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Auf dem Ginsterhof taucht wie aus dem Nichts ein fremdes Pferd auf, das niemandem zu gehören scheint. Obwohl Jola bisher mit Pferden nichts am Hut hatte, zieht der weiße Hengst sie sofort in seinen Bann. Warum spürt sie eine so tiefe Verbindung zu ihm? Und wieso scheint es, als wäre er schon immer auf dem Ginsterhof zu Hause? Zusammen mit der pferdevernarrten Katie versucht Jola, das Rätsel um seine Herkunft zu lösen.
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Seitenzahl: 342
Band 1: Die Spur des weißen Pferdes
Band 2: Eine Fährte im Sturm
Band 3: Schatten im Wind
Band 4: Ein Schimmern am Horizont
Geisterstunde
Sternschnuppenmorgen
Bleiberechte
Pferdebilder
Lotte 1943
Mistgeschicke
Nebelnachtgestalten
Herr Ernst und das Leben
Phantomzeichnung
Lotte 1943
Pferdestunde
Orientierungshilfen
Lotte 1943
Neue Pläne
Familiengeheimnisse
Schaukelpferdmentalität
Geistergeschichten
Reitverbote
Lotte 1944
Zwei Reiter und ein Pferd
Geisterjagd
Drei Reiter und ein Pferd
Fremde Schatten
Gewissheitsfragen
Nebelnachtgeheimnisse
Lotte 1944
Über sieben Ecken
Schatten im Wind
Spurensuche
Geheimlichkeiten
Lotte 1944
Eine neue Spur
Geheimzeichen
Ausnahmezustand
Wolkensterne
Lotte 1944
Des Lösungs Rätsel
Ouijahooo!
Der volle Mond hing genau über dem mächtigen Hoftor. Obwohl, wie ein Hof sah das Gebäude gar nicht aus – eher wie ein altes, verwunschenes Schloss. Der Mann hatte es Hof genannt: Ginsterhof. Der Mann, der sie abgeholt hatte, mit einem Geländeauto voller Zebrastreifen.
»Wir sind da«, verkündete er und zwinkerte ihr im Rückspiegel zu.
Kies spritzte hoch, als er durch den Torbogen fuhr und vor einem riesigen Haus anhielt. Der Mond schüttete milchiges Licht auf die Steinwände, die zugeklappten Fensterläden und die zweiflügelige Haustür, die oben gewölbt war und so breit, dass ein ganzer Elefant hindurchgepasst hätte. Breite Kieswege schlängelten sich zwischen Raseninseln und niedrigen Büschen vom Haus zu den anderen Gebäuden. Direkt am Haus klebte ein runder Turm mit hohem, spitzem Dach, der aussah wie Rapunzels Schlafzimmer.
Sie parkten unter einem Kastanienbaum, wo ein Autoreifen an einem langen Seil baumelte.
»Das ist ja der Wahnsinn!«, rief ihr Vater. Er breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. »Hier wohnt ihr?«
»Bei Tageslicht ist es ein gewöhnlicher, alter Bauernhof.« Der Mann, der Stefan hieß, holte ihre Rucksäcke aus dem Kofferraum. »Aber jetzt kommt erst mal rein.«
»Ganz kurz noch.« Sie wollte nicht reingehen. Das war zu irre. Seitlich des Hofs konnte sie die anderen Gebäude im Mondlicht erkennen, eine Garage mit Dachzimmer, auf der irgendwas geschrieben stand, eine Art Unterstand, dann ein langes Haus mit lauter vergitterten Fenstern, das wie ein L ums Eck gebaut war. Oben im Dach waren runde Luken wie bei einem Schiff. Und in allen Ecken und Winkeln lauerten Schatten wie die Geister aus längst vergessenen Zeiten.
Schritte knirschten im Kies, dann dröhnte ein heiseres Bellen los. Sie wirbelte herum und sah gerade noch, wie ihr Vater von einem monströsen Hund umgerannt wurde.
»Lass das, Minnie, was soll denn der Blödsinn?« Stefan packte den Hund am Ohr und zog ihn von ihrem Vater weg, aber der lachte nur.
»Sie riecht den Fisch. Mein Sitznachbar im Flieger hat sein Menü netterweise mit meiner Hose geteilt.«
Stefan schickte den Hund zurück ins Haus und stellte sich so, dass sie gefahrlos an ihm vorbeigehen konnten. Der Hund war wirklich unglaublich riesig, viel größer als die Hirtenhunde, sogar größer als die größten Schafe, die sie getroffen hatte. Und hässlich war der, am ganzen Körper schrumpelig, dazu ein faltiges Maul mit einer Stummelnase, das Fell raspelkurz in der Farbe vergammelter Bananen. Eine blaue Zunge hing zwischen seinen Zähnen aus dem Maul. Sie drückte sich vorsichtshalber dicht an der Mauer an ihm vorbei, bevor der Hund noch auf die Idee kam, ihr ins Gesicht zu atmen.
»Da seid ihr ja endlich!« Eine Frau kam den Gang entlang, im Bademantel, die Hände um ein Geschirrtuch geschlungen. Sie hatte kurze blonde Locken und war einen halben Kopf kleiner als sie. Ein Duft zog durch den Gang, der ihr das Wasser im Mund zusammentrieb. »Hallo, ich bin Helen Weber.«
Sie schüttelte ihre Hand, die erstaunlich kräftig war.
Ihr Vater trat vor und umarmte die Frau. »Hallo, Helen, schön, dich wiederzusehen. Es ist wirklich sehr freundlich, dass wir hier bei euch unterkriechen dürfen.«
»Ist doch selbstverständlich. Immerhin gehört ihr quasi zur Familie.« Sie warf sich das Geschirrtuch über die Schulter. »Wir haben euch im Anbau einquartiert. Dort habt ihr zwei Zimmer zur Verfügung. Ich hoffe, das ist in Ordnung für euch.«
»Ach, keine Umstände. Jola und ich haben das letzte Jahr im Bulli gewohnt, für uns ist ein Zimmer schon der pure Luxus.«
Solange es sich nicht bewegt, dachte Jola.
