Wofür ich mein Leben gebe - Clarice Lispector - E-Book

Wofür ich mein Leben gebe E-Book

Clarice Lispector

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Beschreibung

Die Entdeckung des »Kosmos Clarice Lispector« geht weiter: So persönlich war die Ikone der modernen Literatur noch nie zu erleben

Clarice Lispector, eine der literarischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, schrieb zeit ihres Lebens für Zeitungen, so u.a. zwischen 1969 und 1973 für das »Jornal do Brasil«, das führende Presseorgan des Landes, in dem sie eine wöchentliche Kolumne führte. Berühmt für ihre expressiven, das Innerste ihrer Figuren nach außen kehrenden Romane und Kurzgeschichten, erzählte Lispector hier von ihrem eigenen Alltag, verwandelte persönliche Erlebnisse und Erinnerungen in tiefgründige, berührende, häufig humorvolle kurze Episoden. Die verlorene Liebe eines Taxifahrers, die bittere Wahrheit hinter der Schönheit einer alten Freundin, ihre eigene Familie und ihr Aufwachsen: In allem entdeckt Lispector die Widersprüche und Eigenheiten des Leben. Auch über ihr Schreiben reflektiert sie in den Kolumnen immer wieder, teilt ihre Leseerfahrungen und schlägt eine Brücke zur brasilianischen Musik ihrer Zeit. Lispectors ureigener Blick auf die Welt, so ernst wie spielerisch, so heiter wie kontemplativ, offenbart echte Perlen der Erkenntnis und bringt uns die Schriftstellerin so nahe wie nie zuvor. Luis Ruby, gerühmter Übersetzer von Lispectors Romanen und Erzählungen ins Deutsche, hat für diesen Band die unterhaltsamsten und aufschlussreichsten Kolumnen ausgewählt und kommentiert. „Sie konnte beißend sein, rätselhaft, witzig - aber nie banal. Gerade mit ihren Kolumnen wurde die Schriftstellerin Clarice Lispector zu einer brasilianischen Ikone.“ Süddeutsche Zeitung, Simon Sales Prado - »Eine wirklich außergewöhnliche Schriftstellerin.« Jonathan Franzen – »Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

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Seitenzahl: 324

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»Endlich wird eine der geheimnisvollsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts in all ihren schillernden Facetten wiederentdeckt.« Orhan Pamuk

Clarice Lispector, eine der literarischen Ikonen des 20. Jahrhunderts, schrieb zeit ihres Lebens für Zeitungen, so u. a. zwischen 1969 und 1973 für das »Jornal do Brasil«, das führende Presseorgan des Landes, in dem sie eine wöchentliche Kolumne führte. Berühmt für ihre expressiven, das Innerste ihrer Figuren nach außen kehrenden Romane und Kurzgeschichten, erzählte Lispector hier von ihrem eigenen Alltag, verwandelte persönliche Erlebnisse und Erinnerungen in tiefgründige, berührende, häufig humorvolle kurze Episoden. Die verlorene Liebe eines Taxifahrers, die bittere Wahrheit hinter der Schönheit einer alten Freundin, ihre eigene Familie und ihr Aufwachsen: In allem entdeckt Lispector die Widersprüche und Eigenheiten des Leben. Auch über ihr Schreiben reflektiert sie in den Kolumnen immer wieder, teilt ihre Leseerfahrungen und schlägt eine Brücke zur brasilianischen Musik ihrer Zeit. Lispectors ureigener Blick auf die Welt, so ernst wie spielerisch, so heiter wie kontemplativ, offenbart echte Perlen der Erkenntnis und bringt uns die Schriftstellerin so nahe wie nie zuvor. Luis Ruby, gerühmter Übersetzer von Lispectors Romanen und Erzählungen ins Deutsche, hat für diesen Band die unterhaltsamsten und aufschlussreichsten Kolumnen ausgewählt und kommentiert.

Clarice Lispector wurde 1920 als Tochter jüdischer Eltern in der Ukraine geboren und wuchs im ärmlichen Nordosten Brasiliens auf. Sie studierte Jura, arbeitete als Lehrerin und Journalistin und führte als Diplomatengattin ein ebenso glamouröses wie rebellisches Leben. Bereits ihr erster, vielbeachteter Roman »Nahe dem wilden Herzen« (1944) brach klar mit allen Regeln konventionellen Schreibens. Lispector starb 1977 mit nur 56 Jahren in Rio de Janeiro.

Luis Ruby, 1970 in München geboren, übersetzt neben Clarice Lispector Autoren wie Hernán Ronsino, Irene Vallejo und Carlo Fruttero. Er wurde für seine Arbeit u. a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Münchner Literaturstipendium ausgezeichnet.

www.penguin-verlag.de

CLARICE LISPECTOR

Wofür ich mein Leben gebe

Kolumnen 1946 –1977

Herausgegeben und aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Luis Ruby

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e. V. für die Förderung durch ein Arbeitsstipendium.

Copyright © Paulo Gurgel Valente, 2023

Copyright © Todas as Crônicas, 2018

Nachwort »Making of« Copyright © 2022 by Paulo Gurgel Valente

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe und des »Intros« 2023 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Maria Hummitzsch, Corinna Santa Cruz

Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka

Umschlagabbildung: © Tina Berning/2 Agenten

Satz: Vornehm Mediengestaltung

ISBN 978-3-641-28156-4V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

IntroLouis Ruby

Kolumnen

1946

1947

1962

1967

1968

1969

1970

1971

1972

1973

1977

Making ofPaulo Gurgel Valente

Verzeichnis der Kolumnen und Originaltitel

Intro

»[Clarice] ›postete‹ im Jornal do Brasil sehr persönliche Dinge, was damals nicht üblich war. In dem Sinn, glaube ich, war sie ihrer Zeit ein Stück weit voraus. Manchmal wusste sie nicht, was sie in der Kolumne schreiben sollte, brachte darin aber sehr persönliche Sätze, fast schon wie auf Twitter, in 140 Zeichen.«

Paulo Gurgel Valente1

Die vorliegende Auswahl aus Clarice Lispectors literarischen Kolumnen ist chronologisch angeordnet. So werden Aspekte ihrer schriftstellerischen Entwicklung sichtbar, von den tastenden Anfängen bis hin zur souveränen, ihrem ganz eigenen Sinn folgenden Entfaltung. Biografisches wird im zeitlichen Zusammenhang deutlich.

