PaNia - Im Bann der Windhüter - Sabine Giebken - E-Book

PaNia - Im Bann der Windhüter E-Book

Sabine Giebken

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Beschreibung

Nia ist glücklich – sie und Pan, das geheimnisvolle Windpferd, gehören nun fest zusammen! Als sie beide in die Riege der Windhüter aufgenommen werden, will sie Pan endlich ihrer Familie vorstellen. Aber die meisten Bewohner von Windheim scheinen gar nichts von den Windpferden zu wissen! Mehr und mehr wird Nia bewusst, dass Windheim von einem Geheimnis umgeben ist, das den Ort in zwei Teile spaltet. Niemand will ihr verraten, was eigentlich vor sich geht, als unter den Windhütern plötzlich Aufbruchsstimmung herrscht. Was haben die Windhüter vor? Muss Nia sich für eine Seite des Dorfes entscheiden? Als sie dann eine grausame Entdeckung macht, wird ihr klar, dass Pan in größter Gefahr schwebt …

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Seitenzahl: 351

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PaNia

Band 1: Die Legende der Windpferde

Band 2: Im Bann der Windhüter

Band 3: Gefangen im Wind der Zeit

Band 4: Die Wächter der Windpferde

INHALT

PROLOG

DIE ZEIT

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

VERBANNT

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

BEI TAG

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

BEI NACHT

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

EPILOG

KAPITEL 1

PROLOG

Er stellte den schweren Eimer ab und blickte zu der eingezäunten Wiese hinüber, wo Nia mit Pan spielte. Ein paar Kinder lehnten am Zaun und sahen ebenfalls zu, nicht heimlich, so wie er, sondern ganz offen und neugierig. Sie kapierten nichts von dem Geheimnis, das die beiden umgab.

»He, Mann«, brummte Silvans Stimme hinter ihm, »willst du hier Wurzeln schlagen?«

Er schluckte, löste seinen Blick von dem Mädchen und dem schwarz schimmernden Pferd und hob den Eimer wieder an.

»Die Kleine, hm?« Silvan lachte leise. »War ja klar.«

»Bullshit«, knurrte er und lief wieder los, mit gesenktem Kopf. Aber aus den Augenwinkeln beobachtete er sie weiter.

Wie leicht das alles bei ihnen aussah! Seit der Zeremonie hatte sich einiges verändert. Er hatte es schon vorher gespürt, aber dass es so schnell gehen würde, war fast unheimlich. Nia hatte das Federhalfter ausgetauscht gegen einen normalen Zaum aus Leder. Der Zaum war sinnlos an einem Windpferd, und sie wusste das, aber sie brauchte das Halfter nicht mehr, sie konnte ihre Energie mit Pan teilen, ohne dass ihr etwas passierte. Er kannte das Band, das zwischen einem Hüter und seinem Windpferd entstand, aber Nia und Pan … die beiden waren anders. Dichter. Noch … verbundener.

Was, dachte er, ist dein Geheimnis, Nia?

»Soll ich dir Tipps geben?« Ein Finger stieß ihn zwischen die Rippen. Er zuckte zusammen und lief schneller. »Ich kenn mich aus, wie du weißt!«

»Lass mich in Ruhe«, zischte er. »Sie interessiert mich nicht.«

»Ist auch besser so.« Silvans Stimme hinter ihm wurde dunkel. Und leise. »Sie hat keine Ahnung, wer wir sind. Noch haben wir uns nicht entschieden, sie mitzunehmen.«

Er lachte bitter. »Wir? Sie muss entscheiden! Immerhin ist es ihr Leben, ihre … Zeit!«

»So läuft das aber nicht«, grollte Silvan. »Du kannst dich an sie ranmachen, wenn du willst. Aber das Arkanum behältst du für dich, klar?«

Er schüttelte nur den Kopf und beeilte sich, ein paar Schritte Abstand zwischen sich und Silvan zu bringen. Die Eimer waren dieses Jahr schwerer oder bildete er sich das ein? Wieder musste er zur Wiese hinübersehen, zu den beiden, die ihre Köpfe zusammensteckten, als würden sie miteinander flüstern.

Pan und Nia.

Der Name war perfekt gewählt, dabei hatte sie keine Ahnung davon gehabt, was geschehen würde – was es mit ihren Namen auf sich hatte. Kurz schloss er die Augen und sah einen anderen Papierballon vor sich, andere Buchstaben, in einer lang, lang verlorenen Nacht. Ginnes. Sein Herz krampfte sich zusammen, der Schmerz verging nicht, ganz egal, wie viel Zeit verstrich. Zeit spielte ohnehin keine Rolle. Nicht mehr. Aber Gin … Gin spielte eine Rolle, Gin war alles für ihn und würde es immer bleiben.

Er musste hinter das Geheimnis kommen! Und wenn es ihn alles kostete. Nia und Pan waren der Schlüssel, der Schlüssel zu Gins Freiheit, er musste es nur schaffen, wie sie zu werden, damit er Gin retten konnte!

