Wolf Shadow - Tödliche Versprechen - Eileen Wilks - E-Book

Wolf Shadow - Tödliche Versprechen E-Book

Eileen Wilks

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Beschreibung

Die FBI-Agentin Lily Yu reist mit ihrem Geliebten Rule Turner, dem Oberhaupt des Werwolfklans der Nokolai, nach Nordkalifornien. Dort will Rule seinen Sohn abholen, der bislang bei seiner Großmutter lebte. Doch die Mutter des Jungen will mit allen Mitteln verhindern, dass Rule ihn in den Klan der Nokolai aufnimmt. In Kalifornien stößt Rule zufällig auf drei Leichen, denen der Geruch von Totenmagie anhaftet. Lily übernimmt die Ermittlungen in dem Fall, steht jedoch schon bald vor einem Rätsel. Denn der Hauptverdächtige sitzt hinter Gittern, als die nächste Leiche gefunden wird. Der Mörder ist also noch auf freiem Fuß und womöglich nicht von dieser Welt ...

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Inhalt

Titel

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Nachwort

Impressum

EILEEN WILKS

TÖDLICHE VERSPRECHEN

Roman

Ins Deutsche übertragen von Stefanie Zeller

 

1

In der schwülen Luft des Südens liegen Düfte und Gerüche besonders lange in der Luft. Schließlich sind sie nichts als Dämpfe, chemische Verbindungen, die bei Erwärmung flüchtig werden und in der feuchten Wärme hängen bleiben – wie Rule in seiner anderen Gestalt sehr wohl wusste.

Aber in seiner jetzigen Gestalt interessierte ihn nur, wie intensiv ein Geruch war. Als er durch die silbernen Schatten des Waldes rannte, durch die von Feuchtigkeit und Düften schwere Luft, nahm er die Welt mehr mit der Nase als mit den Augen wahr. Von einem nahen Bach wehte eine Mischung aus Kudzu, Felsen und Fisch durch das üppige Grün zu ihm herüber. Der feine Vanilleduft des Rhododendrons mischte sich mit Moos, mit Blütenhartriegel und Rosskastanie, dem zuckrigen Duft des Ahorns und hier und da dem kühl-würzigen Aroma von Pinien.

Doch es war die Spur aus Moschus, Blut und Waschbärenfell, der er folgte.

Hoch über ihm hing der abnehmende Mond, als er den Bach mit gestreckten Hinterläufen übersprang und das berauschende Gefühl des Fliegens spürte. Beinahe wäre er auf der Beute gelandet, aber seine Beine rutschten in dem nassen roten Lehm weg. Eine Sekunde später schoss der Waschbär bereits einen Baumstamm hoch.

Er schüttelte den Kopf. Immer kletterten diese verdammten Waschbären auf Bäume, wenn sie die Chance dazu bekamen. Er missgönnte dem Tier seine Flucht nicht, hätte es aber lieber gehabt, wenn die Jagd ein bisschen länger gedauert hätte.

Rotwild kletterte nicht auf Bäume. Und deshalb beschloss er, Rotwild aufzuspüren.

Die Jagd war nur ein Vorwand. Es würde noch eine Weile dauern, bis er Hunger bekam. Bevor er sich gewandelt hatte, hatte er gut gegessen. Er genoss es ganz einfach, sich zu bewegen, die Welt mit der Nase, den Ohren und unter den Ballen seiner Pfoten wahrzunehmen.

Der Mensch in ihm – das vertraute »Ich«, das kein Wolf war – war immer noch in ihm präsent. Er hatte seine Gedanken als Mensch, seine Erfahrungen nicht vergessen; sie waren ihm nur nicht mehr so wichtig. Nicht wenn die von tausend Düften schwere Luft ihn streichelte wie warme Seide. Möglicherweise war es auch der Mensch, der einen Stich Eifersucht fühlte, wenn er hier inmitten dieses wunderbaren Waldes des amerikanischen Südens an das heißere, trockenere Land dachte, das seinem Clan zu Hause in Kalifornien gehörte. Sein Großvater hatte es gekauft, um das Clangutshaus der Nokolai dort zu errichten. Damals war Land noch billig gewesen.

Die damalige Entscheidung war sehr vernünftig gewesen. In Kalifornien war der Clan zu Wohlstand gekommen. Aber auf dem Gut der Nokolai liefen die Wölfe über Felsen und harten Boden, nicht auf einem dicken Teppich aus Piniennadeln und Moos und durch die dunklen Schatten der Bäume, durch die nur selten ein Lichtstrahl drang.

Als Wolf hatte Rule schon viele Gegenden durchstreift, aber diese Nacht, dieser Wald hatte etwas Besonderes. Etwas Ungekanntes. Hier war er noch nie gewesen. Denn ganz in der Nähe befand sich das Clangut der Leidolf.

Er verspürte einen kurzen Anflug von Sorge, der jedoch schnell wieder verging. Wölfe kannten Angst. Sorge war zu sehr an das Denken gebunden, zu sehr auf die Zukunft gerichtet, als dass sie sich lange damit aufgehalten hätten. Den Teil in ihm, der Mensch war, wollte dieses Gefühl jedoch nicht so leicht loslassen, er wollte an ihm nagen, wie an einem harten Knochen. Den Wolf interessierte die einen Tag alte Spur eines Opossums mehr.

Das war der Grund, warum er heute Nacht als Wolf lief: zu viele Sorgen, zu viele Probleme, die sich wie harte Knochen weigerten, ihr Mark freizugeben. Er hatte am eigenen Leib erfahren müssen, dass der Mann den Wolf mindestens genauso sehr brauchte wie der Wolf den Mann. Dieser Wald tat ihm gut. Probleme würde er hier zwar nicht lösen, aber heute Nacht war er auch nicht darauf aus.

Lily sagte, sie hätten einfach noch nicht die richtigen Fragen gestellt.

Rule blieb stehen und hob den Kopf. Sowohl der Wolf als auch der Mann dachten gerne an sie. Wenn sie nur …

Er zuckte mit dem Ohr, wie um eine Fliege zu verjagen. Es war einfach dumm. Darin waren sich Mann und Wolf einig. Die Dinge waren, wie sie waren. Nicht wie man sie sich wünschte. Frauen wandelten sich nicht.

Eine Stunde später war er immer noch nicht auf Rotwild gestoßen, obwohl er seine Spur oft genug gewittert hatte, zusammen mit der von einigen anderen – einem Rudel Wildhunde, einer Kupferkopfschlange und einem weiteren Waschbären. Gut möglich, dass er mehr an diesen Ablenkungen interessiert gewesen war als an der Jagd an sich, wenn keine Clanmitglieder mit ihm jagten. Er wünschte, Benedict wäre hier oder Cullen … wünschte, obwohl er wusste, dass das unmöglich war, Lily wäre an seiner Seite. Die das hier nie mit ihm teilen könnte.

Anders als sein Sohn. Noch nicht, aber in einigen Jahren. Sein Sohn, der jetzt gerade in einer Stadt nicht weit von hier schlief – einer Stadt, die nicht mehr lange Tobys Heimat sein würde. In ein paar Tagen würde vor Gericht über das Sorgerecht entschieden, und wenn Tobys Großmutter nicht zwischenzeitlich ihre Meinung geändert hatte …

Das würde sie nicht tun. Das durfte sie nicht tun.

In seinem Inneren erhob sich mit einem Mal ein gewaltiger Aufruhr von unterschiedlichsten Gefühlen – Seligkeit, Angst, Jubel. Rule hob den Kopf, streckte die Schnauze dem Mond entgegen und fiel in sein Lied ein. Dann zuckte er mit dem Schwanz und lief mit weit heraushängender Zunge durch die warme Nacht.

Am Fuße eines niedrigen Hügels stieg ihm ein anderer Geruch in die Nase. Die Duftmarke war alt, aber unmissverständlich. Irgendwann in den letzten Monaten hatte ein Leidolf diese Stelle mit Urin markiert. Etwas Elementares regte sich in ihm, als der Teil der Clanmacht, den er in sich trug, sich erhob. Er erkannte nicht den Geruch, er kannte ihn. Und er war ihm angenehm.

Eine kurzen Moment lang war er verwirrt. Bisher hatte der Geruch immer Feind bedeutet. Aber die Botschaft der Clanmacht war deutlich: Dieser Geruch war der seine.

Der Mann in ihm verstand, was anders war, hatte es erwartet und erinnerte sich an die Gründe. Deshalb akzeptierte auch der Wolf die Veränderung. Er lief den kleinen Hügel hoch, badete in einem Meer von Grillengesang und sah sich aufmerksam um. Seine Nase sagte ihm, dass hier irgendwo in der Nähe Gras sein musste, an einer Stelle, an der die Bodenbeschaffenheit keinen Baumwuchs zuließ.

Er mochte Gras. Vielleicht war es hoch und voller Mäuse. Mäuse waren klein und flink, aber sie knackten so schön, wenn man darauf biss.

Ein Gedanke durchfuhr ihn, ein Gedanke, der sowohl dem Mann als auch dem Wolf gekommen war. Noch vor ein paar Monaten hätte er eine so alte Spur wie die des Leidolf Wolfes nicht gerochen. War die neue Macht in seinem Leib daran schuld, dass er sie jetzt witterte? Oder lag es daran, dass es zwei Mächte waren? Vielleicht spürte er die Magie dieser Nacht, dieses Waldes so ungewöhnlich stark, weil er selbst mehr Magie in sich trug.

