält.
„Was ist eine Knute?“, fragte Lukas.
Bine kicherte. „Das ist eine Peitsche.“