Die Pferde aus Galdur - Der goldene Gefährte - Sabine Giebken - E-Book

Die Pferde aus Galdur - Der goldene Gefährte E-Book

Sabine Giebken

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Beschreibung

Ein magisches Abenteuer über mystische Islandponys und eine alte Geschichte. Einst lebten auf der Insel aus Feuer und Eis zwei verborgene Völker. Beide wollten die Insel für sich allein. Ein Kampf entbrannte, den jeder mit seiner Magie bestritt: Galdur. Zwischen uralten Vulkanhügeln, mächtigen Gletschern und geheimnisvollen Geschichten lebt Fenja auf einer Pferdefarm in Island. Die Tiere bedeuten ihr alles – aber als Tochter eines Züchters weiß sie, dass man niemals sein Herz an ein Pferd verlieren darf. Doch was, wenn all die alten Geschichten plötzlich zum Leben erwachen? Wenn ein mitternächtlicher Reiter auftaucht und die Pferde stehlen will? Wenn ein verborgenes Volk in der Nachbarschaft einzieht und lauter seltsame Dinge geschehen? Fenja freundet sich mit Elva an, die ganz anders ist, als sie sich "die Verborgenen" immer vorgestellt hat. Doch das Huldufólk besitzt auf Island eine besondere Bestimmung – und bald steckt Fenja tief in ihrer eigenen, geheimnisvollen Geschichte.

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Seitenzahl: 274

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INHALT

PROLOG

PFERDEBLUES

NEUE NACHBARN

DAS MITTERNACHTSGEHEIMNIS

RETTUNGSRITT

VERBOTENE GESCHICHTEN

VERMASSLUNGSGEFAHR

NEUE FREUNDE

KALLIS WARNUNG

NACHTWACHE

BALDUR

DER SCHIMMERFEHLER

FEUERTALTRAUM

AUF INS VERGESSENE TAL

DAS FREMDE MÄDCHEN

GEMEINSAMKEITEN

SANDWORTE

SCHATTENSTIMMUNG

RENDEZVOUS MIT DEM NEBEL

EIN PFERD UND EIN LEBEN

REGENBOGENLICHTER

LAVABROTZEIT

ANGSTKÄLTE

STEINWARNUNG

BUTTERBLUMENPFADE

ÜBERREDUNGSKÜNSTE

GEHEIMGÄNGE

DIE HUFEISENSCHLUCHT

DER MITTERNACHTSREITER

VERGESSENE GESCHICHTEN

DAS PFERD DES FEUERS

MITTSOMMERNACHT

KAPITEL 1

PROLOG

Ich weiß noch genau, wann ich das erste Mal ohne Sattel und Zügel geritten bin. So genau, als wäre es gerade erst passiert. Es war eine dieser Nächte, in denen man denkt, die Welt geht gleich unter. Die Luft war schweflig und gelb, dicke schwarze Wolkentürme verdunkelten den Mitternachtshimmel und stahlen der Sommernacht ihre Farben. Von den Pferden, die in der Talsenke grasten, sah man bloß die regenblassen Umrisse.

Pabbi und Lilja hatten gestritten. Auch das weiß ich noch genau. Wegen Húnar, Liljas Pferd. Natürlich war er nicht Liljas Pferd, er gehörte Pabbi, aber Lilja hatte ihn so gerngehabt, lieber als jedes andere Pferd. Nur zählte das für Pabbi nicht. Húnar war verkauft worden, und Lilja hatte geschworen, kein Wort mehr mit Pabbi zu reden. Sie hatten sich so böse angeschrien, dass ich hinausgelaufen war, in mein Geheimversteck zwischen den Grashügeln. Dort war es warm und friedlich, um mich herum grasten die Pferde und der Regen störte mich nicht. Regenausbrüche waren mir lieber als Pabbis Wutausbrüche.

Aber dann türmten sich die Wolken übereinander und der Himmel wurde schwarz. Ein lang gestreckter Blitz zuckte die Bergkuppen entlang und sofort grollte es grimmig. Die Pferde fraßen unbeeindruckt weiter, aber mein Herz schlug so laut, dass ich es aus meiner Brust pochen hören konnte. Ein Gewitter! Hier, im Norden! Noch nie hatte ich ein Gewitter erlebt. Aber Mamma hatte mir alles darüber erzählt, und sie hatte mich gewarnt, bei Gewitter niemals, wirklich niemals allein draußen zu sein.

»Vertu ekki hrædd«, wisperte es da.

Ja, toll, ich hatte aber Angst – eine Riesenangst sogar! Die Blitze zuckten jetzt genau über mir und der Schwefelgeruch kroch in meine Nase wie ein giftiges Insekt.

Auf einmal hob eines der Pferde den Kopf und kam auf mich zu. Es war eine der älteren Stuten, eine, die schon viele Fohlen gehabt hatte. Konnte sie meine Angst spüren? Sie blieb vor mir stehen und stupste mich an. Und ich überlegte nicht lang, ich krabbelte aus meinem Versteck, zog mich auf ihren Rücken und grub meine Finger tief in ihre dichte Mähne. Als sie loslief, hatte ich keine Sekunde lang Angst, dass sie mich abwerfen würde – alles, woran ich denken konnte, waren die Blitze über meinem Kopf!