In seiner anderen Gestalt hätte er darüber nachgedacht, denn dann fiel ihm das Denken leichter. Vorerst … Auf dem Kamm des Hügels suchten seine Augen den Mond. Er wusste, dass es spät war und in einer Stadt in der Nähe eine Frau auf ihn wartete … schlafend? Wahrscheinlich. Er hatte ihr gesagt, dass er fast die ganze Nacht fort sein würde.

Ein Teil von ihm fragte sich, ob er nicht lieber neben ihr im Bett liegen würde. Doch vor ihm lag eine weite Grasfläche und die Aussicht auf eine Maus oder drei. Er war hier, nicht dort, und er empfand kein Bedauern.

Aber es wurde spät. Die Glühwürmchen hatten ihre Leuchtstäbe ausgeknipst, und der Mond ging unter. Er beschloss, noch durch das hohe Gras zu streifen. Anschließend würde er an die Stelle zurückkehren, an der er seine Kleider zurückgelassen hatte, zusammen mit der Gestalt, der diese Kleider passten.

Das Gras war tatsächlich hoch, und er witterte sofort den durchdringenden Geruch von Mäusen, als er sich der Wiese näherte. Auch Kaninchen roch er, aber Kaninchen jagte man am Tage, weil sie sich im Dunkeln selten aus ihrem Bau trauten.

Ein leichter Wind erhob sich, flüsterte durch die Grashalme und trug ihm neue Gerüche zu. Er blieb stehen und schnupperte neugierig.

War das etwa …? Fäulnis, ja; es war unverkennbar der Gestank von verwesendem Fleisch, wenngleich nur sehr schwach. Das bedeutete nicht viel. Im Wald starben Tiere. Auch vom Highway roch es manchmal so. Tiere wurden öfter von Autos angefahren, als dass sie auf natürliche Weise starben. Aber war es überhaupt ein Tier?

Die Mächte würden ihm helfen, das herauszufinden.

Jetzt schliefen sie. Er würde sie nicht wecken, nicht einmal die Macht, die er als seine eigene ansah – den Teil der Nokolai-Clanmacht, den sein Vater ihm vor Jahren übertragen hatte. Wenn er eine von ihnen rief, würde auch die andere antworten. Und er wusste, was das bedeutete. Wenn er zu viel Energie aus der Macht des anderen Clans zog, konnte es den wahren Träger der Macht töten, dessen Leben dann nur noch an einem seidenen Faden hing.

Nicht dass Rule etwas gegen Victor Freys Tod gehabt hätte. Unter anderen Umständen hätte er sich sogar darüber gefreut. Doch er wollte den Clan nicht, der nach Victors Tod an ihn übergehen würde. Und weder er noch der Clan der Nokolai konnte dadurch entstehende Unruhen gebrauchen.

Konnte er die beiden Mächte nutzen, ohne sie wirklich zu rufen?

Der Wolf glaubte es. Der Instinkt sagte dem Mann etwas anderes, oder vielleicht dachte er auch nur zu viel nach. Aber er wollte es versuchen.

Rule weckte die beiden Mächte in seinem Inneren, indem er seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. Dann konzentrierte er sich wieder auf den schwachen Geruch, den der Wind herantrug, unterstützt von den Mächten, doch ohne sie wirklich zu nutzen.

Sofort wurde der Geruch in seiner Nase intensiver. Das war kein Hund, der von einem Auto überfahren worden war, nein. Und auch kein krankes Rotwild. Obwohl der Gestank der Verwesung alles andere überdeckte, war er beinahe sicher, dass der tote Körper, den er witterte, nie auf vier Beinen gegangen war.

Geh. Der Wind könnte abnehmen und die Spur schwächer werden. Geh. Finde es heraus.

Er begann zu laufen.

Der Tod lässt Wölfe im Allgemeinen unberührt, solange er nicht sie oder die seinen bedroht. Weil der Körper, den er suchte, tot war, hatte der Wolf keine Eile. Anders als der Mann. Rule lief beinahe zwei Kilometer – nicht mit voller Kraft, weil das Gelände unbekannt für ihn war und keine unmittelbare Bedrohung oder Beute in der Nähe war. Aber in Wolfsgestalt war er schnell, schneller noch als ein echter Wolf.

Erst kurz vor dem Highway wurde er langsamer. Etwa einen Kilometer vor ihm hörte er Autos … nicht viele. Es war kein sehr befahrener Highway.

Aber was er suchte, befand sich im Wald. Der Gestank ließ ihn die Zähne fletschen, als er sich näherte. Unter der Verwesung lag noch ein anderer Geruch, aber selbst mithilfe der Mächte konnte er ihn nicht identifizieren. Seine Nackenhaare stellten sich auf, und er begann zu knurren.

Anders als andere Raubtiere fressen Wölfe kein Aas. Nur ein Wolf, der kurz vor dem Verhungern ist, würde verwestes Fleisch fressen. Und Rule war zu sehr Mensch, selbst jetzt noch, um etwas anderes als trauriges Entsetzen zu empfinden, als er sah, was in dem niedrigen Graben zwischen zwei Eichen lag.

Nicht alle Tiere waren wählerisch. Und er war nicht der Erste, der sie gefunden hatte.

 

2

In einem kleinen Zimmer im ersten Stock eines großen Holzhauses schlief Lily Yu. Doch sie war sich dessen nicht bewusst.

Schmerz, Trauer, Verzweiflung – das war es, was sie fühlte. Über ihr wölbte sich der Himmel, der eigentlich kein Himmel war, sondern eine sturmdunkle, schwach glühende Kuppel. Vor diesem surrealen Himmel kämpfte eine Legende mit einem Albtraum – ein riesiger Drache rang mit einer Art geflügeltem Lindwurm, dessen weit auseinanderklaffende Kiefer ein kleines Auto hätten verschlingen können. Der Boden, auf dem Lily kniete, war steinig und hart, ohne eine Spur Grün.

Vor ihr lag, bewusstlos und blutend, ein großer silberschwarzer Wolf.

So viel Blut. Sie konnte nicht erkennen, wie schwer Rules Verletzung war. Aber dass sie schwer war, wusste sie. Die Wunde, die der Dämon Rule gerissen hatte, war so tief, dass selbst er sie nicht rechtzeitig heilen konnte. Er brauchte einen Arzt, musste ins Krankenhaus, aber in der Hölle gab es keine Krankenhäuser.

Sie wusste, was sie zu tun hatte. Es war eine harte Erkenntnis, so hart wie die Steine an diesem Ort – und so gewiss, wie der Frühling in diesem anderen Ort kommen würde, an den sie sich erinnerte – die Erde. Die Erde, die sie nie wiedersehen würde.

Eine zweite Frau kniete auf der anderen Seite des geschundenen, blutüberströmten Körpers, eine Frau, die an Rule gebunden war wie Lily, denn auch sie war Lily. Eine andere Lily – die, die Rule mit nach Hause nehmen würde.

Jetzt hob sie den Blick und sah in ihre eigenen Augen. »Geh jetzt. Du musst sofort gehen und ihn dorthin bringen, wo er heilen kann. In ein Krankenhaus. Hier wird er sterben.«

Ihr anderes Ich schluckte. »Das Tor –«

»Sam hat mir gesagt, wie es funktioniert.« Der Drache hatte gesagt, sie solle ihn so nennen: Sam. War das eine Art trockener Drachenhumor? Sie würde es nie erfahren.

Es gab so vieles, das sie nie wissen würde, das sie nie Gelegenheit haben würde zu erfahren.

Die Augen der anderen Lily weiteten sich, und Lily sah in ihnen ihr eigenes Begreifen – und dann eine Gewissheit, die die andere erschrocken zu leugnen versuchte. »Es muss eine andere Möglichkeit geben.«

»Komisch.« Sie hob die Mundwinkel, aber ihre Augen brannten. »Das habe ich auch gesagt.« Sie riss die Kette mit dem Anhänger von ihrem Hals – das Zeichen ihrer Verbundenheit mit Rule. »Aber es gibt keine. Du bist das Tor.«

Langsam streckte ihr anderes Ich die Hand aus.

Lily legte das toltoi hinein. »Sag ihm …« Gefühle wallten in ihr hoch, zu stürmisch, zu heftig, um sie zu verstehen. Sie senkte den Blick, blinzelte schnell und streichelte Rules Kopf. Es war ihr gleichgültig, dass ihre Stimme zitterte. »Sag ihm, wie froh ich war, dass es ihn gibt. Wie unglaublich froh.«

Die Hand der anderen Lily schloss sich um die Halskette. Sie nickte mit unbewegtem Gesicht.

Lily stemmte sich hoch. Sie zog an dem Ausschnitt ihres Sarongs, und er öffnete sich. »Verbinde ihn hiermit. Er blutet so stark.« Sie warf den Stoff Lily zu – und lief los. Nackt, barfuß und so schnell sie konnte.

Ganz in der Nähe waren die anderen. Rules Freunde – ein Zauberer, ein Gnom, eine Frau, die er einmal geliebt hatte. Und Dämonen waren auch da, Dämonen, die sie bekämpft hatten. Noch nicht viele, aber die anderen näherten sich bereits. Hunderte, vielleicht Tausende. Und dann war da noch eine kleine, unbedeutende Dämonin, die so etwas wie eine Freundin war. Eine kleine, orangefarbene Dämonin mit Namen Gan, die nicht kämpfte wie die anderen und deshalb sah, wie Lily auf die Klippen zulief. Und verstand.

