9,99 €
Für Jola geht ein Traum in Erfüllung, als sie den weißen Hengst endlich reiten darf. Sie hofft, dass ihr die tiefe Verbindung zu ihm helfen kann, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Denn Katies Großvater Max schweigt eisern. Woher kennt er den Hengst? Und warum nennt er ihn Wolkenherz? Jola und Katie sind sich sicher: Sie müssen ihn mit dem Pferd zusammenbringen, um ihn aus der Reserve zu locken. Aber alle ihre Versuche scheitern. Bis es auf dem Frühjahrsturnier beim Ginsterhof zu einem gefährlichen Zwischenfall kommt, der alles verändert …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 350
Band 1: Die Spur des weißen Pferdes
Band 2: Eine Fährte im Sturm
Band 3: Schatten im Wind
Band 4: Ein Schimmern am Horizont
M wie …
Liebe auf den zweiten Blick
Geisterreiter
Tränenträume
Lotte 1945
Zweibrecher
Ausflug ins Geisterland
Adrenalinisch
Alte Leute, neue Geschichten
See my Me
Lotte 1946
Übung und der Meister
Vollmondschein
Der kleine Tag
Heimlichreiten
Umplanungen
Lotte 1947
Streckenpfosten
Blutbilder
Pferdevergangenheit
Umgedingt
Annas Schatten
Lotte 1949
Um Haaresbreite
Explosionsgefahr
Flüsterstaub
Wie du mir …
Lotte 1950
Der große Tag
M wie Mut
Sturzversunken
Die Kraft der Gedanken
Sing my Song
Lotte 1955
Schatten im Wind
H2Oooh
Ein Windhauch fuhr durch die weiße Mähne und Wolkenherz riss seinen Kopf hoch. Jola packte den Strick fester und legte ihre Hand auf seine Brust.
»Ruhig. Ist ja gut. Ich weiß schon.«
Katie drehte sich zu ihr um. »Soll ich ihn lieber halten?«
»Nein, nein, es geht schon. Er ist eben aufgeregt.«
»Okay. Bereit?« Katie wandte sich wieder der Tür zu. Der Tür zum Anbau, durch die Jola ein Dutzend Mal am Tag ein- und ausspazierte, ohne Herzklopfen dabei zu haben oder feuchtkalte Hände.
Sie atmete tief ein und wieder aus, straffte die Schultern und nickte. »Bereit.«
»Dann los.« Katie hopste die zwei Stufen hoch, schloss die Tür auf, trat über die Schwelle und blieb im Flur stehen. Geradeaus ging es in die Wohnung, in der Jola mit ihrem Vater hauste. Aber dorthin wollten sie nicht, sondern nach nebenan – zur Wohnung von Katies Großvater.
Katie zappelte von einem Fuß auf den anderen, dann drehte sie sich noch mal zu Jola um. »Und was, wenn er wieder nicht mit uns reden will?«
»Er muss mit uns reden. Diesmal muss er einfach!«
Sie schauten sich an, und dann guckten sie beide auf den Hengst, der jetzt nervös mit den Ohren zuckte und ein leises Brummen ausstieß. Jetzt macht schon. Katie straffte die Schultern, trat an die Tür und klopfte schnell und laut dagegen.
Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah. Minuten. Dann – endlich – hörten sie schlurfende Schritte. Die Tür öffnete sich einen Spalt und Katies Großvater streckte verschlafen den Kopf heraus.
»Ach, du bist es.«
»Ja – ich!« Katie räusperte sich, als müsste sie mit einem besonders strengen Lehrer reden. »Hab ich dich geweckt?«
»Nein.« Er schmunzelte und rieb sich über das verstrubbelte Haar. Ganz und gar grau war es, aber immer noch dicht und wellig, wie das von Helen. »Nur geträumt. Komm rein, Kleines!«
Katie machte einen Schritt zur Seite und gab den Blick durch die Tür frei. Wieder spürte Jola einen kalten Hauch im Nacken, fast wie … Geisteratem. Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken hinab, doch genau in dem Moment drängte der Hengst los und zog an ihr vorbei. Die Stufen waren kein Problem für ihn, und bevor Jola reagieren konnte, hatte er sich schon unter dem Sturz durchgedrückt und stand mit seinem halben Körper im Hausflur.
»He, was machst – Mann, Wolkenherz, das geht nicht, raus mit dir, echt!« Katie stemmte sich gegen die Brust des Hengstes und versuchte, ihn rückwärts aus dem Flur zu schieben. Jola griff den Strick fester und zog ebenfalls, so fest sie konnte. Zuerst schien es aussichtslos, sie beide gegen das so viel stärkere Tier – aber dann gab Wolkenherz plötzlich nach und wich zurück, als hätte ihm jemand einen unhörbaren Befehl zugeflüstert. Mit hängendem Kopf stand er neben Jola und lehnte sich gegen ihre Schulter.
»Opa, wir wollten mit dir über …«
»Tut mir leid, Kleines.« Katies Großvater schloss die Tür, bis nur noch seine Nasenspitze rausguckte. »Aber ich bin müde. Ich muss mich hinlegen. Mein Herz … du weißt schon.«
»Aber …« Katie schaute Hilfe suchend zu Jola, dann drückte sie sich schnell gegen die Tür, ehe ihr Großvater sie zuschlagen konnte. »Nur eine Frage, bitte, Opa! Ist er – Wolkenherz?«
Die Augen des alten Mannes versteinerten. Zumindest sah es für Jola so aus. Keine einzige Regung fand darin statt, nicht ein Funken verriet, dass sie richtig gehört und geschlussfolgert hatten. Stumm schüttelte er den Kopf.
»Aber wer ist es dann? Du hast den Namen gesagt, als du aus dem Auto gestiegen bist. Du hast den Namen zu ihm gesagt!« Katies Arm fuhr nach hinten und deutete in Richtung des Hengstes.
»Ein Irrtum. Ich bin ein alter Mann, da passiert das schon mal. Und jetzt geht.« Die Tür fiel zu, als Katie gerade die Hand nach dem Spalt ausstreckte. Erschrocken fuhr sie zurück und starrte auf die Stelle, wo eben noch das Gesicht ihres Großvaters hindurchgeguckt hatte.
Wolkenherz stieß ein sachtes Wiehern aus, leise und traurig. Jola schlang die Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht in sein weiches Fell.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie matt. »Wir verstehen doch auch nicht, warum er so ist!«
Katie stolperte mit gesenktem Kopf zurück auf den Hof und knallte die Haustür hinter sich zu. Resigniert ließ sie sich auf die oberste Stufe fallen und streichelte die weiße Pferdenase.