Doch das ist nur eine mögliche Art des Lesens. Genauso gut lassen sich einzelne Kolumnen in nicht-chronologischer Reihenfolge genießen, lässt sich nach Lust und Laune blättern und springen. Und die Wirkung hält – schon bei Aufnahme niedriger Dosen – eine ganze Weile an.

Als Übersetzer und Herausgeber, vor allem aber als langjähriger Leser der Autorin möchte ich daher raten: Nutzen Sie Ihre Freiheit, folgen Sie Ihrer Neugier.

Meine Auswahl zielt darauf ab, einen Eindruck von Clarice Lispectors Bandbreite zu vermitteln, von ihrer plaudernden Leichtigkeit über poetische Stimmungsbilder bis zu den beinahe meditativen Selbsterforschungen, die man aus ihren Romanen und Erzählungen kennt – wobei sie hier konkret und persönlich grundiert sind.

Die Autorin tritt uns in verschiedenen Rollen gegenüber: als reflektierende Schriftstellerin, als Mutter, als hochsensible, mal mitfühlende, mal schonungslose Beobachterin anderer und ihrer selbst; als Einzelgängerin und Freigeist, und dann wieder ganz unvermittelt als für Menschen und Situationen offene Person. Clarice, wie sie bis heute in Brasilien genannt wird, kultivierte spontane Begegnungen und langjährige Freundschaften, unterhielt sich mit Gott und der Welt über Gott und die Welt – besonders aber mit Taxifahrern und mit ihren Lesern, auf deren Zuschriften sie regelmäßig einging. Sofern nicht gleich Ana Luísa von gegenüber vor der Tür stand, um ihr persönlich einen Oktopus vorbeizubringen (aus dem in der Übersetzung aus wortspielerischen Gründen ein »Tintenfisch« wird).

Die vielfältigen kulturellen Interessen Clarice Lispectors, die zeit ihres Lebens bildende Kunst sammelte und in der Kulturszene von Rio de Janeiro jeden kannte, der Rang und Namen hatte, kommen demgegenüber etwas kurz: Die Beteiligten sind hierzulande mit wenigen Ausnahmen unbekannt, und die Zusammenhänge – etwa von der Autorin besuchte aktuelle Ausstellungen – liegen nun einmal Jahrzehnte zurück. In einem Arbeitsjournal, das zeitgleich zu diesem Buch auf der Toledo-Website des Deutschen Übersetzerfonds erscheint2, erzähle ich ausführlicher von diesen Aspekten, wie auch von meiner Übersetzung.

Clarice Lispector ist als Kolumnistin ein besonderer und eigenwilliger Fall. Doch ihre große Bekanntheit in Brasilien, wo sie bis heute von vielen verehrt wird, geht in erheblichem Maß auf diese Facette ihres Schaffens zurück, bei der sie dem Publikum, wie sie sagt, einen gewissen Teil ihrer Seele verkauft – »den Teil, der samstags gerne plaudert«.3

Die Unmittelbarkeit dieses Plauderns liegt lange zurück. Manches mag fremd geworden sein, hat dafür aber den Charakter eines Zeitzeugnisses angenommen. Und auch die ganz besondere Spannung zwischen Nähe und Fremdheit, die sich aus Clarices Persönlichkeit ergab, ist in diesen Texten sehr direkt zu spüren. Gerade dies macht ihre Lektüre bis heute zum Erlebnis.

Luis Ruby, München, im Sommer 2023.

1 Clarice Lispectors Sohn im Interview mit Eucanaã Ferraz und Elizama Almeida, 2014 – https://youtu.be/G7kndLPsKaA?t=619.

2https://www.toledo-programm.de/journale/

3 Aus: »Unsterbliche Liebe«, S. 39 dieser Ausgabe.

1946

29. Dezember 1946

Das Heim

Vier Stühle stehen im Wohnzimmer. Vier dunkle Stühle um den kleinen Tisch. In der Mitte des Tisches der Krug. Auf der Terrasse trocknet das Handtuch im nächtlichen Wind. Die Uhr auf dem Platz schlägt eins. Zwei. Vier. Elf Glockenschläge hallen bis zur Brücke, die ganz verlassen ist. In der Ecke des Wohnzimmers das quadratische Möbel – ist das ein Schatten? ein Möbelstück? – , auf dem winzig die Zigaretten ruhen, die erloschene Zigarre, das leere Glas, und als Denkmal das Röhrchen mit Beruhigungspillen. Auf dem Gang das eisige Linoleum. Der lange Gang. Im Esszimmer der leere Tisch. Ein Stapel funkelnder Teller. Der Wind durchs offene Fenster, so eine Gefahr. Unten der trockene Gehsteig, die Biegung des Wäldchens. In der Vitrine die Teetassen. Zwei ausgetrocknete Stücke Kuchen. Die gefangene Fliege ist auf der Scheibe eingeschlafen. Oder sie ist tot, so eine Gefahr. Hoch oben jubiliert die Lampe. Die Küche … Die Kanne mit kaltem Kaffee. Der laue Geruch des Abfalls, der Wind durch die Läden. Der Kopf einer Henne, so eine Gefahr. Der leere Herd – woran erinnert er? Das Tropfen des Hahns in der Spüle. Das Licht der Laterne beleuchtet den Kochtopf, ach. Das Tropfen des Hahns. Das Aspirin auf dem Küchentisch? Durcheinander, so ein Durcheinander. Im Badezimmer die Dunkelheit und die Zahnpasta. Und aus der Finsternis die fantastische Badewanne, so eine Gefahr. Die Hose auf der Leine? Der Türknauf glänzt, zwei große Metallbecher und ein kleiner, gewalzt? Gewalzt … Auf dem Korridor der Teddy und die Puppe im Zimmer … In diesem schwindelerregenden Frieden liegt die Familie im Schlaf. Die Uhr auf dem Platz schlägt eins. Zwei. Fünf. Neun. Zwölf Glockenschläge. Leise ziehe ich mich zurück und verschwinde durchs sorgsam geschlossene Fenster. Die Frau seufzt. Das Mondlicht, so eine Gefahr. Ach.