»Nein!«, schrie Gan und rannte ihr nach. »Nein, Lily Yu! Lily Yu, ich mag dich doch! Wirklich, das ist wahr! Tu es nicht.«

Sie hatte den Rand der Klippen erreicht. Und sprang.

Und als die Luft an ihr vorbeirauschte, schwer vom Duft des Meeres, und ihr von Angst und Tod sang, flüsterte der Drache, der sich Sam nannte, ihr ins Ohr: Erinnere dich.

Durch das Pfeifen des Windes drangen die ersten Takte von Beethovens fünfter Symphonie und retteten Lily gerade noch rechtzeitig vor dem Aufprall. Sie schlug die Augen auf und blickte in die Dunkelheit. Ihr Herz hämmerte in Todesangst. Automatisch streckte sie die Hand nach ihrem Handy auf dem Nachttisch aus. Und traf auf eine Wand.

Dieser unerwartete Zusammenstoß mit der Realität ließ sie zu sich kommen, obgleich sie noch einen Moment brauchte, um zu verstehen, warum ihr Nachttisch nicht dort stand, wo er stehen müsste. Nein, warum sie nicht dort war, wo sie sein müsste.

In der letzten Zeit hatte Lily in zu vielen Betten an zu vielen Orten geschlafen. Zuhause war sie in San Diego, aber die letzten Monate hatte sie in Washington D.C. verbracht, um eine Spezialausbildung in Quantico zu absolvieren … unter anderem. Jetzt waren sie und Rule wieder zurück in San Diego und wohnten zusammen in seiner Wohnung. Doch dies hier war nicht Rules Wohnung.

Sie befand sich in Halo, North Carolina, im Haus von Tobys Großmutter, Louise Asteglio. Toby, Rules Sohn, lebte bei ihr. Es war drei Uhr zweiundvierzig morgens, und Beethovens Fünfte war Rules Klingelton. Sie arbeitete sich durch die zerknüllten Laken und griff nach ihrem Handy, das auf der Kommode lag. »Was ist passiert?«

Rules Stimme war fest, aber zornig. »Ich habe Leichen gefunden. Drei. Menschen. Sie liegen übereinandergeschichtet in einem niedrigen Grab. Der Erwachsene liegt oben.«

»Mist. Mist. Der Erwachsene? Dann … bist du sicher? Dumme Frage«, korrigierte sie sich selbst und balancierte das Telefon von einer Hand in die andere, um sich das weite, lange T-Shirt auszuziehen, in dem sie schlief. »Ich finde es nur immer besonders schlimm, wenn es Kinder sind, das ist alles.« Sie schwieg. Der Koffer. Wo war ihr … Oh ja, im Schrank. Sie waren so spät angekommen, dass sie ihn nicht einmal mehr ausgepackt, sondern einfach in den Schrank gestellt hatte.

Lily riss die Schranktür auf und zerrte den Koffer heraus. »Sie liegen im Wald, sagst du?«

»Ungefähr einen Kilometer östlich vom Highway 159, im Norden der Stadt. Ich warte auf dich am Highway.«

»Ich finde dich schon.« Das wäre der einfache Teil. So, wie eine Kompassnadel wusste, wo Norden war, wusste Lily, wo Rule sich gerade aufhielt. In dieser Hinsicht war das Band der Gefährten sehr praktisch.

Die Auserwählte, so wurde sie von den Lupi genannt. Und von Rule, wenn auch nicht sehr oft. Meistens nannte er sie nadia, was, wie sie erfahren hatte, Verbindung, Gürtel oder Knoten bedeutete. Die Lupi nannten sie Auserwählte, weil sie glaubten, dass sie für Rule von ihrer Dame auserwählt worden war – einem Wesen, das, wie sie behaupteten, weder ein Fabelwesen noch eine Göttin war, obwohl sie anscheinend in dieser Liga mitspielte.

Vor neun Monaten waren sich Lilys und Rules Blicke begegnet – zwei, die füreinander bestimmt waren, untrennbar verbunden durch das Band der Gefährten. Seitdem war nichts mehr wie vorher.

Ein Glück, dass sie sich in ihn verliebt hatte.

Lily klemmte sich das Handy zwischen Kinn und Schulter. Rule gab ihr weitere Informationen, während sie Jeans, Socken und ein T-Shirt aus dem Koffer zog – Kleidung, die geeignet war für einen Marsch durch den Wald. Eine Jacke würde das Schulterholster verdecken.

Als er mit seinem Bericht fertig war, sagte sie: »Scheint, als hättest du die Opfer dieses Mörders gefunden, von dem Mrs Asteglio uns erzählt hat. Die örtlichen Beamten sollten dir dankbar sein, aber rechnen würde ich damit lieber nicht. Äh … sie dürfen doch wissen, dass du es warst, der sie gefunden hat, oder?«

»Ich habe dich statt der hiesigen Polizeidienststelle angerufen, weil ich mich raushalten will. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich dich lieber nicht mit hineingezogen. Nein, sag nichts«, sagte er, bevor sie den Mund aufmachen konnte. »Ich weiß, dass Tote nichts Neues für dich sind. Aber … hier in der Gegend gibt es ein Rudel wilder Hunde.«

Oh. Igitt. »Die Hunde haben sie ausgegraben?«

»Sieht so aus. Und riecht auch so.«

»Bist du sicher, dass es Hunde waren? Die Frage wird man mir stellen«, sagte sie eilig. Er wusste, dass sie ihn niemals einer solchen Abscheulichkeit beschuldigen würde. Doch andere würden es vielleicht tun. »Und es gibt auch noch andere Fleischfresser in diesen Wäldern, oder? Bären, zum Beispiel?«

»Bären gibt es in dieser Höhe selten, und der Geruch ist ziemlich eindeutig. In der Nähe des Grabes gibt es Spuren von fünf verschiedenen Hunden, aber nur drei direkt auf dem obersten Körper.«

»Dann waren es also wirklich Hunde.« Lily runzelte nachdenklich die Stirn. Warum hatte Rule sie angerufen? Er hätte der Polizei auch einen anonymen Tipp geben können. »Was verschweigst du mir? Es gibt etwas Wichtiges, das du mir nicht sagst. Was ist es?«

»Ein Geruch. Neben den Hunden und der Verwesung war da ein Geruch, der … aber ich kann mich auch irren. Er war nur schwach und so überlagert von der normalen Fäulnis, dass ich mir nicht sicher bin. Du wirst mehr herausfinden können.«

Was herausfinden? Sicher erwartete er nicht von ihr, dass sie den Geruch identifizieren konnte. So gut war ihre Nase nicht. Im Vergleich zu Lupi waren Menschen geradezu »geruchsblind«.

Plötzlich ging ihr auf, was er gerade gesagt hatte: »normale Fäulnis«. »Scheiße. Oh, Scheiße. Erzähl mir alles.«

»Todesmagie. Ich bin nicht sicher, aber … Ich glaube, die Leichen riechen nach Todesmagie.«

Jay Deacon war schlank, gepflegt, unter vierzig und knapp eins achtzig groß. Mit seiner Goldrandbrille und einem Teint wie nasse Teeblätter sah er mehr wie ein Harvard-Wissenschaftler aus als das Stereotyp eines Südstaaten-Sheriffs.

Aber er führte sich ganz wie ein Kleinstadtsheriff auf. »Sie hören mir nicht zu, Ma’am. Der Coroner kommt jeden Augenblick. Das FBI brauchen wir am Fundort nicht. Sobald Sie uns die Leichen gezeigt haben, können Sie wieder ins Bett gehen.«

Noch vor wenigen Monaten hatte Lily auf der anderen Seite der Kluft gestanden, die die örtliche Polizei und das FBI trennte. Damals hatte sie zur Mordkommission von San Diego gehört. Deshalb hätte sie Verständnis für den Sheriff, der seinen Fall für sich behalten wollte, gehabt, hätte er ihr nicht gewissermaßen den Kopf getätschelt und sie aufgefordert, sich zu trollen.

»Sheriff, ich habe Sie aus Höflichkeit angerufen, nicht weil es irgendeinen Zweifel bezüglich der Zuständigkeit gäbe. Mein Spurensicherungsteam wird in einer Stunde hier eintreffen. Ihre Leute können dabeibleiben oder wieder ins Bett gehen, ganz wie sie möchten. Ich führe sie nicht zu den Toten.«

Seine Leute waren lediglich zwei Hilfssheriffs, beide Männer. Das war kaum eine Überraschung. Außerdem waren sie beide weiß und schienen keine Probleme mit einem schwarzen Chef zu haben, was ihr Hoffnung für die Zukunft der Nation geben könnte … später. Wenn sie wieder an etwas anderes als an Leichen mit Todesmagie denken konnte.

Nachdem er Lily seinen Fund gezeigt hatte, hatte Rule sie zum Highway begleitet, um auf die Spurensicherung des FBI zu warten. Dann waren sie zurück zum Fundort gegangen, um aufzupassen, dass sich nicht noch mehr Waldbewohner über die sterblichen Überreste hermachten. Lily hatte die Scheinwerfer ihres Autos angeschaltet gelassen, um den Kollegen den Weg zu weisen, aber ihr Licht wurde jetzt teilweise von den drei Polizeiwagen blockiert, die auf dem Seitenstreifen neben ihrem Wagen geparkt hatten.

