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Lili Yu ist Spezialistin für übernatürliche Verbrechen bei der Polizei von San Diego. Sie wird mit den Ermittlungen in einem Mordfall betraut, der scheinbar das Werk eines Werwolfs ist. Um den Mörder aufzuspüren, muss sie Zugang zu den Werwolfclans finden. Dies ist ihr nur mit der Hilfe von Rule Turner möglich, dem Prinzen des Nokolai-Clans. Doch sie kann Rule nicht vertrauen, denn er ist einer der Hauptverdächtigen und verfolgt seine eigenen Ziele. Lili versucht, auf Distanz zu bleiben, doch es fordert ihre gesamte Willenskraft, der magischen Anziehungskraft des charismatischen Werwolfs zu widerstehen. "Wilks ist eine bemerkenswert talentierte Autorin, die eine unglaublich faszinierende und aufregende Welt erschaffen hat." - Romantic Times "Fans von Nora Roberts werden Eileen Wilks lieben." - Booklist
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Seitenzahl: 548
Titel
Widmung
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Liebe Leserin, lieber Leser
Impressum
Roman
Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig
Dieses Buch ist meiner Agentin Eileen Fallon gewidmet, die mit mir durch dick und dünn ging und immer bei der Stange blieb – und am Telefonhörer. Ich wollte nur sagen: „Hi, Eileen – hier ist Eileen. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“
1
Viel war von seinem Gesicht nicht mehr übrig. Lily blieb auf Abstand und achtete darauf, dass ihre neuen schwarzen Stöckelschuhe nicht mit der Blutlache in Berührung kamen, die an den Rändern bereits eingetrocknet, um die Leiche herum jedoch noch feucht war. In den Jahren bei der Verkehrspolizei hatte sie allerdings schon Schlimmeres gesehen.
Es war jedoch etwas anderes, wenn jemandem solche Verletzungen vorsätzlich zugefügt worden waren.
In der warmen Luft hingen Nebelschwaden, die im Licht der Polizeischeinwerfer sichtbar wurden, und sie spürte den feuchten Dunst im Gesicht. Der Geruch von Blut war deutlich wahrnehmbar. Blitzlichter zuckten durch die Nacht, während der Kollege Fotos vom Tatort machte.
„Hallo Yu! Juhu!“, rief der Officer mit der Kamera, ein etwas zu klein geratener Mann mit Backenhörnchen-Gesicht und rotem, kurz geschnittenem Haar, das wie der Flaum eines Pfirsichs anmutete.
Lily verzog das Gesicht. O’Brien wurde das alte Witzchen einfach nie leid. Wenn sie sich eines Tages im stolzen Alter von hundert Jahren im Pflegeheim über den Weg laufen sollten, dann wäre das Erste, was er zu ihr sagen würde: „Hallo Yu, juhu!“
Natürlich nur, falls sie ihren Mädchennamen in den nächsten zweiundsiebzig Jahren behielt. Doch angesichts des Trauerspiels, das sie augenzwinkernd als ihr Privatleben bezeichnete, war dies sehr wahrscheinlich. „Was ist, kleiner irischer Mann?“
„Sieht aus, als hättest du heute Abend ein heißes Date gehabt.“
„Nein. Mein Kater und ich machen uns immer fürs Abendessen schick. Dirty Harry sieht im Smoking großartig aus.“
O’Brien schnaubte und drehte ab, um den Tatort aus einer anderen Perspektive abzulichten. Lily schenkte ihm keine Beachtung mehr und ignorierte auch den anderen S.O.C.-Beamten, die Schaulustigen hinter dem Maschendrahtzaun und die Uniformierten, die diese in Schach hielten.
Eine Blutlache lockt immer Neugierige scharenweise an – wie ein Marmeladenklecks die Fliegen. Die Leute, die sich an diesem Tatort versammelt hatten, kamen jedoch nicht aus der Nachbarschaft. Die Bewohner dieses Viertels wussten ganz genau, dass Neugier sie unter Umständen teuer zu stehen kam. Sie wussten auch, wie sich eine Schießerei anhörte und wie Drogenhandel aussah. Bei den Menschen, die sich hier den Hals verrenkten, um einen Blick auf die blutige Szene zu erhaschen, handelte es sich vermutlich um Besucher des Nachtclubs am oberen Ende der Straße. Der Club Hell zog eine ganz spezielle Kundschaft an.
Auch der Tote sah nicht so aus, als käme er aus dieser Gegend.
Er lag auf dem Rücken. Zu seinen Füßen befand sich ein platt getretener Kaffeebecher, unter seinem Gesäß ein Fetzen Zeitungspapier und neben ihm eine zerbrochene Bierflasche. Was immer ihm die Kehle herausgerissen und das Gesicht verunstaltet hatte, hatte ein Auge und die rechte Wangenpartie unversehrt gelassen. Das braune Auge starrte entsetzt ins Leere, und der glatte Teint hatte die Farbe des Rattansessels auf der Veranda ihrer Mutter. Markenjeans, stellte sie fest, wie man sie in teuren Kaufhäusern fand. Schwarze Sportschuhe, ebenfalls von einer teuren Marke. Ein rotes Seidenhemd.
Der rechte Ärmel des Hemds war zerfetzt, der Unterarm wies drei tiefe Wunden auf – Abwehrverletzungen. Der Arm war ausgestreckt, die Hand lag mit dem Handteller nach oben, und die Finger waren nach innen gebogen wie bei einem schlafenden Kind.
Die andere Hand lag ungefähr vier Meter von der Leiche entfernt, unmittelbar neben dem Gestell einer Schaukel.
Himmelherrgott noch mal, jemand hatte diesen Kerl mitten auf einem Spielplatz so zugerichtet! Der Gedanke schnürte Lily die Kehle zu, und ihre Schultern zogen sich zusammen. Sie hatte schon viele Tote gesehen, seit sie ins Morddezernat versetzt worden war. Ihr drehte sich längst nicht mehr der Magen um, aber das Bedauern, die Betrübnis über die Vergeudung von Menschenleben war ihr geblieben.
Der Tote war nicht mehr jung genug gewesen, um Spaß am Schaukeln zu haben – Mitte zwanzig vielleicht. Sie schätzte ihn auf etwa eins achtzig bei einem Gewicht von neunzig Kilo. Er hatte Schultern und Arme wie ein Gewichtheber und beeindruckende Schenkel. Er war sehr stark gewesen und vielleicht auch ein wenig draufgängerisch.
Aber seine Kraft hatte ihm an diesem Abend nicht viel genützt. Auch die 22er-Pistole nicht, die er offenbar bei sich gehabt hatte. Sie lag neben der abgetrennten Hand und schien den gekrümmten Fingern in dem Augenblick entglitten zu sein, als das Leben sie verlassen hatte.
„Vorsicht, Detective! Machen Sie sich nicht Ihr hübsches Kleid schmutzig!“
Lily schaute nicht von der Leiche auf. Sie kannte die Stimme, denn der Mann hatte ihr Bericht erstattet, als sie eingetroffen war. „Tatorte werden häufiger von Polizeibeamten mit Fremdspuren kontaminiert als von Zivilisten. Haben Sie einen Grund, mit Ihren großen Füßen hier herumzutrampeln, Phillips?“
„Um Himmels willen, ich bin drei Meter von der Leiche entfernt!“
Nun sah sie ihn an. Officer Larry Phillips war die eine Hälfte des Teams, das zuerst am Tatort gewesen war. Lily hatte bisher noch nicht mit ihm zu tun gehabt, aber sie wusste, zu welcher Sorte er gehörte. Er war über vierzig, tat immer noch Streifendienst und war dementsprechend verbittert. Sie war eine Frau von achtundzwanzig Jahren und bereits Detective.