»Kapierst du das? Nein. Ich werde noch bekloppt! Haben wir uns das nur eingebildet, oder was?«
Jola schüttelte den Kopf. »Wir haben es doch beide gehört. Er hat den Namen geflüstert, zu ihm. Als er aus dem Auto gestiegen ist. Das war echt, Katie, in dem Augenblick hat er einfach nur reagiert!«
»Und warum macht er jetzt einen auf alten Mann und verleugnet ihn total? Das ergibt doch keinen Sinn.«
Jola legte den Kopf schräg und sah zur Haustür. Sie wünschte, Opa Max käme rausgelaufen und würde endlich mit ihnen reden, ehrlich. Aber die Tür blieb fest zu und nichts passierte.
»Das Ouija-Brett hat den Buchstaben M ausgespuckt«, resümierte Katie zum hundertsten Mal. »Opa heißt Max. Und in der Nacht, als er fast gestorben wäre, ist der Hengst … durchsichtig geworden, so als würde er verschwinden.«
»Vielleicht war er sogar wegen ihm krank«, murmelte Jola.
»Äh – was?«
»Der Herzinfarkt. Den hat er gekriegt, nachdem du heimlich geritten bist. Weißt du nicht mehr? Wir haben ein Auto gehört und sind zum Hof gelaufen und du hast deinem Großvater die Zügel in die Hand gedrückt …«
»Mann, Jola.« Katie sprang hoch und stapfte los. Nach ein paar Schritten wirbelte sie herum und warf beide Arme in die Luft. »Dann kapier ich erst recht nicht, warum er so tut, als hätte er das Pferd noch nie gesehen!«
»Er glaubt eben nicht an Geister.«
»Muss er doch auch gar nicht! Irgendwas hat ein weißes Pferd in ihm ausgelöst. Eine Erinnerung oder so. Kann er nicht wenigstens darüber mit uns reden?«
Jola folgte ihr über den Hof und der Hengst trottete hinterher. Als hätte der kühle Geisterwind all seinen Lebensmut davongetragen.
»Was machen wir denn jetzt, hm?« Katie stieß die Tür zum Stall auf und ließ den Hengst hineintreten. Wie von einer unsichtbaren Hand dirigiert, schlurfte er in Keiras alte Box – die Box, in der sie ihn damals gefunden hatten – und lehnte seinen Kopf an die kühlen Gitterstäbe.
»Uns fällt schon was ein. Vielleicht brauchen wir deinen Großvater gar nicht dazu. Es muss doch jemanden geben, der über seine Vergangenheit Bescheid weiß, oder?«
»Hm.« Katie machte sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Der Hengst lief bestimmt nicht davon. Sie holte ein paar Möhren aus der Futternische und warf sie in den Trog. »Guck ihn dir doch nur mal an. Das heulende Elend. Der hat’s auch schon aufgegeben.«
»Aber wir nicht!« Jola stemmte die Hände in die Hüften. »Immerhin haben wir eine konkrete Spur. Wenn wir ihm nicht helfen, Katie, dann macht es keiner, weil sonst niemand an ihn glaubt, an das, was er wirklich ist. Und wenn … wenn wir das auch nicht mehr tun, dann … dann verschwindet er womöglich tatsächlich. Für immer.« Die letzten Worte flüsterte sie nur, weil ihr Tränen in die Augen traten. Schnell wischte sie mit dem Ärmel darüber.
Katie presste die Lippen zusammen, aber dann nickte sie grimmig. »Und es bleibt dabei?«
»Wobei?«
»Bei … Wolkenherz.«
»Aber natürlich.« Jola deutete mit dem Kopf zum Haus hinüber. »Der Name ist unser Öl, das wir von jetzt an täglich in sein Feuer gießen!«
Als Jola am nächsten Morgen aus dem Fenster schaute, sah sie Katie auf dem Reitplatz ihre Runden drehen. Fasziniert drückte sie ihre Nase gegen das Glas der Scheibe.
Keira lief in gebogenen Linien quer durch die Bahn. Schlangenlinien hieß das in der Fachsprache. Drei Bogen. Dann fünf. Dann wechselte sie durch die ganze Bahn und ritt eine perfekte kleine Volte. Keira trabte die ganze Zeit leichtfüßig und hielt den Kopf nach vorn gebeugt, so als wüsste sie, dass sie Zuschauer hatte. Wie hatte sie sich verwandelt! Aus der schreckhaften Zappelstute mit den weit aufgerissenen Augen war ein entspanntes, williges Reittier geworden, das Katie nun sogar über den Platz folgte, ohne dass sie sie am Zügel festhalten musste. Früher war das undenkbar gewesen. Noch vor wenigen Wochen hätte sie die Gelegenheit sofort genutzt und wäre vom Ginsterhof geflohen, so schnell sie nur konnte.
»Dich hat er auch rumgekriegt«, murmelte Jola und wandte sich vom Fenster ab, um sich für die Schule anzuziehen. »Also wird er das bei Katies Opa auch schaffen.«
Sie frühstückte einen Apfel aus der Obstschale und verließ den Anbau durch die Verbindungstür ins Haupthaus. Katie stürmte herein und hopste eilig in Reithosen die Treppe rauf, immer zwei Stufen auf einmal, ohne sich um ihre Mutter zu kümmern, die aus der Küche nach ihr rief.
»Mensch, Katie, du bist viel zu spät dran! Du kannst doch nicht nach Pferd stinkend …« Helen kam auf den Flur und schüttelte verwirrt den Kopf, als sie merkte, dass sie mit Jola redete. »Wo ist sie hin?«
Jola deutete nach oben. »Umziehen, schätze ich.«
Helen seufzte. »Die macht mich noch wahnsinnig. Jedes Frühjahr dasselbe!«
»Warum? Was hat sie denn?«
»Sie stellt den Wecker zwei Stunden früher, damit sie vor der Schule noch trainieren kann. Alles nur wegen dem Turnier!«
Jola horchte auf. »Welchem Turnier?«
»Dem Ginstercup. Aber es sind noch Wochen bis dahin, und es ist ja nicht so, dass sie am Nachmittag nicht reiten könnte. Madame«, rief sie die Treppe hinauf, »Abflug in fünf Minuten!«
Katie brauchte keine drei Minuten, bis sie – diesmal in Jeans und Pullover – wieder heruntergehopst kam. Ihre Haare standen ihr in wilden Lockenwuscheln vom Kopf ab und hatten an diesem Morgen bestimmt noch keine Bürste gesehen, aber das scherte Katie nicht. Sie wickelte notdürftig ein dickes Gummiband darum und stieg in ihre Reitstiefel.