Beide Hilfssheriffs hielten Taschenlampen in der Hand. Sheriff Deacon war mit nichts weiter als einer guten Portion Feindseligkeit ausgestattet.

»Ihr Team kann uns ruhig helfen«, sagte er widerstrebend, als würde er ihr ein Zugeständnis machen. »Vorausgesetzt, es ist rechtzeitig hier. Aber wie ich schon sagte, wir haben den Täter bereits. Und das bedeutet, dass ich zuständig bin.«

»Mord mit magischen Mitteln ist ein Bundesverbrechen.«

Er schüttelte den Kopf und seufzte. »Roy Don Meacham hat keine Magie verwendet, um seine Familie umzubringen. Der verrückte Mistkerl hat dazu den Baseballschläger seines Sohnes Andrew genommen. Der Schläger wurde von uns sichergestellt. Roy Don hat ihn mir selbst übergeben. Es ist schon mehrfach zu häuslicher Gewalt in der Familie gekommen –«

»Wie oft wurden Sie denn schon gerufen?«

»Nur einmal, aber es gibt reichlich Zeugen dafür, dass Roy Don bei Becky und den Kindern ganz gern die Hand ausrutschte. Wir haben die Mordwaffe, Blut und andere Spuren auf seinen Kleidern und seiner Haut. Wir haben sogar einen Zeugen! Bill Watsons Postroute geht da draußen entlang. Als er mit seinem Wagen an den Briefkasten fuhr, hörte er Schreie, deshalb ist er zum Haus gelaufen. Er wollte helfen. Jetzt hat er eine Platte im Schädel, da, wo Roy Don ihn niedergeschlagen hat. Aber immerhin hat er’s versucht.«

»Erinnert er sich daran, was er im Haus gesehen hat?« Ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zog gewöhnlich Erinnerungslücken nach sich.

»Oh ja. Er ging in das Haus und sah Roy Don mit dem Schläger auf Betty einprügeln. Auch wenn er sich danach an nichts mehr erinnert, das weiß er noch gut, der arme Kerl. Wir haben ausreichend Beweise.«

»Aber kein Geständnis. Oder die Leichen.«

»Die Sie gefunden haben. Aufgrund eines Tipps«, sagte er und betonte das letzte Wort besonders. »Über den Sie mir aber nicht mehr sagen wollen.«

»Richtig.« Lily musste den Kopf zurücklegen, um ihm in die Augen zu sehen. Das war sie gewohnt. Bei einer Größe von knapp einem Meter sechzig musste sie sehr oft nach oben schauen. Aber Deacon stand zu dicht vor ihr – absichtlich, um ihren Größenunterschied noch zu betonen. Das ärgerte sie. »Wie auch immer – ich habe von dem Fall gehört, und deswegen –«

»Ich wusste gar nicht, dass überregional darüber berichtet wurde.«

»Ich bin zum Besuch meiner Familie hier in der Gegend.« Sozusagen Familie. Rules Sohn war nicht gerade das, was man gemeinhin als einen Verwandten bezeichnen würde. Und in den Augen vieler auch Rule nicht. Wenn man von seinem »Gefährten« sprach, wurde man schief angeguckt.

»Ach ja? Haben Ihre Verwandten vielleicht irgendetwas mit dem Tipp zu tun, von dem Sie mir nichts erzählen wollen?«

»Wissen Sie, Sheriff, vielleicht würde ich mein Wissen eher mit Ihnen teilen, wenn Sie nicht so eine Nervensäge wären. Treten Sie einen Schritt zurück.«

Deacon schaute finster. »Was, zum Teufel, wollen Sie damit –«

»Ich will, dass Sie aufhören, mir so nah auf die Pelle zu rücken. Das macht mir keine Angst. Das macht mich nur sauer.«

Sie konnte nicht sehen, ob er rot wurde. Aber die Art, wie er den Kopf abwendete, deutete darauf hin, dass er verlegen war. Außerdem befolgte er ihren Befehl, riss sich die Mütze vom Kopf und fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, als wäre er ins Schwitzen gekommen.

Vielleicht war er das auch. Um diese Zeit war es nicht ganz so heiß wie gestern bei ihrer Ankunft, aber in der feuchten Luft stand die Hitze geradezu. »Sie wollen nicht, dass ich mich in Ihren Fall einmische. Das verstehe ich. Das Problem ist, dass Sie keine Wahl haben. Bei dem Tod der drei Personen war Magie im Spiel. Damit gehört der Fall mir.«

Er setzte sich wieder seine Mütze auf und sagte höflich, was ihn sichtlich Mühe kostete: »Und von der Magie wissen Sie woher?«

»Ich bin berührungssensitiv.« Sie hielt inne, um zu sehen, ob er damit etwas anfangen konnte. Die meisten Leute wussten, was es war, oder meinten zumindest, es zu wissen. Wie immer, wenn es um Magie ging, war ihr vermeintliches Wissen von Ammenmärchen, Vorurteilen und Nachrichten aus der Boulevardpresse geprägt. Das Gleiche traf auch auf das zu, was die Leute über Lupi »wussten«.

Er zog erst die Augenbrauen hoch, um sie dann böse zusammenzuziehen. »Mist.« Er machte zwei Silben daraus. »Mi-hist.« »Sie sind doch nicht zufällig die mit der Vorliebe für Weers, oder?«

Lily seufzte. Weer – wie »wir« mit einem langen i ausgesprochen – so nannten die Leute im Süden Werwölfe, und über sie selbst war ein paarmal in den Nachrichten berichtet worden. Die Klatschpresse war fasziniert von ihrer Beziehung zu dem »Prinzen der Nokolai«, wie sie Rule nannten. »Möglicherweise ist es noch nicht bis zu Ihnen durchgedrungen. Heutzutage nennt man sie Lupi.«

»Tja, von Ihnen habe ich schon gehört. Von Ihnen und von dem Turner-Weer, der wohl so etwas wie ein Prinz ist.«

Ihre Hand umfasste die Taschenlampe fester. »Ich bezweifle, dass das, was Sie gehört haben, in irgendeiner Weise relevant für die Frage der Zuständigkeit ist.«

»Vielleicht nicht.« Seine Augen, hart und dunkel wie Walnüsse, taxierten sie. »Na gut. Ich kooperiere, wenn Sie mir zeigen, wo die Leichen liegen. Ich bringe Ihnen Ihren Fundort schon nicht durcheinander.«

Vor Wut hätte sie ihm am liebsten den Mittelfinger gezeigt, aber Wut war kein guter Ratgeber, und er hatte von »ihrem« Fundort gesprochen. Sie würde mit diesem Mann zusammenarbeiten müssen. Er und seine Deputies hatten die Beweise am Tatort gesichert. Und sie kannten die Gegend und die Leute hier.

Moment, Moment. Sie würde den Fall abgeben. Das hieß, sie würde nicht mit ihm arbeiten. Vorausgesetzt, die Einheit konnte jemanden herschicken … nun, sie würden wohl müssen. Sie war hier wegen Rule und Toby, nicht um zu arbeiten.

Aber fürs Erste war sie verantwortlich für diese Toten. »Einverstanden. Dann sollten Sie lieber Ihren Coroner anrufen, damit er sich wieder hinlegen kann.«

Das gefiel Deacon nicht, aber er riss sich zusammen. Er fragte sie, ob seine Leute auf die Ankunft der Spurensicherung warten sollten. Sie dankte ihm, und er redete mit seinen Deputies und nahm einem von ihnen die Taschenlampe ab. Die Batterien seiner eigenen, sagte er, seien leer. »Wie weit ist es?«, fragte er sie.

»Ungefähr eineinhalb Kilometer.«

»Ich hoffe, Sie finden sich auch ohne Straßenschilder zurecht. Eineinhalb Kilometer ist vielleicht nicht weit, aber wenn man sich im Wald nicht auskennt, sieht ein Baum wie der andere aus. Vor allem nachts.«

Lily musste ihren Weg durch den dichten, pfadlosen Wald nicht suchen. Nicht wenn Rule auf sie wartete. Sie musste nur ihn finden, und das war einfach. »Es gibt eine Hirschspur, und am Fundort habe ich jemanden zurückgelassen, der mir helfen wird, wenn ich Schwierigkeiten haben sollte, die Stelle wiederzufinden.«

Er nickte ihr zu. Sie knipste ihre eigene Taschenlampe an und ging los.

In der Nähe des Highways war der Baumbestand noch jung und dünn. Teenager-Bäume, dachte sie. Doch hoch genug, dass sich ihre Kronen wie Schirme gegen den Nachthimmel spannten. Sobald sie daruntertrat, wurde es stockdunkel.

Die Grillen um sie herum brummten wie kleine Motoren, als würden sie jeden Moment abheben. Der schwammige Boden dämpfte ihre Schritte, als Deacon ihr folgte. Lily hielt den Strahl der Taschenlampe auf den mit Kiefernnadeln bedeckten Boden vor ihr gerichtet. Laut Rule war die Kupferkopfschlange in den heißen Monaten nachtaktiv.