Ein Windstoß fuhr durch die Bäume, Blätter raschelten, die Luft schmeckte plötzlich nach Zimt und Äpfeln. Nia hielt in ihrer Bewegung inne, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Pan tat es ihr nach – oder sie ihm? – und seine Nüstern tranken den Wind wie Wasser.

Wir haben beide Geheimnisse, dachte er.

Aber deines ist wertvoller.

DIE ZEIT

1

Der Wind an der Bushaltestelle riecht nach Regen, dabei ist der Himmel fast wolkenklar. Ich gähne, gucke mich um, gähne wieder. Es ist einfach viel zu früh, um schon hier draußen zu stehen!

Seit Pan zu mir gehört, kann ich wieder schlafen. Ich schlafe so gut, dass ich das Morgenlicht verpasse und erst zu ihm durch den Fluss laufe, wenn die Sonne schon hoch am Himmel steht. Wir haben so viel Zeit miteinander, niemand stört uns mehr, es ist fast, als wäre er mein Pferd, denn obwohl ich noch immer nicht weiß, wem Pan eigentlich gehört – also offiziell, auf dem Papier –, kann ich doch mit ihm machen, was ich will. Zuerst habe ich mir tausend Abenteuer ausgedacht, die ich mit ihm erleben wollte, Windheim unsicher machen, durch den ganzen Wald reiten, oh, und Anno besuchen und die Legende um die Windpferde einmal gründlich auf den Kopf stellen! Aber irgendwie haben wir noch nichts davon getan. Meistens sind wir einfach nur beieinander und lernen uns kennen, ganz neu, ganz für uns. Und das ist sogar noch viel schöner als wilde Abenteuerritte.

Wieder muss ich gähnen, wieder fliegt mein Blick umher. Caros kleine Schwester Leyla hockt auf der einzigen Bank, halb versteckt hinter einem pummeligen Jungen, und lässt die Beine baumeln. Neben ihr tuscheln Caro und Kim miteinander, beide ein Nusshörnchen in der Hand. Caro schielt manchmal zu mir herüber, aber sie lädt mich nicht ein, zu ihr zu kommen und mich dazuzustellen. Ist mir egal, das will ich auch gar nicht. Ich warte lieber allein. Nicht auf den Bus, so wie sie und Leyla und der pummelige Junge. Auf den auch natürlich. Aber eigentlich warte ich nur auf einen.

Hannes.

Ein Schauder kriecht mir in den Nacken, als ich seinen Namen denke. Hannes! Seit Tagen habe ich ihn nicht mehr gesehen, er geht mir aus dem Weg, und ich kapiere nicht, warum! Angeblich ist er beschäftigt, muss bei irgendwelchen Vorbereitungen helfen. Das hat Hilde mir erzählt. Aber ich glaube ihr nicht oder nicht ganz. Hannes geht mir absichtlich aus dem Weg! Vielleicht ist er sauer, dass ich meine Prüfung mit Pan bestanden habe, weil er es mir im Grunde nie zugetraut hat … oder er ist einfach nur neidisch, weil wir es ohne sein blödes Halfter aus Windpferdeleder geschafft haben. Hannes war schon immer komisch, vom ersten Moment an. Aber es nervt trotzdem, dass er sich nicht mehr blicken lässt, weil ich ihn so auch nicht fragen kann – nach dem Namen auf dem Gedenkstein, dem Grabstein, der keiner ist. Und dem Foto mit seinem Gesicht darauf.

»Steigst du nicht mit ein?« Eine kleine Hand zupft mich am Ärmel.

Verwirrt schaue ich hoch. Ein Bus steht vor uns, kein Schulbus, sondern ein grüner VW-Bus mit lauter rostigen Stellen an den Seiten. Eine müde dreinblickende Frau sitzt hinter dem Steuer und balanciert einen Kaffeebecher zwischen den Beinen.

»Ist das der Schulbus?«, frage ich Leyla.

Sie lässt meinen Ärmel los und hüpft durch die seitliche Schiebetür ins Innere. »Ja! Komm, wir sind eh schon spät!«

Verwirrt schaue ich mich um. Caro, Kim, Leyla und der Pummeljunge. Wo sind die anderen? Hilde, Irma, all die Kinder aus dem Dorf … Hannes? Werden die von ihren Eltern zur Schule gefahren?

»Ich dachte, wir warten noch, bis alle da sind«, sage ich verwirrt und steige hinter Leyla ein. Der VW-Bus ist ein Neunsitzer, wir haben alle bequem Platz darin. Ich lasse mich neben Leyla auf die Bank sinken und schon geht die Seitentür zu und wir rollen los.

Leyla wirft dem Pummeljungen einen Blick zu und beugt sich ganz nah zu mir. »Cool, dass du jetzt mitfährst! Dann setzt der sich nicht mehr neben mich.«

»Magst du ihn denn nicht?«, frage ich ebenso leise zurück.

»Nee. Er riecht immer nach Knoblauch. Wirklich immer!«

Ich muss lächeln. Der Knoblauchjunge schielt kurz zu uns herüber, vergräbt sein Gesicht dann in seinem Jackenärmel und beginnt zu dösen.