Er konnte sie nicht leiden. „Ob Sie es glauben oder nicht“, sagte Lily, „es wurde schon in mehr als drei Metern Entfernung von Leichen Beweismaterial gefunden. Was wollen Sie?“
„Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass keiner der hilfsbereiten Bürger hinter dem Zaun etwas gesehen hat. Sie haben im Club gefeiert und ihn gemeinsam verlassen und sahen dann die Streifenwagen mit dem hübschen Blaulicht. Also sind sie hergekommen, um nachzusehen, was los ist.“
„Im Hell, meinen Sie?“
„Dort werden Sie nach dem Mörder suchen müssen. Das Labor wird in diesem Fall keine Hilfe sein.“
„Es gibt ja auch noch andere Beweismittel.“
Er schnaubte. „Ja, vielleicht hat der Täter seine Visitenkarte dagelassen. Oder Sie schließen sich der Meinung meines Partners an. Er glaubt, es sei das Werk eines Straßenköters.“
Lily schaute zu dem Loch in dem Maschendrahtzaun hinüber, das als Zugang zum Tatort diente. Dort stand Phillips’ Partner, ein junger Hispano-Amerikaner, der zusammen mit den anderen Beamten die Menge im Zaum hielt und sich Namen und Adressen notierte. „Ihr Partner ist wohl neu hier?“
„Ja.“ Phillips kramte einen verpackten Zahnstocher aus seiner Tasche, zog ihn aus der Zellophanhülle und klemmte ihn sich zwischen die Lippen. „Ich habe ihm schon erklärt, dass Hunde einem Menschen für gewöhnlich nicht mit einem Happs die Hand abbeißen.“
Phillips war nicht blöd, das musste sie zugeben, nur nervig. Sie nickte. „Ein halbwegs kräftiger Mann kann einen Hund in der Regel abwehren. Aber es gibt kaum Kampfspuren, und dann ist da noch die Pistole …“ Die das Opfer vermutlich bei sich getragen hatte, doch es bestand auch die Möglichkeit, dass eine dritte Person am Tatort gewesen war. Lily schüttelte den Kopf. „Das Biest muss ihn ziemlich schnell erledigt haben.“
„Schnell sind sie, das stimmt. Dem armen Kerl blieb vermutlich nicht mal genug Zeit, um festzustellen, dass seine Hand weg war.“
„Aber er hatte den richtigen Instinkt. Er hat versucht, den Kopf zu senken und so seinen Hals zu schützen. Dabei hat er den Großteil seines Gesichts verloren. Dann hat es ihm die Kehle herausgerissen.“
„Na, na, na. Sie sollen doch nicht ‚es‘ sagen. Wir müssen jetzt ‚er‘ sagen und sie wie Menschen behandeln. Sie genießen jetzt den Schutz des Gesetzes.“
„Ich kenne das Gesetz.“ Lily sah zu Phillips auf. Das musste sie notgedrungen, denn er war ein drahtiger Kerl von gut eins neunzig. Eigentlich musste Lily zu fast jedem aufsehen, doch sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr darüber zu ärgern. „Das hier ist Ihr Revier, Officer. Können Sie den Toten identifizieren?“
„Er ist nicht aus diesem Viertel.“
„Ja, das dachte ich mir. Vielleicht war er auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer – Drogen oder Sex –, oder ihm stand der Sinn nach den etwas legaleren Vergnügungen im Hell. Wenn er dort Stammkunde war, haben Sie ihn vielleicht schon mal hier gesehen.“
Phillips schüttelte den Kopf. Der Zahnstocher schien regelrecht an seiner Unterlippe festzukleben. „Das ist kein Tötungsdelikt im Zusammenhang mit Drogen, und das war auch kein Zuhälter, der einen zahlungsunwilligen Freier bestraft hat. Das ist eigentlich gar kein richtiger Mordfall.“
Drei Jahre zuvor wäre ein solcher Fall noch an die X-Einheit gegangen. Nun war das Morddezernat dafür zuständig. „Die Gerichte sehen das anders.“
„Und wir wissen ja, wie clever unsere gefühlsduseligen Richter sind! Ihretwegen müssen wir die Bestien jetzt wie Menschen behandeln. Die Schweinerei zu Ihren Füßen zeigt ja, was für eine großartige Idee das ist!“
„Ich habe schon schlimmere Dinge gesehen, die Menschen anderen Menschen angetan haben. Und wie dem auch sei, der Tatort darf auf keinen Fall verunreinigt werden!“
„Klar doch, Detective.“ Phillips grinste spöttisch und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er jedoch noch einmal inne und nahm den Zahnstocher aus dem Mund. Als er Lily in die Augen sah, waren Spott und Verärgerung aus seinem Blick verschwunden. „Noch ein Rat von jemandem, der fünfzehn Jahre bei der X-Einheit war: Nennen Sie sie, wie Sie wollen, aber setzen Sie Lupi nicht mit Menschen gleich. Man kann ihnen kaum etwas anhaben, sie sind schneller als wir, sie sind stärker, und wir scheinen ihnen ziemlich gut zu schmecken.“
„Dieser hier hat sich offenbar nicht viel Zeit zum Genießen gelassen.“
Phillips zuckte mit den Schultern. „Er wurde gestört. Und denken Sie immer daran, dass Lupi rechtlich gesehen nur dann Menschen sind, wenn sie auf zwei Beinen herumlaufen. Wenn Sie auf einen Vierbeiner treffen, nehmen Sie ihn nicht fest. Erschießen Sie ihn auf der Stelle!“ Er schnippte seinen Zahnstocher auf den Boden. „Und zielen Sie auf das Gehirn!“
„Ich werde es mir merken. Heben Sie den Zahnstocher auf!“
„Was?“
„Der Zahnstocher! Er hat nichts am Tatort verloren. Heben Sie ihn auf!“
Phillips bückte sich mürrisch, schnappte sich den Zahnstocher und murmelte im Weggehen etwas von „Haare auf den Zähnen“.
„Einen Freund hast du da aber nicht gerade gewonnen“, bemerkte O’Brien fröhlich.
„Ich bin auch ganz unglücklich darüber.“ Lily sah zur Straße. Das Auto, das hinter dem Krankenwagen angehalten hatte, war vom Büro des Coroners.
Sie musste sich beeilen. „Wie es aussieht, wird das Opfer schon bald offiziell für tot erklärt. Bist du mit den Fotos fertig?“
„Willst du es dir noch genauer ansehen?“
Seine Frage klang ganz harmlos und beiläufig, aber es war klar, was er meinte. O’Brien arbeitete schon lange genug mit ihr zusammen, um zu wissen, dass es bei ihr nicht auf das Sehen ankam, doch das sagte er natürlich nicht. Sensitive waren zwar bei der Polizei nicht verboten, aber es konnte durch sie zu Komplikationen kommen. Offiziell praktizierte die Behörde im Umgang mit diesen Dingen eine Politik des stillschweigenden Einverständnisses.
Dabei ging es nicht allein um Vorurteile. Nicht reproduzierbare Erkenntnisse waren vor Gericht als Beweismaterial nicht zulässig, und ein guter Strafverteidiger konnte die Zeugenaussage eines Polizeibeamten in Fetzen reißen, wenn den Ermittlungen auch nur ein Hauch des Übernatürlichen anhaftete.
Aber Cops waren in der Regel pragmatisch. Inoffiziell galt die Devise, dass man tat, was immer nötig war, um einen Übeltäter zu fassen, auch wenn man es unter der Hand tun musste. Und genau aus diesem Grund war Lily nun in diesem Elendsviertel und musste eine Leiche untersuchen, statt auf der Verlobungsparty ihrer Schwester die Annäherungsversuche von Henry Chen abzuwehren. Was wiederum bewies, dass man allem etwas Positives abgewinnen konnte, wenn man nur wollte. Lily sah O’Brien in die Augen und nickte.
„Mach nur“, sagte er und ging, während er an seiner Kamera herumhantierte, ein paar Schritte zur Seite, um sich zwischen sie und die Schaulustigen hinter dem Zaun zu stellen.
Er war zwar nicht stämmig genug, um den Leuten vollständig die Sicht zu versperren, aber er erschwerte es ihnen, genau zu erkennen, was sie tat. Dafür war Lily ihm dankbar. Sie stellte ihren Rucksack ab und kniete sich vor die Leiche, wobei sie darauf achtete, dass ihr Rock nicht zu weit hochrutschte. Dann ergriff sie die Hand des Toten.
Sie war schlaff. Noch keine Totenstarre. Wächserne Haut. Die Hand war blau angelaufen, und das Gesicht hatte eine leicht violette Färbung. Kaum Leichenflecken sichtbar. Alles nur Anhaltspunkte, aber sie deuteten darauf hin, dass der Mann noch nicht lange tot gewesen war, als die Leitstelle um 23:04 Uhr den anonymen Hinweis erhalten hatte.
Er hatte kurz geschnittene, saubere Nägel. Sie waren rechteckig und die Finger im Verhältnis zu den großen Handtellern eher kurz. Teilweise verheilte Kratzer auf den Fingerknöcheln … Er hatte sich offenbar ein paar Tage zuvor geprügelt. Die Nagelbetten waren blass. Keine Ringe an den Fingern.
Und keine Reaktion in ihrem Inneren.
Blut war in die Handfläche gelaufen und zu einem schwärzlich-braunen Fleck getrocknet, der kleine Risse bekam, als sie die Hand etwas drehte, um besser sehen zu können. In dem Blutfleck klebte ein Büschel melierte Haare. Lily fuhr mit den Fingern darüber.
Es war, als ob sie eine Wand berührte und die in ihr gespeicherte Wärme spürte, nachdem die Sonne längst untergegangen war. Oder wie das Gefühl, wenn man eine Bohrmaschine zur Seite legt, die Hände aber immer noch zu vibrieren scheinen.
Aber eigentlich waren es weder Wärme noch Vibration, die sie nun wahrnahm. Lily hatte noch kein Wort gefunden, um das unverkennbare Gefühl zu beschreiben, das sie verspürte, wenn sie etwas anfasste, dem Magie anhaftete.
Einmal hatte sie versucht, es ihrer Schwester zu erklären – Beth, der jüngeren, nicht ihrer perfekten älteren Schwester: Wenn alles, was man tagtäglich berührte, glatt und weich war, dann merkte man sofort, wenn man auf etwas Raues stieß – auch wenn es sich nur ein ganz kleines bisschen rau anfühlte wie an diesem Abend.
Nein, dachte Lily und legte die Hand des Toten vorsichtig ab. Das Labor würde über den Mörder tatsächlich nicht viel in Erfahrung bringen. Nicht mehr, als sie durch die Berührung der Haare erfahren hatte, die in der blutigen Hand des Opfers klebten. Sie erhob sich.