Die Bäume hatten den Highway hinter ihnen bereits verschluckt, als Deacon das Wort ergriff. »Ich nehme an, dass Sie die Toten berührt haben.«

»Nur die oben aufliegende. Ich habe nichts am Fundort verändert.« Der Anblick, der sie dort erwartet hatte, war der schrecklichste gewesen, der sich ihr je an einem Einsatzort geboten hatte. Nur der Büstenhalter, der an den abgenagten Knochen und stinkenden Fleischfetzen hing, hatte noch darauf hingedeutet, dass es sich um eine Frau handelte. »Warum wollen Sie unbedingt die Leichen sehen, Sheriff?« Sie hatte ihm von den Hunden erzählt. Wollte er ihr beweisen, wie zäh er war, indem er höchstpersönlich in Augenschein nahm, was sie übrig gelassen hatten?

Er tat, als habe er ihre Frage nicht gehört. »Wenn Sie etwas berühren, spüren Sie, ob ihm Magie anhaftet.«

»Richtig. Magie fühlt sich für mich an wie ein Stoff.«

»Warten Sie.«

Lily drehte sich um. Da sie den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet hatte, konnte sie sein Gesicht in der Dunkelheit nur schwer erkennen. Aber die blasse Haut seiner ausgestreckten Handfläche sah sie deutlich.

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Wollen Sie mich etwa auf die Probe stellen?« Nun, warum nicht? Sie nahm seine Hand.

Sofort setzte das Kribbeln von Magie ein. Verwirrt hielt sie seine Hand länger als beabsichtigt, runzelte die Stirn und versuchte zu benennen, was sie empfand … glatt, sehr glatt und die Oberfläche wie … ein Gummiball. Ein schwaches Pulsieren, als würde die Magie von etwas angezogen … »Sie haben eine Gabe«, sagte sie schließlich und ließ seine Hand fallen, »aber ich kann nicht sagen, welche. Es hat jedenfalls mit Wasser zu tun. Irgendeine Art von Zauber liegt darüber. Unterdrückt sie vielleicht auch.«

Nach einem Moment murmelte er: »Offenbar wissen Sie, was Sie tun. Das hat bisher noch niemand herausgefunden. Niemand.«

»Wollen Sie mir sagen, welche Gabe Sie haben?«

Er war unsicher. Das erkannte sie an seinem Zögern, wenn auch nicht in seinem Gesicht, das immer noch im Dunkeln lag. Aber endlich sagte er: »Empathie.«

Sie hob die Augenbrauen. Er sprach nicht von physischer Empathie. Das war eine Erdgabe und damit sehr selten. Nein, seine Gabe war die emotionale Empathie – die gängiger war und weniger beliebt. Mit schwach ausgeprägter Empathie konnte man gut klarkommen, solange man große Menschenansammlungen mied. Eine starke Gabe wie die von Deacon konnte einem das Leben zur Hölle machen.

»Das ist eine Gabe, die für jeden schwer zu ertragen wäre«, sagte sie, »aber für einen Cop … Sie scheint überdeckt worden zu sein.«

»Ich habe sie von einem Zauber blockieren lassen.«

»Ich wusste gar nicht, dass das möglich ist.«

»Meine Großmutter hat es vor einigen Jahren gemacht. Sie, äh …, sie kennt sich damit aus. Ihr Urgroßvater war Schamane und hat einiges von seinem Wissen weitergeben.«

Lily nickte und wandte sich um, um weiter durch das Dickicht voranzugehen. »Ich habe eine Freundin, die mit afrikanischen Traditionen arbeitet. Sie wäre sicher an diesem Zauber interessiert, wenn Sie bereit wären, ihn ihr zu verraten.«

»Vielleicht. Kommt drauf an. Ich müsste sie erst kennenlernen.«

Auch wenn seine Gabe von einem Zauber überdeckt war, bekam er sicher immer noch einen Eindruck von anderen Menschen. Lily verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Ihr fiel ein, wie feindlich er sich ihr gegenüber gezeigt hatte. Das sprach nicht gerade für sie. »Hat der Zauber seit der Wende Probleme bereitet? Seitdem die Magie angestiegen ist?«

»Ich muss ihn öfter erneuern. Mehr nicht. Sie hatten damit zu tun, nicht wahr? Mit der Wende und den Drachen und so weiter.«

»Mit den Drachen zumindest.«

Er blieb stehen und starrte sie an. »Dann stimmt es also?«

 

3

Die Wende. Die Erste, die sie so genannt hatte, war Lilys Großmutter gewesen, und dann war es einfach dabei geblieben. Der Ausdruck passte so gut. Die Welt hatte eine Wende vollzogen, und jetzt versuchten alle verzweifelt, die neuen Regeln zu verstehen.

Es war im letzten Jahr geschehen, kurz vor Weihnachten. Die Welten hatten sich verschoben, und überall auf der Welt hatten sich Netzknoten geöffnet, was einen Tsunami an reiner Magie zur Folge hatte. Computer und alles, was von ihnen gesteuert wurde, funktionierten tagelang nicht mehr. Diese erste riesige Welle hatte sich glücklicherweise nicht wiederholt, aber immer noch trat magische Energie in die Welt aus. Der Magielevel war erhöht und würde, so vermutete man, auch noch weiter steigen.

Ein Experte hatte sogar angekündigt, dass er so hoch ansteigen würde wie schon seit dreitausend Jahren nicht mehr.

Fürs Erste arbeiteten Computer und die damit verbundene Technologie überall dort, wo es keinen großen Netzknoten gab, wieder zuverlässig. Unglücklicherweise schienen Netzknoten Menschen anzuziehen. Alle großen urbanen Zentren lagen in der Nähe von zahlreichen Knoten, was ebenso zahlreiche Probleme nach sich zog … sah man einmal von den Städten ab, in denen Drachen lebten.

Früher hatte man Drachen für Mythen gehalten, wie Zyklopen oder die Hexe Baba Jaga. Bis November letzten Jahres hatte auch Lily so gedacht, bis sie sie in Dis mit eigenen Augen gesehen hatte … einer Welt, die besser unter dem Namen Hölle bekannt ist. Die Drachen waren bereit gewesen, ihr jahrhundertelanges Exil zu beenden; und Lily war nur allzu gerne bereit gewesen, wieder auf die Erde zurückzukehren. Zusammen hatten sie es möglich gemacht … und den Preis dafür bezahlt.

Der Preis war Lily gewesen. Ein Teil von ihr zumindest, ein Teil, der damals von ihr abgespalten wurde. Doch sie hatten Rule wieder auf die Erde zurückgeholt, er hatte die nötige ärztliche Behandlung bekommen und war wieder gesund geworden. Und es hatte sich herausgestellt, dass der Teil von ihr, der sich geopfert hatte, nicht ganz verschwunden war. Nur verstummt. Vielleicht auch nicht für immer.

Zuerst waren die Drachen verschwunden. Doch als zwei Monate später die Wende eingesetzt hatte, waren sie wieder aufgetaucht.

Denn wie sich herausstellte, saugten Drachen Magie wie riesige Schwämme auf. Nach eingehenden Verhandlungen, die mit den sogenannten Drachenabkommen endeten, hatten die Drachen zugestimmt, dass jeder von ihnen ein bestimmtes Gebiet überfliegen würde, um den dortigen Magielevel niedrig zu halten. Nur die größten amerikanischen Städte und ein Dutzend in Übersee hatten ihre eigenen Drachen. Ländliche Gebiete wie dieses hier mussten mit weniger Schutz auskommen – verzauberte Kristalle, Seidendecken und noch weitere, wenig erprobte Isolierungen und Rezeptoren.

Und dann waren da noch die Handys. Funkgeräte funktionierten überall, aber Handys konnte man nur auf gut Glück benutzen. In manchen Gebieten taten sie ihren Dienst zuverlässig, in manchen nur hin und wieder. Die Zufälligkeit, mit der dies geschah, entzog sich jeder wissenschaftlichen Analyse. Sowohl Funkgeräte als auch Handys brauchten für ihre Übertragung Radiowellen, aber aus irgendeinem Grund wurden Handys stärker von Magie beeinträchtigt. Und, was noch schlimmer war, die Störungen schienen keiner Regel zu folgen.

Bisher hatte Lilys Handy hier in Halo, North Dakota, gut funktioniert.

Deacon starrte sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. Sie seufzte. »Ich weiß nicht, was Sie gehört haben. Von meiner Beteiligung war nichts in den Nachrichten.«

»Mein Cousin ist bei der Polizei in Washington. Er sagt, Sie hätten die Drachen gerufen.«

Guter Gott. Lily fragte sich, welche verrückten Geschichten noch über sie im Umlauf waren, stellte aber die Frage lieber nicht. Wie Großmutter sagte, Gerüchte waren wie Politik – unvermeidlich, wenn mehr als zwei Leute aufeinandertrafen. »Niemand kann einen Drachen einfach so rufen.«

»Und wie ist es Ihnen dann gelungen?«

»Das ist kompliziert, die meisten der damit zusammenhängenden Informationen sind Verschlusssache, und darüber hinaus hat es nichts mit unserem Problem heute Nacht zu tun.« Sie wandte sich ab und ging um einen großen Ast herum, der auf dem Boden lag.

Sie hatten die kleine Gruppe von Teenager-Bäumen hinter sich gelassen. Hier standen die dicken Baumstämme weit auseinander, und es gab wenig Unterholz. So etwas wie ein Pfad war dennoch nicht zu erkennen.