»Vielleicht ist er ja trotzdem total nett«, flüstere ich Leyla zu.

»Ach«, macht sie nur und wackelt mit ihrer Nase. »Ist mir egal. Ich gebe mich nun mal lieber mit Mädchen ab.«

Vor den Fenstern rauscht der Wald an uns vorbei. Seltsamerweise habe ich das Gefühl, in die falsche Richtung zu fahren, und jeder Baum, den wir passieren, verstärkt das Ziehen in meiner Brust. Am liebsten würde ich umkehren, zurücklaufen, zurück zwischen die Bäume, mitten hinein in den Wald, in unseren Wald – zu Pan.

Pan.

Auf einmal wird der Gedanke an ihn fast unerträglich. Ich will sein, wo Pan ist! Von ihm getrennt zu sein, tut körperlich weh, aber das kann ich der Busfahrerin ja schlecht sagen. Ich schüttle die Gedanken an Pan ab und wende mich wieder Leyla zu, die Kreise auf die Scheibe malt.

»Warum fahren die anderen denn nicht mit?«

»Die anderen?« Leyla hört auf zu malen und guckt mich an. »Wen meinst du?«

»Na, die anderen Kinder aus Windheim.«

»Ach so. Die gehen nicht auf unsere Schule.«

Das erklärt natürlich, warum sie nicht hier sind. Und Hilde ist ja auch schon älter, sie könnte durchaus schon mit der Schule fertig sein. Trotzdem hätte ich sie gern dabeigehabt, auch Irma und die anderen jüngeren Kinder.

»Paul geht sogar erst in den Kindergarten«, plappert Leyla weiter. »Und die Mädchen von der Waldapotheke sind auf einem Internat, irgendwo ganz weit weg.«

Ich nehme mir vor, Irma zu fragen, in welche Schule die anderen Kinder gehen. Vielleicht kann ich den Bus tauschen, sodass wir wenigstens zusammen fahren können. Komisch, dass niemand einen zweiten Schulbus erwähnt hat. Ben hat mich nur zur Ampel eskortiert und gesagt, ich sollte dort warten. Leyla packt ein Schulheft aus und beginnt, darin zu lesen, und ich lehne mich im Sitz zurück und schließe die Augen. Mein Kopf tut weh, es flimmert richtig hinter meinen Lidern. Mit zwei Fingern massiere ich meine Schläfen, aber der Schmerz wird eher noch schlimmer.

Ich muss hier raus!

Verwirrt klappe ich die Augen wieder auf. Was ist nur los mit mir? Ist doch nicht so wild, dass ich nicht mit Irma und den anderen im selben Bus sitze. Caro und Kim stecken die Köpfe zusammen und machen irgendein Spiel, aber sie lassen mich wenigstens in Ruhe. Ein Stich schießt durch meinen Kopf und das Gefühl zieht sich bis hinunter in meinen Bauch. Mir wird so schlecht, dass ich die Hand auf meinen Mund pressen muss.

»Anhalten«, flüstere ich und starre Leyla aus großen Augen Hilfe suchend an.

»Nia?« Leyla rutscht ein Stück von mir weg. »Was hast du?«

Ich kann ihr nicht sagen, was ich habe, weil ich nicht mehr reden kann. Wenn ich den Mund aufmache, erbreche ich mich, ganz bestimmt, mitten in den Bus, vor aller Augen. Ich schüttle verzweifelt den Kopf, drücke alle Finger fest vor meinen Mund und hoffe, dass das Gefühl vergeht, dass ich wieder normal atmen kann, oh Gott, ist mir schlecht, ich muss hier raus, wie komme ich bloß hier raus?

»Anhalten«, schreit Leyla. »Stopp! Schnell!«

Die Busfahrerin bremst, die Tür geht auf. Waldwind schwappt zu mir herein, rettet mich, treibt mir Tränen in die Augen. Ich stürze ins Freie, meine Gedanken überschlagen sich, und dann erbreche ich doch noch, ich kann es einfach nicht zurückhalten, aber ich kann mich an den Bäumen festhalten und dabei frischen Moosduft inhalieren, und sofort fühle ich mich besser, ein bisschen. Nur mein Kopf pocht noch ein wenig, aber hier, im Wald, kann ich atmen.

»Mensch, Mädchen.« Die Busfahrerin ist herausgesprungen und steht neben mir, eine Hand vorsichtig auf meinen Rücken gelegt. »Bist du krank? Oder ist das nur die Aufregung?«

Ich schüttle den Kopf. Wie nur, wie soll ich ihr erklären, wie es mir geht? Dass ich nicht wegkann aus Windheim? Dass ich sein muss, wo Pan ist, weil ich sonst nicht mehr atmen kann?

Die Busfahrerin schaut mich abwartend und ein bisschen verzweifelt an. »Was mache ich denn jetzt mit dir, hm?«

Mein Blick huscht die Straße hinunter. In die Richtung, aus der wir gekommen sind.