»In so einem alten VW-Bus?« Stefan klopfte sich die Schuhe ab und stellte sie sorgfältig ins Regal. »Das musst du mir erzählen. Ich kann gar nicht glauben, dass ihr direkt aus Neuseeland kommt. Ist das nicht ein Traum?« Er lächelte seine Frau an. »Unsere längste Reise ging an die Ostsee.«
Die Frau zwickte ihn in den Arm. »Wer sagt denn immer, dass es daheim am schönsten ist? Aber kommt doch rein. Ich habe eben Muffins gebacken – Katie hat auch Übernachtungsgäste mitgebracht.«
Jola zog ihre Sneakers aus und tappte hinter den anderen den Gang hinunter. Roter, kühler Steinboden. Zu allen Seiten schwere Holztüren mit Schnörkeln darauf. Eine stand offen, dahinter sah sie eine babyblaue Küche mit einem riesigen gusseisernen Ofen in der Mitte, in dem ein echtes Feuer brannte. Die Wärme und der Duft nach Kuchen brachten sie beinah um den Verstand.
Helen lotste sie in den geräumigen Wohnraum. Das Turmzimmer. Eine gemütliche Holzbank mit gelben und grünen Kissen war in die Rundung hineingebaut und auf dem Esstisch stand eine herbstlich dekorierte Schale voller Trauben und Äpfel. Hier hätten locker drei Familien Platz gehabt.
Der Hund drückte sich an ihr vorbei und legte sich ganz selbstverständlich auf den Flusenteppich unter dem Tisch.
Okay, keine drei Familien – dafür eine mit Riesenhund.
»Setzt euch, dann könnt ihr erzählen«, sagte Helen. »Ich bin gleich wieder da.«
Stefan stellte ein Bier vor ihren Vater, und Jola wusste, dass die Nacht lang werden würde. Ob sie sich nach draußen schleichen konnte? Den Hof erkunden? Im Mondlicht war das bestimmt spannender als am Tag.
Plötzlich polterte es über ihren Köpfen und kurz darauf stürmten drei Mädchen in die Stube. Das erste von ihnen hatte blonde Locken und graublaue Augen, genau wie Helen.
»Sind die Muffins fertig?«
»Du könntest wenigstens Hallo sagen, Katie. Wir haben Gäste.« Stefan deutete mit dem Kopf auf Jola und ihren Vater.
»Hallo.« Katie winkte in die Runde. »Also, sind sie fertig?«
»Setzt euch hin, ich kriege euch alle satt.« Helen balancierte ein Tablett herein, auf dem eine Teekanne schaukelte und ein Teller mit gestapelten Schokoladenmuffins.
»Och nee, Mama, wir wollten die doch mitnehmen!« Katie tauschte einen Blick mit ihren Freundinnen, die nur stumm grinsten. »Ihr könnt euch doch viel besser ohne uns unterhalten.«
Helen seufzte. »Na, von mir aus. Dann hol schnell eine Tupperbox.«
»Danke, Ma!« Katie verschwand in der Küche und kam kurz darauf mit einer Plastikschale zurück, die ihre Mutter bis über den Rand mit Schokomuffins füllte. »Bis morgen dann!«
»Katie, warte mal!«
Missmutig stoppten die drei Mädchen in der Tür und drehten sich um.
Stefan deutete auf Jola. »Ich glaube, Jola hat auch keine Lust auf Erwachsenengespräche. Nehmt sie doch mit!«
Jola konnte sehen, was Katie davon hielt. Sie schaute ihre Freundinnen an, aber die trauten sich nicht, den Mund aufzumachen. Dann guckte sie Jola an und hoffte wohl, sie würde Nein sagen.
»Was macht ihr denn?«, fragte sie.
»Wir schlafen im Heu«, sagte Katie, und es klang, als wäre das die langweiligste Sache auf der Welt.
»Katie …«, setzte Helen an, aber Jola war schon aufgesprungen und hatte sich einen Muffin vom Teller genommen. Im Heu schlafen war allemal spannender, als die halbe Nacht Geschichten zu hören, die sie selbst erlebt hatte. Diese Mädchen waren ihr egal, sie konnte sich auch allein den Hof angucken!
Im Flur schnappte sie sich ihren Schlafsack, den Stefan an ihren Rucksack gelehnt hatte. Die Mädchen warteten nicht auf sie, sondern stapften laut schwatzend über den Kies und steuerten das L-Haus mit den vergitterten Fenstern an. Erst an der Tür blieb Katie stehen, als wäre ihr eben wieder eingefallen, dass sie auch dabei war.
»Wie heißt du noch mal? Lola?«
»Jola. Eigentlich Jolanda, aber das … war zu lang. Jola.«
»Aha. Ich bin Katie. Eigentlich Katharina, aber das war zu blöd.« Katie zeigte auf ihre Freundinnen, die nur leise kicherten. »Das ist Lea und das Sanne.«
»Seid ihr irgendwie verwandt oder so?« Lea pustete sich eine kurze dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Nicht richtig«, sagten Jola und Katie gleichzeitig.
Katie schüttelte ihren Lockenkopf. »Unsere Papas sind so was wie Brüder. Also keine Blutsbrüder. Ihr Dad hat als Kind bei meinem Dad gewohnt.«
»Und jetzt wohnt ihr hier?« Sanne legte den Kopf schräg und musterte sie neugierig.
»Ja. Na ja.« Jola kaute auf ihrer Lippe. »Bis wir was Eigenes gefunden haben.«
»Übrigens wird das keine normale Nacht«, informierte Lea sie. »Du hast doch keine Angst vor Gespenstern, oder?«
»Du meinst Geister?« Jola versuchte, an Katie vorbei ins Dunkel zu schielen. Was war das für ein Haus, in dem sie da schlafen wollten?
»Oh ja. Es spukt nämlich auf dem Ginsterhof!«
»Und bei Vollmond kann man das Gespenst hören«, raunte Sanne. Sie machte große Kugelaugen, aber ihre Stimme bebte dabei. »Wie es durch die Gänge schleicht und im Stroh wühlt.«
»Oder Wassereimer umschmeißt. Und Äpfel durch die Gegend wirft.«
»Psst«, machte Katie und legte den Finger an die Lippen. »Seid still, er kann euch doch hören!«
»Ihr veräppelt mich, oder?« Jola schaute sich um. Der dunkle Hof verschwamm im nächtlichen Dunst und sie konnte gerade noch die Umrisse des Hauses erkennen.
»Du kannst ja wieder reingehen, wenn du Schiss hast«, meinte Lea.