Jola schulterte ihren Rucksack und grinste. »Willst du zur Schule reiten?«
»Was?« Katie sah an sich herunter. Dann verdrehte sie die Augen und tauschte Reitstiefel gegen Turnschuhe. »Zu wenig Schlaf. Ich bin voll müde. Aber Keira war so super, du hättest uns sehen sollen!«
»Hab ich.« Jola hielt ihr die Tür auf und sie verließen gemeinsam das Haus. »Vom Fenster aus. Sie sah aus wie eines dieser perfekten kleinen Barbie-Pferde.«
Katie lachte. »Nur blöd, dass ich nicht viel von einer Barbie habe.«
»Total schön, wie entspannt sie geht, oder?«
»Hm.« Katies Augen blitzten. »Als würde ich ein anderes Pferd reiten. Es stört sie nicht mal, dass Ghost … ich meine, Wolkenherz, nebenan auf der Koppel läuft. Er hat uns zugesehen! Eigentlich müsste er auch mitmachen. Die blöde Longiererei findet er selber dämlich.«
»Warum macht Niko es dann immer noch?«
»Damit er seine Muskeln nicht verliert. Nur auf der Wiese rumstehen ist nicht gesund, auch nicht für Geisterpferde.«
Sie kamen unter dem Torbogen durch und beschleunigten ihre Schritte. »Du, Katie, was ist der Ginstercup?«
»Hat Mama dir davon erzählt?«
»Viel erzählt hat sie nicht.«
Katie verdrehte die Augen. »Also pass auf. Der Ginstercup ist unser großes Frühlingsturnier. Jeder darf mitmachen, auch die Reitschüler. Es gibt unterschiedliche Prüfungen, für alle ist was dabei, Führzügelklasse, Geschicklichkeitsreiten, Ponyspringen, Schauprogramm. Natürlich gibt es auch eine Leistungsklasse am Ende: den Ginstercup. Das ist eine Vielseitigkeitsprüfung mit Dressur, Springen und Geländestrecke. Rat mal, wer letztes Jahr gewonnen hat.«
»Du?«
Katie schüttelte langsam den Kopf und schmunzelte. »Nee. Ein Reiter war besser als ich.«
»Niko?«
»Der ist am Wassergraben vom Pferd gefallen und ist ausgeschieden.«
»Ich kenne niemanden, der besser reitet als du.«
Die Straße machte eine Biegung und sie sahen den Schulbus über den letzten Hügel rollen.
»Shit«, rief Katie, und gleichzeitig begannen sie zu laufen.
»Die Idee von dir war gar nicht so dumm«, keuchte Katie, als sie – als Allerletzte, wie meistens – an der Haltestelle ankamen und in den wartenden Bus sprangen. »Wir sollten wirklich zur Schule reiten.«
»Jetzt sag schon«, drängte Jola, während der Bus rumpelnd anfuhr und sie durch den Gang zu einer freien Zweiersitzbank balancierten. »Wer war es? Wer hat dich beim Ginstercup geschlagen?«
»Die Einzige, die es konnte.« Katie ließ sich auf den Sitz plumpsen und atmete seufzend auf. »Meine Mam.«
»Helen?«
»Oh ja. Sie hat’s echt drauf. Du müsstest sie mal sehen. Sie reitet sonst keine Turniere mehr, aber der Ginstercup hat Tradition.« Katie senkte die Stimme zu einem grimmigen Flüstern. »Aber diesmal hat sie keine Chance. Nicht gegen Keira!«
Jola lächelte, aber sie musste sich auf die Lippe beißen, um den Gedanken für sich zu behalten, der ihr spontan durch den Kopf schoss. Es gab sehr wohl ein Pferd auf dem Ginsterhof, das Keira gefährlich werden konnte, selbst wenn sie sich noch so gut machte. Ob Helen mit ihm starten würde? Bislang hatte sie niemandem erlaubt, Wolkenherz zu reiten, angeblich wegen der Versicherung. Und sicher würde sie den Hengst nicht irgendeiner Reitschülerin geben. Helen hatte eine besondere Verbindung zu ihm, eine, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Sie wusste schließlich nicht, dass Wolkenherz schon ihr ganzes Leben lang um sie herum gewesen war, ungesehen, als Pferdegeist. Sie spürte es trotzdem. Wolkenherz – er war nicht wie die anderen.
Und er war mit Abstand das beste Pferd, das der Ginsterhof zu bieten hatte!
Der Schultag kroch dahin. Vor den Fenstern zog langsam der Morgennebel ab und junge Blätter und Knospen leuchteten im frischen Sonnenlicht. Es war noch nicht so warm, wie es aussah, aber immerhin hatte der Frühling Einzug gehalten und die Winterstürme endgültig vertrieben.
Jola machte ein aufmerksames Gesicht und meldete sich gerade oft genug, damit die Lehrer sie in Ruhe ließen. Immer wieder schlichen ihre Gedanken zu dem Turnier. Ob Niko sie wohl auch mitreiten lassen würde? Seit einiger Zeit nahm sie an der Fortgeschrittenenreitstunde teil, und obwohl sie fand, dass die anderen Mädchen sich alle viel geschickter anstellten als sie, musste sie zugeben, dass die Pferde langsam machten, was sie von ihnen wollte. Justin hatte sie auf Anhieb in Galopp bekommen, und mit Miley hatte sie sich sogar getraut, über ein Cavaletti zu springen. Nur Billy schien immer bis über beide Pferdeohren zu grinsen, wenn sie ihn zugeteilt bekam. Mit Billy klappte es nur, wenn Billy das wollte.