»Das geht nicht«, sagt die Busfahrerin knapp. »Die anderen müssen ja zur Schule. Und ich auch, ich bin schließlich Lehrerin.«

»Bitte«, flüstere ich nur. Und damit meine ich gar nicht, dass sie mich zurückfahren soll. Meinetwegen lässt sie mich hier, ich will nur nicht mehr in diesen Bus steigen und weiterfahren müssen.

»Na prima«, murmelt die Busfahrer-Lehrerin. »Gleich am ersten Schultag so ein Drama!« Sie zieht ein Handy aus der Tasche, drückt darauf herum. Sieht plötzlich erleichtert aus. »Ein Glück, wir haben hier Netz! Ich ruf dir jemand, der dich abholen kommt, ja? Warte.«

Aus dem Bus heraus starren mich die anderen an, Leyla besorgt, der Knoblauchjunge ziemlich unbeeindruckt und Kim eindeutig angeekelt. Rasch wische ich mir mit dem Ärmel über den Mund. Caros Blick kann ich nicht deuten, sie schaut zu Boden, aber dann schnallt sie sich doch ab und klettert nach vorn, auf den leeren Platz neben Leyla.

»Hast du was Falsches gegessen?«, fragt sie leise.

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Gar nichts.«

»Da wäre mir auch schlecht«, mischt sich der Knoblauchjunge ein, und Leyla muss grinsen.

»Dann verträgst du das Busfahren wohl nicht.« Caro zuckt mit den Schultern. »Ging mir als Kind auch so. In einem normalen Auto war es okay, aber in so einem Bus war mir sofort kotzübel.«

»Was ist denn nun?« Kims Stimme vom Rücksitz. Ungeduldig. »Ich habe wenig Lust, gleich am ersten Schultag nach den Ferien zu spät zu kommen!«

Die Busfahrer-Lehrerin lässt ihr Handy sinken. »Ich weiß, Kim. Tut mir leid. Ich erreiche unter der angegebenen Nummer niemanden von deinen Eltern, weißt du, wo sie sein können?«, wendet sie sich an mich, wobei sie schön auf Abstand bleibt.

»Sammy schläft wahrscheinlich noch«, murmle ich. »Da hört sie nichts.«

»Na, ganz toll!« Die Busfahrer-Lehrerin rauft sich die Haare. »Pass auf, dann musst du eben doch mitfahren und in …«

»Nein!«, rufen Kim und ich gleichzeitig.

»Ich kann sie doch hier nicht mitten auf der Landstraße stehen lassen!«

»Doch«, sage ich. »Ist kein Problem. Ich laufe einfach zurück.«

»Mit einer Magen-Darm-Verstimmung? Kommt nicht infrage. Los«, kommandiert sie, »dann geht es nicht anders. Wir fahren zurück. Ich rufe in der Schule an und gebe Bescheid, dass wir einen Zwischenfall haben.«

»Das ist indiskutabel«, beschwert sich Kim lautstark. »Ich sehe nicht ein, dass wir die ganze Strecke zurückfahren, nur weil die Neue nicht Bus fahren kann!«

Ich will nicht wieder in den Bus steigen, tausendmal lieber würde ich durch den Wald laufen! Wenn ich in Sichtweite der Straße gehe, kann ich mich auch nicht verirren. Außerdem habe ich keine Angst mehr vor dem Wald, seit ich weiß, was es wirklich mit der Legende der Windpferde auf sich hat. Der Wald bringt mich zu ihm.

Zu Pan.

Der Gedanke an ihn lässt mich aufatmen. Pan. Gleich werde ich wieder bei ihm sein, ihn berühren, neben ihm atmen können! Es ist gruselig, wie viel mir dieses Pferd bedeutet, nach so kurzer Zeit. Wie unverzichtbar seine Nähe geworden ist. Ich gehe auf den Bus zu, steige ein und sofort rebelliert mein Magen wieder.

»Das geht echt zu weit«, schimpft Kim weiter und funkelt mich böse an.

»Kim«, sagt die Busfahrer-Lehrerin gereizt. »Sie macht es doch nicht absichtlich!«

Die Tür schließt sich hinter mir. Mein Magen rumort, mir wird flau und schwummrig, und ich sehe Gelb, ein honiggelbes Auto, das uns entgegenkommt, auf der anderen Straßenseite. Die Busfahrer-Lehrerin hat es auch gesehen, sie springt aus dem Bus und wedelt wild mit beiden Armen. Das Auto hält, sie redet kurz mit dem Fahrer und kommt mit erleichtertem Gesichtsausdruck zu uns zurück.

»Na halleluja«, murmelt Kim und lehnt sich zurück.

»Steig aus«, sagt die Busfahrer-Lehrerin und hält mir die Tür auf. »Herr Keller nimmt dich mit zurück nach Windheim.«

2

An meiner alten Schule gab es mal ein Seminar, an dem uns eingebläut wurde, niemals zu einem Fremden ins Auto zu steigen. Ich weiß nicht, ob diese Regel auch in Windheim gilt, die Busfahrer-Lehrerin fragt jedenfalls nicht, ob ich den Mann hinter dem Steuer des honiggelben Kastenwagens kenne. Ich glaube, sie ist einfach froh, mich und das Problem mit meinem Magen los zu sein.