»Vor Geistern hab ich keine Angst.« Jola beugte sich vor und senkte die Stimme. »In Kaikoura haben wir eine Frau getroffen, die mit ihrem toten Sohn sprechen konnte. Der hat jeden Abend an ihr Fenster geklopft, bis sie ihn endlich hereingelassen hat. Er wollte sie warnen, dass ein Tsunami kommt und ihr Haus zerstört.«
Die Mädchen starrten sie an.
»Das ist doch Blödsinn«, platzte Lea heraus. »Das denkst du dir gerade aus!«
»Das mit dem Tsunami hat wirklich gestimmt. Er hat alles verwüstet. Sie konnte sich nur retten, weil sie auf ihn gehört hat.«
Sanne drückte sich dicht an Katies Schulter. »Okay, das reicht echt. Können wir bitte wieder über was Normales reden?«
»Wir können auch endlich mal reingehen.« Katie wackelte mit der Tupperbox und verdrehte die Augen. Sie drückte mit dem Hintern die Tür auf und trat rückwärts in das dunkle Gebäude.
Mondlicht fiel durch die vergitterten Fenster und leuchtete ihnen den Weg. Das Haus war ein Stall mit hohen Wänden und einer langen Reihe von Boxen. Jolas Herz klopfte schneller und ihre Hände wurden feucht. Pferde! Es gab Pferde hier? Wobei … schwere Eisenriegel hingen an den Türen, aber sie alle standen offen. Keine Pferde. Der Stall war leer.
»Da lang«, flüsterte Katie. »Die Leiter hoch!«
Während die anderen hinaufkletterten, blieb Jola stehen, die freie Hand an der untersten Sprosse. Es roch nach Heu, nach feuchter Streu, nach Staub und alten Geschichten. Das Gebälk knarzte, und sie hörte ein Rascheln im Stroh, dann war alles still. Kurz glaubte sie, in einer der Boxen doch etwas zu sehen, einen Schatten – oder war es nur ein Spiel des Mondlichts? Sie nahm den Muffin zwischen die Lippen, packte die Sprosse fester und zog sich auf den Heuboden hinauf.
»Buh!«, machte Katie und sprang hinter einem Heuballen hervor. Lea gackerte und Sanne grub ihre Hände ins lose Heu. »Wir dachten schon, du hast doch kalte Füße gekriegt.«
»Sehr lustig.« Jola ließ ihren Schlafsack fallen und rollte ihn aus. Die anderen Mädchen hatten sich schon Schlafplätze gebaut und dicke Decken auf dem Heubett ausgebreitet. Katie stellte die Tupperbox darauf ab und alle stürzten sich auf die Muffins. Lea fing an, von einem Jungen aus ihrer Klasse zu erzählen, den sie zufällig getroffen hatte. Sie lachten über einen Witz, den Jola nicht verstand, und dann fing Katie an, von den Pferden zu reden, von ihren Ferien und Plänen für ein Turnier.
Sie hatten vergessen, dass sie Jola mitgenommen hatten.
Sie hatten vergessen, dass es Jola gab.
Der Muffin schmolz in ihrer Hand, also verdrückte sie ihn schnell und kroch in ihren Schlafsack. Sie wollte nicht schlafen, jetzt noch nicht, aber in Neuseeland war es schon wieder mitten am Tag, und sie hatte seit – wie vielen? – Stunden kein Auge zugemacht, sodass der Schlaf sie einfach mit sich riss.
Irgendwann in der Nacht wurde sie wach. Es passierte so schnell, dass sie zuerst gar nicht wusste, wo sie war.
Etwas pikste sie in den Arm und sie hörte ein Rascheln und leises Schnaufen.
Ginsterhof. Schokomuffins. Heuboden. Pferde. Pferde?
Jola setzte sich auf und spähte in das Zwielicht. Die anderen Mädchen schliefen tief und fest. Katie hatte sich in ihre Decke gewickelt und benutzte einen dicken Pulli als Kopfkissen. Lea schnarchte leise und Sannes blonder Pferdeschwanz lag wie ein Fächer im Heu. Wie spät es wohl war? Und warum war sie aufgewacht – wegen des Jetlags?
Wieder raschelte es im Stroh, aber die Umrisse der Mädchen bewegten sich nicht. Jola schälte sich aus ihrer warmen Hülle und kroch zum Rand der Luke, um nach unten zu sehen.
Milchiges Mondlicht schwamm über den Gang. Gab es hier Katzen? Mäuse? Igitt, oder Ratten? Etwas bewegte sich da unten, drängte das Mondlicht beiseite. Kein Schatten, eher eine Art Licht. Eine der Boxentüren quietschte und sie hörte – Schritte? Eine Wolke schob sich vor den Mond und im selben Moment wurde es stockfinster im Stall. Die Schritte waren nun deutlich zu hören, hohl, dumpf, laut. Ihr Herz klopfte genauso laut, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Wieder quietschte eine Türangel. Die Schritte verstummten. Dafür hörte sie jetzt etwas anderes von unten: tiefe, rasselnde Atemzüge.
»Katie!« Sie robbte rückwärts, rüttelte an der ersten Gestalt, über die sie stolperte. »Katie, wach auf!«
»Hmmmichlafen«, kam es brummelig aus dem Heu.
»Was ist denn los?« Jemand richtete sich auf, zu schnell, und knallte gegen Jolas Kopf. »Au, verdammt!«
»Ssscht, seid mal leise!« Jola tastete nach der Person und bekam einen Arm zu fassen. »Da unten ist jemand.«
»Oh no«, murmelte es unter ihr. »Du bist echt auf die Geisternummer reingefallen.«
»Also, ich höre nichts.« Katie machte sich von Jola los und kurz darauf blinkte eine Taschenlampe auf. »Du hast geträumt.«
»Hab ich nicht!« Jola griff nach der Taschenlampe und leuchtete damit nach unten. In die meisten Boxen konnte sie von hier aus nicht hineinsehen, nur in die zwei direkt unter ihr und in die daneben so halb.
»Huuu-huu!«, machte Lea und kicherte glucksend.
»Hört doch mal auf mit euren Gespenstern«, piepste Sanne von hinten. »Da muss jemand im Stall sein.«
»Ich geh nachschauen.« Jola schob ihre Füße über den Rand und tastete nach der Leiter, aber Katie hielt sie am Ärmel fest.
»Nicht! Bleib hier!«
»Warum?«
»Weil … du die Leiter runterfallen könntest. Bei der Dunkelheit.«
»Sollen wir nicht lieber deine Mama anrufen?« Sanne klang ängstlich.