»Darf wirklich jeder mitmachen beim Turnier?«, fragte sie Katie in der Pause, als sie mit Lea und Sanne zusammenstanden. »Was ist mit euch beiden?«
Sanne riss die Augen auf. »Der Ginstercup! An den habe ich noch gar nicht gedacht. Oh Gott, hat Niko etwa schon die Einteilung gemacht? Er hat gar nichts gesagt!«
»Nein, keine Angst. Du hast noch nichts verpasst. Und ja, es darf jeder mitmachen. Jeder, der mag.« Katie warf Lea einen schnellen Blick zu, aber die schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein danke. Damit bin ich durch!«
»Ach, komm schon, Lea! Wir haben doch immer zusammen mitgemacht!«
Lea zuckte mit den Schultern. »Ich reite lieber nur zum Spaß. Außerdem trainiere ich für den Steinbach-Run, das ist mir wichtiger.«
»Du joggst lieber allein in der Gegend rum, anstatt mit uns für den Ginstercup zu üben?« Sanne starrte sie an. »Wo ist dein Problem, Lea?«
»Ihr Problem ist, dass sie nicht verlieren kann.« Katie grinste. »Nachdem ich zwei Jahre besser war als sie, schmeißt sie hin.«
Lea kniff die Augen zusammen und funkelte Katie an. »Du übst ja auch wie besessen dafür. Bestimmt bist du heute Morgen schon auf dem Pferd gesessen, stimmt’s? Das kann ich aber nicht, Katie. Ich hab kein eigenes Pferd. Wie soll ich da mithalten? Das ist ein unfairer Wettkampf und darauf hab ich keinen Bock mehr.«
Katie stemmte die Hände in die Hüften. »Ja und? Du kannst gern kommen und mittrainieren, nichts dagegen! Wir haben Pferde genug – du hast freie Auswahl! Selbst schuld, wenn du lieber ausschläfst und rumjammerst.«
Lea verschränkte die Arme vor der Brust. »Stell dir vor, ich war heute auch schon laufen! Vier Kilometer mit meinem Dad!«
Jola schob sich vorsichtig zwischen die beiden und breitete die Arme aus. »Hallo? Beruhigt ihr euch mal wieder? Anstatt euch anzugiften, könntet ihr euch gegenseitig unterstützen. Katie braucht Kondition, also könnt ihr auch zusammen joggen gehen. Dafür feuern wir alle Lea an, wenn sie bei diesem Run mitmacht.«
Katie und Lea schnauften, aber dann ließen sie beide die Hände sinken und schauten in eine andere Richtung.
»Ja, vielleicht«, murmelte Lea.
»Könnten wir schon machen«, brummte Katie.
Sanne zwinkerte Jola zu. »Dann wäre das ja geklärt. Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wer von uns welches Pferd reitet. Also, ich hoffe ja, dass ich Miley kriege. Kannst du nicht mit Niko reden, Katie? Bitte, bitte!«
»Du weißt genau, dass Niko sich da nicht reinquatschen lässt. Die Pferde teilt er allein ein.«
Sanne deutete auf ein Mädchen mit kunstvoll geflochtenen Zöpfen, das mit dem Rücken zu ihnen inmitten einer Gruppe Mädchen stand. »Aber Milla durfte sich letztes Mal ihr Pferd aussuchen, dabei reite ich viel besser als sie.«
Katie verdrehte die Augen. »Millas Vater gehört ja auch die Brauerei. Die sind unser Hauptsponsor, ohne die geht gar nichts. Und soweit ich mich erinnere, wollte sie gar nicht Miley, sondern Taylor haben. Also keine Konkurrenz für dich.«
Sanne nickte zufrieden und legte Jola den Arm um die Schultern. »Bin ja echt gespannt, wen du reiten wirst. Hoffentlich nicht Billy. Der liebt es nämlich, seine Reiter genau im Wassergraben abzusetzen!«
Nein, dachte Jola, hoffentlich nicht Billy. Aber ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich schon gut genug bin, damit Niko mich mitmachen lässt.
Auf einmal war der Kloß wieder da, der ihren Hals verstopfte und von innen gegen ihre Brust drückte. Ein Gefühl wie verschluckte Klebestreifen. Sie räusperte sich, aber es wollte einfach nicht verschwinden.
Wie du, Mama. Ich verspreche, eines Tages bin ich wie du!
Nach dem Mittagessen fuhr Helen zum Futtermittelhändler, und Katie nutzte die Gelegenheit, um mit Keira in den Wald zu verschwinden.
»Ich sehe mal nach, ob unsere Geländehindernisse den Winter gut überstanden haben«, verkündete sie, und kurz darauf sah Jola sie den Weg hinauftraben.
Vielleicht hat Lea doch recht, dachte sie, und Katie übertreibt es ein wenig mit ihrem Training.
Andererseits war es ein völlig neues Gefühl, auf einer entspannten Keira zu reiten. Jola wusste, dass Katie bisher zwar viele Pferde zur Verfügung gehabt hatte, aber keines davon hatte wirklich ihr gehört. Colorado war das Kinderpony ihrer Mutter gewesen. Und Billy lief in den Reitstunden mit. Aber mit Keira war das anders. Alles, was sie konnte, hatte Katie ihr beigebracht. Bestimmt war es ihr deshalb so wichtig, beim Ginstercup gut zu sein – sie wollte allen zeigen, was sie mit der verrückten Stute geschafft hatte.
Jola hockte sich im Schneidersitz auf die Couch, damit sie aus dem Fenster sehen konnte, während sie ihre Hausaufgaben machte. Ein paar einfache Mathegleichungen, die schnell erledigt waren. Englische Grammatikübungen. Dann Lernen für Chemie und Geschichte, wo vermutlich Arbeiten anstanden.
In Geschichte ging es immer noch um die Nachkriegszeit, den Wiederaufbau in Deutschland, die Hungersnot der Leute, die Rationierung von Nahrungsmitteln. Ein paar Fakten musste sie auswendig lernen, aber bestimmt wollte Herr Ernst wieder eigene Interpretationen haben, um zu sehen, ob sie den Stoff auch verstanden hatten. Versetze dich in die Situation der Leute damals. Überlege, was du tun würdest.
Sie versuchte, sich vorzustellen, was sie machen würde, wenn sie in dieser zerstörten Zeit allein gewesen wäre, ohne Familie, ohne einen Ort, an den sie gehörte. Manchmal fühlte sie sich selber auch so, obwohl sie ja ihren Vater hatte und die Webers und es ihr an nichts mangelte. Zu Hause ist dort, wo die Menschen sind, die du liebst. Aber ein Mensch fehlte. Und diesen Teil ihres Zuhauses würde sie niemals finden.
Ihr Blick glitt durch das Fensterglas und blieb an Wolkenherz kleben.
Ob es ihm auch so ergangen war? Hatte auch er seine Pferdefamilie verloren und war allein in eine fremde Welt gekommen? Bestimmt war das für ein Pferd ebenso schlimm wie für einen Menschen. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was Herr Ernst über diese Flüchtlingstrecks aus dem Osten erzählt hatte. Nur wenige Pferde hatten überlebt. Wolkenherz musste eins von ihnen gewesen sein. Aber was war dann mit ihm geschehen?
Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung. Von oben aus dem Wald spazierte eine Gestalt den Weg herunter. Zuerst dachte sie, es wäre Katie, aber das Pferd war viel zu klein für Keira. Und außerdem hatte es Flecken im Fell und schaukelte leicht beim Gehen, weil die Gestalt daneben sich auf seinem Rücken abstützte. Jola blinzelte. Grüner Parka, leicht gebückter Gang. Das war Opa Max! Und neben ihm, an seiner Seite wie ein folgsamer Hund, das alte Pony Colorado. Die beiden hatten es nicht eilig und sashen aus, als würden sie ein gemütliches Schwätzchen halten, während sie so dahinschlenderten. Womöglich taten sie das sogar.
Jola sprang hoch und drückte ihre Nase an die Scheibe. Was würde Wolkenherz jetzt machen? Ob er über den Zaun sprang, so wie damals am Reitplatz? Oder hatte er es aufgegeben, nach Katies Großvater zu rufen?
Sie verrenkte sich den Hals, aber der Hengst war nirgends auf dem Paddock zu sehen. Verwirrt riss sie das Fenster auf und lehnte sich hinaus. Nein, kein weißes Pferd – nur die eierschalfarbene Bonnie, aber die hatte lauter Matschkrusten im Fell und sah damit aus wie ein Schecke. Wo war er? Wo war Wolkenherz?
Sie schaute wieder zu Opa Max und Colorado. Der alte Mann hielt seinen Blick gesenkt, so als müsste er auf den Weg achten. Aber plötzlich hob er den Kopf und schaute zur Koppel hinüber. Sein Schritt stockte kurz – nur kurz –, dann setzte er seinen Spaziergang unbeirrt fort.
»Also doch«, murmelte Jola. »Du kennst ihn sehr wohl!«
Sie warf das Fenster wieder zu und lief zur Tür, trat in ihre Sneakers und zerrte sie ungeduldig über die Fersen, während sie mit der anderen Hand nach ihrer Wolljacke angelte. Draußen blies ein kühler Wind, der von Osten kam und nach Misthaufen roch. Sie blieb stehen und sah sich um. Die Grasinseln schimmerten in mattem Grün und der riesige Kastanienbaum war voller winziger, kirschgroßer Triebe. Trotzdem lag ein Schleier über dem Hof wie ein unsichtbarer, alles verschlingender Nebel.
Vor dem Stall parkte Nikos Motorrad. Außerdem musste Helen zurück sein, denn das Zebraauto war wieder im Unterstand. Jola rannte zum Stall und drückte das Tor auf. Der Wind folgte ihr jaulend und wirbelte einen Haufen loses Heu auf. Helen und Niko standen um Wolkenherz herum, der bereits einen Kappzaum trug.
Helen sah sich zu ihr um. »Jola, komm her. Wo ist Katie?«
»Ausgeritten.«
Helen runzelte die Stirn. »Hat sie vorher die Hausis erledigt?«
Jola zuckte mit den Schultern. Natürlich hatte Katie das nicht getan, aber das musste sie ihrer Mutter ja nicht unbedingt verraten.
Helen wandte sich wieder dem Hengst zu, der resigniert den Kopf hängen ließ. »Es gibt Neuigkeiten, was unseren Freund hier betrifft.«
Erschrocken schaute Jola zu Niko, aber der grinste. »Keine Angst. Wir müssen ihn nicht hergeben. Im Gegenteil – jetzt gehört er uns!«
»Was?«
»Es hat sich ein halbes Jahr lang kein Eigentümer gemeldet«, klärte Helen sie auf. Ihre Augen blitzten genau wie die von Katie, wenn sie eine tolle Neuigkeit wusste. »Ghost ist nun also offiziell unser Pferd! Ich habe vorhin mit der Versicherung telefoniert und ihn angemeldet.«
»Das heißt, wir dürfen ihn reiten!« Niko strahlte. »Stefan muss ihm schleunigst einen Sattel machen. Solange nehmen wir noch den Felli. Ich probiere ihn gleich mal aus. Willst du mitkommen?«
»Langsam, Niko. Ich bin dafür, dass wir ihn vorerst an der Longe reiten. Nur für alle Fälle. Du weißt, dass er manchmal wild wird.«
»Helen, warte mal.« Jola biss sich auf die Lippe. »Äh – wir hatten ihm einen anderen Namen gegeben. Weil … weil euch Ghost doch nicht gefallen hat.«
»Ach, stimmt.« Helen schmunzelte. »Wolkenherz. Also, mir ist es egal, wie er heißt, solange ihr euch einig werdet.«
»Wolkenherz!« Niko verdrehte die Augen. »Fällt euch nichts Cooleres ein?«
»Nein! Er muss … also … ich meine, er heißt jetzt Wolkenherz.« Warum war Katie nicht da, wenn man sie mal brauchte? »Das ist wichtig, Helen. Bitte!«
Helen sah sie eine Weile mit gerunzelter Stirn an, aber dann nickte sie. »Gut. Von mir aus. Ich ändere es.«
»Können wir jetzt?« Niko legte den Fellsattel auf Wolkenherz’ Rücken und zurrte ihn fest. Dann klinkte er rechts und links am Kappzaum Zügel in die Ösen und wollte den Hengst auf den Hof rausführen, aber Helen trat ihm in den Weg.
»Stopp mal, Niko. Nimmt er das Gebiss immer noch nicht?«
Niko schüttelte den Kopf. »Macht aber nichts. Er ist gut ausgebildet, reagiert super auf Stimmkommandos. Ich glaube allerdings, dass er früher sehr wohl mit Gebiss geritten wurde.« Niko legte die Hand unter Wolkenherz’ Unterlippe und zog sie sanft nach unten. »Hier, schaut mal.«
Jola und Helen sanken vor dem Hengst in die Hocke. Innen an der Lippe hatte Wolkenherz eine Stelle, an der sich das Fleisch nach außen wölbte und rötlich verfärbt war. »Ist das eine Wunde?«
»Eher eine Narbe«, murmelte Helen. »Ganz gut verheilt, aber das muss mal übel wehgetan haben. Du hast recht, Niko. Könnte der Grund sein, warum er das Gebiss verweigert.«
»Weil er dort Schmerzen hat?« Jola sah Wolkenherz besorgt ins Gesicht.