Die Stute lief mit mir zum Stall zurück und blieb genau vor dem Eingang stehen. Sie wartete sogar, bis ich sicher unter das Vordach gehuscht war. Und ich schwöre, als ich mich umdrehte, hörte ich es wieder.

»Vertu ekki hrædd«, flüsterte jemand. »Við vökum yfir þér.«

Fürchte dich nicht. Wir wachen über dich.

PFERDEBLUES

Eigentlich fing der Tag schon beim Frühstück an, blöd zu werden. Ich wollte den Rest meines Müslis in die Spüle kippen, weil ich spät dran war. Die große Kanne mit der Milch, die Mamma immer für die Wölfe rausstellt, stand direkt daneben. Und ich weiß nicht, wie es passiert ist, aber auf einmal fing Lilja furchtbar an zu lachen, und Mamma kreischte los, und als ich genauer hinguckte, schwammen oben auf der Milch lauter Haferflocken und Himbeerkrümel wie Blumen in einem winzigen weißen Meer. Es sah schön aus irgendwie. Aber natürlich war es nicht schön, weil Mamma die anderthalb Liter Milch nun wegkippen und neue holen musste.

»Schütte die Milch doch einfach durch ein Sieb«, schlug ich vor. »Die Wölfe wissen ja nichts davon.«

Mamma guckte mich so böse an, als hätte ich sie gebissen. »Wenn du nur ein Mal nachdenken würdest, bevor du redest, Fenja. Und nenn sie nicht immer Wölfe, das sind unsere Gäste! Falls du es vergessen hast: Wir leben davon, dass sie hierherkommen und sich bei uns wohlfühlen, und das tun sie nicht, wenn sie Frühstück mit vollgespuckter Milch serviert bekommen.« Kopfschüttelnd stapfte sie davon.

»Das ist ja gar nichts«, flüsterte Lilja mir beim Rauslaufen zu. »Ich habe mal Salz in den Milchreis gekippt anstatt Zucker. Sie musste alles noch mal kochen. Da war sie sauer.«

»Und alles nur wegen den doofen Wölfen«, knurrte ich.

Meine Schwester ging packen und ich rannte zum Bus. Und der Tag wurde gleich noch ein bisschen blöder, als mir das klar wurde. Lilja war fertig mit der Schule. Erwachsen. Und sie konnte es nicht erwarten, auszuziehen und wegzugehen, nach Reykjavik, ans andere Ende meiner Welt.

»Red nicht so einen Quatsch«, hatte sie mich getröstet. »Das sind doch nur sechs Stunden Autofahrt. Ist ja nicht so, als würde ich den Kontinent verlassen.«

Aber sechs Stunden Autofahrt waren verdammt weit, wenn man zwölf Jahre alt war und die einzigen verfügbaren Fortbewegungsmittel Pferde waren.

Vor der Schule wartete Ingi auf mich und für einen kurzen Moment war alles Blöde aus dem Tag verschwunden. Ich rannte zu ihr, und wir umarmten uns, so wie wir es immer machten.

»Noch drei Stunden«, seufzte ich. »Dann sind endlich Ferien!«

»Ja«, stimmte Ingi zu und stupste mich an. »Wollen wir heute noch zusammen reiten?«

»Geht nicht. Heute ist doch Liljas letzter Tag. Mamma will, dass wir vorher noch feiern.« Als ob das ein Grund zu feiern wäre.

»Oh.« Ingi machte ein seltsam schuldbewusstes Gesicht. »Ach so. Na dann …«

Ich legte den Arm um sie, als wir zum Schulhaus schlenderten. »Wir haben ja noch den ganzen Sommer Zeit. Und ich habe Ródi endlich wieder für mich! Die Frau, die sich so in ihn verliebt hat, ist letzte Woche abgereist. Stell dir vor: Lilja hat mir von einem Wasserfall erzählt, der buntes Licht …«

»Fenja, stopp.« Ingi löste sich von mir los und schaute auf den Boden. »Ich muss dir was sagen. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit erzählen, aber ich hab mich nicht getraut, weil … ich bin … wir sind nicht da. Diesen Sommer. Wir verreisen.«

Ich starrte Ingi an. »Wie meinst du das? In Urlaub? Wann?«

»Morgen schon«, flüsterte sie. »Tut mir leid, wirklich, ich wollte es dir ja erzählen!«

»Und eure Pferde?«

»Um die kümmert sich Kalli.«

Ich schnaubte. Kalli! Ausgerechnet der. Pabbi mochte Kalli nicht, er war unsere größte Konkurrenz hier draußen. Er sagte immer, ohne Kalli hätten wir ein leichteres Leben. Ich mochte Kalli auch nicht, aber nicht weil er uns Kundschaft wegschnappte, sondern weil ich es nicht leiden konnte, wie ruppig er manchmal mit seinen Pferden umsprang.

Ingi schaffte es noch immer nicht, mich anzugucken, und auf einmal wäre ich am liebsten weggerannt. Doch ich holte tief Luft und fragte: »Wie lange seid ihr denn weg?«

»Den ganzen Sommer. Bis die Schule wieder losgeht. Wir sehen uns Europa an, Italien, Frankreich, Spanien …«

Und auf einmal sah ich Tränen in ihren Augen. Oder waren es meine Tränen? Ich drehte mich um und rannte ins Schulhaus. Im Klassenzimmer zog ich mir meine Kapuze über den Kopf und legte meinen Kopf auf die Arme. Keine Lilja mehr. Und jetzt auch keine Ingi? Das würden die schrecklichsten Ferien meines Lebens werden!