29. Dezember 1946

Ausschweifung des Weisen

Letztlich kam es nicht dazu.

Das Kind spielte in der Gartenluft. Am Fenster erschien das tragische, eingecremte Gesicht, die Mutter rief: Catarina! Das Kind stumm und zart. Catarina! – Dann, nur ein kurzer Augenblick: Bin etwa ich Catarina?, fragte sich der Weise an seinem Fenster. Catarina spielte im Wind, drehte sich um sich selbst. Auf leisen Sohlen verwandelte er sich in Catarina, lief ins Haus, stieß auf die Frau, die da lag, das Gesicht voller Creme, beugte sich so tief über sie, dass ihr Parfüm ihm den Atem verschlug, ihn vor Lust und Ekel eine Pirouette vollführen ließ, er tanzte durchs Zimmer, dass die Schöße des strengen Jacketts nur so flogen. Die Frau auf der Liege regte sich. Er hielt inne, rückte sich die Brille zurecht, atemlos: Er dachte, lief, dachte, welch ein Wind! Er wandte sich zum Kinderzimmer, das Königreich auf der Tapete, die Puppe tanzte Walzer mit dem Mann, das Bein der Puppe vollführte noch eine andere tänzelnde Bewegung, und die Kamillenblüten ergossen sich aus dem Riss in ihrem Fuß. Auf Zehenspitzen machte er kehrt und pustete, noch immer keuchend, die Eingecremte an, die mit bitteren Augen auf Schönheit wartete. Er wurde ernster, begann, nachdenklich mit den schlanken Fingern der Dame zu spielen, die vor Ungeduld stöhnte: Er löste den kleinen Finger der Frau von den anderen, strich ihn munter und traurig glatt. Auf einmal stand sie wieder am Fenster: Catarina! Das Kind hörte auf, sich zu drehen, was war da los? Er zuckte zusammen, betrachtete verblüfft das Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Die wahre Catarina lief als leichter Schatten zum Haus. Die Frau war am Fenster stehen geblieben, das Gesicht hart, eine große Gekränkte. Hochgewachsen, undurchdringlich. Der Weise lachte leise, schüttelte sich und sagte boshaft, ein wenig erschöpft: Ich kenne dich schon.

1947

2. Februar 1947

Der Junge4

Jenseits des Ohrs gibt es einen Klang

Am Rande des Blicks eine Gestalt

An der Schwelle des Ausatmens die Luft

An den Fingerspitzen einen Gegenstand

Da will ich hin.

An der Bleistiftspitze den Strich.

Wo es das Denken verschlägt, ist eine Idee,

Am letzten Hauch von Freude Euphorie

Am Saum der Glockenschläge Stille

An der Spitze des Schwertes Magie

Da will ich hin.

An den Zehenspitzen der Sprung.

Wie in der Geschichte des Jungen,

Der blieb, wohin er ging.

Da will ich hin.

2. Februar 1947

Am Rande der Seligkeit

Wenn man sieht, hat der Akt des Sehens keine Form – das, was man sieht, hat Form. Genauso verhält es sich mit einer Art »höherem« Denken. Selbst hat es – als Akt des Denkens – keine Form. Gerade auf diese Weise denkt das wahre Denken sich selbst, diese Art von Denken erreicht im Akt des Denkens ihr Ziel. Das soll nicht heißen, dass man in so einem Fall »höheren Denkens« vage oder beliebig denken würde. Vielmehr ist es so, dass das primäre Denken – als Akt des Denkens – bereits Form hat und leichter auf sich selbst übertragbar ist, oder besser, auf den Menschen, der es denkt; und deshalb (weil es eine Form hat) ist es in seiner Reichweite beschränkt. Während das Denken, das man als »höheres« Denken bezeichnet, als Gegenstand des Denkens frei ist. (Was etwas anderes ist als »vage« oder »beliebig«.) Die Freiheit dieses Denkens reicht so weit, dass es dem Denkenden selbst als urheberlos erscheint. Auch Seligkeit hat diese Eigenschaft. Besser gesagt, führt das freie höhere Denken zu Seligkeit. Die Seligkeit beginnt in dem Moment, in dem der Akt des Denkens sich von der Notwendigkeit einer Form befreit hat. Die Seligkeit beginnt in dem Moment, in dem das Denken das Denkbedürfnis des Urhebers überwunden und dieser sich der »Größe des Nichts« nahe gesehen hat. Man könnte auch sagen: der Größe des Ganzen. Aber »das Ganze« ist eine Menge, und eine Menge ist begrenzt durch ihren eigenen Anfang; und »das Ganze« zu betrachten führt dazu, dass man an einen bestimmten Gegenstand denkt; die wahre Größe ist das Nichts, das keine Schranken hat und in dem der Mensch sein Denken entfalten kann. Sein Denken entfalten, bis es das Blickfeld des Menschen verlässt und er vor seinem eigenen Denken steht – dem Schauen, dem Schauen, das schaut. Und noch nicht einmal zum Sehen vordringt. Sein Denken entfalten, bis der Mensch vor seinem eigenen Denken zu einem »Gegenstand« wird und »unfähig zu denken«. Diese Seligkeit vor dem Nichts kann man auch nennen: vor Gott. Gott beginnt an einem bestimmten Punkt des Denkens. Diese Aussage ist in sich weder säkular noch religiös. Ein Mystiker kann sie erkennen. Und bei all dem geht es nicht um das Problem Gottes. Wir sprechen vom Denken des Menschen und davon, wie dieses Denken einen Punkt erreichen kann, an dem es kaum noch mitteilbar ist – was zugleich für diesen Menschen der Punkt ist, an dem er am meisten von sich mitteilen kann.

(Zu schlafen bringt uns diesem Denken sehr nahe. Wir sprechen nicht vom Traum, der allenfalls primäres Denken wäre; wir sprechen vom »Schlafen«. Schlafen heißt in gewisser Weise sich entziehen.)5

4 Dieses Gedicht ist offensichtlich der Keim der Erzählung (oder des Prosagedichts) »Da will ich hin«; nachzulesen in Clarice Lispector, Aber es wird regnen. Sämtliche Erzählungen II. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, Penguin, München 2020.