Der Wald fließt an uns vorbei wie ein grüner Strom, er scheint uns einzusaugen, mitten in sein Herz. Windheim. Ich spüre, wie wir uns dem Dorf nähern, und der Schmerz in meinem Kopf lässt nach, mit jedem Kilometer, den der alte Tacho abzählt.

Ein uraltes Auto. Die Sitze sind verblichen, einen Gurt gibt es nur noch für den Beifahrer, wo ich sitze. Der Fahrer ist ebenfalls ziemlich alt und fährt nicht schnell, so als müsste er achtgeben, weil er sich ja nicht anschnallen kann. Vom Rücksitz weht der Duft nach frischem Obst und Gemüse zu uns nach vorn, Unmengen davon, in großen Spanholzkisten übereinandergestapelt.

»Wieder gut?«, fragt der Fahrer. Er ist natürlich kein richtiger Fremder, zumindest kenne ich seinen Namen. Mit ihm habe ich, glaube ich, zwar noch nie gesprochen, dafür aber mit seiner Frau, die sehr nett und besorgt war, als ich zu lang im Wald geblieben war. Aber ich weiß, dass Herr und Frau Keller die Wirtsleute vom »Alten Böhmwind« sind, dem Gasthaus, das nur zwei Straßen von Tante Lisbeths Haus entfernt liegt – und die Eltern von dem Jungen, der vor zwanzig Jahren in Windheim verschwunden ist.

»Ja, geht schon. Vielen Dank«, sage ich schnell, damit er keine Sorge haben muss, dass ich in sein Auto kotze.

Er wirft mir einen Blick zu, dann ruhen seine Augen wieder auf der Straße. Er sieht müde aus, so als hätte er seit Jahren nicht mehr richtig geschlafen. Sein Gesicht ist voller Falten, voller Sorgen, und ich würde ihn gern fragen, nach dem Foto oder dem Gedenkstein, aber ich kenne ihn ja kaum, und mir fallen nicht die richtigen Worte dafür ein, also lasse ich es und schaue nur aus dem Fenster, auf den vorbeirauschenden Wald und die dicht aneinanderklebenden Schattenbäume.

Der alte Wirt dreht das Radio an, ganz leise nur, aber die Töne eines fröhlichen Schlagers vertreiben die Stille.

»Ist das Baby schon da?«, fragt er unvermittelt.

»Das Baby?« Mein Kopf fühlt sich noch immer schwummrig an, und ich brauche einen Moment, um meine Gedanken zu sortieren. Er meint Sammy, natürlich, Sammy, die so schwanger ist, dass niemand es übersehen kann. »Ach so. Nein. Noch nicht.«

»Werdet ihr denn hierbleiben? Mit dem Baby?«

Verwirrt schaue ich ihn an. »Ähm … ja. Natürlich. Warum sollten wir weggehen?«

»Die meisten jungen Leute hält es nicht in Windheim«, erzählt der Wirt, und seine Lider flackern kurz. »Sie wollen, dass ihre Kinder woanders groß werden, wo sie mehr erleben können. Dabei kann Windheim so schön sein … für Kinder.«

Ich muss wieder an das Gefühl denken, das ich hatte, als wir vor wenigen Wochen nach Windheim gekommen sind. So, als ob dem Dorf irgendetwas fehlen würde. Ich kann immer noch nicht sagen, was es ist, aber anscheinend habe nicht nur ich dieses Gefühl.

»Sammy hat das auch gesagt«, fällt mir ein. »Sie vermisst das Schwimmbad, ein Kino, Einkaufsläden und eine Eishalle im Winter, wo man Schlittschuh laufen kann.«

»Oh, es gibt ein Schwimmbad.« Der Wirt schmunzelt. »Einen versteckten Weiher im Wald. Wenn der zufriert, kann man darauf auch Schlittschuh laufen. Das haben wir getan, als wir Kinder waren. Ein Kino brauchten wir nicht, wir spielten den ganzen Tag draußen an der frischen Luft. Und zum Einkaufen ist man eben in die Stadt gefahren, so wie ich es heute noch tue.«

»Dann haben Sie nie was vermisst?«, frage ich. »Als Sie ein Kind waren?«

Er überlegt kurz. »Nein. Nie. Ich wollte nicht weg aus Windheim. Aber heute sind die Leute anders. Das Leben ist anders, schneller … und die Menschen sind mit immer weniger zufrieden.«

Ich drücke mich tief in meinen Sitz und schaue wieder raus, in die dichten grünen Schatten des Waldes. Nein, wir ziehen nicht weg aus Windheim. Aber weiß ich das sicher? Was, wenn Ben und Sammy einfällt, Tante Lisbeths Haus zu verkaufen? Mit dem Geld, das wir dafür bekommen würden, könnten wir bestimmt auch woanders wohnen, in einer größeren Stadt. Auf einmal wird mir kalt und ich bekomme überall Gänsehaut auf meinen Armen. Ich weiß überhaupt nichts, schon gar nicht, wie sich unser Leben verändern wird, wenn erst das Baby da ist.