„Und? Hatte der Bestienjäger recht?“, fragte O’Brien. „Verschwende ich nur meine Zeit, wenn ich Proben sammle?“
Lily sah ihn scharf an. „Du wirst ganz vorschriftsmäßig vorgehen!“
Er verdrehte die Augen. „Ja doch! Als müsstest du mir sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe!“
„Tut mir leid.“ Sie atmete tief durch, um wieder klar denken zu können. „Ja, Phillips hatte recht. Das Opfer ist ein Mensch, aber der Mörder ist ein Werwolf.“
„Ein Lupus, meinst du.“ O’Brien wackelte mit den Augenbrauen. „Dazu haben wir doch ein Memo bekommen. Lupus ist der Singular, Lupi der Plural.“
„Wie auch immer, ein Mörder ist er auf jeden Fall …“ Enerviert von so viel Political Correctness zuckte sie mit den Schultern und warf den Neugierigen hinter dem Zaun einen Blick zu. „Dann werde ich dem Club Hell wohl heute noch einen Besuch abstatten.“
Fünfzehn Minuten später hatte der Assistent des Coroners das Opfer für tot erklärt, und Lily wusste, um wen es sich handelte: Carlos Fuentes, fünfundzwanzig. Die Adresse im Führerschein lautete: 4410 West Thomason, Apartment 33C. Phillips überprüfte die Angaben, und Lily machte sich daran, die hilfsbereiten Mitbürger hinter dem Zaun zu befragen.
Es waren sechs an der Zahl, vier Frauen und zwei Männer. Leder und Piercings schienen derzeit bei beiden Geschlechtern ziemlich angesagt zu sein – und Haut zu zeigen.
Die Frau, die sich gerade den Führerschein ansah, den Lily ihr in einer Plastikhülle hinhielt, trug eine lindgrüne Lederhose und ein Top aus zweieinhalb Zentimeter breiten Lederriemen, die sich über ihren Brüsten kreuzten. In ihrem blonden Haar prangten violette Strähnen. Im linken Ohr trug sie sieben Ringe, im rechten drei, im rechten Nasenflügel einen Rubinstecker und im Bauchnabel eine kleine Kreole.
Sie hieß Stacy Farquhar und hatte eine Piepsstimme wie ein kleines Mädchen. „Ich weiß, dass ich ihn schon mal gesehen habe, aber auf Führerscheinfotos sieht keiner so aus wie in Wirklichkeit.“
Ein knochendürrer Mann mit einem schwarzen Leder-Bodysuit schaute ihr über die Schulter. Das dunkelbraune Haar, glänzend und gepflegt, reichte ihm bis über die Schultern. Er trug einen Ohrring im linken Ohr, entweder einen Diamanten oder eine sehr gute Imitation. „Sieht wie Carlos Fuentes aus.“
„Carlos?“, fuhr die andere Frau auf, eine pummelige Weiße mit gefärbtem schwarzem Haar, das zu Dutzenden kleiner Zöpfchen geflochten war. Sie drängte nach vorn und schaute auf den Führerschein in Lilys Hand. „Oh Gott! Er ist es! Armer Carlos!“
„Sie kennen Carlos Fuentes, Madam?“, fragte Lily.
„Wir alle kennen ihn! Das heißt … er kommt gelegentlich in den Club.“ Sie sah die andere Frau beklommen an.
„Ach, um Himmels willen“, fuhr der hagere Mann auf, „das ist doch kein Geheimnis! Sie werden es sowieso herausfinden.“
„Weißt du, was du bist, Theo?“, entgegnete die pummelige Frau. „Du bist eifersüchtig. Total eifersüchtig!“
„Ich und eifersüchtig? Du bist doch diejenige, die …“
„Ich kann einfach nicht glauben, dass du ihn wirklich verpfeifen würdest!“, rief Stacy. „Du weißt doch, was die Cops dann mit ihm machen!“
Die pummelige Frau nickte. „Die haben den Lupi jahrhundertelang das Leben zur Hölle gemacht …“
„… völlig irre … Du hättest Rachel doch am liebsten etwas in ihren Drink getan, um dein Glück auch mal bei ihm zu versuchen!“
„Brutalität bei der Polizei ist kein Mythos. Erst vergangenes Jahr in New Hampshire …“
„… hast ihn doch letzten Dienstag total angeschmachtet. Das war nun wirklich allzu offensichtlich …“
„Bis vor Kurzem wurden sie noch auf offener Straße von den Cops erschossen – wenn du also glaubst, einem Lupus würde ein fairer Prozess gemacht …“
„Aber er wollte gar nichts von dir, nicht wahr?“
„Du bist doch nur neidisch, weil er nicht auf Männer steht!“
„Wer ist er?“, fragte Lily sanft.
Sie verstummten und wechselten schuldbewusste Blicke.
Einer der Männer – Franklin Booth, mittlere Statur, kahl rasierter Kopf, hautfarbene Lederweste über einem schwarzen Hemd und Jeans mit glänzenden Nieten an den Außennähten – warf seine Zigarette weg. „Arme Rachel!“
Lily sah ihn an. „Rachel?“
„Carlos’ Frau.“ Er seufzte. „Sie ist gerade im Club mit …“
„Franklin!“, unterbrach ihn die Pummelige.
„Süße, das nützt doch alles nichts“, sagte er leise. „Theo hat recht. Sie werden es herausfinden. Und eigentlich hat er ja ein Alibi. Ich meine, wir haben ihn doch alle dort gesehen, nicht wahr?“
Erleichtertes Gemurmel erhob sich, und Stacy beteuerte, dass er stundenlang dort gewesen sei. Lily wendete sich noch einmal an Booth. „Rachel Fuentes ist jetzt im Hell?“
„Das war sie jedenfalls, als wir gegangen sind.“
„Und mit wem war sie zusammen?“
Der dürre Mann lachte. „Nun, es gibt nur einen, der die Damenwelt derart in Aufregung versetzt. Und, wie ich zugeben muss, auch einige von uns Männern“, erklärte er und machte eine kleine Verbeugung vor der pummeligen Frau, um ihr in diesem Punkt recht zu geben. „Aber leider sind Lupi chronisch hetero.“
„Hat er vielleicht auch einen Namen?“
„Rule Turner, natürlich. Der Prinz pflegt den Club ab und an mit seiner Anwesenheit zu beehren.“ Der Dürre grinste. „Und kürzlich hat er Rachel mit noch weit mehr beehrt.“
Lily hatte Anweisung, Captain Randall anzurufen, sobald sie sich am Tatort einen ersten Eindruck verschafft hatte. Sie tat es auf dem Weg zum Hell.
Das Geklapper ihrer Absätze auf dem Gehsteig vermittelte ihr ein Gefühl von Einsamkeit, obwohl sie die Geräusche am Tatort noch hören konnte. Es musste an dem sonderbaren Nebel liegen, der völlig untypisch für San Diego war. Er hing in der Luft wie kalter Schweiß. Sie war froh, dass sie keine Brille trug. Sie wünschte nur, sie hätte auch keine Stöckelschuhe an. Falls sie hinter jemandem herrennen musste, waren sie eine Katastrophe.
Aber eigentlich hätte sie an diesem Abend ja auch frei gehabt. Sie tippte die Nummer des Captains in ihr Handy.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann es den letzten offiziell bestätigten Fall eines Mordes an einem Menschen durch einen Lupus gegeben hatte. In San Diego war so etwas jedenfalls nicht mehr vorgekommen, seit die Lupi durch die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts dem Gesetz – seinen Strafen wie auch seinem Schutz – unterstellt waren und nicht mehr erschossen wurden. Man musste kein Hellseher sein, um sich die Schlagzeilen des nächsten Tages auszumalen. Dieser Fall erhitzte alle Gemüter.
Lily war kein Greenhorn mehr, denn sie hatte schon lange bei der Sitte und im Morddezernat gearbeitet, bevor sie zum Detective befördert wurde, doch ihre Marke glänzte noch. Daher wollte sie es mit Gelassenheit ertragen, wenn sie diesen Fall an einen der dienstälteren Kollegen abgeben musste … nachdem sie sich im Hell umgehört hatte.
Randall hatte bereits auf ihren Anruf gewartet. Sie brauchte nicht lange, um ihre Erkenntnisse für ihn zusammenzufassen. „Nach dem Gespräch mit den Schaulustigen habe ich die Spur des Täters verfolgt. Die sichtbaren Hinweise verloren sich am westlichen Ende des Spielplatzes, aber ich bin noch ein Stück weitergekommen.“ Um genau zu sein, hatte sie Schuhe und Strümpfe ausgezogen und mit nackten Füßen die von der Magie hinterlassene Fährte erfühlt. Nun waren ihre Füße zwar schmutzig, aber es hatte geklappt. „Die Spur endete in einer Gasse zwischen Humstead Avenue und North Lee.“
„Weiter konnten Sie ihn nicht verfolgen?“
„Nein, Sir. Ich glaube, hier hat er sich verwandelt, zwischen zwei Müllcontainern.“ Die Spuren der Magie auf dem schmutzigen Asphalt waren sehr deutlich gewesen – ungewohnt, aber unverwechselbar. „In menschlicher Gestalt hinterlässt er nicht dieselben Spuren wie in Wolfsgestalt.“
„Hmmm. Haben Sie die Gasse abgeriegelt?“
„Ja, Sir. Die Leute von der Spurensicherung werden sie sich so schnell wie möglich vornehmen. Ich habe O’Brien die Verantwortung am Tatort übertragen.“
„Was zum Teufel soll das heißen? Wo sind Sie?“
„Vor dem Club Hell“, entgegnete Lily, was ein wenig gemogelt war, denn sie war noch einen halben Block von dem Lokal entfernt. „Die Frau des Opfers soll sich da aufhalten. Ich muss sie informieren. Und ich muss mit Rule Turner sprechen.“
Das schnarrende Geräusch an ihrem Ohr erkannte sie nur deshalb als Kichern, weil es ihr vertraut war. „Sie wollten mir wohl ein Schnippchen schlagen, Yu! Entspannen Sie sich! Ich habe Sie doch nicht aus Jux von der großen Party Ihrer Schwester weggeholt!“
„Dann ist es immer noch mein Fall?“
„Sie haben die Leitung. Es sei denn, Sie meinen, dass Sie nicht damit klarkommen.“
„Nein, Sir, das meine ich nicht. Aber ich habe nicht so viel Erfahrung wie einige andere.“
„Ihre … äh … besonderen Fähigkeiten erweisen sich unter Umständen als nützlich. Und das Letzte, was ich brauche, ist ein voreingenommenes Arschloch, das im Umgang mit dem Nokolaiprinzen einen auf Brutalinski macht. Er hat einen guten Draht zur Presse, und die wird uns ab jetzt permanent im Genick sitzen. Der Fall gehört also Ihnen. Aber wenn Sie nicht auf Anhieb ein Geständnis bekommen, werden Sie Unterstützung brauchen.“
Lily war völlig perplex und stimmte mechanisch zu.