5 Hier enden die Beispiele für Clarice Lispectors erste Gehversuche auf dem Gebiet der crônica (1940er-/frühe 60er-Jahre). Wir springen ins Jahr 1967, in dem sie ihre Tätigkeit als Kolumnistin in Rio de Janeiro aufnimmt.

1962

August 1962

Ein Versuch zu fühlen

Nicht um unseretwillen fließt die Kuhmilch, aber wir trinken sie. Die Blume ist nicht gemacht, damit wir sie anschauen, auch nicht, damit wir ihren Duft riechen, und doch schauen wir sie an und riechen sie. Die Milchstraße existiert nicht, damit wir von ihrer Existenz wissen, aber wir wissen von ihr. Und wir wissen Gott. Und was wir brauchen, das entnehmen wir Ihm. (Ich weiß nicht, was sich Gott nennt, aber so kann man es nennen.) Wenn wir von Gott nur sehr wenig wissen, dann, weil wir wenig brauchen: Wir haben von Ihm nur das, was uns unweigerlich genügen muss, wir haben von Gott nur, was wir fassen können. (Die Wehmut gilt nicht dem Gott, der uns fehlen würde, sie gilt uns selbst, die wir nicht genug sind; uns fehlt unsere Größe jenseits des Möglichen – meine unerreichbare Zukunft ist mein verlorenes Paradies.) Wir leiden, weil wir so wenig Hunger haben, auch wenn dieses bisschen Hunger schon ausreicht, um uns ein tiefes Fehlen des Genusses spüren zu lassen, den wir hätten, wenn wir hungriger wären. Milch trinken wir nur so viel, wie der Körper braucht, und von der Blume sehen wir nur, wohin die Augen und ihre glatte Sattheit reichen. Je mehr wir brauchen, desto mehr gibt es Gott. Je mehr wir vermögen, desto mehr Gott werden wir bekommen. Und Er lässt es geschehen. (Er ist nicht für uns geboren, und wir auch nicht für Ihn, wir und Er sind zur selben Zeit.) Er ist ununterbrochen damit beschäftigt, zu sein, so wie das alle Dinge sind, aber Er hindert uns nicht daran, uns Ihm anzuschließen und zusammen mit Ihm mit dem Sein zu beschäftigen, in einem so fließenden und konstanten Austausch – wie dem des Lebens. Er nutzt zum Beispiel uns voll und ganz, weil in keinem von uns etwas ist, das Er mit seiner absolut unendlichen Bedürftigkeit nicht brauchen würde. Er nutzt uns und hindert uns nicht daran, uns Ihn zunutze zu machen. Das Erz, das in der Erde liegt, ist nicht dafür verantwortlich, dass es nicht genutzt wird. Wir sind überaus rückständig und haben keine Ahnung, wie man den Austausch mit Gott nutzt – als hätten wir noch nicht herausgefunden, dass man Milch trinken kann. In einigen Jahrhunderten oder in einigen Minuten werden wir vielleicht erstaunt sagen: Dass Gott immer da gewesen ist! Wenn jemand wenig da gewesen ist, dann ich – so wie wir vom Erdöl sagen könnten, dass es am Ende hinreichend gebraucht wurde, also fand man Wege, es aus der Erde zu holen, so wie wir eines Tages diejenigen bedauern werden, die an Krebs gestorben sind, ohne das Medikament zu nutzen, das doch da ist. (Anscheinend brauchen wir es noch nicht, nicht an Krebs zu sterben.) Alles ist da. (Vielleicht wissen die Bewohner eines anderen Planeten schon Bescheid und leben in einem Austausch, der für sie ganz natürlich ist; für uns hingegen wäre das »Heiligkeit« und würde unser Leben komplett durcheinanderbringen.)

Wir trinken also die Kuhmilch. Und wenn uns die Kuh sie nicht geben will, so benutzen wir Gewalt. (Im Leben und im Tod ist alles erlaubt.) Auch Gott gegenüber können wir uns mit Gewalt einen Weg bahnen. Wenn Er selbst einen von uns ganz besonders braucht, dann wählt Er uns und tut uns Gewalt an. Nur dass meine Gewalt gegenüber Gott sich auf mich selbst richten muss. Ich muss mir Gewalt antun, um mehr zu brauchen. Um so verzweifelt zu wachsen, dass ich leer und bedürftig werde. So werde ich an die Wurzel des Brauchens gerührt haben. Die große Leere in mir wird mein Daseinsort; meine extreme Armut wird ein großes Wollen. Ich muss mir Gewalt antun, bis ich nichts mehr habe und alles brauche; wenn ich brauche, werde ich bekommen, ich weiß ja, dass es recht ist, dem mehr zu geben, der um mehr bittet, mein Fordern ist mein Umfang, meine Leere ist mein Maß. – Wobei man Gott auch direkt Gewalt antun kann, durch eine Liebe voller Wut. Und Er wird verstehen, dass unsere cholerische und mörderische Gier in Wahrheit unser heiliger, aus Leben gespeister Jähzorn ist, unser Versuch, uns selbst Gewalt anzutun, der Versuch, mehr zu essen, als wir können, um unseren Hunger künstlich zu vergrößern – im Fordern von Leben ist alles erlaubt, selbst Künstlichkeit, und Künstlichkeit ist manchmal das große Opfer, das man erbringt, um Wesentliches zu bekommen. – Aber, da wir wenig sind und daher nur wenig brauchen, warum genügt uns dann nicht das Wenige? Nun, wir erahnen eben den Genuss. Wie Blinde, die vor sich hin tasten, erahnen wir im Voraus den intensiven Genuss des Lebens. Und wenn wir ihn erahnen, dann auch, weil wir uns auf beunruhigende Weise von Gott benutzt fühlen, wir haben das beunruhigende Gefühl, mit intensivem, ununterbrochenem Genuss benutzt zu werden – im Übrigen war unsere Rettung bis dato, dass wir doch immerhin benutzt werden, wir sind nicht nutzlos, Gott zieht intensiven Nutzen aus uns; Leib und Seele und Leben sind dafür da: für den Austausch und die Ekstase eines anderen. Voller Unruhe spüren wir, dass wir zu jeder Zeit benutzt werden – doch das weckt in uns den beunruhigenden Wunsch, ebenfalls Nutzen zu ziehen. Und Er lässt das nicht nur geschehen, vielmehr ist Ihm ein Bedürfnis, benutzt zu werden, benutzt zu werden ist eine Art, verstanden zu werden. (In allen Religionen fordert Gott, dass man Ihn liebt.) Um etwas zu haben, müssen wir nur brauchen. Brauchen ist stets der höchste Augenblick. So wie die riskanteste Freude zwischen einem Mann und einer Frau dann eintritt, wenn das Brauchen so groß wird, dass man Todesqualen und Staunen empfindet: Ohne dich könnte ich nicht leben. Die Offenbarung der Liebe ist eine Offenbarung des Mangels – selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das quälende Reich des Lebens …