»Oder traumatisiert wurde. Von einem miesen Reiter, der ihm nur im Maul hing.« Niko runzelte sie Stirn. »Man denkt, das Pferd ist wild und unberechenbar, obwohl es eigentlich nur böse Erinnerungen hat.«
»Okay.« Helen richtete sich wieder auf. »In dem Fall verwenden wir besser kein Gebiss. Wir können es mit einem Bosal oder Bitless versuchen, notfalls auch eine sanfte Hackamore. Es gibt genug Alternativen.«
Der Wind hatte aufgehört zu pusten, zumindest kam es Jola so vor, als sie das Tor aufschob und Niko mit dem Hengst hinaustrat. Nicht ein Lufthauch regte sich mehr. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Hufgetrappel, hinter ihr – dann vor ihr. Colorado, der um die Kurve bog, ein freudiges Wiehern ausstieß. Die Antwort hinter ihr, Wolkenherz’ Stimme – laut, schrill, verzweifelt.
Dann sah sie Opa Max. Er blieb wie angewurzelt stehen, erstarrte regelrecht, aber nur für einen winzigen Moment, dann sanken seine Schultern wieder nach vorn, und er steuerte eilig den Eingang zur Sattlerei an.
Wolkenherz bockte und versuchte, sich loszureißen. Aber Niko hielt ihn fest am Zügel. »Hohoo, beruhige dich – du darfst ja schon zu deinem Freund!«
Colorado trabte freudig herüber. Er streckte dem Hengst seine Nase hin, genau in dem Moment, als Helens Vater in der Werkstatt verschwand. Wolkenherz’ Kopf sank herab. Colorado blies ihm sanft in die Nüstern.
Der weiß, was Sache ist, dachte Jola, er tröstet seinen großen Freund.
Oben am Reitplatz kam ihnen Katie entgegen. Sie strahlte, als sie von der Neuigkeit erfuhr – obwohl sie den Hengst ja schon mehrere Male geritten hatte, auch ohne die Erlaubnis ihrer Mutter.
»Darf ich ihn gleich ausprobieren?«
»Du darfst dich zuerst mal an deinen Hausaufgaben probieren, junge Dame.«
Katie verdrehte die Augen. »Ach, komm schon, die laufen mir doch nicht weg!«
»Ghost … ich meine, Wolkenherz läuft dir jetzt auch nicht mehr weg. Außerdem ist Keira ganz verschwitzt, was habt ihr denn gemacht?«
Katies Augen blitzten. »Och, ein bisschen Geländetraining. Mama, diese Stute ist der Hammer. Diesmal hast du keine Chance gegen mich beim Ginstercup!«
»Abwarten!« Helen trat auf den Platz und nahm Niko die Zügel aus der Hand. Dann griff sie in die Mähne, holte Schwung und saß mit einem einzigen Satz auf Wolkenherz’ Rücken.
Katie ritt auf den Platz und ließ Keira am langen Zügel außen entlangschreiten, während Helen mit dem Hengst um sie herumtrabte. Bei ihr sah das so leicht aus, als wäre sie mit dem Pferd verwachsen.
»Na toll«, murrte Niko und lehnte sich neben Jola ans Gatter. »Das ist wieder typisch. Der Einzige, der noch nie auf diesem Pferd gesessen hat, bin mal wieder ich!«
»Willst du ihn auch auf dem Turnier reiten?«, fragte Jola.
Niko deutete auf Wolkenherz, der mit gewölbtem Hals auf dem Zirkel lief und weich daraus wechselte. »Hey, wer immer den reiten darf, hat mit Abstand die besten Gewinnchancen, das ist mal sicher!«
Das ist überhaupt die Idee, dachte Jola. Wenn Wolkenherz dieses Turnier gewinnt, kann Max gar nicht anders: Er muss ihn endlich sehen!
»Alles klar.« Helen ritt in die Mitte und sprang vom Pferd. Sie war außer Atem, im Gegensatz zu Wolkenherz, der trüb die Ohren hängen ließ. »Er geht traumhaft schön. Und er ist total ruhig. Ihr dürft ihn reiten, aber vorerst nur ihr, verstanden? Ich weiß noch nicht, ob ich die Reitschüler auf ihn rauflasse.« Sie zögerte kurz, dann winkte sie Jola zu sich. »Du kannst mit Katie zum Hof zurückreiten, wenn du magst.«
Jola spürte, wie ihr Herz heftiger klopfte. Keine Reitschüler, hatte Helen gesagt. Aber sie durfte? Dann musste sie unbedingt eine gute Figur machen, solange Helen zusah! Hoffentlich fiel es Opa Max nicht gerade jetzt ein, über den Hof zu laufen, denn wenn der Hengst mit ihr durchging, würde Helen sie bestimmt so schnell nicht mehr auf seinen Rücken lassen.
Weil der Fellsattel keine Steigbügel besaß, machte Helen eine Räuberleiter und hievte sie hinauf. Wolkenherz stand ganz ruhig und wartete, also legte sie ihre Hand auf seinen Hals und flüsterte: »Ich bin’s! Pass auf, wir gehen jetzt zurück. Wenn du ihn siehst, flipp nicht aus, okay? Ich verspreche auch, dich nicht aufzuhalten.«
Ein Schauder durchlief den Pferdekörper. Hatte er sie verstanden? Oder hatte er was gesehen oder gehört, was ihr verborgen geblieben war? Keira lief los und Wolkenherz schloss sich ihr an. Obwohl sie schon früher auf ihm gesessen hatte, fühlte es sich diesmal anders an, vielleicht weil Helen sie dabei beobachtete … und überhaupt war dieses Pferd so unglaublich groß! Es würde wehtun, von seinem Rücken zu fallen. Es gab nicht mal einen Riemen zum Festhalten an dem Fellsattel.
Wolkenherz wurde schneller, verlängerte seinen Schritt. Auf einmal hatte er es eilig, zum Hof zu kommen. Jolas Magen machte einen Hüpfer. Sie spürte die Angst, die sie manchmal auf Billys Rücken überkam, merkte, wie sie die Beine ans Pferd klammerte und sich versteifte …
»Ruhig«, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. »Keine Angst! Ich bin ja bei dir.«
Jola schloss die Augen. Da war sie wieder – die Stimme ihrer Mutter. Wie der Wind vorhin flüsterte sie aus den Bäumen, aus dem Nichts, und doch hörte sie die Worte so klar und deutlich, als würde ihre Mutter neben ihr laufen und sie mit einer Hand sanft an ihrem kurzen Kinderbein festhalten.
»Ganz locker, Jola. So ist gut. Verkrampf dich nicht, das spürt er und dann bekommt auch er Angst und wird nur noch schneller. Bleib ruhig, dann wird er es auch sein.«
Sie machte die Augen wieder auf, weil sie sicher war, Helen hätte zu ihr gesprochen. Aber Helen lief ein gutes Stück hinter ihr und schwatzte mit Niko.