»Bist du verrückt? Die lässt uns nie wieder im Heu schlafen, wenn wir sie jetzt wach machen und heulen wie die Babys.«
»Und was, wenn das ein Einbrecher ist?«
»Das ist ein leerer Stall, was will der denn hier klauen? Futtereimer? Einen Sack Hafer?«
Lea zog sich den Schlafsack über die Ohren. »Also, ich bin müde. Weckt mich, wenn der Geist zurückkommt.«
»Kein Problem.« Katie kicherte. »Sanne wird vor Angst so laut schreien, dass sogar mein Opa aus dem Bett fällt.«
»Haha.« Sanne streckte die Hand aus und legte die Taschenlampe neben sich. Eingeschaltet. »Ihr findet das auch noch komisch. Ich mach bestimmt die ganze Nacht kein Auge mehr zu.«
Jola blinzelte hinunter in den Stall, aber weil es hier oben jetzt hell war, konnte sie in der Dunkelheit erst recht nichts mehr erkennen. Sie lauschte auf das Atmen, auf Schritte, auf irgendwas. Aber aus dem schwarzen Loch im Heuboden drang nur Stille zu ihnen herauf.
Nicht einschlafen, sagte sie sich in Gedanken vor, immer wieder. Nicht einschlafen, nicht einschlafen. Nicht …
Jola blinzelte in staubige Sonnenstrahlen, die durch das runde Fenster genau auf ihr Gesicht fielen. Was war los? Ach, richtig – Geisterstunde im Stall. Aber wo waren die anderen? Mühsam rappelte sie sich hoch.
Sanne und Katie schliefen noch tief und fest. Lea hatte die Augen offen und Stöpsel in den Ohren, sie summte leise vor sich hin. Als sie sah, dass Jola sie anschaute, runzelte sie nur die Stirn und summte weiter.
Blöde Gans, dachte Jola und beschloss, endlich das zu tun, worauf sie die ganze Nacht aus gewesen war – den Gutshof zu erkunden.
Sie zog die Füße aus dem Schlafsack, rollte ihn zusammen, so gut es ging, und warf das Bündel nach unten. Dann kletterte sie rasch hinterher.
Im hellen Tageslicht wirkte der Stall gar nicht gespenstisch, sondern aufgeräumt und gemütlich. Dunkle Holzbalken stützten die Decke und die Pferdeboxen waren hell und sauber gestrichen. Alle Böden hatte man dick mit Stroh ausgepolstert und nirgendwo lagen Pferdeäpfel herum. Am Ende des Ganges stand eine Schubkarre quer, und irgendwie sah das seltsam aus – es passte nicht zum übrigen ordentlichen Stall.
Jola ging hin, um die Schubkarre gerade zu rücken. Als sie hinfassen wollte, seilte sich eine fette schwarze Spinne vom Griff ab. Jola zog schnell die Hand zurück und stolperte fast in eine leere Pferdebox –
Bloß war diese Box nicht leer. Ihr Herz machte einen Satz, heftiger noch als eben bei der Spinne, als zwei große dunkle Augen sie anstarrten. Dann schrie sie. So laut sie konnte.
»He, was ist los?«
»Ich … da …« Jola presste sich an die kalte Wand und wusste nicht, vor wem sie sich mehr fürchten sollte – vor der Spinne oder dem Pferd. Aber seit Neuseeland besaßen Spinnen eindeutig den größten Ekelfaktor. Und das Pferd sah eigentlich nicht gefährlich aus. Das Problem war, dass es frei im Stall herumlief und jederzeit aus der Box heraus auf den Gang treten konnte. Genau auf sie zu.
»Was ist denn?« Katie klang genervt. Die Leiter knarrte, und Jola war froh, dass sich gleich jemand wenigstens um das Pferd kümmern würde.
»Da steht ein Pferd. In der Box. Ohne – also, die Tür ist offen.«
»Ach, das ist nur Colorado. Der läuft immer frei herum. Ist unser ältestes Pony, das hat hier Sonderrechte.«
Wie ein Pony sieht der nicht aus, dachte Jola, aber da riss Katie schon erstaunt die Augen auf und blieb wie angewurzelt stehen.
»Das ist nicht Colorado«, vermutete Jola kühl.
»Nein«, gab Katie zurück.
Ihr schien das Pferd null Angst zu machen. Besorgt äugte Jola zu der Schubkarre, aber von der Spinne fehlte jede Spur. Trotzdem lief sie in einem sicheren Bogen drum herum und flüchtete in die nächste Box.
Durch das Gitter beobachtete sie, wie Katie langsam auf das Pferd zuging.
Eigentlich ein schönes Tier, dachte sie. So weiß wie frischer Pulverschnee. Groß und schlank, mit einem geraden Kopf und langer, wallender Mähne. In ihrer Brust zog sich etwas zusammen. Sie war keinem Pferd mehr so nah gewesen, seit …
»Na, Junge«, murmelte Katie, »wer bist du denn?«
»Kennst du es nicht?« Jola stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser durch die Gitterstäbe sehen zu können.
»Nein«, flüsterte Katie. »Das ist keines von unseren Pferden.«
»Aber wie kommt es dann in euren Stall?«
»Ssscht«, machte sie und streckte die Hand aus.
Das Pferd riss den Kopf hoch und starrte sie mit erschrockenen Augen an. Es sah aus, als würde es Katie erst in diesem Moment wahrnehmen, als hätte es bis jetzt geschlafen oder so fest geträumt, dass es nichts um sich herum mitbekommen hatte. Plötzlich machte es einen Satz und knallte gegen die Boxenwand, und Jola dachte schon, dass es Katie über den Haufen rennen würde, aber Katie reagierte blitzschnell und ließ die Hand wieder sinken. Kopfschüttelnd trat sie zurück und zog schnell die Tür zwischen sich und dem Pferd zu.
»Das glaub ich einfach nicht.« Ihre Augen funkelten, als sie Jola anschaute. »Von genau so einem Pferd hab ich als Kind immer geträumt! Und jetzt steht es in unserem Stall, einfach so! Bei jeder Sternschnuppe, die ich sehe, wünsche ich mir so ein Pferd. Krass, oder?«
»Das mit den Sternschnuppen funktioniert aber nicht wirklich.«
»Weiß ich doch.« Katie rieb sich die Nase. Dann presste sie das Gesicht zwischen die Stäbe und seufzte. »Oje, am liebsten würde ich niemandem davon erzählen, sondern es einfach hier verstecken.«
»Was willst du verstecken?« Lea und Sanne tauchten hinter Katie auf, und Sanne stieß einen überraschten Schrei aus, als sie das Pferd entdeckte. Sofort klebten zwei weitere Nasen an den Gitterstäben.