November 1962

Erinnerung an einen schwierigen Sommer

In Schlaflosigkeit schwebte die kaum beleuchtete Stadt. Nicht eine Tür war geschlossen, und jedes Fenster hatte sein warmes Licht. Um die Laternen flatterten die Larven. Am Flussufer die Tische, die wenigen müden Gespräche, schlummernde Kinder auf dem Schoß. Die wache Leichtigkeit der Nacht hinderte uns, schlafen zu gehen; wie Wanderer schritten wir gemächlich aus. Wir waren Teil der gelblichen Totenwache der Laternen, und der geflügelten Larven, und der runden Höhen, die da schwebten, und des Wachens eines ganzen Himmelsgewölbes. Wir waren Teil des großen Wartens, das durch sich und in sich nun mal ist, was das ganze Universum tut. Seit den anderen riesigen Larven, die einst langsam vom Wasser jenes Flusses getrunken hatten.

Aber innerhalb des umfassenden Wartens, denn das war die Art, wie man sich dem Sein widmen konnte, bat ich um eine Atempause. Diese Augustsommernacht war aus dem feinsten Stoff gewoben, dem für immer unzerstörbaren Stoff des Wartens. Ich wollte, dass die Nacht endlich anfing, in feinem Zucken zu beben, zum Anfang ihrer Todesqualen; denn dann könnte auch ich schlafen. Aber ich wusste, dass eine Hitzenacht weder zerfranst noch in Tag übergeht, sie wird im lauen Fieber des Morgens einfach zu Schweiß. Und immer bin ich es, die schlafen gegangen ist, immer bin ich es, die in Todesqualen geriet, während die Hitze ausharrt wie ein lidloses Auge. Und unter dem großen, wachen Auge der Welt habe ich meinen Schlaf eingerichtet, habe mein Körnchen Schlaflosigkeit in tausend Mumientücher gehüllt, diesen Diamanten, der mir zugeteilt war. Ich stand an der Ecke und wusste, dass niemals etwas in Todesqual geraten wird. Es ist eine Welt für die Ewigkeit. Und ich wusste, ich bin es, die sterben muss.

Aber ich wollte das nicht allein, ich wollte einen Ort, der dem ähnelt, was ich brauchte, ich wollte aufgenommen werden mit meiner notwendigen Todesqual. Meine Tode geschehen nicht aus Traurigkeit – sie sind eine der Arten, wie die Welt ein- und ausatmet, die Abfolge verschiedener Leben ist der Atem des endlosen Wartens, und ich selbst, die ich ebenfalls die Welt bin, brauche den Rhythmus meiner Todesqualen. Aber wenn ich als Welt mit meinem Tod einverstanden bin, so brauche ich als das andere, das ich ebenfalls ganz stark bin, die erbarmungsvollen Hände, die den Leichnam aufnehmen sollen. Ich, die ich auch die Hoffnung auf Erlösung vom Warten bin, brauche das Mitgefühl der Liebe, das mich rettet und auch den Geist meines Blutes. Das Blut, das so schwarz ist im schwarzen Staub meiner Sandalen, und meine Stirn war von Mücken umgeben wie eine Frucht. Wo sollte ich Zuflucht finden und der bebenden Sommernacht entgehen, die mich an ihre Größe gekettet hatte? Mein kleiner Diamant war so viel größer geworden als ich, und ich sah, dass auch die Sterne hart und glänzend sind, und ich musste doch die Frucht sein, die fault und davonrollt. Ich brauchte den Abgrund.

Da sah ich ganz aufrecht die Kathedrale von Bern.

Aber auch die Kathedrale war warm und wachsam. Voller Wespen.

November 1962

Schrittweise Annäherung

Wenn ich meinem Leben einen Titel geben müsste, dann würde er lauten: Auf der Suche nach dem Ding an sich …

1967

19. August 1967

Lästige Kinder

Ich kann nicht. Ich kann nicht an die Szene denken, die ich mir ausgemalt habe und die real ist. Ein Junge wird nachts von Hunger gequält und sagt zu seiner Mutter: Mama, ich habe Hunger. Sie antwortet sanft: Schlaf weiter. Er sagt: Aber ich habe Hunger. Sie bleibt dabei: Schlaf. Er sagt: Ich kann nicht, ich habe Hunger. Sie wiederholt ungeduldig: Du sollst schlafen. Er beklagt sich weiter. Sie ruft gequält: Jetzt schlaf doch endlich, du Nervensäge! Dann liegen die beiden schweigend im Dunkeln und regen sich nicht. Ob er wohl eingeschlafen ist?, denkt sie hellwach. Und er ist zu verschüchtert, um sich zu beklagen. In der Schwärze der Nacht liegen sie beide wach. Bis sie vor Schmerz und Müdigkeit einnicken, gewiegt von der Resignation. Und Resignation kann ich nicht ertragen. Ah, mit welchem Hunger und Genuss ich die Auflehnung verschlinge.

19. August 1967

Die Überraschung

In den Spiegel schauen und überwältigt zu sich sagen: Was bin ich rätselhaft. Ich bin so zart und kraftvoll. Und der Schwung der Lippen hat sich die Unschuld bewahrt.

Es gibt keinen Mann und keine Frau, die nicht bei einem zufälligen Blick in den Spiegel von sich überrascht worden wären. Für einen Sekundenbruchteil sehen wir uns als einen Gegenstand, den man anschauen kann. Das könnte man auch Narzissmus nennen, aber ich würde es nennen: Seinsfreude. Die Freude, in der äußeren Gestalt die Echos der inneren Gestalt zu finden: Ah, dann stimmt es also, dass ich nicht nur in meiner Vorstellung da bin, ich existiere.