„Sie können Meckle oder Brady haben.“
„Mech. Sergeant Meckle meine ich.“ Beide waren gute Cops, aber Brady war nicht besonders kollegial eingestellt – vor allem nicht gegenüber jungen Beamtinnen. „Sagen Sie ihm, er soll sich bei O’Brien einen Staubsauger und ein paar Bögen Papier abholen. Wenn die Lupi im Club kooperativ sind, überlassen sie mir vielleicht ihre Schuhe fürs Labor. Mech kann ihre Kleider absaugen.“
„Der Mörder hat aber keine Kleider getragen, als er Fuentes die Kehle herausgerissen hat.“
„Richtig, Sir. Mit dem Tatort können wir ihn nicht in Verbindung bringen, aber vielleicht mit der Gasse, in der er sich verwandelt hat. Er muss viel Blut von Fuentes an sich gehabt haben. Und selbst wenn durch die Verwandlung alle Spuren von seinem Körper entfernt wurden, müssten noch ein paar Blutstropfen auf der Straße zu finden sein. Vielleicht sind seine Schuhe damit in Berührung gekommen, nachdem er sich angezogen hat, oder mit irgendetwas anderem aus der Gasse. Vielleicht haften auch ein paar von seinen Haaren an seiner Kleidung – Wolfshaare meine ich.“
„Gute Idee. Ist einen Versuch wert. Ich werde Mech aus dem Bett klingeln und ihn rüberschicken. Und Sie sind bitte sehr vorsichtig im Umgang mit Turner! Rufen Sie mich an, falls es zu einer Festnahme kommen sollte. Ansonsten erwarte ich Sie morgen früh um neun in meinem Büro.“ Ein Klicken, dann das Amtszeichen.
Lily runzelte die Stirn und steckte ihr Handy in die dafür vorgesehene Tasche ihres Rucksacks. Falsche Bescheidenheit war nicht ihre Sache. Sie war ein guter Cop, ein guter Detective – aber sie war nicht der einzige gute Detective im Morddezernat. Die einzige Sensitive zwar, aber der Captain hätte auch von ihren Fähigkeiten profitieren können, ohne ihr die Leitung der Ermittlungen zu übertragen. Sie hatte noch nie so einen großen Fall.
Er dachte offenbar, sie sei der Herausforderung gewachsen, und sie wollte ihm beweisen, dass er recht hatte.
2
Der Nebel war dichter geworden. Der kleinste Windhauch hätte genügt, um Bewegung in die winzigen Wassertröpfchen zu bringen und den Dunst in Nieselregen zu verwandeln, aber es regte sich kein Lüftchen. Straßenlampen, Ampeln und Neonschilder waren von verschwommenen Lichtkränzen umrahmt.
Wie das Schild, zu dem Lily nun hochsah. Kleine rote Neonteufel tanzten um den Schriftzug „Club Hell“ und stachen mit Mistgabeln auf die Buchstaben ein.
„Echt kitschig“, murmelte sie. Das Schild kündete von einer Fünfzigerjahre-Verruchtheit, die im Vergleich zu den realen Schrecken dieses Viertels ziemlich harmlos wirkte. Wie lange gab es diesen Club eigentlich schon? „Ob das Absicht ist?“
„Wie bitte?“
Lily drehte sich zu dem jungen Mann um, der an sie herangetreten war: Officer Arturo Gonzales, Phillips’ Partner. Er war gut zwölf Zentimeter größer als sie und stämmig, aber fit wie jemand, der frisch vom Militärdienst kommt – und mit der Art von Pausbäckchen ausgestattet, in die ältere Damen gern kneifen. Sie hatte ihn vorgeschickt, damit er bis zu ihrem Eintreffen den Eingang des Clubs im Auge behielt. „Der Clubbesitzer muss einen ziemlich guten Umsatz machen, wenn er sich einen bewachten Parkplatz leisten kann. Waren Sie schon mal drin, Officer?“
„Nein, Madam.“
Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Sie kommen aus dem Süden, wie ich höre.“
„Nein, Madam. Ich bin aus dem Westen von Texas.“
„Klingt ziemlich südlich für mich.“
Er nickte mit ernster Miene. „Ist schon seltsam. Das meinen alle, die nicht aus Texas sind. Aber das ist wohl wie mit den Leuten aus Los Angeles. Sie sagen nie, dass sie von der Westküste oder aus Kalifornien kommen – sie sind einfach aus L.A.“
„Ich denke, das spricht für sich. Was wissen Sie über dasHell?“
Er grinste. „Das ist ein Werwolfschuppen. Da trifft man sie und ihre Groupies.“
„Die abenteuerlustigen Touristen nicht zu vergessen! Die schauen da auch gern mal rein.“ Sie sah ihn nachdenklich an. Aufgrund der sexuellen Gepflogenheiten der Lupi galt der Nachtclub als extrem lasterhaft und verkommen, und das machte ihn natürlich zu einem angesagten, beliebten Lokal. „Texas gehörte zu den Staaten mit Schießbefehl, nicht wahr?“
„Ja, Madam, bis zur Gesetzesänderung.“
„Nun, Kalifornien nicht. Lupi war es erlaubt, sich hier aufzuhalten, solange sie sich registrieren ließen.“ Sie waren die ersten Besucher des Clubs gewesen: registrierte Lupi, denen man Injektionen verabreichte, die die Verwandlung verhinderten und die von den Menschen für ungefährlich gehalten wurden.
„Ihre X-Einheiten haben sie getötet.“
„Nur wenn sie sich dauerhaft der Registrierung widersetzt haben oder wenn ein Gericht entschied, dass sie eindeutig eine Gefahr darstellten.“ Theoretisch zumindest. Das Bundesrecht hatte verlangt, dass alle Lupi registriert wurden – gewaltsam, falls nötig – und die Injektion erhielten. Und der Begriff „gewaltsam“ war ein weites Feld, wenn man es mit Kreaturen zu tun hatte, die sich selbst mit mehreren Ladungen Munition im Leib nicht davon abhalten ließen, jemandem die Kehle herauszureißen.
Die Lupi hatten sich in der Regel heftig gegen die Registrierung gesträubt.
„Ich rede jetzt mit den Leuten da drin“, sagte Lily. „Einige von ihnen werden Lupi sein. Sie sind jetzt Staatsbürger und haben dieselben Rechte wie alle anderen Bürger auch. Kommen Sie damit klar, oder muss ich mir jemand anderen holen?“
Gonzales dachte nach. Lily wusste nicht, ob sie entsetzt sein sollte, weil er so lange für die Entscheidung brauchte, oder eher beeindruckt von seiner Ehrlichkeit. Nach einer Weile nickte er. „Ich denke, es ist unsere Aufgabe, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, und nicht, darüber zu urteilen, ob sie richtig oder falsch sind.“
„Das denke ich auch.“ Lily ging die ersten Stufen hinunter. Der Eingang zum Hell befand sich selbstverständlich unter der Erde. Eine breite Treppe führte durch einen steinernen Schacht bis zum Kellergeschoss des Gebäudes. Das schuf eine nette Kerkeratmosphäre, fand Lily, auch wenn Gonzales in dem kalten blauen Licht aussah wie eine wandelnde Leiche.
Am Fuß der Treppe war eine einfache schwarze Metalltür, durch die Musik nach außen drang. Sie ließ sich mühelos öffnen.
Gerüche, Lärm, Farben – all das schlug Lily geballt entgegen. Buntes Scheinwerferlicht zuckte durch einen riesigen höhlenartigen Raum voller Tische, Leute, Stimmen und Musik. Die hohe Decke verlor sich in der Dunkelheit, die Musik war laut, und es roch nach Rauch.
Von Tabak oder Pot rührte er nicht her, auch nicht von verbranntem Holz oder irgendetwas anderem, das sie kannte. Es war auch eher ein Duft als richtiger Rauch; ein Aroma, das sie nicht einordnen konnte … Vielleicht stellte sich irgendjemand Schwefelgeruch so vor.
Den Song, der gerade zu Ende ging, erkannte Lily erst mit einiger Verspätung und grinste. „Hotel California.“ Das Management achtete offenbar darauf, seinem Motto treu zu bleiben.
„Willkommen in der Hölle!“, dröhnte eine tiefe Bassstimme zu ihrer Linken. „Durch das Portal zu treten hat seinen Preis!“
Sie schaute den kleinen Mann an, der auf einem Barhocker an einem Tisch mit einer altmodischen Registrierkasse saß. Er hatte einen großen Kopf und breite Schultern, und sein Anzug wirkte wie aus einem alten Schwarz-Weiß-Film, aber das war nicht der Grund, warum Lily ihn so anstarrte. Der Mann war von einer unglaublichen Hässlichkeit, die ebenso faszinierend war wie die atemberaubende Schönheit einiger weniger Menschen.