»Wow, das ist ja ein Prachtkerl!« Lea schob ihre Hand durch die Gitter und wollte das Pferd anlocken, aber es wich zurück, so weit es die Box zuließ.
»Er hat Angst«, flüsterte Katie. »Bestimmt ist ihm was Schlimmes passiert.«
»Wie kommt er hier rein?« Sanne sah zu Jola und legte den Kopf schief. »Du hast doch was gehört heute Nacht, stimmt’s? Das war kein Traum.«
Jola schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe Schritte gehört. Als ob … jemand … durch den Stall gelaufen wäre.«
»Hast du auch die Tür gehört? Ist jemand reingekommen, der das Pferd geführt haben könnte?«
»Was weiß denn ich!« Jola verdrehte die Augen. »Ihr habt mir ja nicht mal geglaubt, dass ich überhaupt was gehört habe.«
»Hm«, machte Katie. »Hm, hm, hm.«
»Vielleicht gehört es ja niemandem«, quiekte Sanne. »Dann können wir es behalten!«
»Wir müssen das auf jeden Fall meinem Vater erzählen«, sagte Lea bestimmt. »Vielleicht ist es gestohlen worden und jemand hat es in der Eile hier versteckt.«
»Oder es ist weggelaufen«, vermutete Sanne.
»Und wie ist es dann reingekommen? In den verschlossenen Stall? Es hat wohl kaum allein das Tor aufgemacht.«
Das Pferd sah aus, als würde es sich am liebsten die Ohren zuhalten. Sein Kopf zuckte immer wieder hin und her, und seine Nüstern hatte es so weit aufgerissen, dass eine ganze Spinnenfamilie darin Platz gehabt hätte.
»Seid doch mal still.« Jola trat vom Gitter zurück. »Seht ihr denn nicht, dass es sich vor euren lauten Stimmen fürchtet?«
»Ach, du hast doch …«, setzte Lea an, aber Katie griff nach ihrem Ärmel und zog sie und Sanne ebenfalls ein Stück rückwärts.
»Los, Leute, lasst uns gehen. Wir müssen es meiner Ma ja doch sagen.«
Eine Stimme hallte durch den Stall, laut und bestimmend. Das Pferd zuckte zusammen und Jola fuhr herum.
»Was müsst ihr mir sagen?«
Die Mädchen traten von einem Fuß auf den anderen, als Helen energisch auf sie zumarschierte. Sie stockte und genau wie Katie vorhin riss sie überrascht die Augen auf.
»Was ist das für ein Pferd?« Helen sah sie der Reihe nach an.
Lea zuckte mit den Schultern. »Wissen wir nicht. Es stand plötzlich da.«
»Habt ihr das Tor gestern nicht verschlossen?« Helen runzelte die Stirn und schob den Riegel zurück. Sie trat in die Box und sofort riss das Pferd wieder den Kopf hoch und stampfte nervös auf der Stelle. Helen streckte die Hand aus, genau wie Katie es gemacht hatte, aber das Pferd kam nicht zu ihr.
Es sucht einen Fluchtweg, dachte Jola. Instinktiv wollte sie Helen zurückreißen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Jola hat was gehört, mitten in der Nacht. So komische Geräusche.«
Helen machte noch einen Schritt, aber bevor sie das Pferd berühren konnte, raste es los und knallte mit voller Wucht gegen die Tür. Sanne keuchte und floh in die nächste freie Box, und Jola war froh, dass feste Eisenstäbe zwischen ihr und dem Pferd hingen. Helen war nun eingekesselt, das Pferd blockierte die Tür und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die kleine Frau hinunter. Aber die blieb ganz ruhig. Jola hielt den Atem an, als Helen mit langsamen Schritten zur Tür ging.
»Wann war das?«, fragte sie mit leiser Stimme. »Und was genau hast du gehört?«
»Ich weiß nicht«, murmelte Jola. »Als alle geschlafen haben. Irgendwas hat mich aufgeweckt. Es war so dunkel und da waren Schritte und … dieses Atmen.«
Das Pferd wich zurück und gab den Weg frei. Als ob Helen eine gefährliche Krankheit hätte.
»Hast du das Tor gehört?«
»Vielleicht. Es klang so … nah.«
Helen zog die Boxentür einen Spalt auf und zwängte sich hinaus auf den Gang. Schnell schob Katie den Riegel wieder vor.
»Also, Mädels, folgende Regel: Keine von euch geht zu dem Pferd. Wir wissen weder, ob es krank ist, noch, was mit ihm passiert sein könnte. Es ist völlig verstört. Vielleicht hat es schlimme Erfahrungen gemacht. Bei solchen Pferden weiß man nie, wie sie reagieren.« Sie sah ihre Tochter scharf an. »Verstanden, Katie?«
»Jaja«, brummelte Katie und guckte auf ihre Füße.
»Wasser kriegt es aus der Selbsttränke, aber wir wissen nicht, ob es das System kennt. Sanne, kannst du schnell einen Eimer vollmachen? Wir füllen vorsichtshalber den Futtertrog auf. Katie, hol einen Armvoll Heu. Vielleicht ist es hungrig.«
Jola sah stumm zu, wie die anderen vorsichtig Wasser und Heu in der Box verteilten. Das Pferd kümmerte sich nicht darum, es rührte weder Futter noch Wasser an. Es lief an der Wand entlang und schlug mit den Hufen dagegen. Sein Blick glitt immer wieder zum Fenster, zu den Gitterstäben davor, durch die es auf den Hof sehen konnte. Als würde es auf etwas warten.
»Lea, ruf bitte deinen Vater an. Ich glaube, das ist ein Fall für die Polizei.«
Sanne hopste hinter Lea her, um ihre Sachen vom Heuboden zu holen. Helen legte eine Hand auf Katies Schulter und schob sie Richtung Stalltor. Sie flüsterte ihrer Tochter etwas zu und Katie lächelte ganz leicht und nickte dann.
»Jola, kommst du auch?« Helen drehte sich zu ihr um, und sie wusste, dass sie nicht länger gucken durfte.