19. August 1967

Denken spielen

Die Kunst des Denkens ohne Risiko. Ohne die Wege des Gefühls, zu denen das Denken führt, hätte es schon längst seinen Platz unter den Formen des Zeitvertreibs. Dass man zu diesem Spiel keine Freunde einlädt, liegt nur daran, dass man ums Denken so viel Aufhebens macht. Am besten lädt man sie einfach so ein und denkt dann zusammen, als wenn nichts wäre, in der Verkleidung der Worte.

Das, solange das Spiel leicht ist. Denn um tief zu denken – die höchste Stufe dieses Hobbys – , muss man allein sein. Sich dem Denken zu überlassen ist nämlich ein großes Gefühl, und man hat nur den Mut, vor Anderen zu denken, wenn das Vertrauen so groß ist, dass man sich nicht scheut, »Andere« groß zu schreiben, wenn es sein muss. Außerdem wird den Anwesenden, während wir denken, viel abverlangt: Sie müssen ein großes Herz haben, Liebe, Zuneigung und die Erfahrung, sich dem Denken ebenfalls schon mal hingegeben zu haben. So viel wird dem abverlangt, der die Worte und die Stille hört – wie beim Fühlen selbst. Nein, das stimmt nicht. Beim Fühlen wird noch mehr verlangt.

Gut, aber was das Denken als Zeitvertreib betrifft, das ist mangels Risiken für jeden erreichbar. Ein kleines Risiko bleibt natürlich. Man spielt, aber möglicherweise ist einem hinterher das Herz schwer. Im Allgemeinen jedoch besteht keine Gefahr, sofern man die Vorsicht walten lässt, zu der die Intuition rät.

Als Hobby hat das Ganze den Vorteil, dass man es überallhin mitnehmen kann. Wobei es an der frischen Luft, wie ich finde, noch besser ist. In gewissen Nachmittagsstunden zum Beispiel, in denen die lichtdurchflutete Wohnung durch das Licht eher geleert wirkt, während die ganze Stadt vor Arbeit bebt und nur wir zu Hause arbeiten, bloß dass davon niemand weiß – in diesen Stunden, in denen unsere Ehre gerettet wäre, wenn wir eine Reparaturwerkstatt oder eine Nähstube hätten – in diesen Stunden: denkt man. Und zwar so: Man fängt genau da an, wo man gerade ist, auch zu anderen Stunden als nachmittags; nur nachts würde ich es nicht empfehlen.

Einmal zum Beispiel – als wir noch außer Haus waschen ließen – machte ich gerade die Wäscheliste. Vielleicht aus der Gewohnheit heraus, Texte zu betiteln, oder weil mich plötzlich die Lust überkam, ein sauberes Heft zu führen wie in der Schule, schrieb ich: Inventar der … Und genau in diesem Augenblick war mir plötzlich danach, unernst zu sein. Hier meldet sich zum ersten Mal der spielerische Geist, wenn es sozusagen ums Denken als Hobby geht. Und ich schrieb durchtrieben hin: Inventar der Gefühle. Was ich damit sagen wollte, musste ich zurückstellen, um es mir später anzusehen – noch ein Zeichen, dass man auf dem richtigen Weg ist: wenn man sich nicht grämt, weil man etwas nicht verstanden hat; die richtige Haltung ist: Man verliert nicht, weil man wartet, man verliert nicht, weil man nicht versteht.

Anschließend machte ich mich daran, eine kleine Liste der Gefühle zu erstellen, deren Namen ich nicht kenne. Wenn ich ein liebevolles Geschenk von jemandem bekomme, den ich nicht mag – wie nennt man das, was ich empfinde? Die Sehnsucht nach einem Menschen, den wir nicht mehr mögen, diese Qual und dieser Groll – wie nennt man das? Beschäftigt sein – und plötzlich innehalten, weil mich auf einmal die Muße packt, etwas Aufhellendes und Seliges, als wäre ein wundersames Licht ins Zimmer gefallen – wie nennt man das, was man da empfunden hat?

Aber ich muss eine Warnung aussprechen. Manchmal fängt man an, Denken zu spielen, und da fängt das Spielzeug unverhofft an, mit uns zu spielen. Das ist nicht angenehm. Nur fruchtbringend.

26. August 1967

Unser Sieg

Was wir aus uns gemacht haben, und dann schien es uns unser täglicher Sieg.

Zuallererst haben wir nicht geliebt. Wir haben verworfen, was man nicht versteht, denn wir wollen ja nicht blöd sein. Wir haben Besitztümer und Sicherheiten angehäuft, weil wir uns nicht haben und die anderen auch nicht. Wir haben keine Freude, die nicht schon irgendwo eingeordnet wäre. Wir haben Kathedralen errichtet und sind dann draußen geblieben, weil wir fürchten, die von uns selbst errichteten Kathedralen könnten sich als Fallen erweisen. Wir haben uns nicht uns selbst zugewandt, denn das wäre der Anfang eines Lebens, das sich hinzieht und vielleicht keinen Trost bietet. Wir haben vermieden, vor dem Ersten auf die Knie zu fallen, der aus Liebe sagt: deine Angst. Wir haben Vereinigungen für lächelndes Entsetzen gegründet, die Drinks dort werden mit Soda serviert. Wir haben versucht, uns zu retten, aber ohne das Wort Rettung zu verwenden, nicht dass wir uns für unsere Unschuld schämen müssen. Wir haben das Wort Liebe nicht gebraucht, um nicht zugeben zu müssen, dass es aus Liebe und Hass geflochten ist. Wir haben unseren Tod geheim gehalten. Wir haben Kunst geschaffen, weil wir nicht wussten, wie das andere geht. Wir haben mit Liebe unsere Gleichgültigkeit verkleidet, unsere Gleichgültigkeit mit Beklemmung, und mit der kleinen Angst die große Angst dahinter. Wir haben nicht angebetet, weil wir klug und knauserig genug sind, uns rechtzeitig der falschen Götter zu entsinnen. Wir sind nicht naiv gewesen, um nicht über uns selbst zu lachen und am Ende des Tages sagen zu können: »Wenigstens war ich nicht blöd«, und also nicht zu weinen, bevor wir das Licht ausmachen. Wir haben die Gewissheit gehabt, dass auch ich und dass auch ihr, dass also alle, ohne es zu wissen, sich lieben. Wir haben öffentlich belächelt, worüber wir nicht lächeln, wenn wir alleine sind. Wir haben unsere Arglosigkeit Schwäche genannt. Vor allem haben wir einander gefürchtet. Und das alles schien uns unser täglicher Sieg.