Sie leuchtete mit der Taschenlampe in die Baumkronen hoch. Dort. Etwas Weißes. Als Rule sie zurück zum Highway begleitet hatte, hatte er eines ihrer Taschentücher genommen und zerrissen und die Stückchen hier und da an den Ästen befestigt, um zu markieren, wie sie eine plötzliche feuchte Senke umgehen konnte. Lily schob den Riemen ihrer Tasche auf ihrer Schulter höher und folgte der Spur der winzigen kleinen Fähnchen.

Deacon blieb an ihrer Seite. »Nichts, was Sie mittels Berührung herausbekommen, ist vor Gericht zugelassen.«

»Nicht als Beweis, das stimmt. Aber auf diese Weise habe ich zumindest berechtigten Grund zu der Annahme, dass Magie bei der Durchführung eines Verbrechens im Spiel war. Die jüngste Novelle zum Gesetze zur inneren Sicherheit und zu magischen Verbrechen sieht vor, dass –«

»Hören Sie auf mit dem Kauderwelsch. Warum sind Sie hier und kümmern sich um fremde Fälle? Haben Sie nichts Besseres zu tun? Ständig höre ich, wie dünn die Personaldecke beim MCD seit der Wende ist, und trotzdem sind Sie hier und machen aus einem einfachen Fall etwas Kompliziertes.«

MCD stand für Magical Crimes Division – die Abteilung des FBI für magische Verbrechen, zu der auch Lilys Einheit gehörte. Und in der Tat war die Personaldecke dünn. Sehr dünn. »Reiner Machthunger.«

Er lachte nicht.

Lily verdrehte nicht die Augen. Aber sie hätte es gern getan. »Das war ein Scherz, Sheriff. Ein Scherz. Ich bin nicht darauf aus, Ihnen oder mir das Leben schwer zu machen. Eigentlich bin ich auf Urlaub hier.«

»Ach ja. Ich wusste gar nicht, dass es hier in der Gegend Disneyworld gibt.«

»Etwas Persönliches. Familie.« Und mehr würde sie dazu auch nicht sagen. Rule hatte viele Opfer gebracht, damit sein Sohn in der Öffentlichkeit nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Zwar würde es kaum möglich sein, seine Existenz noch länger geheim zu halten, wenn Toby zu ihnen nach San Diego zog, aber Lily würde nicht diejenige sein, die die Bombe platzen ließ.

Und auch über den anderen Grund, warum sie in North Carolina waren, würde sie selbstverständlich nicht reden. Rules neue Verbindung mit dem Clan der Leidolf war geheim. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, hat der Mann, den Sie gefasst haben – Meacham, nicht wahr? – noch nicht gestanden.«

»Behauptet, er könne sich an nichts erinnern. Manchmal weigert er sich sogar zu glauben, dass seine Familie tot ist, und sagt, wir würden ihn anlügen. Der Bezirksstaatsanwalt meint, Roy Don will auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren.«

»Und was glauben Sie?«

»Oh, Roy Don ist verrückt, das stimmt. Ich weiß nicht, ob auch nach dem Gesetz, aber er ist völlig durchgeknallt.«

Es klang tieftraurig, als habe ihn Meachams Wahnsinn um etwas Wichtiges gebracht. »Haben Sie ihn gekannt? Oder die Opfer?«

»Roy Don habe ich ein paarmal getroffen. Mit seiner Frau, Becky, bin ich zur Highschool gegangen. Rebecca Nordstrom hieß sie damals noch. Gut habe ich sie nicht gekannt – in dieser Gegend treiben sich die Kinder meistens mit ihresgleichen herum. Teils aus Vorurteilen, aber oft auch einfach, weil sie Komplexe haben. Wie beim Abschlussball, wenn die Jungs auf einer Seite des Raumes zusammenstehen und die Mädchen auf der anderen. Niemand weiß, wie er das andere Geschlecht ansprechen soll. So ist das eben. Auf dem College wird alles etwas lockerer, aber Becky ist nicht … sie hat Roy Don direkt nach der Highschool geheiratet.« Er schwieg einen Moment. »Ihre jüngste Tochter war mit meinem kleinen Mädchen befreundet. Ein hübsches Ding. Sehr lieb.«

Und nun verrottete sie am Fuße eines Baumes. Lily verstand jetzt, warum er den Fall unbedingt für sich hatte behalten wollen. »Ich habe früher bei der Mordkommission gearbeitet. Es ist immer schwer, wenn Kinder die Opfer sind. Und ganz schlimm ist es, wenn man sie gekannt hat.«

»Davon lasse ich mich nicht beeinflussen.«

»Da bin ich sicher.« Es war ihm wichtig, das zu glauben. Aber er machte sich etwas vor. Sie wusste, wie es war, wenn die persönliche Betroffenheit der beruflichen Distanz in die Quere kam. Die meiste Zeit konnte man die eigene Professionalität wie einen Schild vor sich halten, um sich vor dem Entsetzlichen zu schützen. Nicht ganz, aber doch genug, um weiter seiner Arbeit nachzugehen. Wenn eine Ermittlung einen persönlich betraf, hielt man sich mehr denn je an seinem Schild fest. Immer in dem Wissen, dass es einen nie vollständig schützen konnte.

Sie half ihm, indem sie das Gespräch wieder auf seinen Beruf brachte. »Ich habe gehört, dass die Morde erst kürzlich passiert sind.«

»Vor vier Tagen. Vier Tage«, wiederholte er, und in seinem Ton schwang Skepsis mit. »Wie können Sie nach so langer Zeit noch sicher sein, dass Magie im Spiel war?«

»Ich bin sicher. Die Rückstände sind nur schwach, aber eindeutig.« Sie nahm ihm die Frage nicht übel. Misstrauen war für einen Cop etwas ganz Normales – die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Menschen logen. Aus wichtigen Gründen genauso wie aus unwichtigen, aus Bequemlichkeit oder nur so zum Spaß – Cops wurden ständig angelogen.

Aber verdammt, sie war auch ein Cop. Das sollte er lieber nicht vergessen. »Ich habe gehört, dass Meacham sich zuerst gestellt und dann die Tat abgestritten hat.«

»Ganz so war es nicht.« Er dachte kurz nach. »Es war zwölf Uhr mittags am Montag. Ich wollte gerade das Büro verlassen, um etwas zu essen, als Roy Don mit seinem Lieferwagen vorfuhr. Hat auf dem Behindertenparkplatz geparkt, was man hier nicht macht, vor allem nicht direkt vor meiner Dienststelle, also habe ich gewartet. Ich dachte, entweder ist er betrunken oder irgendetwas Schlimmes ist passiert. Er stieg aus.« Wieder machte er eine Pause. »Noch nie habe ich so viel Blut an einer lebenden Person gesehen.«

»Hatte er den Baseballschläger in der Hand?«

»Nein. Nein, er stieg einfach aus dem Auto und stand da, ohne etwas zu sagen oder sich zu rühren, und seine Augen schauten irgendwie ins Leere – so, als würde er gar nichts sehen. Seine Augen … ich fragte ihn, ob er verletzt sei und wo. Da hat er sich umgedreht und den Schläger vom Rücksitz geholt. Er hat ihn mir gegeben. Hat kein Wort gesagt, hat ihn mir einfach hingehalten. Es dauerte noch zwei Stunden, bis er etwas gesagt hat. Auf einmal schien er aufzuwachen. Er trug ein Krankenhaushemd – dahin hatten wir ihn gebracht, ins Krankenhaus – aber es klebte immer noch Blut an ihm. Er hat das Blut gesehen und gedacht, er hätte einen Autounfall oder so etwas Ähnliches gehabt. Hat sich an nichts mehr seit dem Frühstück erinnert.«

»Haben Sie ihn ins Krankenhaus begleitet?«

»Nein. Nein, ich bin zu seinem Haus gefahren, um zu sehen, ob das Blut daher kam. Da habe ich dann den armen Bill Watkins gefunden, bewusstlos. Bingham – das ist einer meiner Deputys – hat Roy Don ins Krankenhaus gefahren.«

Sie nickte. »Also waren Sie nicht bei ihm, als er wieder, äh, zu sich kam.«

»Nein, aber Bingham hat es mir erzählt. Er ist ein guter Mann. Sehr wachsam.«

»Er ist kein Empath. Selbst wenn Ihre Gabe durch den Zauber gehemmt ist, würden Sie trotzdem mehr wahrnehmen als jemand ohne Gabe. Sie haben immer noch ein gutes Gespür für Menschen.« Was sie auf eine Idee brachte. »Mit mir funktioniert es aber möglicherweise nicht. Vielleicht blockiert meine Gabe Ihre.« Vielleicht war das der Grund, warum er sie nicht mochte oder ihr nicht vertraute.