Katie sah sie stirnrunzelnd an. »Hey! Alles klar?«
»Jaja.« Jola atmete tief ein und wieder aus. Dabei merkte sie, dass ihr ganzer Körper weicher wurde und sich der Klammergriff ihrer Beine löste. Sofort wurden Wolkenherz’ Schritte deutlich ruhiger.
Katie kniff die Augen zusammen und schüttelte ganz leicht den Kopf.
»Bist du jetzt sauer auf mich?«, fragte Jola vorsichtig. »Ich weiß, dass du ihn reiten wolltest, aber sie hat gefragt, und ich … also …«
Katie blies sich eine Locke aus dem Gesicht. »Ach Quatsch. Wolkenherz kann ich doch jetzt immer reiten. Schau dir Keira an, sie ist total durchgeschwitzt. Wenn ich sie bis zum Ginstercup fit kriegen will, haben wir noch einen Haufen Arbeit vor uns.«
»Aber du hilfst mir doch trotzdem, oder?« Jola musste sich ein Stück hinüberbeugen, damit niemand sonst ihre Worte hörte. »Wir bringen ihn mit Max zusammen und lüften sein Geheimnis?«
»Na logo!« Katie grinste sie an. »Und ich habe sogar schon eine Idee, was wir als Nächstes machen.«
Die Neuigkeit sprach sich so schnell an der Schule herum, dass Katie sich zur zweiten Pause in die Toilette verzog, um ein paar Minuten Ruhe zu haben. Jedes Mädchen, das am Ginsterhof Reitstunden nahm, kam mit einem hoffnungsfrohen Grinsen im Gesicht zu ihr oder Niko und fragte, ob die Gerüchte stimmten und man das geheimnisvolle weiße Pferd nun tatsächlich reiten durfte.
»Ich weiß gar nicht, was ihr wollt.« Niko lachte nur. »Er wird geritten, aber ausschließlich von uns. Befehl von oben.«
»Aber wenn ihr ihn eine Zeit lang unter dem Sattel habt, dürfen wir dann auch?«
»Was ist mit mir? Ich reite schon auf dem Ginsterhof, seit ich fünf war!«
»Du hast doch gesagt, ich bin die Beste in deiner Stunde. Wenn ihn eine reiten darf, dann ich, oder?«
»Keine Schülerinnen. Ich, Katie, Helen. Wolkenherz ist ein Hengst, der ist nicht ohne.«
»Aber …«
Jola warf Niko einen raschen Blick zu. Warum hatte er ihren Namen nicht gesagt? Schließlich war sie gestern auf Wolkenherz’ Rücken gesessen, sie und nicht er! War er etwa neidisch? Oder hatte Helen zwar erlaubt, dass sie unter Aufsicht zurück zum Hof ritt, aber künftig durfte nur noch Niko in den Sattel?
Niko grinste und zwinkerte ihr zu. Vielleicht wollte er auch ein fach nur keinen Stress, schließlich war Jola kein Familienmitglied, auch wenn sie am Ginsterhof wohnte. Sie war ein Reitschulmädchen, das in seine Stunden ging, wie die anderen auch. Mehr nicht.
Jola kaute auf ihrer Unterlippe herum und war froh, als es endlich gongte. Sie merkte, dass sie nicht bei der Sache war, aber das war nicht schlimm, denn die letzten beiden Stunden hatten sie Englisch, und Herr Ernst ließ sie für gewöhnlich in Ruhe. So konnte sie in aller Ruhe darüber nachgrübeln, ob es klug war, Wolkenherz reiten zu wollen. Natürlich war er ein Wahnsinnspferd – er war wunderschön, riesengroß, schneeweiß und immer noch voller Rätsel. Obwohl er ein Hengst war, strahlte er Ruhe aus, eine Überlegenheit, als wüsste er mehr als die anderen Pferde. Aber seine Aura zog nicht nur die anderen Pferde in seinen Bann, sondern auch die Mädchen. Jede wollte ihn reiten, und sie wusste, es gab etliche unter ihnen, die schon viel sicherer im Sattel saßen als sie selbst. Warum also sollte Niko ihr erlauben, ihn zu reiten?
Ich muss eben besser werden, dachte sie und presste grimmig die Lippen aufeinander. Mit Billy üben. Wer Billy reiten kann, schafft es mit jedem Pferd.
»Miss Weber«, schnitt Herrn Ernsts Stimme durch den Raum, und Jola zuckte auf ihrem Stuhl zusammen, obwohl sie ja gar nicht gemeint war. »Für Träumereien hast du aber keine Zeit angesichts deines letzten Testergebnisses, meinst du nicht?«
»Jaja, schon gut«, murmelte Katie und ließ schnell ein vollgekritzeltes Blatt Papier verschwinden.
»Zeig doch mal her!« Herr Ernst schritt durch die Reihen und streckte die Hand nach dem Blatt aus.
Katie ließ ergeben die Schultern sinken und sah dem Lehrer gelangweilt ins Gesicht, während sie ihm den Kritzelzettel reichte.
»Die hat ja Nerven«, flüsterte Jonas grinsend.
»Möchtest du uns vielleicht erläutern, was du gezeichnet hast?«, schlug der Lehrer vor und schwenkte das Blatt hin und her. »In English, please.«
»Das sagt er nur, weil er selbst nicht weiß, was es sein soll«, flüsterte Jola zurück.
»I was painting a springer Parcours«, sagte Katie mit lauter, klarer Stimme. Sie richtete sich auf und ihre Augen blitzten. »We have this huge … äh … Turnier on thirteen May, it calls Ginstercup, we will have a Geländestrecke and it will be really exciting, so you should all come and watch, okay? Save the date!«
Verhaltenes Lachen in der Klasse. Jonas reckte hinter Herrn Ernsts Rücken beiden Daumen in die Luft.
Der Lehrer verschränkte die Arme vor dem Bauch und schüttelte ganz leicht den Kopf. »At least your pronunciation is improving«, sagte er nur und ging zurück zur Tafel. »You all should have in mind that we’ll have a big translation test next week, so books out, page 57, starting first row with you, Tim. Go on.«
»Wie, keine Strafe? Was ist denn mit dem heute los?« Jonas gluckste immer noch vor sich hin. »Ich hab mal einen Song über ihn geschrieben, als ich sauer auf ihn war. Wenn ich ein berühmter Rockstar bin, läuft der im Radio, dann wird er schon sehen, dass auch aus den Losern in seiner Klasse was werden kann.«
»Hoffentlich ist es kein englischer Song.« Jola kicherte leise. »Sonst heimst er die Lorbeeren dafür ein!«
Als sie später an der Bushaltestelle ausstiegen, stoppte das Postauto neben ihnen, und der Briefträger streckte Jola einen Umschlag entgegen. »Hier, kannst du den mitnehmen? Seit dein Vater nicht mehr bei uns arbeitet, muss ich ja wieder selbst zu euch rausfahren. Wie geht es ihm überhaupt?«
»Gut«, gab Jola zurück und reichte den Brief an Katie weiter, weil »Weber« draufstand. »Er macht gerade eine Fotostrecke über skurrile Bauwerke. Ist viel unterwegs.«
»Dann richte ihm mal schöne Grüße aus.« Der Postbote nickte und brauste davon.