»Bleibt das Pferd hier?«
»Willst du es etwa mitnehmen zum Frühstück?« Katie lachte sie aus. »Das ist ein Pferdestall. Natürlich bleibt es hier.«
Jola ließ das Gitter los und trat aus der Box. Etwas passte nicht, fühlte sich falsch an. Das Pferd stapfte in der Box herum wie ein eingesperrter weißer Tiger. Am liebsten hätte sie den Riegel einfach wieder aufgemacht und das Pferd rausgelassen, aber unter den Blicken der Webers wagte sie das nicht.
»Es hat hier alles, was es braucht«, versicherte Helen ruhig und deutete mit dem Kopf zur Tür. »Und jetzt komm. Das Frühstück wartet.«
Der Polizist sah überhaupt nicht aus wie ein Polizist, als er sich neben Jola an den runden Esstisch setzte und einen Kaffee einschenken ließ. Eher wie ein Mann, den man zu früh aus dem Bett geschmissen hatte.
»Ihr habt also ein Pferd zu viel im Stall?«
»Die Mädchen haben es heute früh entdeckt. Das Tor war verriegelt, also muss es jemand reingebracht haben.« Helen sah streng in die Runde. »Und ihr könnt uns wirklich nicht mehr dazu sagen?«
Katie, Sanne und Lea schüttelten nacheinander den Kopf. Dann musste Jola noch einmal erzählen, was sie in der Nacht gehört hatte. Der Polizist schrieb sich alles genau auf, aber dann runzelte er die Stirn.
»In den letzten Wochen hat es hier in der Gegend eine Reihe von Einbrüchen in Reitställe gegeben. Die Diebe waren auf teure Sättel aus, auf Wertgegenstände in Sattelkammern. Pferde sind allerdings nicht gestohlen worden – bis jetzt jedenfalls.«
Jola sah zu ihrem Vater, der gedankenverloren mit dem Löffel in seiner leeren Kaffeetasse rührte. Er war mit seinem Kopf mal wieder ganz woanders.
»Aber könnten die Diebe nicht Schiss gekriegt und das Pferd schnell versteckt haben?« Lea beugte sich vor. »Um es später zu holen oder so?«
»Bei dem Pferd könnte es sich um Diebesgut handeln, da habt ihr recht. Aber dem Dieb muss klar sein, dass es sofort entdeckt wird, also warum bringt er es nicht irgendwohin, wo man es nicht so schnell findet? Wahrscheinlicher ist, dass es aus seinem Stall ausgebrochen ist. In dem Fall muss es von selbst in euren Stall gelangt sein, durch eine Tür vielleicht, die nur angelehnt war. Und dann gibt es noch eine Möglichkeit.« Der Polizist sah Helen ernst an. »Es könnte krank sein. Stell dir vor, jemand stellt euch heimlich ein Pferd in den Stall, das mit einer gefährlichen Seuche infiziert ist. Es würde alle anderen Pferde anstecken, sobald sie mit ihm in Kontakt kommen.«
Katie keuchte erschrocken auf. »Oh Gott, und wir haben es ausgerechnet in Keiras Box gesperrt!«
»Das muss der Tierarzt klären.« Helen runzelte die Stirn. »Besser, wir lassen die Pferde vorerst nicht in den Stall.«
»Habt ihr Feinde? Gibt es jemanden, der euch schaden will?«, fragte der Polizist.
Die Webers schauten sich an und sahen mit einem Mal sehr besorgt aus.
Jolas Vater räusperte sich und stand auf. »Ähm, Helen, Stefan – wir lassen euch mal allein. Ihr habt genug zu tun mit eurem Findelkind. Komm, Jola.«
Jola kaute auf ihrer Lippe herum und rutschte umständlich von der Bank. Sie wollte jetzt nicht gehen, sie wollte wissen, was mit dem Pferd los war, ob es ihm gut ging und …
»Moment mal.« Der Polizist erhob sich ebenfalls und zückte seinen Block. »Ich brauche eure Personalien und eine Adresse, wo ich euch erreichen kann. Jola ist schließlich die einzige Zeugin, die Angaben zu dem Vorfall machen konnte.«
Jola und ihr Vater wechselten einen Blick. »Ja, also … das ist schwierig.«
»Wieso?« Der Polizist runzelte die Stirn. »Habt ihr kein Telefon? Dann reicht mir auch die Anschrift.«
»Genau da liegt das Problem. Wir haben zurzeit weder noch.« Ihr Vater lächelte unter seinem Bart. »Wir sind zwei Jahre mit dem Bulli durch Neuseeland gereist und erst gestern wieder in Deutschland gelandet.«
»Oh.« Der Polizist schaute fragend zu Helen.
»Sie wohnen bei uns«, erklärte Helen knapp. »Jedenfalls zunächst. Wenn sich daran was ändert, sage ich dir Bescheid.«
»Ihr müsst nicht gehen, Jan.« Stefan legte ihrem Vater die Hand auf den Arm. »Bleibt hier, solange ihr wollt.« Er zwinkerte Jola zu. »Und unsere Zeugin hier will bestimmt lieber mit in den Stall kommen und selbst nach dem Findelkind sehen, was?«
Helen stand auf und klopfte dem Polizisten auf die Schulter. »Jetzt komm, du musst dir endlich das Pferd ansehen.«
»Also, krank sieht der nicht aus. Eher ziemlich gesund«, flüsterte Lea, als sie wieder vor der Box standen. Das riesige Pferd tanzte darin herum und warf den Kopf hin und her.
Es will raus, dachte Jola. Nicht hier eingesperrt sein. Es war ruhig, solange die Tür offen stand und es gehen konnte, wenn es wollte.
»Die vielen Menschen machen ihm Angst«, vermutete Katie und sah Jola an. »Geht doch alle mal ein paar Schritte zurück.«
»Oooh«, machte der Polizist und schrieb eifrig auf seinen Block. »Das ist aber ein schönes Tier.«
»Schimmel ohne Abzeichen«, sagte Helen. »Kein junges Pferd, mindestens zehn Jahre, eher älter. Ein Hengst. Schräge Schulter, ausgeprägter Widerrist, lange Kruppe. Edler Kopf, das lässt auf einen Vollblutanteil schließen, obwohl ich ihn als Warmblut einstufen würde. Ziemlich sicher ein Rassepferd.«
»Welche Rasse?«, fragte der Polizist.