»Normalerweise rede ich nicht darüber.«

Wem sagen Sie das. Bevor sie zum FBI gewechselt war, hatte Lily nie darüber gesprochen, dass sie eine Sensitive war. In der Vergangenheit waren Sensitive nur allzu oft dazu benutzt worden, um Menschen mit Gabe oder Andersblütige zu outen, und das wollte sie nicht. Sie hatte sich erst daran gewöhnen müssen, offen mit ihrer besonderen Fähigkeit umzugehen. Jetzt, dachte sie oft, verstand sie, wie sich ein Homosexueller nach seinem Coming-out fühlte. »Die Zeiten haben sich geändert.«

»Ja, kann sein. Fragen Sie mich, was ich gespürt habe, als Roy Don aus dem Auto gestiegen ist. Als er mir den Schläger gegeben hat.«

»Was haben Sie gespürt?«

»Nichts. Als wenn er gar nicht da gewesen wäre.«

»Haben Sie dieses Gefühl auch bei mir?«

»Nein, Sie sind da. Wie hinter einer verschlossenen Tür, aber Sie sind da. Das Gefühl hatte ich bisher noch bei keinem. Bei niemandem. Bethany Whites Tochter ist geistig behindert. Sehr schwer. Trägt Windeln, kann nicht alleine essen, aber sie ist da. Roy Don war es nicht. Er hat seinen Lieferwagen in die Stadt gefahren, ist zu mir gekommen und hat mir den Schläger gegeben. Und die ganze Zeit war er nicht in seinem Körper.«

Mist. Lily wusste nicht, was das zu bedeuten hatte, aber sicher nichts Gutes. Sie warf Deacon einen kurzen Blick zu. »Ist er immer noch abwesend?«

»Ich würde nicht sagen, dass er zurechnungsfähig ist, aber er ist anwesend. Haben Sie eine Idee, was so etwas mit einem Mann machen kann? Ich meine, Sie sind sich sicher, dass Magie angewendet wurde, also …« Er zögerte und senkte seine Stimme, als wäre das, was er sagen wollte, ihm peinlich. »Könnte Roy Don besessen gewesen sein? Ich weiß, das ist eigentlich ein Ammenmärchen, aber –«

»Nein, Besessenheit gibt es wirklich, und Dämonen können von einer Welt in die andere wechseln, wenn sie gerufen werden, aber das kommt nur sehr selten vor. Beinahe alle Beschwörungszauber sind während der sogenannten Säuberung verloren gegangen.«

»Beinahe alle?«

Sie winkte ab. »Der Punkt ist, dass die Magie, die ich berührt habe, nicht von einem Dämon stammte.«

»Sie sagten, sie sei nur schwach gewesen.«

Aber nicht orangefarben. Dämonen lösten etwas in ihrer Gabe aus, das ihre Wahrnehmung synästhetisch machte. Sie fühlten sich wie eine Farbe an, nicht wie ein Stoff. »Dämonenmagie ist einzigartig. Nichts fühlt sich so an. Und es ist vier Tage her. Wenn Meacham besessen gewesen wäre und der Dämon ihn aus irgendeinem Grund verlassen hätte, hätte er sofort einen anderen Wirt gefunden oder mehrere Wirte hintereinander. Und es hätte weitere Morde gegeben.«

»Wenn er keinen anderen Wirt gefunden hat –«

»Er hätte Meacham nicht ohne jemanden, den er in Besitz nehmen konnte, verlassen. Ein einmal beschworener Dämon braucht einen Wirt. Nur so kann er hierbleiben.« Eigentlich war die Sache komplizierter, und auch Lily wusste nicht alles darüber. Aber sie kannte einen Dämon. Nun, eine frühere Dämonin. Und Gan hatte ihr gesagt, dass nur ein Dämon, der durch ein Tor gekommen war, oder eine wie sie, die ganz alleine in die andere Welt hinüberwechseln konnte, ohne einen Wirt in dieser Welt bleiben konnte.

Und Gan war, wie sie selbst nur allzu gerne betonte, etwas sehr, sehr Besonderes. Lilys Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Ich will damit nicht sagen, dass es unmöglich ist«, fügte sie hinzu. »Aber es ist so unwahrscheinlich, dass wir es im Moment nicht in unsere Überlegungen miteinbeziehen sollten.«

»Sie haben wohl Erfahrung mit so etwas«, sagte Deacon. »Sind wir bald da?«

Sie nickte. Rule war jetzt ganz in der Nähe.

»Wen haben Sie denn bei dem Fundort zurückgelassen? Ich sehe niemanden.«

»Sie werden ihn auch nur sehen, wenn er es will.«

»Scheiße. Sie haben doch wohl nicht diesen Weer hierhergebracht? Ist er etwa in meiner Stadt?«

Im Lichtstrahl ihrer Lampe bewegte sich ein Schatten. Und knurrte.

Lily ließ die rechte Hand in ihre Jacke gleiten. Mit der linken hob sie die Lampe suchend höher. »Bleiben Sie stehen«, fuhr sie Deacon an, als dieser weiterging.

»Müssen Sie Ihren Liebhaber mit der Waffe bedrohen, damit er sich benimmt?«, sagte er.

Sie zog ihre Waffe und zielte. »Das ist nicht –«

Zwei große Hunde schossen aus dem Unterholz – Zähne gefletscht, Ohren angelegt, schnell. Lily dachte nicht nach. Sie schoss. Und wieder.

Der erste Hund stürzte zu Boden. Der zweite stolperte, lief dann aber auf drei Beinen weiter – ein Rottweiler mit Schaum vor dem Maul und tollwütigem Blick. Sie feuerte noch einmal, als zwei Schüsse kurz hintereinander knallten, dass ihr das Trommelfell schmerzte.

Der zweite Hund fiel, und Blut sprudelte aus einer Wunde an seinem Kopf. Genauso erging es dem, den sie nicht gesehen hatte, einem Dobermann, der von rechts angegriffen hatte. Deacons Kugeln hatten ihn mitten im Sprung erwischt.

Lily atmete so schwer, als wäre sie gerannt. Ihre Hände zitterten – der Adrenalinstoß. Sie schmeckte Galle.

Hunde. Sie hatte Hunde erschossen. »Guter Schuss«, brachte sie heraus.

»Scheiße.« Deacons Stimme zitterte leicht. »Haben Sie gesehen, wie der da noch weitergelaufen ist, nachdem Sie ihn getroffen hatten? Die Mistviecher müssen die Tollwut haben.«

Tollwut. Ja, das wäre eine Erklärung dafür, warum sie sich hierhergetraut hatten, obwohl sie Rule doch sicher gerochen hatten, aber … Rule. Wo war Rule?

Vorsichtig geworden, suchte Deacon nun die Umgebung mit der Taschenlampe ab. »Glauben Sie, hier sind noch mehr? Eigentlich greifen Hunde nicht so an. Nicht auf diese Weise. Die hatten die Tollwut. Ich muss – he!«

Sie war losgerannt.

Lily sprang über einen Baumstamm, kam ins Schlittern und lief um zwei kränkliche Pinien herum. Rule war am Leben. Das spürte sie so deutlich wie die heiße Luft in ihrer Lunge. Wenn er tot wäre, wäre das Band der Gefährten zerrissen.

Aber er war ihr nicht zu Hilfe gekommen. Er hätte die Hunde hören müssen, die Schüsse, und war nicht gekommen.

Er war nicht weit weg. Das war der Hauptgrund, warum sie bei ihrem Zickzacklauf durch den Wald nicht stürzte, umknickte oder ins Stolpern geriet. Sie musste nicht weit rennen, bis sie wie angewurzelt stehen blieb. Ihr Magen hob sich, als sie den Geruch wahrnahm. Sie fiel auf die Knie, die Taschenlampe fest umklammert.

Rule lag auf einem Bett aus Blättern und Lehm wie ein schlafender Hänsel, der sich im Wald verirrt hatte. Drei Meter weiter war ein offenes Grab, aus dem der Gestank hochstieg, aber sie konnte keine Anzeichen eines Kampfes oder eine Verletzung an Rule entdecken – kein Blut, keine zerrissene Kleidung, keine aufgewühlte Erde. Sein Atem ging gleichmäßig, und auf seinem Gesicht lag ein friedlicher Ausdruck. Das dunkle Haar gab die Stirn frei, sah aber nicht zerwühlt aus.

Sie legte die Finger an seinen Hals, um seinen Puls zu fühlen. Und zuckte zurück.

Magie. Dünn und feuchtkalt lag sie auf seiner Haut wie Algen auf einem Teich … Algen gemischt mit gemahlenem Glas, denn die Oberfläche hatte eine raue Beschaffenheit, die sie kannte. Obwohl ihr Herz verrückt spielte, fanden ihre Finger das gleichmäßige Pochen in seiner Halsschlagader. Und die hässliche Magie wurde schwächer. Verflog wie Schweiß an einem heißen, trockenen Tag.

Langsam öffnete er die Augen. Er blinzelte. »Warum liege ich auf dem Boden?«

»Ich hatte gehofft, das könntest du mir erklären. Woran erinnerst du dich als Letztes?« Sie streichelte ihn überall dort, wo sie direkt seine Haut berühren konnte – seine Wange, seinen Hals, seine Hand –, um sich zu vergewissern, das die magischen Algen wirklich fort waren.