Seine Nase war lang und dünn und gebogen wie bei der bösen Hexe aus dem Märchen, so als sei sie geschmolzen und mitten im Heruntertropfen wieder erstarrt. Er hatte keine Haare, so gut wie kein Kinn und ganz schmale Lippen, und seine Haut hatte die gräuliche Farbe von Pilzen. Seine Füße waren so groß wie Lilys Hände und baumelten ein gutes Stück über dem Boden.
Sie blinzelte. „Ach, Sie nehmen Eintritt?“
„Zwanzig pro Kopf.“
„Das gilt nicht für mich. Ich bin Detective Yu“, erklärte sie, zog ihre Marke aus der Seitentasche ihres Rucksacks und hielt sie ihm hin. „Und Sie sind …?“
„Nennen Sie mich Max.“ Er beäugte die Marke misstrauisch. „Und was wollen Sie?“
„Ich will mit ein paar Clubgästen reden. Wie ich hörte, sind Rachel Fuentes und Rule Turner hier zu finden.“
„Wen interessiert das schon?“
„Sie sollten lieber mit mir zusammenarbeiten. Sind die beiden hier oder nicht?“
Er zuckte mit den Schultern. „Glaube schon.“
„Und seit wann ist Mr. Turner im Club?“
„Warum?“
„Weil ich hier der Cop bin und die Fragen stelle. Waren Sie den ganzen Abend an der Kasse?“
„Seit neun.“
„Wissen Sie, wie lange Turner schon hier ist?“
„Vielleicht.“
Mehr sagte er nicht, sondern starrte sie nur an. Sein Blick war irritierend, so bewegungslos wie bei einem Reptil. Lily kniff die Lippen zusammen. „Vielleicht sollte ich mit dem Besitzer oder dem Manager sprechen.“
„Einen Manager gibt es nicht, und der Besitzer bin ich.“ Er seufzte. „Also gut, seine grandiose Hoheit ist gegen Viertel nach neun, halb zehn gekommen, so um den Dreh. Die Fuentes war schon früher hier.“
Halb zehn. Ungefähr um diese Zeit war Carlos Fuentes ihrer Einschätzung nach getötet worden, aber auf diesem Gebiet war sie keine Expertin. „Wie viele Ausgänge gibt es?“
„Diesen hier und den Notausgang hinten.“ Er seufzte einmal mehr. „Ich hasse Cops.“
„Wen interessiert das schon?“
„Vielleicht sind Sie gar nicht so blöd, wie Sie aussehen“, entgegnete er, doch es klang eher pessimistisch – so als glaube er nicht so recht daran. „Schöne Möpse übrigens. Ich steh auf kleine. Lust auf einen Quickie?“
Lily fiel die Kinnlade herunter, und es juckte ihr in den Fingern, den kleinen Mistkerl zu würgen. „Lust, die nächsten Wochen in einer winzigen Zelle zu verbringen?“
„War doch nur ’ne Frage!“
„Bringen Sie mich zu Rachel Fuentes!“ Popcorn? Roch sie da etwa Popcorn? Das konnte doch wohl nicht wahr sein!
„Sie ist bei Turner.“
„Dann bringen Sie mich zu Turner.“
„Lesen Sie keine Zeitung? Weiß doch jeder, wie der aussieht!“
„Ich habe natürlich schon Fotos von ihm gesehen.“ Der Prinz der Nokolai war eine Art Star, der regelmäßig in Klatschspalten und Zeitschriften auftauchte und mit Schauspielerinnen, Models und ab und zu auch mit Politikern oder Großunternehmern zusammen fotografiert wurde. Er leistete Lobbyarbeit für seine Leute in Sacramento und Washington und feierte Partys mit den Berühmtheiten aus Hollywood. „Aber ich möchte trotzdem, dass Sie ihn mir zeigen. Und Rachel Fuentes.“
„Okay, okay. He, du!“ Er sprang von seinem Hocker und rief einen jungen Kellner mit nacktem Oberkörper zu sich: „Dumpfbacke! Komm rüber, und setz dich an die Kasse!“ Dann schaute er mürrisch zu Lily hoch. „Kommen Sie mit oder was?“, schnauzte er sie an und marschierte los.
Lily folgte ihm durch den überfüllten Raum, und Gonzales heftete sich an ihre Fersen.
Allmählich bekam sie Magenschmerzen. In ein paar Minuten musste sie Rachel Fuentes sagen, dass ihr Mann ermordet worden war. Möglicherweise hatte sich die Frau ein kleines außereheliches Abenteuer genehmigt, aber das musste nicht bedeuten, dass sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes ruhig und gefasst aufnehmen würde. Die Erfahrung hatte Lily gelehrt, dass die Liebe viele Erscheinungsformen hatte – und nicht alle waren nachvollziehbar, geschweige denn ungefährlich.
Wenigstens war die Witwe in diesem Fall nicht tatverdächtig. Unter Umständen war sie eine Helfershelferin, aber wer auch immer Carlos Fuentes getötet hatte, seine Frau war es sicher nicht gewesen. Weibliche Werwölfe gab es nicht.
Lilys kleiner, unwirscher Begleiter war stehen geblieben, um mit ein paar Clubgästen zu reden, die wissen wollten, wann die Varietévorstellung begann. Als er sich wieder in Bewegung setzte, fragte Lily ihn erneut nach seinem Namen. Sie brauchte ihn für ihren Bericht.
„Sie hören wohl schlecht, was? Max.“
„Haben Sie auch einen Nachnamen?“
„Smith.“
Smith? Dieser widerliche Schrumpfkopf hieß Smith?
Gonzales beugte sich zu ihr. „Er sieht wie ein Gnom aus“, flüsterte er ihr ins Ohr.
„Zu groß. Und zu fies. Und seit wann treiben sich Gnome unter Menschen herum?“
„Dann ist er eben ein irrer Gnom, der Steroide nimmt.“
Sie grinste. „Könnte sein, eine Art Psychopath. Aber Gnome dürfen keine Geschäftseigentümer sein.“ Das würde sich jedoch ändern, wenn der Gesetzentwurf zur Bürgerrechtsreform durchkam.
Es war ziemlich viel los im Club. Sie schlängelten sich durch ein Labyrinth aus kleinen schwarzen Tischen hindurch, an denen angeregt geplaudert wurde. Das Licht der Scheinwerfer schillerte nun nicht mehr in allen Regenbogenfarben, sondern in einem äußerst unhöllischen Rosarot. Wie Lily mit einem raschen Blick in die Höhe feststellte, waren die Spots an Schienen befestigt, die im Zickzack unter der Decke verliefen.
Auf den meisten Tischen brannten rote Kerzen. Eine runde Bühne, die gerade leer war, befand sich in der Mitte des großen Raumes, und an den Wänden züngelten Neonflammen. Zwei Wendeltreppen führten nach oben, ins Dunkle.
Lily bemerkte viele seltsame Frisuren und Aufsehen erregende Outfits, doch die meisten Gäste sahen aus wie ganz normale Clubhopper. Gonzales’ Uniform zog zahlreiche Blicke auf sich, als sie die Tanzfläche erreichten, die sich gerade zu leeren begann, weil die Musik aufgehört hatte.
Als die Menge sich zerstreute, konnte Lily sehen, wohin Max Smith sie führte. Ganz hinten, in der rechten Ecke und deutlich abgesetzt vom Rest des Raumes, standen drei größere Tische. Fünf Männer saßen dort … und sehr viele Frauen.
Die Männer hatten alle dunkle Haare, vermutlich waren sie Angloamerikaner. Einer von ihnen sah aus, als sei er nackt; die untere Hälfte seines Körpers war allerdings hinter dem Tisch verborgen. Vielleicht gehörte er zu den Kellnern, die alle jung und männlich und vom Nabel aufwärts unbekleidet waren. Die Frauen präsentierten eine bunte Mischung: Lily zählte drei Rothaarige, zwei Afroamerikanerinnen, drei Blondinen und vier Frauen mit braunem oder schwarzem Haar.
Sie hatte gerade die Tanzfläche überquert, als zwei der Frauen sich erhoben. Die kleinere sah nach einer Latina aus, doch vielleicht täuschte der erste Eindruck auch, denn das rosafarbene Licht war schmeichelhaft, aber nicht sehr hell. Das Haar reichte der Frau bis zum Gesäß, und sie hatte große Brüste, die das Oberteil ihres engen roten Kleides zu sprengen drohten. Sie beugte sich über den Mann, der in der Mitte saß und eine der Rothaarigen im Arm hielt, die sich lüstern an ihn schmiegte.
Er hob den Kopf, und Lily erhaschte einen Blick auf sein Gesicht, bevor die dunkle Mähne der Frau es verdeckte, als sie ihn leidenschaftlich küsste.
Rule Turner. Selbst in dem gedämpften Licht war er leicht zu erkennen.
Lily hatte bereits vermutet, dass es der Mann in der Mitte sein musste, der an diesem Tisch das Sagen hatte. Alle Gesichter waren ihm zugewendet. Die Stühle waren so gestellt, dass auch die anderen ihn sehen konnten. Und er war der Inbegriff von eleganter Lasterhaftigkeit: Er lümmelte locker-lässig auf seinem Stuhl herum, das schwarze Hemd fast bis zum Hosenbund aufgeknöpft, und küsste die eine Frau, während er die andere im Arm hielt.
Lily schürzte verächtlich die Lippen. „Mr. Smith!“, rief sie. Als Max nicht reagierte und einfach weiterging, lief sie rasch hinter ihm her und fasste ihn an der Schulter.