»Schwer zu sagen.« Helen legte den Kopf schräg. »Ich kann kein Brandzeichen erkennen … aber das könnte daran liegen, dass er schon einige Fellwechsel mitgemacht hat. Er ist gut bemuskelt und sieht aus, als hätte man ihn trainiert. Ich tippe auf Springsport, vielleicht auch Vielseitigkeit.«
Katie bekam glänzende Augen. »Oh, Mama, darf ich …«
»Nein«, sagte Helen scharf. »Auf keinen Fall.«
Der Polizist räusperte sich. »Also ein wertvolles Pferd?«
»Das musst du herausfinden. Ich kann nur sagen, was ich sehe.«
»Also schön.« Der Polizist klappte seinen Block zu. »Ich melde mich bei euch, sobald ich mehr weiß. Dürfte nicht allzu schwer sein, den Besitzer zu finden. Ein Rassepferd verschwindet wohl kaum unbemerkt aus seinem Stall.«
»Moment mal.« Stefan stemmte die Hände in die Hüften. »Wir haben noch nicht geklärt, ob es hierbleiben kann.«
»Aber …« Katie schnaufte.
Der Polizist sah ebenfalls ratlos aus. »Also, auf der Wache kann ich es nicht unterbringen. Und im Tierheim nehmen sie nur herrenlose Hunde und Katzen und Kaninchen.«
»Wir haben hier doch Platz genug!« Katie stemmte ebenfalls die Hände in die Seiten. »Dein Besuch darf schließlich auch bleiben.«
»Katie«, zischte Helen streng.
Plötzlich wieherte das Pferd. Sein Ruf hallte laut und klagend durch den großen, leeren Stall und alle zuckten zusammen. Auch das Pferd selbst.
»Also schön«, sagte Helen in die Stille, die folgte. »Du kannst hierbleiben. Bis wir deinen Besitzer gefunden haben.«
Jola sah, wie Katie einen schnellen Blick mit ihren Freundinnen tauschte und in sich hineingrinste. Und auf einmal erinnerte sie sich wieder: Katie hatte sie davon abgehalten, nachts hinunter in den Stall zu steigen, um nachzusehen, wer die Geräusche machte. Sie hatte echt überrascht ausgesehen, als das Pferd so plötzlich dastand. Bestimmt hatte sie nichts von ihm gewusst. Aber etwas war seltsam an der ganzen Sache.
Ganz und gar seltsam.
Als der Polizist mit Lea und Sanne weggefahren war, ging ein Wandel mit den Ginsterhof-Leuten vor sich. Auf einmal schien jeder genau zu wissen, was zu tun war, sie alle folgten einer exakt einstudierten Routine, und Jola fühlte sich wie in einem Theater, bei dem sie kein Mitspieler, sondern nur Zuschauer war.
Stefan drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange, so als würde er sich verabschieden, um zur Arbeit zu gehen. Dann verließ er den Stall. Helen lief in eine angrenzende Kammer und kam mit einem großen Klemmbrett wieder heraus, von dem sie stumm etwas ablas. Dann drückte sie Katie das Klemmbrett in die Hand und ging zurück in die Kammer, um kurz darauf mit Sätteln und Zaumzeugen beladen wieder aufzutauchen.
»Ich will nicht, dass heute jemand von den Schülern den Stall betritt«, sagte sie warnend und kritzelte etwas auf das Klemmbrett. Katie nickte und lud sich ein buntes Bündel Halfter auf beide Schultern. Helen schnappte sich die Schubkarre und scheuchte Jola und Katie aus dem Stall.
Jola setzte sich auf die breiten Steinstufen vor dem Haus und beobachtete, wie Katie Stricke an den langen Ständer vor dem Stall knotete. Sie hätte gern etwas getan, aber es schien nichts zu geben, wobei sie helfen konnte. Also schloss sie die Augen und dachte an das Pferd. Sie hatte ganz vergessen, wie groß Pferde waren, wenn man direkt vor ihnen stand. Bilder strömten durch ihren Kopf, Bilder, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Wie ein Fernseher, den man einschaltet und in dem man plötzlich einen alten Film von früher sieht. Einen fast vergessenen, heiß geliebten Kinderfilm.
»Jola?«
Jola machte die Augen wieder auf. Ihr Vater setzte sich neben sie auf die oberste Stufe und Jola lehnte den Kopf an seine Schulter.
»Mama hatte auch so ein Pferd«, sagte sie.
Ihr Vater versteifte sich. Sie wusste, warum er allen Pferden aus dem Weg ging. Aber sie konnte den Fernseher in ihrem Kopf nicht abschalten.
»Wie das Pferd im Stall?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Nicht genau so. Ihr Pferd war schwarz. Das hier ist weiß. Aber … es war genauso groß und genauso schön und genauso … besonders.«
Ihr Vater seufzte leise. »Ich habe es geahnt. Sobald du die Pferde siehst, wirst du nicht mehr wegwollen. Wir können aber nicht hierbleiben, Jola.«
»Warum nicht? Helen hat doch gesagt …«
»Sie hat gemeint, bis wir eine Bleibe gefunden haben.« Sein Bart kitzelte sie an der Stirn, aber sie blieb so sitzen. »Stefan nimmt kein Geld von mir. Ich will den Webers nicht auf der Tasche liegen.«
Jola hob den Kopf und schaute ihn an. »Können wir nicht was in der Gegend suchen? Ist doch egal, wo wir bleiben. Du kannst überall arbeiten.«
Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Ach, Jola. Was wollen wir denn in Steinbach? Hier gibt es doch nichts.«
Ein Windhauch blies durch die Blumenkästen und trug den Duft blauer Gewitterblümchen die Steinstufen hinauf. Jola sah sich um. Der Kastanienbaum raschelte leise und ein paar goldgelbe Blätter rieselten zu Boden. Aufgeplatzte Schalen lagen herum und ein Eimer mit Kastanien stand neben dem Stamm. Ein Stück weiter neben dem Zaun sah sie einen Freisitz, der von dunkelroten Weinranken überwuchert war, daneben, zwischen breiten Holzbänken, einen gemauerten Kreis, fast wie ein Brunnen, in dem verkohlte Holzstücke lagen. Eine Lagerfeuerstelle.