Katie drehte den Brief um, während sie zum Ginsterhof hinaufstiefelten. »Aus Warendorf! Wie cool. Darauf warte ich schon.«
»Der Brief ist doch an deine Mutter adressiert.«
»Ist aber bestimmt meine Jahresturnierlizenz.«
Das Radio lief, als sie in die Küche kamen. Anna trug Ofenhandschuhe und stellte vorsichtig einen gusseisernen Topf auf den Herd, aus dem es verführerisch nach Käse duftete.
»Setzt euch hin, Essen ist schon fertig. Mama hat noch ihre Hausfrauen-Reitstunde.«
»Wo ist Papa?« Katie ließ sich auf einen Stuhl fallen und knibbelte an der Gummierung des Briefs herum.
»Kommt gleich. Opa auch. Kannst du vielleicht den Tisch decken und nicht nur faul rumsitzen?«
Jola klappte den Schrank auf und holte Teller und Gläser heraus. Anna runzelte die Stirn, sagte aber nichts mehr dazu.
»Oh! Doch nicht für mich.«
Jola zählte Besteck ab und legte je eine Gabel und ein Messer neben die Teller. »Was ist es dann?«
»Ein Equidenpass. Für Wolkenherz.«
»Was?« Anna griff nach dem Pass und zog ihn Katie aus der Hand. »Ersatzpass. Dann gehört er also wirklich uns.«
»He, gib ihn wieder her!«
Anna legte den Pass auf der Anrichte ab und begann, dampfende Kasspatzn auf die Teller zu verteilen. »Was ist daran so wichtig? Ist doch nur ein Stück Papier. Was kann da schon drinstehen, was wir nicht eh über ihn wissen?«
»Na logisch ist das wichtig. Ohne Equidenpass darfst du auf keinem Turnier starten!«
»Oh, ich vergaß. Nur darum geht es dir ja!«
»Ach ja? Und was ist mit dir? Du denkst doch auch nur an deine blöde …«
»Seid mal still!« Jola hob die Hand. Anna und Katie verstummten gleichzeitig, und die Musik aus dem Radio war plötzlich wieder zu hören, leise, aber unverkennbar – eine bestens bekannte Melodie.
»Ich glaub’s nicht«, kreischte Katie und sprang so hastig auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden rumpelte. »Mach lauter, mach lauter!«
Jola drehte am Regler und Annas Stimme erfüllte den Raum. Der Song klang anders als bisher, voll mit Beats und Gitarrensound, außerdem schien die Tonlage höher zu sein oder vielleicht hörte es sich im Radio auch einfach nur ungewohnt an. Die Textzeilen hatten sich nicht geändert, und Katie sang unwillkürlich mit, als der Refrain spielte.
Du bist das Flüstern im Nebel, das Mondlicht in der Nacht
Ein Umriss im Regen, das Gefühl um Mitternacht
Du bist mein liebstes Geheimnis, wildes Wolkenkind
Silberschwarzes Fernweh – ein Schatten nur im Wind.
»Ihr seid im Radio, ihr seid echt im Radio!« Katie tanzte um ihre Schwester herum, packte sie bei den Armen und wirbelte sie mit sich herum. »Oh, wow, das ist so irre!«
Auch Jola hatte Herzklopfen vor Aufregung und hätte am liebsten laut mitgekreischt, aber etwas hielt sie davon ab. Es war der Ausdruck auf Annas Gesicht. Verwirrt runzelte Jola die Stirn, aber da lächelte Anna und wippte ebenfalls im Takt mit, bis die letzten Töne verklungen waren und der Radiosprecher verkündete: »Das, liebe Leute, war eine junge Band aus Steinbach, Sunset Barn, mit ihrem Wahnsinnssong ›Schatten im Wind‹!«
»Wie cool ist das denn!« Katie wirbelte zu ihrem Vater und ihrem Großvater herum, die mit verwirrten Gesichtern in der Tür standen. »Habt ihr das mitgekriegt? Annas Song war im Radio, im Radio!«
»Echt jetzt?« Stefan war mit zwei Schritten bei seiner Tochter und umarmte sie heftig. »Anna, das ist ja großartig! Ich freu mich so für dich!«
»Ja, alles gut – erdrück mich nicht gleich!« Anna wand sich aus seiner Umarmung und ließ sich schnell auf ihren Stuhl fallen. »Los jetzt, kommt endlich essen. Ich sterbe vor Hunger.«
»Woher haben sie den?«, wollte Jola wissen. »Habt ihr ihn an die Radiosender geschickt?«
»Jonas’ Idee«, murmelte Anna und stopfte sich schnell eine Gabel voll Kasspatzn in den Mund. »Er hat den Link zu unserem neuen YouTube-Clip rumgeschickt. Hätte aber nie gedacht, dass sie ihn wirklich spielen.«
»Ist ja auch ein genialer Song!« Katies Wangen glühten noch immer. »Mann. Meine Schwester ist berühmt!«
»So ein Quark«, brauste Anna auf und ließ scheppernd die Gabel fallen. »Von drei Minuten Radiospielzeit ist noch niemand berühmt geworden.«
»Wenn die Leute den Song gut finden und anrufen, dass sie ihn wieder hören wollen, könnte schon was draus werden.« Stefan tauschte einen Blick mit Katie und Jola sah den Stolz in seinen Augen.
»Ach Bullshit.« Anna begann wieder zu essen. »Jetzt erzählt mal. Wer macht alles beim Turnier mit – Katie, du? Niko auch, oder? Was ist mit dir, Jola? Wir sollten langsam mal mit den Social-Media-Posts anfangen. Ich mache mich heute noch an die Ausschreibung und verlinke sie auf unserer Website und Instagram.«
Katie sprang auf. »Mama hat gestern eine Liste gemacht mit Zeitplan und allem, was zu tun ist. Wir müssen das nur noch unter uns aufteilen. Einen Parcoursplan hatte ich schon, der ist nur gerade … äh … nicht in meinem Besitz.«