Ich weiß nur, dass ich nicht mehr aus Windheim weggehe! Nirgendwo gehe ich hin, außer ich kann Pan mit mir nehmen.

»Soll ich anhalten?«, fragt der alte Wirt und mustert mich besorgt von der Seite. »Du bist sehr blass, Mädchen.«

Ich schüttle heftig den Kopf. »Nein, nein, bitte nicht … einfach weiterfahren. Es geht schon. Alles gut!«

Er nickt, aber dann fährt er doch langsamer, und es dauert eine kleine Ewigkeit, bis wir endlich das Schild passieren, von dem uns ein Pferd mit lebendigen Augen anguckt: Willkommen in Windheim – Heimat der Windpferde.

Erst da, erst als wir die Schwelle zu Windheim passieren und der Wald sein grünes Tor hinter uns schließt, kann ich wieder frei atmen, ist das Pochen in meinem Kopf verschwunden und das flaue Gefühl in meinem Bauch, und ich spüre, wie ich lächeln muss.

Für die meisten Windheimer sind Windpferde nichts als eine Legende, eine Geschichte, die sie den Touristen erzählen. Ich aber weiß es besser, denn meine Seele ist verwoben mit der eines Windpferdes.

Doch das bleibt mein Geheimnis.

Der Wirt setzt mich nicht beim »Alten Böhmwind« ab, sondern fährt extra den Umweg über die Santa-Ana-Straße und hält direkt vor Tante Lisbeths altem Steinhaus.

»Vielen Dank«, sage ich höflich und steige aus. »Das war sehr nett von Ihnen.«

Er deutet mit dem Kinn auf die zugeklappten Fensterläden. »Wenn niemand zu Hause ist und du etwas brauchst, komm zu uns rüber. Meine Frau macht dir einen warmen Tee, dann wirst du dich bald besser fühlen.«

Ich bedanke mich noch einmal, sage aber nicht, dass es mir schon wieder blendend geht, und auch nicht, was ich stattdessen tun werde. Ungeduldig bleibe ich an der Straße stehen und sehe zu, wie er sein gemüsevolles Auto in der Einfahrt unserer Nachbarin wendet, und winke, als er an mir vorüberfährt. Dann husche ich schnell durchs Gartentor, schiebe meinen Schlüssel (den Ben mir hat nachmachen lassen, nachdem ich meinen klammheimlich an Tante Lisbeth zurückgegeben habe) ins Schloss, stoße die Tür auf und laufe in den kühlen Flur.

»Sammy?«

Kein Geräusch von oben. Ich gehe ein paar Schritte die knarzende Treppe hinauf.

»Beeeeen!«

Noch immer nichts. Sind sie nicht da? Oder schlafen sie immer noch so fest, dass sie mich nicht hören?

Hinter mir öffnet sich eine Tür und dann legt sich eine kalte Hand in meinen Nacken. Ich schreie auf und wirble herum, aber es ist nur Lisbeth, die mich mit großen Augen ansieht.

»Nia«, flüstert sie. »Du bist zurück!«

Ich nehme ihre kalten Finger in meine Hände und versuche, ihr so etwas von meiner Körperwärme abzugeben.

»Ja, weißt du, mir ging es nicht so gut. Die Lehrerin hat mich nach Hause geschickt.« Das ist schließlich nicht gelogen, auch wenn ich niemals in der Schule angekommen bin.

»Schule?«, fragt Lisbeth verwirrt. »Welche … Schule?«

»Die Ferien sind vorbei. Ich muss ab heute wieder zur Schule gehen.«

Hat sie vergessen, wie alt ich bin? Manchmal ist Tante Lisbeth eine ziemlich seltsame alte Frau. Aber gleich tut sie mir wieder leid, denn sie sieht so verwirrt aus, als hätte sie es wirklich nicht gewusst.

»Ich bin dreizehn Jahre alt«, sage ich ganz sacht. »Da muss man noch einige Jahre zur Schule gehen.«

»Ich dachte, du bist längst …« Lisbeth verstummt. Sie wirft einen Blick nach oben. Ich gucke ebenfalls hoch. Gehört habe ich nichts.

»Wo sind sie?«, frage ich flüsternd. »Ist Ben hier? Und Sammy?«

Lisbeth schüttelt den Kopf. »Eine Decke abholen, für das Baby.«

Ach, stimmt, da war ja was. Sie haben beim Schäfer eine Decke in Auftrag gegeben. Sammy hat sich tierisch darüber aufgeregt, wie teuer die war, aber Ben hat sie einfach bestellt und gemeint, sie würden sie hinterher zu einem guten Preis im Internet verkaufen.