Am letzten Schultag fand sowieso kein richtiger Unterricht mehr statt, ich konnte also in Ruhe schmollen. Ingi steckte mir die ganze Zeit Zettel zu und malte traurige Smileys in mein Heft, aber ich ignorierte sie. Und als sie vor der Klasse von den Reiseplänen ihrer Familie berichtete und alle Stielohren bekamen, da drehte ich den Kopf ganz von ihr weg und starrte missmutig aus dem Fenster. Dicke Regenwolken rollten über den Ozean und malten den Himmel schlammfarben. Das passte perfekt zu meiner Stimmung.

»Fenja Aronsdottir, schläfst du?«

Ich hob langsam den Kopf. »Jetzt nicht mehr.«

Gekicher aus der Reihe hinter mir.

»Was hast du denn vor in den Ferien?«

Ich warf Ingi einen bitterbösen Blick zu. »Allein zum bunten Wasserfall reiten. Allein bei den Pferden schlafen. Oh, und allein in die heißen Quellen pinkeln, bevor die Wöl… die Touristen reinsteigen.«

Die anderen lachten. Ingi nicht. Ich hatte sie traurig gemacht. Aber ich konnte mich nicht mit ihr freuen, wie auch? Sie ließ mich den ganzen Sommer allein, sie alle ließen mich allein. Allein mit den Wölfen.

*

Ein Anhänger stand vor dem Haus, als ich von der Schule nach Hause kam. Skip lief schnüffelnd darum herum und hob sein Bein am hinteren Reifen. Ich biss mir auf die Zunge und ging langsamer. Nicht schon wieder! Ich wollte es gar nicht sehen, aber natürlich schaute ich trotzdem hin, als der Fahrer mit Pabbi aus dem Stall kam. Dicht hinter ihm lief ein Pferd, ein wunderschöner Wallach mit hellbraunem Fell und freudig funkelnden Augen.

»Ródi«, flüsterte ich und ließ meinen Rucksack fallen. Mit wenigen Sätzen war ich bei ihnen und bremste haarscharf vor der Anhängerrampe. Skip kam zu mir und wedelte mich zaghaft an.

»Geh ins Haus, Fenja«, sagte Pabbi scharf und betrat polternd die Rampe. Ródi folgte gehorsam, doch sein Blick blieb jetzt an mir kleben. Er war neugierig, wie immer, und machte alles so lieb mit, und mir zerriss es das Herz, ihn da raufgehen zu sehen.

»Na, Fenja«, brummte der Fahrer. Ich vergaß immer seinen Namen. Er brauchte keinen Namen, ich konnte ihn sowieso nicht leiden, aber an meinen erinnerte er sich nur zu gut. Wie sollte man auch ein Kind vergessen, das einem heulend am Bein hing und ihn anflehte, unser Pferd nicht mitzunehmen?

Pabbi warf mir einen warnenden Blick zu. Auch er erinnerte sich gut an das tobende Kleinkind. Ich war kein Kleinkind mehr. Mühsam schluckte ich die Tränen herunter, bevor er sie sah.

»Darf ich … mich verabschieden?«

»Geh ins Haus, hab ich gesagt, ich will keine Szene heute!«

»Lass sie doch«, knurrte der Fahrer. »Wir regeln solange den Papierkram.«

Ich kletterte durch die Seitentür hinein und sie verließen den Anhänger und schlossen die Rampe. Um uns wurde es duster. Und für einen Moment vergaß ich, dass ich kein Kleinkind mehr war. Ich stürzte auf Ródi zu, schlang die Arme um seinen Hals und drückte mein Gesicht in seine dichte Mähne. Tränen tropften auf seinen Hals, Tränen, die nur Ródi sehen durfte.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich erstickt. »So, so leid!«

Ródi zerrte unruhig an seinem Strick. Ich ließ ihn los. Seine Augen waren jetzt ganz dunkel und weit aufgerissen. Er verstand nicht, warum ich so aufgebracht war, ich machte ihm Angst damit. Ein lauter Schlag gegen die Wand des Anhängers – Pabbi wurde ungeduldig. Schnell wischte ich mir die Tränen weg und holte tief Luft. Dann legte ich meine Hand an Ródis Schulter und atmete ganz ruhig. »Du bist das allertollste Pferd, hörst du? Lass dir nie was anderes erzählen!«

Ródi schnaubte. Als würde er mir zustimmen. Und ich drehte mich um und sprang durch die Seitentür aus dem Anhänger und lief schnurgerade zurück zu meinem Rucksack, der noch immer neben der Auffahrt lag und nun von Skip bewacht wurde. Der Hund winselte leise. Er spürte genau, wie es mir ging. Ohne mich noch einmal umzusehen, verschwand ich mit schnellen Schritten im Haus.

Nicht weinen jetzt. Nicht rumheulen und nichts anmerken lassen. Das war meine einzige Chance, jemals was zu ändern.

Für Ródi konnte ich nichts mehr ändern.

Wir würden uns nicht wiedersehen.