26. August 1967

Ein solcher Aufwand

Sie hatte Besuch. Eine frühere Kollegin war aus São Paulo gekommen. Sie empfing sie mit Sandwiches und Tee, gestaltete den Besuch, den Nachmittag und die Begegnung so angenehm wie möglich. Bei ihrer Ankunft sah die Freundin blendend aus, feminin. Als die Stunden vergingen, begann sie sich nach und nach aufzulösen, bis ein Gesicht zum Vorschein kam, das nicht mehr so jugendlich war und auch nicht mehr so fröhlich, eher eindringlich, die Bitterkeit darin lebendiger. Nach kurzer Zeit war ihre mindere, oberflächliche Schönheit abgeschabt. Bald hatte die Gastgeberin eine Frau vor sich, die vielleicht weniger gut aussah, aber jetzt schöner war und wie in alten Zeiten glühende Gedanken vorbrachte, durcheinandergeriet, mit Gemeinplätzen argumentierte, ihr zu beweisen suchte, dass man nach vorne schauen müsse, und Beweise dafür anführte, dass »jeder eine Mission zu erfüllen« habe. An dieser Stelle kam ihr das Wort Mission wohl zu abgegriffen vor, nicht für sich selbst, aber für die Gastgeberin, die in der Gruppe eine der Intelligenten gewesen war. Also korrigierte sie sich: »Mission, oder wie du es nennen magst.« Die Gastgeberin rutschte verstört auf ihrem Stuhl herum.

Als die Besucherin das Haus verließ, war ihr Gang schleppend, sie schien von jener Müdigkeit befallen, die sich einstellt, wenn Entscheidungen lange vor der Zeit getroffen werden: Alles, wofür sie sich entschieden hatte, würde erst in Jahren erreichbar sein. Oder auch nie. Die Gastgeberin begleitete sie im Aufzug nach unten und bis hinaus auf die Straße. Sie wunderte sich, als sie die Freundin von hinten sah: Die Kehrseite der Medaille waren eine aufgelöste kindliche Frisur, zwei Schultern, die von der schlecht geschnittenen Kleidung übermäßig hervorgehoben wurden, das kurze Kleid, die dicken Beine. Ja. Eine wundervolle und einsame Frau. Im Streit vor allem mit der eigenen Engstirnigkeit, die ihr dazu riet, weniger zu sein, als sie war, die sie zwang, sich zu beugen. Ein solcher, solcher Aufwand, und das Haar fiel wie bei einem Kind. Auf der Straße zogen Menschen an ihr vorbei, die sich gewiss weniger Umstände gemacht hatten, unterwegs zu einem unmittelbareren Ziel. Die Gastgeberin spürte die Last eines Begreifens in der Brust, das sie verlegen machte: Wie der Freundin beistehen? Ohne dass ihr je gelungen wäre, dieses Begreifen in eine Handlung zu verwandeln.

9. September 1967

Unsterbliche Liebe

Ich fühle mich noch etwas unsicher in meiner neuen Rolle, als Verfasserin dessen, was man nicht so ganz als crônicas bezeichnen kann – als literarische Kolumnen. Und wenn ich auf diesem Gebiet unerfahren bin, so auch, was das Schreiben für Geld betrifft. Ich war schon früher als Journalistin tätig, aber damals veröffentlichte ich nicht unter meinem Namen. Wenn ich namentlich zeichne, werde ich automatisch persönlicher. Und fühle mich fast so, als würde ich meine Seele verkaufen. Ein Freund, mit dem ich darüber sprach, gab zurück: Na, Schreiben ist doch ein wenig die Seele verkaufen. Das stimmt. Selbst wenn es nicht ums Geld geht, exponieren wir Schriftsteller uns sehr. Eine befreundete Ärztin war da allerdings anderer Meinung: Sie argumentierte, in ihrem Beruf gebe sie die ganze Seele, und doch nehme sie dafür Geld, sie müsse ja auch von etwas leben. Somit verkaufe ich Ihnen mit größtem Vergnügen einen gewissen Teil meiner Seele – den Teil, der samstags gerne plaudert.

Nur habe ich aufgrund meiner Unerfahrenheit noch Schwierigkeiten bei der Themenwahl. In diesem Zustand war ich, als ich gerade eine Freundin besuchte. Das Telefon klingelte, ein gemeinsamer Bekannter. Ich unterhielt mich ebenfalls mit ihm und erzählte natürlich, dass ich nun jeden Samstag zu schreiben hätte. Und dann fragte ich geradeheraus: »Was interessiert die Leute am meisten? Oder sagen wir, die Frauen.« Noch bevor er antworten konnte, hörten wir aus der hintersten Ecke des riesigen Wohnzimmers die laute, klare Stimme meiner Freundin: »Die Männer.« Wir lachten, aber die Antwort ist ernst gemeint. Mit einem gewissen Schamgefühl muss ich gestehen: Was Frauen am meisten interessiert, sind die Männer.

Aber das sollten wir nicht als demütigend empfinden – als würde von uns verlangt, zunächst allgemeinere Interessen zu pflegen. Wir haben keinen Grund, in Demut zu verfallen, denn wenn wir den besten Elektroingenieur der Welt danach fragten, was Männer am meisten interessiert, so wäre seine ganz persönliche, unmittelbare und offene Antwort: die Frauen. Und von Zeit zu Zeit ist es gut, uns an diese offensichtliche Wahrheit zu erinnern, so peinlich sie auch sein mag. Nun wird jemand einwenden: »Aber wenn es ums Menschliche geht, interessieren uns da nicht die Kinder am meisten?« Da muss man unterscheiden. Kinder sind, wie es so schön heißt, unser Fleisch und Blut, da kann man nicht mehr von Interesse sprechen. Das ist etwas völlig anderes. So anders, dass jedes Kind auf der Welt unser Fleisch und Blut sein könnte. Nein, das ist jetzt keine literarische Spielerei. Neulich hörte ich von einem halbseitig gelähmten Mädchen, das sich damit abreagieren musste, dass es einen Krug kaputt schmiss. Und da tat mir alles Blut weh. Das war eine jähzornige Tochter.