Und zog ihre Hand verblüfft wieder zurück. Sie hatte die Schwingungen sogar durch seinen Anzug gespürt. Manche Gnome, dachte sie, sind offenbar tatsächlich garstige kleine Perverslinge und kein bisschen scheu …
„Was ist?“, fuhr er auf und drehte sich zu ihr um.
„Ist das Rachel Fuentes?“ Sie widerstand dem Drang, sich die kribbelnde Hand zu reiben, und wies mit einem Nicken auf die Frau, die – nachdem sie Turner ausgiebig geküsst hatte – den Tisch zusammen mit ihrer Freundin verließ.
„Ja.“
Lily drehte sich zu Gonzales um. „Behalten Sie die Lady im Auge! Sie geht wahrscheinlich nur zur Toilette, aber wir wollen kein Risiko eingehen. Wenn sie den Club verlassen will, halten Sie sie fest. Sagen Sie ihr nicht, warum, und beantworten Sie keine Fragen. Bringen Sie sie einfach zu mir!“
Er nickte und verschwand.
„Die Männer an diesen Tischen, sind das alles Lupi?“, fragte sie Max.
„Die sind hier die Attraktion – aber ich lege auch eine ziemlich gute Show hin! Bleiben Sie noch ein bisschen hier, dann werden Sie es selbst sehen.“ Er zwinkerte ihr zu.
„Ich brauche einen ruhigen Ort, wo ich die Leute befragen kann.“
„Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Kunden belästigen!“
Sie studierte den unfreundlichen kleinen Mann – falls man ihn als solchen bezeichnen konnte. Betrachteten sich männliche Gnome als Männer? „Wollen Sie sich jedes Mal querstellen, wenn ich eine Bitte an Sie habe?“
„Sieht so aus.“ Er drehte sich um und marschierte davon.
Lily folgte ihm und bekam Rule Turner zum ersten Mal aus der Nähe zu sehen.
Ost- und westeuropäische Wurzeln, dachte sie angesichts seiner wohlgeformten Wangenknochen und der markanten, etwas krummen Nase. Tolle Zähne, ergänzte sie, als er über eine Bemerkung des Mannes grinste, der ihm gegenübersaß – und der ein halbwegs von seinen Ponyfransen verdecktes silbriges Zahlentattoo auf der Stirn trug, das verriet, dass er einmal registriert worden war. Und ziemlich schöne Augenbrauen, sagte Lily zu sich. Sie achtete auf Augenbrauen wie andere Leute auf Schultern oder Lippen, und die von Turner waren einzigartig: dunkle Balken, die den Winkel seiner leicht schräg stehenden Wangenknochen widerspiegelten.
Besagte Augenbrauen zog er nun fragend hoch, als er sie näher kommen sah. Dann schaute er ihr in die Augen – und ihr Verstand setzte aus.
Hä?, dachte sie eine Sekunde später. Was war das denn?
„… Zunge wieder eingeholt hast“, sagte Max gerade. „Ich hab hier ’ne Frau für dich. Allerdings behauptet sie von sich, Detective zu sein.“ Er fügte noch etwas in einer Sprache hinzu, die Lily nicht verstand. Einer der Männer lachte.
Vielleicht war ihr Blutzuckerspiegel abgesackt? Aber ihr war nicht schwindelig, und sie drohte auch nicht umzukippen. Sie hatte einfach nur … ein Blackout gehabt.
„Ignorieren Sie Max!“, sagte der barbusige Mann. „Er ist einfach unausstehlich. Aber dafür kann er nichts – es wurde ihm in die Wiege gelegt.“
Lily sah ihn sich genauer an. Er war schlank, hatte zerzaustes zimtfarbenes Haar und das perfekteste Gesicht, das sie je bei einem Mann oder einer Frau gesehen hatte. Ganz zu schweigen von seinem fantastischen Körper … von dem sie eine ganze Menge sehen konnte, obwohl gewisse Einzelheiten unter dem Tisch verborgen waren.
Sie blinzelte irritiert. „Sie sind nackt.“
„Nicht ganz, meine Liebe. String-Tanga. Max soll doch keinen Ärger bekommen.“
Es sagte eine Menge über Turners Präsenz aus, dass ihr die Schönheit dieses fast nackten Adonis erst jetzt aufgefallen war. „Und Ihr Name ist?“
„Cullen. Kommen Sie, setzen Sie sich, Süße!“ Er klopfte auf seine Oberschenkel und schien zu erwarten, dass sie sich auf seinen Schoß plumpsen ließ. „Rule braucht nicht noch mehr Frauen.“
„Aber du, hm?“, gab Turner milde zurück. Seine Stimme klang voll und sonor und ließ Lily an geschmolzene Schokolade denken. Kein Registrierungstattoo, stellte sie fest. „Um gleich zur Sache zu kommen: Ist das ein offizieller Besuch?“
„Ich muss Ihnen einige Fragen stellen, Mr. Turner. Ich bin Detective Yu“, entgegnete Lily und zeigte erneut ihre Marke vor.
Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf. „Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung“, raunte er ihr zu, und es klang ziemlich anzüglich. „Nennen Sie mich Rule.“
Vergiss es!, dachte sie. „Kennen Sie Carlos Fuentes?“
Eine der Frauen lachte auf, tat aber gleich so, als müsse sie husten. Andere grinsten. „Wir sind miteinander bekannt“, sagte Turner ungerührt. „Ich habe mich in letzter Zeit öfter mit seiner Frau Rachel getroffen.“
Was für ein ehrlicher Bursche, dachte Lily. „Leben die beiden getrennt?“
„Nein, sie sind ziemlich glücklich miteinander.“
„Nun, um ‚treffen‘ mal in einem weniger zweideutigen Sinn zu verwenden: Haben Sie Carlos heute Abend schon getroffen?“
„Nein.“ Seine Augenbrauen gingen nach oben, und er blickte in die Runde. „Jemand von euch vielleicht?“ Wie aus dem Gemurmel und Kopfschütteln zu schließen war, hatte niemand Fuentes gesehen. Max ließ sich sogar zu der Feststellung hinreißen, dass Fuentes den ganzen Abend nicht im Club gewesen war.
Turner sah Lily an. „Um was geht es denn überhaupt?“
„Seit wann sind Sie denn schon hier?“
Er trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Ein Weilchen spiele ich noch mit, aber dann will ich auch ein paar Antworten haben. Ich bin kurz nach neun gekommen.“
„Und seitdem haben Sie den Club nicht mehr verlassen?“
„Ganz richtig. Ich glaube, ich habe genug Zeugen, die das bestätigen können.“
Drei der Frauen meldeten sich gleichzeitig zu Wort. „Moment bitte“, sagte Lily und stellte ihren Rucksack ab, um ihr Notizbuch herauszuholen. „Ich brauche Ihre Namen. Sie zuerst“, sagte sie zu der großen dunkelhäutigen Frau, die am nächsten bei ihr stand.
Die sah sie erschrocken an. „Muss das wirklich sein? Ich will nicht, dass mein Name in der Presse auftaucht.“
„Ich habe keinen Einfluss darauf, was die Zeitungen drucken, und es muss wirklich sein.“
Die Rothaarige an Turners Seite kicherte. „Komm schon, Bet, du sagst doch immer, es sei dir egal, was dein Mann denkt.“
„Mein Ex-Mann, ab morgen“, entgegnete die Farbige patzig. „Und er kann mir gestohlen bleiben! Seinetwegen mache ich mir keine Sorgen, es geht eher um die Partner der Sozietät. Liberal kann man sie nicht gerade nennen.“
„Alle Anwaltskanzleien sind konservativ. Das liegt in der Natur der Sache.“ Die Rothaarige richtete sich auf. Sie hatte ein faszinierendes Katzengesicht: Von der breiten Stirn lief es zum Kinn spitz zu. Ihr Haar war rappelkurz, und an ihren Ohren baumelte Gold. Sie trug kein Leder, doch sie zeigte in ihrem engen weißen Top jede Menge cremefarbene Haut, an der man erkannte, dass sie eine echte Rote war. „Ich bezeuge gern, dass Rule seit ungefähr zwanzig nach neun hier ist, Detective Yu.“
Dass sie ihren Nachnamen so auffällig betonte, ließ Lily aufhorchen. „Und Ihr Name ist?“
„Ginger.“ Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. „Ginger Harris.“
Lily erstarrte.
„Du hast mich nicht wiedererkannt, was? Na ja, ist ja auch schon lange her. Unglaublich! Aus dir ist wahrhaftig ein Cop geworden …“ Sie lachte schrill und klirrend. „Und aus mir eine Schlampe!“
Turner sagte irgendetwas zu Ginger, aber Lily konnte es nicht verstehen.
Wie war es nur möglich, dass sie Gingers Augen nicht wiedererkannt hatte? Die Farbe, die Größe, die Form … Sie standen weit auseinander und lagen so tief, dass die Oberlider beinahe verschwanden, aber sie leuchteten bernsteinfarben wie das Glas einer Bierflasche, die man in die Sonne hält. Die Augenbrauen waren ebenso wie die Wimpern kaum zu sehen.
Es war in der Tat sehr lange her. Lily hatte diese Augen seit kurz vor ihrem siebten Geburtstag nicht mehr gesehen … außer in den Albträumen, die sie gelegentlich heimsuchten. Ginger hatte genau die gleichen Augen wie ihre Schwester. „Du trägst Kontaktlinsen“, sagte Lily perplex.