*

Lilja war es, die mich auf der Wiese fand. In meinem alten Versteck zwischen den Grashügeln. Die Kuhle war voller Moos und früher hatte ich mich ganz hineinkuscheln können. Inzwischen war es kein gutes Versteck mehr, ich war zu groß, meine Schultern guckten immer oben heraus. Aber normalerweise kam niemand hier rauf und ich hatte trotzdem meine Ruhe.

»Sei nicht traurig«, sagte sie leise.

Ich zog die Kapuze noch tiefer über mein Gesicht und schlang die Arme um meine Knie. Weiter oben am Hügel tauchten zwei Pferde auf, beäugten uns kurz und begannen, sich die Mähne zu kraulen. Snjór und Baldur. Ródis Freunde. Der Schmerz bohrte sich wie ein Messer in meine Brust.

Um mich abzulenken, erzählte ich meiner Schwester von Ingi und ihren Reiseplänen und wie sehr sich alle außer mir für sie gefreut hatten und dass alles an diesem verdammten Tag einfach nur blöd und ungerecht war.

»Ingi kommt doch wieder«, tröstete meine Schwester mich.

»Ródi nicht.« Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Augen. Aber vor Lilja durfte ich wegen einem Pferd heulen. Sie war die Einzige in der Familie, die mich verstand. »Hast du … weißt du, wo Pabbi ihn …?«

»Deutschland«, sagte Lilja knapp. »Stand auf dem Kaufvertrag. Er geht jetzt in Quarantäne und wird dann ausgeflogen.«

»Die Rothaarige hat ihn gekauft, oder?« Ich schniefte und presste die Lippen zusammen. Die rothaarige Frau, die im Frühjahr schon einmal hier gewesen war und sich unsterblich in Ródi verliebt hatte. Wieso kapierten diese dummen Menschen nicht, dass sie unseren Pferden damit das Schlimmste antaten, was einem Islandpferd passieren konnte?

»So läuft es nun mal«, seufzte Lilja. »Denk nicht darüber nach.«

»Ich hasse es aber«, schnaufte ich. »Immer verkauft er gerade das Pferd, das ich am liebsten habe. Und jetzt gehst du auch noch weg …«

Lilja grinste. »Mich hat aber niemand verkauft! Ich bin nicht für immer fort, klar?«

»Warum musst du überhaupt gehen?«

»Muss ich nicht. Aber ich will es. Weißt du, man kann nicht immer nur am selben Ort bleiben. Das ist nicht gesund. Man muss auch mal gucken, was es sonst noch gibt. Die Welt ist so groß, Fenja.«

»Ich will aber gar nicht weg«, murrte ich. »Ich liebe es hier! Die Pferde, unser Land, den Vulkanhügel und das Wolkenwetter … Aber ohne euch ist das alles nur halb so schön. Könnt ihr nicht einfach alle hierbleiben?«

Lilja rutschte zu mir in die Kuhle und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. »Du wirst sehen, es bleibt nicht so. Du wirst nicht den ganzen Sommer allein sein. Irgendwo da draußen wartet dein Abenteuer, Fenja. Die Wolken in deinem Kopf verziehen sich, und dann ist es wieder schön hier, versprochen!«

Es tat gut, so in der Kuhle zu sitzen. Schulter an Schulter. Wie früher. Es war, als wären wir noch Kinder, und es fühlte sich an, als würde es immer so bleiben.

Aber wir waren keine Kinder mehr.

Nichts bleibt immer gleich.

Und Lilja hatte recht. Das Abenteuer war zu diesem Zeitpunkt keine zehn Steinwürfe von mir entfernt.

NEUE NACHBARN

Mamma, Skip und ich brachten Lilja schließlich zur Bushaltestelle nach Húsavík. Neben ihrer riesigen, vollgepackten Reisetasche sah sie selbst aus wie eine Touristin, und einen schrecklichen Moment lang glaubte ich, dass ich meine Schwester niemals wiedersehen würde.

»Guck nicht so traurig, Fenja.« Lilja stupste mich an. »Ich besuche euch bald, versprochen.«

Mamma umarmte Lilja mindestens so lang wie ich. Aber dann kam der Bus, und wir mussten sie loslassen, wenn wir nicht mitfahren wollten.

Einmal um die halbe Insel.

Lilja verräumte ihre Reisetasche und schulterte den kleinen Rucksack, den sie schon besaß, seit wir Kinder waren. Es war seltsam, aber es machte mir Angst, dass sie ihn mitnahm.

»Gute Reise!« Mamma winkte zum Fenster hinauf, hinter dem meine Schwester nun aufgetaucht war. »Und vergiss nicht anzurufen!«

»Lilja!« Ich rief, so laut ich konnte. »Lilja, bleib hier!«

Meine Schwester lächelte und schüttelte ganz leicht den Kopf. Dann formte sie mit ihren Fingern ein Herz und drückte es fest gegen die Scheibe.

Und aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an Amma denken. Amma, die auch nicht mehr da war. Aber das war natürlich Blödsinn. Amma war gestorben. Lilja wechselte nur die Stadt, sie konnte uns besuchen kommen oder wir sie, jederzeit! Trotzdem war ich traurig. Ich vermisste sie jetzt schon! Und obwohl sie gerade mal drei Sekunden fort war, wusste ich, dass es kein jederzeit geben würde.