Die Männer. Männer sind so nett. Noch ein Glück. Sind Männer die Quelle unserer Inspiration? Ja. Sind Männer für uns eine Herausforderung? Ja. Sind Männer unsere Feinde? Ja. Sind Männer Rivalen, die uns anregen? Ja. Sind Männer uns ebenbürtig und gleichzeitig völlig verschieden? Ja. Sind Männer schön? Ja. Sind Männer lustig? Ja. Sind Männer Kinder? Ja. Sind Männer auch Väter? Ja. Streiten wir mit den Männern? Ja. Halten wir es ohne die Männer, mit denen wir streiten, nicht aus? Nein. Sind wir interessant, weil Männer interessante Frauen mögen? Ja. Sind Männer die Menschen, mit denen wir die wichtigsten Gespräche überhaupt führen? Ja. Sind Männer Nervensägen? Auch. Mögen wir es, wenn Männer uns nerven? Ja.

Ich könnte diese Liste endlos weiterführen, bis mein Chefredakteur mir Einhalt gebietet. Aber ich glaube, da wäre er der Einzige. Ich denke nämlich, dass ich einen neuralgischen Punkt berührt habe. Und als solcher schmerzt er, wie uns die Männer schmerzen. Und die Frauen die Männer.

Ich habe ja diese Marotte, immer mit dem Taxi zu fahren, und dabei ziehe ich sämtliche Fahrer ins Gespräch. Neulich saß ich abends im Taxi eines spanischen Einwanderers, er war noch recht jung, mit Schnurrbart und traurigem Blick. Wir unterhielten uns über dies und das, und er fragte mich, ob ich Kinder hätte. Ich fragte, ob er auch welche habe, nein, sagte er, er sei nicht verheiratet, er werde niemals heiraten. Und dann erzählte er mir seine Geschichte. Vor vierzehn Jahren verliebte er sich in eine junge Spanierin, drüben in seiner Heimat. Sie lebten in einem Städtchen, in dem es nur wenige Ärzte und Möglichkeiten gab. Die junge Frau erkrankte, ohne dass irgendwer erfahren hätte, woran, und nach drei Tagen starb sie. Sie starb im Bewusstsein, dass sie sterben würde, sie hatte es vorausgesagt: »Ich werde in deinen Armen sterben.« Und sie starb tatsächlich in seinen Armen, mit der Bitte auf den Lippen: »Gott sei mir gnädig.« Drei Jahre lang brachte der Taxifahrer kaum einen Bissen herunter. In dem Städtchen wussten alle von seinem Liebesleid und wollten ihm gerne helfen. Sie nahmen ihn auf Feste mit, wo die Mädchen nicht warteten, dass er sie auf die Tanzfläche holte, sondern ihn selbst zum Tanz aufforderten.

Aber es half nichts. Alles ringsum erinnerte ihn an Clarita – so der Name des toten Mädchens, was mich erschreckte, weil es fast mein Name war, und da fühlte ich mich tot und geliebt. Also beschloss er, Spanien den Rücken zu kehren, er sagte nicht einmal seinen Eltern Bescheid. Er fand heraus, dass damals nur zwei Länder Einwanderer aufnahmen, ohne ein Einladungsschreiben zu verlangen: Brasilien und Venezuela. Er entschied sich für Brasilien. Hier kam er zu Geld. Er wurde Inhaber einer Schuhfabrik, die er später verkaufte; er kaufte sich eine Bar mit Restaurantbetrieb, verkaufte sie später ebenfalls. Es war ja alles egal. Er beschloss, sein Privatauto zur Droschke umzufunktionieren, und wurde Taxifahrer. Jetzt lebt er in einem Haus in Jacarepaguá, weil es dort »Wasserfälle mit Süßwasser (!) gibt, wunderschön«. Aber in diesen vierzehn Jahren ist es ihm nicht gelungen, Gefallen an einer Frau zu finden, und er empfindet »für gar nichts Liebe«, alles ist ihm gleich. Taktvoll ließ der Spanier durchblicken, dass die tägliche Sehnsucht nach Clarita sein Leben nicht völlig ausbremst, er könne Affären haben, mal mit dieser, mal mit jener. Aber lieben – nie wieder.

Gut. Meine Geschichte hat ein etwas unerwartetes und erschreckendes Ende.

Wir waren fast am Ziel, als der Taxifahrer noch einmal von seinem Haus in Jacarepaguá und den »Süßwasserfällen« anfing, als gäbe es auch welche mit Salzwasser. Ich sagte etwas zerstreut: »An einem solchen Ort würde ich gern mal ein paar Tage ausspannen.«

Genau das hätte ich nicht sagen sollen. Denn plötzlich – er hätte den Wagen fast auf den Gehsteig und ins nächstbeste Haus gelenkt – drehte er sich zu mir um und fragte, die Stimme von Absichten getränkt: »Ist das Ihr Ernst?! Dann kommen Sie doch mit!« In heller Aufregung über diesen plötzlichen Umschwung hörte ich mich rasch und laut erwidern, das sei unmöglich, ich würde mich demnächst einer Operation unterziehen und danach sehr krank sein (!). In Zukunft befrage ich nur noch Taxifahrer im Greisenalter. Aber der Beweis für die Aufrichtigkeit des Spaniers ist erbracht: Seine brennende Sehnsucht nach Clarita bremst sein Leben tatsächlich nicht aus.

Das Ende dieser Geschichte mag sentimentale Gemüter ein wenig enttäuschen. Viele würden gerne hören, dass die Liebe seit vierzehn Jahren sein Leben »ausbremst«, und wie. Das wäre eine bessere Geschichte. Aber ich kann ja schlecht lügen, um dem werten Publikum zu gefallen. Und außerdem finde ich es richtig, dass sein Leben nicht völlig auf der Strecke bleibt. Niemanden mehr lieben zu können, ist dramatisch genug.