„Nee, nee, Laserchirurgie. Du hast dich kaum verändert, abgesehen davon, dass du ein paar Zentimeter gewachsen bist. Du bist immer noch der süße kleine Tugendbold von früher!“
Lily hätte Ginger gern gefragt, ob ihre Welt nur aus Schlampen und Tugendbolden bestand. Und sie hätte sie gern nach ihren Eltern und ihrem Bruder gefragt. Aber ein Toter war gerade auf dem Weg zur Leichenhalle. Jetzt war sie Detective Yu, nicht Lily. „Ich brauche deine Adresse.“
„Wenn du dich mit mir zum Lunch verabreden willst, Schätzchen, gebe ich dir lieber meine Handynummer. Zu Hause erreicht man mich nur selten.“
„Ich brauche deine Adresse für meinen Bericht.“
Ginger zog eine Schnute. „Alles streng dienstlich, was? Also gut, meine Adresse ist 22129 Thornton, Apartment 133.“
„Und damit haben wir unsere Bereitschaft, mit der Polizei zu kooperieren, ausreichend unter Beweis gestellt“, schaltete Turner sich ein. „Jetzt wüsste ich gern, um was es eigentlich geht.“
Lily sah ihm in die Augen. Nichts geschah.
Idiotin! Hatte sie wirklich gedacht, es würde etwas passieren? Es war der Blutzucker gewesen, sonst nichts. Sie hielt Turners Blick einen Moment lang stand, um zu beweisen, dass sie dazu in der Lage war … und verspürte tief in ihrem Bauch ein Ziehen, ein deutliches Zeichen von aufkeimender Lust. Es war unverkennbar. Und äußerst ärgerlich.
„Es geht um Mord“, sagte sie und hoffte, dass ihre Miene genauso ungerührt war wie seine. „Ich ermittle in einem Mordfall.“
Alle zeigten irgendeine Reaktion, nur Turner nicht. Er bewegte sich keinen Millimeter. Vielmehr schien er rings um sich eine Art Kraftfeld aus Ruhe aufzubauen, und diese Ruhe übertrug sich auf die anderen und ließ sie nacheinander verstummen. Er sagte nur ein Wort: „Wer?“
„Carlos Fuentes.“
„Jesus Maria!“, rief einer der Männer aus. „Oh nein, arme Rachel!“, ertönte es aus der Frauenecke. Und der nackte Adonis wirkte einen winzigen Augenblick lang ausgesprochen erleichtert.
„Seien Sie nett zu Rachel“, sagte Turner unvermittelt, erhob sich und ging ihr um den Tisch herum entgegen.
Lily drehte sich um. Rachel Fuentes kehrte zurück.
Von Weitem hatte Lily nur ihre großen Brüste und ihr herrliches Haar gesehen. Aus der Nähe jedoch … Lily blinzelte überrascht.
Den Klatschspalten zufolge hatte Turner Affären mit den schönsten Frauen des Landes gehabt. Rachel Fuentes gehörte nicht zu ihnen.
Sie war jung, nicht viel älter als zwanzig. Und ihr Haar war in der Tat prachtvoll, ihre Oberweite beeindruckend, aber alles andere an ihr war äußerst durchschnittlich. Sie hatte gut sieben Kilo zu viel drauf, und zwar an den falschen Stellen. Ihr Gesicht war schmal, ihre Nase lang und der Nasenrücken so hoch, dass es aussah, als stünden ihre Augen zu dicht beieinander. Trotzdem waren diese Augen das Beste an ihrem Gesicht: Sie waren groß, dunkel und strahlend.
Sie sah glücklich aus. „Na, hast du mich vermisst?“, fragte sie, als Turner auf sie zukam, und schlang die Arme um seinen Hals.
„Da ist eine Polizistin, die mit dir sprechen will“, sagte er sanft. „Sie hat schlechte Nachrichten, querida.“
Der glückliche Ausdruck wich aus Rachels Gesicht, die Farbe ebenfalls. Lily trat vor. Es gab keine schonende Methode, um jemandem eine solche Nachricht zu überbringen. „Es tut mir sehr leid, Ms. Fuentes. Ihr Mann wurde heute Abend ermordet.“
„Ermordet?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Sie müssen sich irren. Er ist in der Kirche bei der Probe. Er ist Sänger, wissen Sie? Er hat eine wunderschöne Stimme. Er …“ Ihr Gesicht verzog sich. „S-sie müssen sich irren.“
Lily setzte sie so behutsam wie möglich über das Nötigste in Kenntnis: Tatort und Todesart, wie der Tote mit Hilfe des Führerscheins hatte identifiziert werden können und was von seinem Gesicht übrig war.
Und dass er von einem Wolf getötet worden war.
Rachel Fuentes erschauderte. Dann begann sie zu weinen. Lily sah Turner kurz in die Augen. Rachel schien sich der Ironie, dass sie sich von ihrem Lover über den Tod ihres Mannes hinwegtrösten ließ, nicht bewusst zu sein. Rule Turner allerdings schon.
3
Vier Stunden später war der Club leer. Gäste und Cops waren gegangen. In der Luft hing ein diffuses Bouquet aus allen möglichen Gerüchen, die Rule in seiner menschlichen Gestalt nicht einordnen konnte – Alkohol, Früchte, Rauch, Schweiß, Menschen. Dazu noch dieser verdammte Weihrauch, den Max so liebte und als Schwefelersatz verwendete.
Und sie. Sie war bereits vor einer Stunde gegangen, doch ihr Duft war noch da.
Vielleicht bildete er sich das aber auch nur ein. Rule seufzte, setzte sich wieder auf seinen Stammplatz und tippte eine Nummer in sein Handy, die er besser kannte als seine eigene. Max und Cullen hatten ihn allein gelassen und tranken etwas an der Bar.
Nach neunmaligem Läuten meldete sich eine verschlafene weibliche Stimme: „Ich hoffe, es ist wichtig!“
„Ich muss mit dem Rho sprechen, Nettie.“
„Ich sage ihm, dass er dich anrufen soll – wenn er wach wird. Er ist jetzt zwar im Normalschlaf, aber den braucht er auch!“
„Du hast mich missverstanden. Ich will nicht mit meinem Vater sprechen. Der Lu Nuncio braucht den Rat seines Rho.“
Sie schwieg einen Moment lang. „Gott, das kannst du wirklich gut! Zu gut für meinen Seelenfrieden! Ich bringe ihm das Telefon. Aber wenn er einen Rückschlag erleidet, ziehe ich dir das Fell über die Ohren!“
„Ich hoffe, ich habe dann ein Fell, das du mir über die Ohren ziehen kannst.“
Sie murmelte etwas Abfälliges über Lupi, dann hörte er ihre Schritte, dann die Stimme seines ältesten Bruders. Benedict war rechtzeitig von seinem Berg heruntergekommen, um dem Vater das Leben zu retten, und er war geblieben, um über ihn zu wachen.
Einen Augenblick später kam sein Vater ans Telefon. „Ja?“ Isens raue Bassstimme klang trotz seines geschwächten Zustands kräftig. Aber immerhin hatte er ja noch seine beiden Lungenflügel.
„Der Ehemann einer Frau, mit der ich eine Affäre habe, wurde heute Abend getötet. Die Polizei glaubt, es war ein Lupus.“
Es gab eine lange Pause. „Du wurdest nicht verhaftet?“
„Ich zähle natürlich zu den Verdächtigen. Wie jeder andere Lupus auch, der hier im Club war. Aber ich war sehr kooperativ.“ Er warf einen spöttischen Blick auf seine nackten Füße. „Wir mussten uns ausziehen.“
„Was?“
„Sie sind sehr respektvoll mit uns umgegangen.“ Und es hatte Spaß gemacht, den Gesichtsausdruck der hinreißenden Polizistin zu sehen, als er ihrer Aufforderung schneller gefolgt war als gewünscht und direkt vor ihr den Reißverschluss seiner Hose geöffnet hatte. Sie hatte ihn natürlich zur Ordnung gerufen … aber ein Teil von ihr hätte gern anders gehandelt.