*

Ich hörte Pabbis Stimme durch das offene Fenster, als wir daheim ankamen. Mamma drückte die Haustür auf, und da saßen sie, um den langen Esstisch herum. Unsere zehn Wölfe. Ich fand es immer wieder lustig, wie sehr sie sich alle über das Pferdefell aufregten, das an der Wand hinter dem Tisch hing. Und kaum vergingen drei Tage, schon hatten sie es vergessen und beachteten es nicht mehr.

»Die Felsen sind so alt wie das Land selbst«, erzählte Pabbi gerade, als wir die Küche betraten. Skip huschte unter den Tisch und suchte den Boden nach heruntergefallenen Krümeln ab. »Sie bilden kleine Dächer und Vorsprünge, und wenn man genau hinsieht, kann man manchmal ein Licht darin erkennen. Kein helles, künstliches Licht, wie wir es haben. Eher eine Art leuchtenden Nebel …«

»Kann man sie sehen?«, fragte Noah dazwischen. Der grauhaarige Opa aus England. Er und die anderen trugen bereits Reithosen und unsere orangefarbenen Regenjacken. Sie sahen damit aus wie wandelnde Pylonen. »Die Elfen – zeigen sie sich auch?«

Pabbi schüttelte den Kopf. »Oh nein. Sie zeigen sich niemals. Dennoch könnt ihr ihnen begegnen. Und sie werden sehr zornig, wenn man sie in ihrer Ruhe stört. Also seid vorsichtig, wenn ihr eine Elfenbehausung seht, und macht lieber einen Bogen drum herum. Sicher ist sicher.«

»Ist es denn gefährlich, in das Vergessene Tal zu reiten?«, wollte Agnes wissen. Sie strich sich das kurze blonde Haar zurück und warf ihrem nervigen Sohn einen amüsierten Blick zu.

Pabbi sah auf. Kurz trafen sich unsere Blicke, und ich wusste, was zu tun war – wir spielten dieses Spiel jedes Mal. Elfenhäuschen. Das Vergessene Tal. Die leuchtenden Nebel. Nur hatte ich heute keine Lust darauf, Touristen zu unterhalten. Ich hatte auf gar nichts Lust.

»Ja, ziemlich gefährlich sogar«, knurrte ich und stopfte die Hände in die Tasche meines Pullovers.

»Es ist nicht gefährlich«, sagte Mamma hinter mir. »Aber wir haben keine Erlaubnis, durch ihr Tal zu reiten. Deshalb führen wir euch an einen Ort ganz in der Nähe.«

Pabbi ließ mich nicht aus den Augen, also drehte ich mich um und verließ die Küche. Doch ich war gerade zwei Stufen die Treppe hinauf, als sich seine große Hand auf meine Schulter legte.

»Fenja«, sagte Pabbi ruhig. »Warte.«

Genervt blieb ich stehen und schaute ihn an. Bestimmt wollte er mir einen Vortrag halten, weil ich meine schlechte Laune an den Wölfen ausließ. Ich biss mir auf die Lippe, bis ich Blut schmeckte.

»Zieh dich um. Du kommst mit uns.«

Erstaunt starrte ich ihn an. »Äh, was?«

»Deine Schwester kann den Job nicht mehr machen, also wird es Zeit, dass du ihn lernst. Zieh dich um, ich brauche dich. Du wirst als Schlusslicht reiten und achtgeben, dass mir keiner verloren geht.«

Vor lauter Überraschung vergaß ich, ihm zu antworten. Pabbi drehte sich um und stapfte zur Tür hinaus, und ich konnte nicht glauben, was ich gehört hatte. Ich. Durfte. Mit. Ich! Kurz, nur ganz kurz war ich in Versuchung, sauer zu bleiben und es nicht zu tun. Wegen Ródi. Und all den anderen, die er weggeschickt hatte. Aber wollte ich das nicht schon so lange? War es nicht Teil des Plans? Ich musste mit, ich musste alles lernen und wissen, sonst würde ich sie niemals retten können.

In fliegender Hast stürmte ich die Treppe hinauf, in mein Zimmer, tauschte die Jeans gegen Reithosen und war unten an der Tür, bevor die Pylonenmenschen auch nur in ihre Stiefel geschlüpft waren.

*

Leiser Nieselregen setzte ein, als wir die Sättel festzurrten.

»Ach, Mist«, hörte ich eine der beiden deutschen Frauen seufzen. »Meine ganzen Reitfotos sind verschwommen. Immer regnet es in diesem Land!«

Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu lachen. Oh ja. Regen hatten wir hier viel. Und erst der Wind, der einem um die Ohren pfiff! Wenn ich gekonnt hätte, ich hätte es jeden Tag regnen lassen. Und den Wind hätte ich in wilde Stürme verwandelt, damit es noch ungemütlicher wurde und alle zu Hause blieben, wo sie hingehörten!

Pabbi verteilte die Pferde an die Wölfe. Katja, die über den Regen gemeckert hatte, war unzufrieden und bat darum zu tauschen. Mosa war ihr gestern schon zu langweilig gewesen. Sie wollte lieber Aska haben oder Snjór. Sie hatte keine Ahnung – Mosa war eine Traumtölterin, wenn man nicht ständig am Zügel riss und in den Steigbügeln herumhüpfte! Jedes schlechte Wort aus einem ihrer Münder ließ ihren Wert bei Pabbi sinken, bis Mosa irgendwann nicht mehr mitlaufen durfte auf den Trecks. Und was das bedeutete, das wollten sich diese blöden Fremden nicht mal vorstellen.