Ich wende mich wieder Lisbeth zu. »Was wolltest du sagen, Tante Lisbeth? Wo bin ich längst?«

Aber ihre Augen flackern und dann wird ihr Blick wieder trüb und verschlossen. Sie zieht ihre Hand aus meiner, stapft zur Treppe und ruft hinauf: »Das ist mein Haus, ja? Vergesst das nie! Niemals!«

Damit dreht sie sich um und verschwindet wieder in ihrem dunklen, einsamen Wohnzimmer. Ich laufe ihr nicht nach. Wenn sie so drauf ist, verschwimmt die Welt vor ihren matten Augen, und ich erreiche sie sowieso nicht. Aber erleichtert bin ich doch und auch ein bisschen froh darüber, dass Lisbeth so ist, wie sie ist.

Wir werden nicht fortgehen, auch nicht, wenn das Baby da ist. Das würde Lisbeth gar nicht zulassen.

3

Leiser, raschelnder Westwind begleitet mich, als ich über den Friedhof laufe und auf den Gedenkstein zusteuere. Seit ich entdeckt habe, dass der Junge auf dem Bild aussieht wie Hannes, mache ich das jedes Mal.

Natürlich ist es nicht Hannes, wie soll er es auch sein? Der Junge auf dem Bild ist vor zwanzig Jahren verschwunden und der Hannes, den ich kenne, nicht viel älter als ich. Aber seltsam ist es doch.

Ich bleibe dicht vor dem Gedenkstein stehen, strecke die Hand danach aus und berühre die glatte Oberfläche mit meinen Fingerspitzen. Nein, genau gleich sehen sie nicht aus. Die Haare sind anders, und der Junge auf dem Foto hat so ein Leuchten in den Augen, das ich bei Hannes noch nie gesehen habe. Aber vielleicht sind sie verwandt, über irgendwelche Ecken? Schließlich ist Windheim ein Dorf und ziemlich abgeschieden noch dazu. Es muss einen Zusammenhang geben! Bloß welchen?

Der Wind wird stärker, als ich die Böschung hinunterrutsche, meine Schuhe abstreife und durch den Fluss wate, und dann hört er ganz abrupt auf, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Den Windschalter. Ich trockne meine Füße im tiefen Gras und renne hoch, den Hügel, auf dem die Kastanienbäume stehen. Ihre Blätter rascheln immer, auch ohne Wind. Diese Bäume müssen uralt sein, wahrscheinlich so alt wie Windheim selbst. Ich bleibe in ihrem Schatten stehen und ziehe meine Schuhe wieder an. Dann renne ich über den Schotterweg hinunter ins Dorf.

»Nia, Nia!«

Eine kleine Gestalt klebt sich an meine Seite und hüpft neben mir auf und ab. Ich lege den Arm um sie und drücke sie kurz, und sie fährt mit den Fingern durch meine Haare, die ich zu zwei tiefen Zöpfen zusammengebunden habe.

»Wieso bist du hier?«, frage ich Irma. »Musst du nicht zur Schule?«

Vergnügt schüttelt Irma den Kopf. »Nö. Wir haben doch Ferien!«

»Ferien?«

»Ja!«

»Es sind keine Ferien mehr.«

»Doch! Bei uns schon.«

Ich bleibe stehen. Das muss ich jetzt genauer wissen. »Haben denn die anderen auch Ferien? Die anderen Kinder, die hier wohnen?«

»Ja, sicher, wir haben immer Ferien, wenn wir hier sind. Das ist praktisch, weil dann der Sommer anfängt.«

»Was meinst du damit, wenn ihr hier seid?« Ich lege den Kopf schräg. »Das macht doch keinen Sinn. Keine Schule hat jetzt noch Ferien.«

»Meine Schule schon.«

»Und auf welche Schule gehst du?«

Sie guckt mich einen Moment verwirrt an, aber dann greift sie nach meiner Hand und zieht mich mit sich. »Komm mit. Ich zeig sie dir.«

Wir laufen nebeneinander die Gassen entlang, zwischen Wäscheleinen voll mit Laken, Hemden und Hosen, bis wir vor einem mehrstöckigen Haus aus grauen und schwarzen Steinen stehen bleiben. Das Haus liegt am Ende einer Gasse, aber ich kann mich nicht erinnern, hier schon einmal gewesen zu sein. Auf einem Schild neben dem Eingang steht in verschnörkelten Buchstaben: Schule vom Wind und Wald.

»Okay, das ist also eure Schule?« Das Haus sieht … vereinsamt aus. Allein gelassen. So als würde es tief schlafen und dürfte nicht gestört werden.

Irma nickt strahlend. »Sie ist toll, nicht? Wir haben bunte Lichter in den Klassenzimmern. Und jeder Raum ist in einer anderen Farbe gestrichen.«

»Was für eine Schule ist das? Eine Grundschule?«

Irma zuckt mit den Schultern. »Es ist unsere Schule.«

»Geht ihr denn alle dorthin? Auch Hilde und die Größeren?«

Jetzt kichert Irma. »Wo sollen sie denn sonst zur Schule gehen?«

Ich verstehe es zwar immer noch nicht, aber ein Plan breitet sich in meinem Kopf aus, ein toller Plan, voll mit langen Frühlingsferien. Wenn der Großteil der Windheimer Kinder auf diese Schule geht, dann kann ich das vielleicht auch tun!