Und das hatte ihr nicht gefallen. „Ich wurde zur Männertoilette geführt, wo ich mich auf einen Bogen weißes Papier stellen und ausziehen musste. Ein Sergeant hat meine Klamotten dann gründlich durchsucht.“
„Wonach?“
„Nach Beweismaterial, nehme ich an. Allerdings weiß ich nicht, was sie zu finden gedachten – der Mörder soll doch in Wolfsgestalt gewesen sein. Aber Detective Yu ist nicht dumm. Die Cops müssen etwas in der Hand haben, von dem sie glauben, eine Verbindung zwischen einem von uns und dem Tatort herstellen zu können. Bei dem es sich übrigens um einen Spielplatz hier in der Nähe handelt.“
„Was für einer ist er?“
„Sie.“ Rule nahm sich einen Moment Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, und filterte dann das Persönliche heraus. „Sie ist clever. Entschlossen. Wahrscheinlich ehrgeizig. Sie mag mich zwar nicht besonders, aber sie hat mich noch nicht als schuldig abgestempelt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass mein Alibi nicht den Zeitraum abdeckt, in dem Fuentes getötet wurde.“
„Welches Alibi?“
„Ich habe mehrere Zeugen, die bestätigen können, dass ich ab halb zehn im Club war, darunter auch ein paar Menschen, was durchaus hilfreich ist. Aber ab dem späten Nachmittag war ich allein, bis ich dann ausgegangen bin.“
„Zu dumm. Ich kann dir natürlich problemlos Zeugen für diese Zeit besorgen, aber das sind alles Lupi. Cops und Geschworene trauen der Zeugenaussage eines Lupus nicht.“
Rule grinste. „Vielleicht nicht ganz grundlos.“
Isen kicherte. „Ja, vielleicht. Okay, du wirst Folgendes tun: Zuerst findest du heraus, ob der Täter tatsächlich ein Lupus war. Wäre nicht das erste Mal, dass jemand versucht, uns zu Sündenböcken zu machen.“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Ich habe mit einem Reporter gesprochen, der bereit ist, Informationen auszutauschen, aber er hat noch nichts. Aber wenn man bedenkt, was Cullen uns gesagt hat …“
„Was nicht unbedingt stimmen muss!“
„Er hatte recht, was den Angriff auf dich betrifft.“
„Aber seine Warnung kam zu spät, nicht wahr? Wenn er mich von seinen ehrlichen Absichten überzeugen wollte … Beruhige dich, Junge! Ich kann praktisch durchs Telefon riechen, wie sehr du dich aufregst. Ich weiß, er ist dein Freund, und ich ziehe nicht in Zweifel, was er gesagt hat. Aber ich kaufe es ihm auch nicht so ohne Weiteres alles ab. Er ist ein Clanloser.“
„Aber kein Geächteter.“
„Ein Einzelgänger ist per Definition nicht ganz dicht.“
Dem hatte Rule nichts entgegenzusetzen. „Wir wissen, dass etwas im Busch ist.“
„Aber wir wissen nicht, was – und wer dahintersteckt.“ Isen klang erschöpft. „Alles, was wir haben, sind Vermutungen. Ich brauche Fakten. Wahrscheinlich werden die Cops über welche stolpern. Ich muss wissen, was sie in Erfahrung bringen, und du musst zusehen, dass du nicht im Gefängnis landest. Das Einfachste wäre, du würdest die hübsche Polizistin verführen.“
Rule fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten. Es dauerte einen Moment, bis er wieder Luft bekam, und dann fiel ihm nichts Besseres ein als: „Wie kommst du darauf, dass sie hübsch ist?“
Wieder ein tiefes, raues Kichern. „Vor anderen magst du ja so einiges verbergen können, aber ich bin nicht nur dein Rho, sondern auch dein Vater. Glaubst du, ich merke es nicht, wenn du eine Frau attraktiv findest?“
Isen hatte noch mehr Fragen und Anweisungen, aber Rule war nur halb bei der Sache. Seine andere Hälfte flehte ihn an, Isen zu sagen, dass er Lily Yu nicht aus einem solchen Grund verführen konnte und dass sie … dass sie vielleicht … Aber er wusste es nicht genau. Eine Ahnung war noch kein Beweis.
„Wie dem auch sei“, sagte er schließlich, „es wäre hilfreich, wenn ich ihr von unserem Verdacht erzählen könnte.“
„Du erzählst ihr gar nichts!“, fuhr Isen auf. „Sie würde dir nicht glauben. Es würde dir nur erschweren, ihr Vertrauen zu gewinnen.“
„Du klingst, als hätte Nettie dich doch zu früh aus dem Heilschlaf geholt.“
„Ihr denkt alle, ihr wüsstet mehr über meinen Körper als ich …“, entgegnete Isen. „Ja, verdammt“, sagte er zu Nettie, deren Stimme im Hintergrund zu hören war. „Ich weiß, dass du einen Wisch hast, der bestätigt, dass du Bescheid weißt. Glaubst du, davon lasse ich mich beeindrucken?“
Rule konnte sich gut vorstellen, wie Nettie am Bett ihres Patienten stand und die Arme vor der Brust verschränkte. Er hörte sie sagen, sie wisse sehr viel mehr über Isens Körper als er selbst und dass er froh darüber sein könne, weil er nämlich ein Idiot sei.
„Wir sind doch nur besorgt um dich, weil du deine Grenzen nicht zu kennen scheinst“, versuchte Rule ihn zu besänftigen. Der aufbrausende Ton seines Vaters beunruhigte ihn, denn er war eigentlich kein Querulant. „Abgesehen davon habe ich Angst vor Nettie. Sie hat mich aufs Übelste beschimpft!“
Sein Vater kicherte, wenn auch nur leise. „Du solltest auch Angst vor ihr haben! Was für ein Drachen … Nein, das lässt du bleiben“, sagte Isen, wobei Letzteres an Nettie gerichtet war, nicht an seinen Sohn.
Bei dem nachfolgenden Streit hörte Rule die Argumente beider Seiten. Nettie gewann. Ein paar Minuten später kam sie ans Telefon. „Ich habe ihn wieder in Schlaf versetzt. Und diesmal lasse ich ihn vierundzwanzig Stunden liegen.“
Rule fuhr sich mit der Hand über den Kopf. „Dann ist er ja hinterher völlig daneben. Aber wenn es nötig ist …“
„Rule, du hast seine Verletzungen doch gesehen! Es gibt zwar nichts, was er nicht heilen kann, doch bevor nicht noch mehr nachgewachsen und wieder in Ordnung ist, kann man seinen Zustand noch längst nicht stabil nennen. Aber vielleicht hast du es ja eilig, den Job deines Vaters zu übernehmen …“
Rule knurrte.
„Sei doch nicht so empfindlich! Es ist nun mal eine Tatsache, dass du der rechtmäßige Erbe bist. Wenn der Rho stirbt, übernimmst du seine Nachfolge. Und dann werden sich einige fragen, ob du es darauf angelegt hast.“
„Du wirfst mir nur ein paar knorpelige Brocken hin – viel zum Kauen, wenig Fleisch. Jetzt mal ehrlich: Wie steht es wirklich um ihn?“
„Er macht sich keine Illusionen. Und er ist besorgt. Und älter, als ihm lieb ist. Die Schmerzen sind zu viel für ihn, und er heilt nicht mehr so schnell wie früher. Er will nicht ins Krankenhaus – nein, das musst du mir nicht erklären! Ich verstehe das. Aber wenn er sich nicht von der modernen Technologie unter die Arme greifen lassen will, während seine Verletzungen heilen, dann muss er eben viel Zeit im Heilschlaf verbringen.“
Rule unterdrückte seine Angst. Einfach nur der Sohn seines Vaters zu sein war ihm jetzt nicht erlaubt. „Wenn es sein muss, dann muss es eben sein.“
„Ich hätte ihn gar nicht so früh aus dem Schlaf holen dürfen“, erklärte Nettie. „Aber er hat mich ausgetrickst. Er hatte seine Vitalfunktionen so gut unter Kontrolle, dass … Ach, egal. Mach dir keine Sorgen! Dein Vater wird wieder gesund, und bis es so weit ist, regelt der Rat alles, was so anfällt.“
Verdammt, Rule wünschte, er könnte zu Hause bei seinem Vater sein. Die Regeln untersagten ihm zwar, sich in die Nähe seines Vaters zu begeben, solange er genas, doch das Clangut an sich war ihm eigentlich nicht verboten. Dass er es trotzdem nicht aufsuchen konnte, daran war sein älterer Bruder schuld. Ob Benedict dem Lu Nuncio tatsächlich den Zugang zum Clangut verwehren konnte, war theoretisch anzweifelbar, aber in der Praxis sah es anders aus. In Bezug auf Sicherheitsfragen legte sich niemand mit Benedict an. Es legte sich auch sonst kaum jemand mit Benedict an. Punkt.
Zumindest wusste Rule, dass der Rho in Sicherheit war. Abgesehen von einem Angriff der U.S. Air Force konnte nichts und niemand seinem Vater etwas anhaben, solange Benedict da war. „Gib Toby einen Kuss von mir“, sagte er zu Nettie. „Ich melde mich wieder.“ Er drückte die Trenntaste und schob das Handy in seine Jackentasche.
Dann blieb er eine Weile regungslos sitzen. Er hatte Angst. Um seinen Vater, um seine Leute und um sich selbst. Der Anführer der Nokolai war zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt handlungsunfähig gemacht worden.
Aber genau darauf hatten es Isens Angreifer natürlich angelegt. Rule stand auf und ging, angelockt von einem wunderbaren Duft, zur Bar. „Ah, mein Kaffee ist fertig!“
„Ich begreife nicht, wie du so etwas trinken kannst“, sagte Max.
Cullen grinste und schob einen Becher über den Tresen, in dem sich Kaffee aus Rules privatem Kaffeebohnenvorrat befand.
„Alles eine Frage des Geschmacks.“ Er konnte seine Schultern lockern. Er konnte seinen Gesichtsausdruck, seine Stimme und bis zu einem gewissen Grad auch seinen Geruch kontrollieren. Aber er konnte nichts gegen die Nervosität tun, die in ihm aufstieg und die ihn so rappelig machte wie einen Chihuahua auf Koffein. „Der Laden ist wirklich die Hölle, wenn das Licht an ist“, bemerkte er und setzte sich auf einen Barhocker.
Max stellte seinen Becher ab – in dem sich irischer Whiskey und kein Kaffee befand – und hüpfte auf den Hocker neben Rule. „Das ist doch genau der Punkt!“
„Aber das hier ist eher wie die Hölle am Morgen danach. Erinnert mich an den Jahrmarkt, wenn es dunkel wird und Licht und Musik den billigen Kitsch mysteriös und geheimnisvoll erscheinen lassen.“
„Es ist, verdammt noch mal, fünf Uhr in der Frühe – was erwartest du? Und erzähl mir bloß nichts von Jahrmärkten! Das weckt unangenehme Erinnerungen an meine Jahre in der Kuriositätenshow.“
„Du warst mal in einer Kuriositätenshow?“, fragte Cullen, der auf der anderen Seite des Tresens geblieben war. Er war wieder einmal ziemlich unruhig und spielte mit allem herum, was nicht niet- und nagelfest war. „War das vor oder nach dem Krieg?“