Am Ende durfte die Meckerfrau auf Aska reiten und Pabbi überließ Mosa mir.

»Mach ihr Beine, wenn sie nicht spurt«, sagte er zu mir. »Sie ist gestern schon kaum hinterhergekommen.«

»Reiten wir doch zum Vergessenen Tal?«, fragte ich Pabbi leise.

Er blickte nicht auf, als er an mir vorbeiging, er brummelte nur: »Natürlich nicht. Wir reiten zum Sturmsammler.«

»Oh, das ist gut.« Erleichtert führte ich Mosa ans Ende der Truppe und zog den Sattelgurt stramm. Dann schwang ich mich auf ihren Rücken und merkte, wie sie sich anspannte. Da stimmte was nicht – sie war total verkrampft. Also wieder runter, Beine abtasten. Ich ließ sie an der Hand ein Stück traben. Alles normal. Der Schmerz schien aus dem Rücken zu kommen. So konnte ich sie nicht reiten. Ich legte die Steigbügel über den Sattel und öffnete den Gurt.

»Was treibst du da?« Pabbi stand auf einmal neben mir, auf dem tänzelnden Fjall.

»Ich bringe sie wieder rein«, erklärte ich kurz. »Mosa fällt heute aus.«

»Geht sie lahm?«

»Nein, aber … ihr Rücken tut weh.«

Pabbis Augen wurden dunkel. »Dann muss sie da durch. Wir haben keine Zeit, jetzt noch mal umzusatteln.«

»Aber …«

»Fenja«, zischte Pabbi, und ich wagte nicht, noch einmal zu widersprechen. Für Mosa machte ich damit alles nur noch schlimmer. Also Bügel wieder runter und den Gurt schnell fest.

Bevor ich aufstieg, legte ich meine Hand auf ihren Hals und flüsterte: »Es tut mir leid. Ich stör dich nicht, okay?«

Wir ritten los und folgten der Schotterstraße bis zum Lavaweg. Sofort wurden die Pferde schneller, manche fielen von selbst in Tölt, aber keines von ihnen traute sich, Fjall zu überholen. Pabbi sah sich einmal kurz um, dann ließ er Fjall laufen. Es war ein schönes Bild – Fjalls wirbelnde Hufe, die im Regendunst verschwanden, und dahinter die zehn wackelnden Pylonenmenschen. Geschickt wichen die Pferde den spitzen Lavasteinen auf dem engen Pfad aus, sie konnten das, sie hatten das schon tausendmal gemacht. Aber die andere Deutsche – hieß sie Simone? – hing wie ein nasser Sack im Sattel und rutschte von einer Seite zur anderen. Kein Wunder, dass ein Pferd da Rückenweh bekam.

Mosa stolperte zweimal, was ich von ihr nicht kannte. Ich ging in den Entlastungssitz und machte mich so unspürbar wie möglich. Am langen Zügel ließ ich sie traben. Nach einer Weile merkte ich, wie sie lockerer lief und den Rücken hochwölbte. Jetzt konnte sie auch wieder tölten, ohne zu stolpern. Trotzdem musste sich jemand ihren Rücken angucken. Und sie brauchte Pause von Wackelpylonen.

Als wir die ersten Hügel erreichten, parierte Pabbi durch. Hier musste man aufpassen, wo man entlangritt, damit man nicht versehentlich in einem Schlammtopf landete. Im schnellen Schritt ging es dahin, immer höher, über unwegsame Steinbrocken und an gefährlichen Steilhängen vorbei. Hier hatten früher einmal Menschen gelebt, aber der Vulkan hatte ihre Häuser unter seiner Lava begraben. Nur eine kleine Kapelle hatte den Ausbruch überstanden, sie stand einsam auf ihrem Hügel mitten im felsigen Labyrinth.

»Leben hier auch Elfen?«, wollte Noahs Frau Helen wissen, als wir an der Kapelle vorbeiritten. »Guckt mal, dadrin, da brennt ein winziges Licht …«

Ich musste mein Gesicht in Mosas Mähne vergraben, um nicht laut loszulachen. Eine Kapelle als Elfenbehausung? Ganz bestimmt niemals. Das Licht gehörte zum Schein einer Kerze, und die hatte irgendein Mensch angezündet, so wie in einer großen Kirche auch. Diese Fremden hatten wirklich überhaupt keine Ahnung.

Wenn sie gewusst hätten, dass wir eine echte Elfenhöhle auf der Koppel hatten! Gleich hinter den Hütten, in denen sie schliefen, ganz oben an der Wiese. Es war nur eine Kuhle mit Moos darin, aber sie war immer kuschelig und warm, auch im Winter. Der Schnee schmolz an dieser Stelle, und manchmal, wenn man sehr still war, hörte man es darin flüstern. Doch das sagte ich nicht laut, das ging die Wölfe nichts an.