Sie dachte wieder an das Pferd. Das seltsame, herrenlose Pferd, das wie sie hier gestrandet war. Das Pferd, das Erinnerungen an ihre Mutter geweckt hatte. Sie konnte nicht gehen, bis sein Geheimnis gelöst war. Sie wollte nicht eher gehen.
»Wir haben zwei Jahre gemacht, was du willst. Jetzt bin ich mal dran. Und ich will hierbleiben!«
Ihr Vater blickte gedankenverloren in die Ferne. Dann zog er sie wieder an sich und grub sein stacheliges Kinn in ihre Haare. »Also gut. Ich frage Stefan nach einer Tageszeitung. Da stehen immer Wohnungsanzeigen drin.«
Sie drehte sich herum und schlang ihm stürmisch die Arme um den Hals. »Danke, Papa! Danke, danke!«
»Aber nur vorübergehend, hörst du?«
Ein Keuchen ließ Jola herumfahren, und sie sprang erschrocken auf, als der faltige Riesenhund auf sie zuwankte. Er kaute auf etwas herum, was wie eine halb verdaute Hand aussah.
Ihr Vater legte ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie zurück auf die Treppe. »Cool bleiben! Er tut dir nichts. Webers haben ihn schon, seit er ein Welpe war. Er ist mit ihren Kindern aufgewachsen und der liebste Hund weit und breit.«
»Er sieht nicht so aus.«
»Und das ist auch gut so. Schließlich soll er Einbrecher fernhalten.«
»Die laufen bestimmt davon, weil sie sich vor ihm ekeln.« Jola schüttelte sich. »Das ist der hässlichste Hund, den ich je gesehen habe.«
»Na und?« Ihr Vater streckte die Hand aus und sofort kam das Hundemonster angewackelt. Es kuschelte sich in seine Armbeuge und spuckte ihm einen angesabberten Handschuh in den Schoß. »Ihr Name ist übrigens Minnie.«
»Super, total passend.«
Ihr Vater begann, das struppige Fell zwischen den wulstigen Falten zu kraulen, und Minnie schleckte mit ihrer blauen Hundezunge seine Finger ab. Ein wohliges Grunzen drang aus ihrer Kehle.
»Siehst du? Von ihr aus kann ich das jetzt den restlichen Tag machen.«
»Und wer durchsucht dann die Zeitung?«
Ihr Vater grinste sie an. Dann stand er auf und wischte sich fahrig die Finger an der Hose ab. Minnie ließ sich auf die oberste Stufe plumpsen und streckte ihre kräftigen Pfoten aus. Jola rutschte ein Stück von ihr weg.
Vor dem Stall wurde es nun hektisch. Ein Motorrad hielt unter dem Kastanienbaum, und Katie stürmte dem Fahrer entgegen, bevor er auch nur den Helm abgesetzt hatte. Jola sah noch, dass es sich dabei um einen Jungen handelte, der groß und schlank war und halblange keksblonde Zausellocken besaß, dann hatte Katie ihn auch schon in den Stall gezerrt und das Tor wieder geschlossen. Zwei Fahrräder kamen auf den Hof gefahren und kurz nacheinander drei Autos. Überall wimmelte es plötzlich von Mädchen, manche jünger, manche nicht viel älter als Jola. Alle trugen Reithosen und dazu glänzende schwarze Stiefel oder lederne Chaps an den Waden.
»Wohin gehst du?«, fragte Jola abwesend.
»Zu Stefan. Dann kann ich ihm gleich sagen, was wir vorhaben.«
»Ist der nicht vorhin zur Arbeit gefahren?«
»Nein. Er ist doch Sattler. Er hat seine Werkstatt hier auf dem Hof.« Ihr Vater stieg die Treppe hinab und lief auf das holzverkleidete Gebäude zu, das links an den Anbau grenzte. »SteWe« stand in verschlungenen Buchstaben auf einem Schild an der Wand. Er klopfte an die Tür und ein ziemlich alter Mann öffnete ihm und ließ ihn herein. Das musste Katies Opa sein – der wohnte auch im Anbau, direkt neben ihnen. Er hörte nicht mehr so gut, deshalb mussten sie nicht extra leise sein. Das hatte Stefan ihr zugeflüstert, als sie am Morgen ihren Schlafsack ins Zimmer geräumt hatte.
Auf einmal erklang hektisches Wiehern und ein lautes Poltern aus dem Stall. Minnie hob den Kopf und wuffte träge. Die Mädchen auf dem Hof erstarrten in ihren Bewegungen und deuteten aufgeregt zum Stall. Sie verrenkten den Hals, um das fremde Pferd besser hinter dem Gitterfenster erkennen zu können. Aber gerade als das erste Mädchen den Riegel am Stalltor zurückschieben wollte, kam Helen mit der voll beladenen Mistkarre um die Ecke.
Katie und der blonde Junge traten wieder auf den Hof. Helen runzelte die Stirn, aber Katie grinste nur entschuldigend.
»Mach dich lieber nützlich und hilf Niko, die Pferde zu holen«, rief Helen ihrer Tochter zu. »Wir brauchen Billy, Stups, Miley, Taylor, Justin, Bonnie und Clyde!«
Der Junge sah sich suchend um. Als er Jola entdeckte, legte er den Kopf schief und pfiff durch die Zähne. Jola dachte erst, sie wäre gemeint, aber da sprang Minnie neben ihr auf die Füße und wackelte eilig auf ihn zu. Der Junge drehte sich um und rannte hinter Katie her zwischen dem Stall und dem Schuppen durch, und Jola hatte das Gefühl, unsichtbar zu sein. Ohne Minnie fühlte sie sich auf einmal ziemlich allein auf den breiten Stufen, aber gerade als sie aufstand und reingehen wollte, begann die Erde, unter ihren Füßen zu beben.
In einer Staubwolke schossen Pferde ums Eck und auf den Hof, vier, fünf, sechs, dann sieben. Auf dem letzten saß Katie, ohne Sattel, nur einen Strick in der Hand, und trieb sie mit lauten »Heyas« an. Sie waren alle nicht groß, kleiner als das weiße Pferd im Stall, aber sie stampften und dampften und prusteten, dass sogar die Reitschülerinnen zurückwichen. Ein Mädchen versuchte, ein blondes Pferd aus der Gruppe herauszulocken, und sofort rannten die anderen ebenfalls zu ihr und kreisten sie ein.
»Bleibt zurück, bis die Pferde eingefangen sind«, befahl Helen, und die Mädchen gehorchten anstandslos.