»Ich warte. Eine Eule schreit, die Grillen …« Er runzelte die Stirn. »Da ist noch etwas anderes, aber ich kann nicht … Es ist fort.«

Er begann sich aufzusetzen. Lily versuchte, ihn daran zu hindern – worauf er nur freundlich lächelte und ihre Hände fortschob. »Mir geht es gut, nadia.«

»Noch vor einer Sekunde warst du bewusstlos.«

»Was auch immer das verursacht hat, es scheint zumindest keine Nachwirkungen zu haben.«

»Das wissen wir noch nicht.«

»Und wenn wir hier auf dem Boden herumliegen, werden wir es auch nie herausfinden.« Er stand auf, also tat Lily es ihm gleich. »Wer kommt denn da durch das Unterholz gewalzt?«

»Sheriff Deacon, nehme ich an.« Nicht dass sie ihn hören konnte … doch, jetzt, nachdem Rule ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte, hörte sie ganz schwach, wie sich jemand bewegte. »Ich glaube, ich habe ihn abgehängt.«

»Dann solltest du ihn wohl besser rufen.«

»In einer Minute.«

»Ich habe nichts«, sagte er verärgert.

»Vielleicht. Rule, als ich ankam, haftete Magie an dir. Todesmagie.«

Er blieb still stehen. Nach einem Moment sagte er: »Was auch passiert ist, ich habe es überlebt.«

»Die Magie ist jetzt fort. Überall, wo ich dich berührt habe, ist sie nicht mehr. Was gut ist, aber ich verstehe nicht, warum.« Aber sie hatte ihn nicht überall abgetastet.

Sein Hemd war nicht in die Hose gesteckt. Sie fuhr mit den Händen darunter und ließ sie über seine Brust gleiten.

»Äh … Lily?«

»Sie könnte sich an einer Stelle festgesetzt haben, wie damals das Dämonengift.« An seiner Brust war jedoch nichts. Sie drängte sich näher an ihn, damit sie um ihn herum an seinen Rücken fassen konnte. Seine Haut war warm, ein wenig feucht … aber einfach nur Haut. Keine Spur von Teichalgen.

»Todesmagie tötet einen entweder oder nicht. Mich hat sie nicht getötet. Lily –«

»Das wissen wir nicht. Wir wissen nicht, was sie kann oder nicht kann. Du wirst dein Hemd ausziehen müssen.«

»Jesses.« Hinter ihr erklang Deacons Stimme, voller Abscheu. »Deswegen sind Sie also so gerannt. Um ihn zu begrapschen.«

 

4

Verglichen mit San Diego war Halo eine sehr kleine Stadt, aber sie war auch nicht nur ein Fliegendreck auf der Landkarte. Als Verwaltungssitz des Countys hatte sie sogar ein vierstöckiges Bezirksgerichtsgebäude, wo Rule erfahren würde, ob sein Sohn mit zu ihm nach Hause kommen durfte. Und ein zweistöckiges Polizeigebäude, wo Rule sich jetzt befand. Das Büro des Sheriffs von Dawson County roch nach Staub, Desinfektionsmittel, Tabak, Druckertinte und Mäusen. Und nach Menschen natürlich. Menschen, die hier geschwitzt, sich Sorgen gemacht, gearbeitet und gegessen hatten, jahraus, jahrein.

Das Interessanteste an dieser Mischung, fand Rule, war der Geruch, der fehlte, nämlich der Geruch der Angst. Und zwar vom ersten Augenblick seines unglücklichen Zusammentreffens mit Sheriff Deacon an. Der Mann mochte Rule nicht, aber er fürchtete ihn nicht. Das war so ungewöhnlich, dass Rules Neugierde geweckt worden war.

Sie waren mehr oder weniger allein. Das Büro des Sheriffs befand sich im zweiten Stock des Betongebäudes und wurde von einer breiten Glaswand von dem Gemeinschaftsraum getrennt, in dem dicht an dicht Schreibtische standen. Zu dieser Uhrzeit waren die meisten dieser Schreibtische verwaist, aber an dem Tisch vor Deacons Bürotür saß eine bullige Frau in Zivil und machte ein finsteres Gesicht.

Es war sechs Uhr zweiundvierzig am Morgen. Rule saß auf einem harten Holzstuhl und sehnte sich nach Kaffee. Lily würde die Flüssigkeit in seinem Pappbecher vielleicht für dieses Getränk halten, aber Lily hatte auch schon viel zu lange den Schlamm, den die Kaffeemaschinen in Polizeibüros ausspuckten, getrunken. Ihre Geschmacksnerven waren dauerhaft geschädigt.

»Okay.« Deacon drückte eine Taste auf seiner Tastatur und der Drucker sprang an. »Sie müssen noch Ihre Aussage unterschreiben, dann können Sie gehen. Aber verlassen Sie die Stadt nicht.«

Rule war versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass er zu jedem beliebigen Zeitpunkt hätte gehen können – er war hier aus freien Stücken. Lily hatte darauf bestanden, dass Deacon seine Aussage erst aufnehmen würde, wenn die Untersuchung des Fundortes abgeschlossen war, weil sie ihn hatte begleiten wollen. Rule hatte sie verstanden. Auch er kannte dieses Bedürfnis zu beschützen, auch wenn er es immer noch seltsam und sogar beunruhigend fand, wenn dieser Instinkt sich auf ihn richtete.

In diesem Fall brauchte er keinen Schutz. Er hatte schon mit genügend misstrauischen und voreingenommenen Polizeibeamten zu tun gehabt. Mit diesem hier, hatte er entschieden, wollte er kooperieren. Doch bisher hatte er mit seiner Kooperationsbereitschaft nicht punkten können. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich hier auf Lily warten.«

Deacon warf ihm einen scharfen Blick zu. »Ihre Liebste wird noch eine Weile brauchen.«

»Liebste« war ein schönes Wort, aber aus Deacons Mund klang es wie »Schlampe«. Rule ermahnte sich, sich nicht von seiner Wut leiten zu lassen, aber es war gut, dass er nicht Cullens Händchen für Feuer hatte. »Es wäre respektvoller, wenn Sie von ihr als Agent Yu sprächen.«

Deacon schnaubte. »Erzählen Sie mir keine Märchen! Ich weiß, wie Ihre Sorte Frauen behandelt. Respektvoll würde ich das nicht nennen.« Der Drucker spuckte das Blatt Papier aus, und er lehnte sich zur Seite, um es herauszunehmen. »Hier. Lesen Sie es und unterschreiben Sie.«

Rule nahm das Blatt, ohne einen Blick darauf zu werfen. Er konnte Deacon nicht sagen, dass er Lily treu bis in den Tod sein würde. Sie war seine nadia, seine Auserwählte. Sein Volk verstand das, aber niemand außerhalb der Clans wusste von dem Band der Gefährten – der einzigen Form von Treue, die unter Lupi akzeptiert war. Aber das ging Menschen auch nichts an.

Trotzdem ärgerte ihn die Unterstellung des Sheriffs. Doch eigentlich verstand er nicht, warum. Seit wann kümmerte es Lupi, was Outsider von ihnen dachten? »Da fällt mir ein, dass Sie im Territorium der Leidolf leben.«

»Wo?« Deacon schüttelte den Kopf. »Sie sind aus Kalifornien, stimmt’s? Vielleicht lernt man da in den Schulen nichts über Staaten und Countys und so. Sheriffs werden vom County gewählt, nicht von irgendeinem Territorium.«

»Ich weiß, was Countys sind«, sagte Rule trocken. »Leidolf ist ein Lupus-Clan, dessen Territorium – von dem nichts in den Schulbüchern Ihrer Kinder steht – ein Großteil Nordkaliforniens einschließt.« Das Clangut befand sich knapp fünfzig Kilometer außerhalb von Halo, aber das musste er dem Mann nicht unbedingt auf die Nase binden. »Ich frage mich, ob Ihre Abneigung daher rührt, dass sie Leidolf-Lupi gekannt haben. Die Art, wie sie Frauen behandeln, ist nicht typisch für mein Volk.«

»Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie an die Ehe glauben?«

»Ist die Ehe die einzige Art, wie man einer Frau Respekt bezeugen kann?«

»Die einzige Art, die etwas bedeutet.«

»Dann würden Sie auch nichts dagegen haben, wenn Ihre Tochter, wenn sie erwachsen ist, einen von uns heiratet.«

Rule dachte, der Mann würde ihn schlagen. Auch Deacon dachte das für einen kurzen Moment – woraus Rule schloss, dass Deacon keinen Lupus persönlich kannte. Daher konnten seine Vorurteile also nicht kommen. Jemand, der sich mit Rules Art auskannte, hätte gleich geschossen.

Dann hatte Deacon sich wieder im Griff. »Lesen Sie Ihre Aussage durch und unterschreiben Sie.«

Das war natürlich der andere Grund, warum die Nokolai sich vor so vielen Jahren in Kalifornien niedergelassen hatten. Die Wälder hier waren herrlich. Nur die Umgangsformen ließen manchmal zu wünschen übrig.

Rule las schnell. Abgesehen von ein paar Tippfehlern war die Aussage korrekt. Er lächelte, als er zum letzten Absatz kam, in dem beschrieben wurde, wie er sich auszog, damit Lily sich vergewissern konnte, dass keine Todesmagie an ihm haftete. Nirgendwo.

Deacons Ankunft hatte sie nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. »Sie haben eine schmutzige Fantasie«, hatte sie ihn angeschnauzt und dann getan, was sie für nötig hielt – so wie immer. Als Lily fertig war, hatte sie Deacon mit knappen Worten aufgeklärt, aber es war Rule gewesen, der darauf hingewiesen hatte, dass es möglicherweise klug sein würde zu prüfen, ob er nicht mit einem Zauber belegt war. Es wäre doch bedauerlich, wenn er plötzlich über sie herfallen würde, oder nicht?