Wir ritten an der Felskante entlang, bis wir die andere Seite erreicht hatten. Hier wurde der Boden weich und schwammig und Mosa wäre gern schneller gelaufen. Ich hielt sie zurück, damit ich alle im Blick behalten konnte. Steil, steil ging es bergab, aber dann hatten wir es geschafft, und vor uns erstreckte sich eine weite grüne Ebene. Mosa spannte ihre Muskeln an, vor mir machte Snjór einen Satz – die wollten endlich galoppieren! Doch dann sah ich, dass zwei der Amerikaner sich ängstlich an ihre Sättel klammerten. Na toll. Ich schob mir zwei Finger in den Mund und pfiff, bis Pabbi sich zu uns umwandte. Sofort erfasste er die Situation und bremste Fjall zu einem langsamen Tölt.

Mosa trippelte unzufrieden und ich parierte sie durch. Sollten die doch alle diesen schönen Galoppweg verschenken! Ich wartete, bis sie die Flussbiegung erreicht hatten, dann gab ich der ungeduldigen Mosa die Zügel frei, und wir jagten in wildem Galopp hinter den anderen her!

Es gab ein klitzekleines Chaos, als wir in die Gruppe stürmten. Snjór und Àlfar wirbelten zu uns herum, Aska bockte, und Galsi sprang in den Fluss hinein, weil er dachte, dass wir endlich alle Spaß haben würden!

»Fenja«, brüllte Pabbi. »Was fällt dir ein!«

Ich biss mir auf die Lippe und zog den Kopf ein. »’tschuldigung. Sie wollte halt so gern.«

Zum Glück musste Pabbi den prustenden Galsi einsammeln und die Pylonenmenschen beruhigen, die vor lauter Schreck vom Pferd gesprungen waren.

Ich streichelte Mosa heimlich den Hals. »Nicht schlimm«, flüsterte ich. »So konntest du deinen Rücken mal ordentlich strecken, was?«

Wir folgten dem Fluss eine Weile, dann durchquerten wir sein steiniges Bett an einer seichten Stelle und ritten hinauf zum Sturmsammler. Das war eigentlich nur ein großer Felsen, der in seiner Mitte ein kreisrundes Loch hatte. Man sagte, hier würde der Stein den Sturm einfangen und als friedliches Lüftchen wieder hinauspusten.

Pabbi stieg ab und ließ Fjall an seiner Seite grasen.

»Es gibt viele Orte auf Island, an denen die Elfen hausen«, raunte er mit geheimnisvoll tiefer Stimme. »Manche davon könnt ihr sehen, denn dort stehen winzig kleine Häuschen mit roten Dächern. Es gibt Leute, die kleine Geschenke davor ablegen. Das tun sie, um die Elfen zu besänftigen oder um sie zu bitten, ihnen bei wichtigen Entscheidungen zu helfen.«

»Auf der Farm stehen auch solche Häuschen«, meldete sich Katja, die Meckerfrau, und packte ihr Brot aus. »Gleich hinter dem Stall!«

Pabbi warf mir einen Blick zu. Das waren Liljas Häuschen, und niemand wusste, ob dort wirklich Elfen eingezogen waren.

»Sie mögen es nicht, wenn sie gestört werden. Also lassen wir sie in Ruhe und sie lassen uns in Ruhe. Solange wir friedlich sind, geschieht niemandem etwas.«

»Was ist mit Trollen?«, fragte Björn, Agnes’ Sohn, der überallhin seine riesige Kamera mitschleppte. »Die sollen doch auch hier leben, oder?«

»Vor den Trollen müsst ihr euch nicht fürchten.« Pabbi klopfte auf den Felsen, an dem er lehnte. »Sie sind Wesen der Dunkelheit. Bei Sonnenlicht werden sie zu Stein und können niemandem gefährlich werden.«

»Es ist Sommer, Björn.« Agnes grinste und warf ihm ein Brot zu. »Da wird es so gut wie nie dunkel.«

»Aber es gibt Wesen, vor denen ihr euch in Acht nehmen solltet.« Pabbi senkte seine Stimme zu einem Flüstern und die Wölfe verstummten. Nur das stetige Heulen des Windes im Sturmsammler und das Kauen der Meckerfrau waren noch zu hören. »Es ist das Huldufólk, die einstigen Bewohner des Vergessenen Tals. Ihr könnt sie nicht sehen, daher nennt man sie auch die Verborgenen. Dennoch sind sie da. Sie waren schon vor uns da, vor den Menschen. Bevor der erste Wikinger seinen Fuß auf dieses Land setzte. Die Eisriesen und die Feuerriesen selbst haben sie auf diese Insel geschickt und ihnen eine uralte und sehr mächtige Magie geschenkt.«

»Warum leben sie im Verborgenen?«, wollte Noah wissen.

»Es heißt, sie wurden verbannt«, erzählte Pabbi weiter. »Die Verborgenen schützen das Land und die Insel, aber sie wollen es auch für sich haben. Und manchmal, wenn wir ihnen in die Quere kommen, richten sie ihre Magie gegen uns. Deshalb halten wir uns von Orten fern, an denen die Verborgenen hausen.«

»Was geschieht dann?«, fragte Simone. »Wenn man ihnen unabsichtlich doch in die Quere kommt?«

»Dann steigt kalter, undurchdringlicher Nebel auf, der alles und jeden verschlingen kann!«

Unbehaglich sahen sie sich um. »Und nicht weit von hier … ist ihr Zuhause?«

»Ein vergessenes Zuhause«, klärte Pabbi sie auf. »Hier leben schon seit Jahrzehnten keine Huldu mehr.«

Björn hatte seine Kamera vor dem Gesicht und betrachtete den Sturmsammler durch die Linse. »Woher wisst ihr von ihnen?«, fragte er. »Wenn sie doch Verborgene sind.«

»Weil sie sich uns manchmal zeigen«, warf ich ein. »Sie haben Pferde, wie wir. Und sie sind die besten Reiter, die es auf der Insel gibt.«

»Sie werden euch nichts tun.« Pabbi ging in die Hocke und sah jeden von ihnen eindringlich an. »Solange ihr nur eine Regel beachtet: Stehlt niemals einem Huldu sein Pferd! Da verstehen sie keinen Spaß. Und wenn ihr eine Gänsehaut auf der Haut verspürt, obwohl niemand zu sehen ist – dann beobachten sie euch womöglich gerade.«

Einen Moment lang waren sie still, sie alle. Die Meckerfrau hielt ihr angebissenes Brot in der Hand und schaute sich um, als würde gleich eine wilde Horde Huldu-Reiter auf sie zugaloppieren und sie in ihrem kalten Nebel verschwinden lassen.

»Und dann warten wir, bis es dunkel wird, und rufen einen Troll zu Hilfe«, sagte Björn hinter seiner Kamera, und alle lachten.

Der Bann war gebrochen, und sie fingen wieder an, miteinander zu schnattern und zu reden. Pabbi hatte ihnen mit seiner Geschichte trotzdem einen schönen Schrecken eingejagt. Ich verbiss mir ein Grinsen und kraulte Mosa hinter den Ohren. Dabei wusste ich genau, dass sie sich nur gruselten, solange wir hier draußen saßen und der Wind ihnen in die Ohren wisperte. Für Fremde waren die Huldu nichts als Geschichten, die sie mit nach Hause nahmen.

Wir rasteten noch eine Weile und unsere Pferde suchten auf dem steinigen Boden nach essbaren Halmen. Die Pylonenmenschen kletterten auf die Felsen des Sturmsammlers und untersuchten achtlos die Ritzen und losen Steinchen. Pabbi beobachtete es mit gerunzelter Stirn. Das war genau der Grund, warum er die Wölfe niemals wirklich ins Vergessene Tal führen würde. Alles mussten sie anfassen, fotografieren oder am liebsten gleich mitnehmen.

Als wir wieder aufsaßen, rissen die Wolken auf und sogar der Wind verstummte. Wir ritten am Fluss entlang, bis er sich teilte, durchquerten erst den einen und dann den anderen Lauf und kamen schließlich wieder auf ein lang gestrecktes Wiesenstück, das voller kleiner Hubbel und Gräben war. Mosa wollte schon wieder galoppieren, aber Pabbi drehte sich zu mir um und zog warnend die Brauen hoch.

Auf einmal bemerkte ich eine Bewegung auf dem Pfad. Links von uns kamen Reiter. Sie waren weit genug entfernt, um uns nicht zu begegnen, aber doch so nah, dass ich die weit aufgesperrten Nüstern ihrer Pferde erkennen konnte. Sie mussten schon eine Weile unterwegs sein.

Das erste Pferd, ein kräftiger Rappe, wurde von einer sehr alten Frau in einem schneeweißen Cape geritten. Dicht hinter ihr folgten ein paar Männer in weiten dunklen Ponchos. Ich hob die Hand und winkte, doch sie blickten starr an uns vorbei, als wären wir gar nicht da. Sie hatten einige frei laufende Pferde dabei, die sich artig zwischen ihnen hielten.

Ganz hinten lief ein Schecke, auf dem ein Mädchen saß – ein Mädchen, das vielleicht so alt war wie ich – und verkniffen nach unten schaute. Sie hatte weißblonde, hochgesteckte Haare und trug ein kurzes eisblaues Cape, das ihr wie Flügel um die Arme wehte. Seltsam. Wo kamen die her? Das Mädchen hatte ich hier noch nie gesehen, das wusste ich genau. Auf unsere Schule ging sie auch nicht. Aber mein Gefühl sagte mir, dass die Reiter keine Fremden waren.

Auf einmal tauchte Fjall an Mosas Seite auf. »Huldu«, raunte Pabbi. »Sieh nicht hin.«

Ich erschrak und wandte den Kopf ab, genau wie er. Doch natürlich sah ich trotzdem hin. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie die alte Frau ihren Rappen geschickt auf ein Plateau lenkte und die Gangart wechselte, fließend und leicht. Reiten konnte die! Und dabei sah sie wirklich ziemlich alt aus.

Die anderen folgten ihr mühelos, nur das Mädchen stellte sich nicht so geschickt an. Sie zog ein Gesicht, als wäre ihr übel – wie ich, wenn ich auf ein Schiff steigen musste. Ihre Hände krampften sich um die Zügel und sie saß steif und mit starrem Blick auf ihrem wunderschönen Schecken. Das Pferd versuchte, mit den anderen Schritt zu halten, es sprang auf das Plateau hinauf, und das Mädchen wurde im Sattel nach hinten katapultiert. Beinahe wäre sie seitlich runtergerutscht, sie hielt sich gerade noch an der Mähne fest. Ihr Pferd töltete los, doch der Vorsprung des Rappen war schon zu groß. Es fing an zu galoppieren, aber nur mit den Vorderbeinen, und das Mädchen rupfte hilflos am Zügel und brachte den armen Schecken damit völlig durcheinander.