»Danke«, sage ich zu Irma. »Du hast mir echt geholfen.«

Irma strahlt. »Du gehst jetzt zu Pan, oder? Darf ich dir zusehen?«

Das ist irgendwie der neueste Sport geworden. Mir und Pan zusehen. Immer mehr von den kleineren Kindern hängen am Zaun und beobachten uns, und manchmal wünsche ich mich auf die Wiese im Wald zurück, auch wenn es sehr angenehm ist, Pan hier zu haben, ganz nah bei mir.

»Na klar«, sage ich zu Irma und lege wieder den Arm um sie. »Wo müssen wir lang?«

Sie streckt den Arm aus und deutet in die Richtung. Ich atme tief ein und schließe für einen Moment die Augen. Kein Zweifel, die Richtung stimmt. Wenn ich in mich hineinlausche, kann ich spüren, wo Pan ist. Er leuchtet in mir wie ein Licht, das nur ich sehen kann.

»PaNia«, sagt Irma stolz. »Und ich habe dich entdeckt, ich allein!«

Pan steht auf dem Paddock hinter Hildes Haus, am Saum des Waldes, halb versteckt hinter kniehohem Gesträuch und bemoosten Ästen. Er hat den Kopf hocherhoben, atmet die leise Brise, die in den Baumkronen raschelt. Seine Ohren sind steil aufgerichtet und zeigen in unsere Richtung, und seine Mähne, die lang und ungehindert um seine Brust bauscht, schillert im Regenbogenspiel unendlicher Farben.

Ich halte den Atem an, muss stehen bleiben. Schöner als Pan in diesem Augenblick kann ein Pferd nicht sein! Am liebsten würde ich den Moment einfrieren, für immer so bleiben und dieses wundervolle Pferd ansehen – mein Pferd.

Pan löst sich vom Waldrand und streift auf mich zu. Nicht eilig, nicht hektisch, aber zielstrebig und ohne Umwege. Ich steige durch den Zaun, laufe ihm entgegen und merke, wie das Ziehen in meiner Brust endgültig nachlässt und ein ganz neues Magenflattern erwacht.

Ich bin hier, ich bin bei dir. Wir atmen wieder gemeinsam.

»Hey«, flüstere ich und strecke die Hand aus, um sie durch seine schimmernde Mähne zu ziehen. Seine Regenbogenfarben.

Pan schnobert an meinen Haaren, pustet in meine Zöpfe und schmiegt seine Nüstern in die Kuhle an meinem Hals. Ich weiß wenig über Windpferde, gerade mal genug, um sie von normalen Pferden zu unterscheiden. Doch es wäre mir auch egal, wenn Pan grün oder blau wäre oder lila leuchten würde – ich habe ihn einfach lieb.

»Brauchst du dein Halfter?« Irmas Stimme, wie aus weiter Ferne. Dabei kommt sie nur von der anderen Seite des Zauns.

»Ja bitte«, murmle ich, ohne den Kopf zu bewegen. So stehen bleiben, für immer.

Irma huscht davon, aber schon gleich darauf höre ich, wie sie hinter mir über den Zaun klettert und ihre nackten Füße neben mir im Gras rascheln. »Reitest du ihn? Oh, bitte, Nia!«

Ich muss lächeln. Pan zu reiten, ist wie eine Droge für mich, und offenbar geht es meinen kleinen Zuschauern ganz genauso!

Vorsichtshalber drehe ich mich nun doch zu Irma um. »In Ordnung. Aber geh raus, okay? Und bleib weg von uns!«

Irma gehorcht sofort. Was die Windpferde betrifft, würde keines der Kinder leichtsinnig handeln.

Pan lässt sich das neue Reithalfter widerstandslos anlegen. Ich bilde mir nicht ein, damit Kontrolle über ihn zu haben, die übe ich nämlich auf andere Weise aus, durch meine Gefühle und Gedanken, aber die einfachen Seilzügel in meinen Händen helfen mir, mich auf meine Kraft zu konzentrieren. Das fiese Halfter, das Hannes mir gegeben hat – oben in der Höhle am Wasserfall –, habe ich ein für alle Mal aus unserem Training verbannt. Inzwischen bin ich sogar fast sicher, dass Hannes es nicht besser weiß, dass er nur nachmacht, was alle hier tun: Sie zäumen ihre Windpferde mit dem Leder aus toter Windpferdehaut und binden die Federn von Nebelkrähen daran, damit sie ihnen nicht ihre Energie stehlen können.

Dabei ist es so einfach. So leicht!

Wissen sie das wirklich nicht?

Pan zischt wie ein Windstoß. Ein ungeduldiges Pfeifen kommt aus seinen Nüstern. Er wittert mein Glück, meine Freude, und ich kann kaum erwarten, sie mit ihm zu teilen!

»Soll ich dir beim Aufsteigen …«, höre ich Irmas Stimme von weit, weit fort.

Ich schüttle den Kopf und Pan macht es mir nach. Winzige Kletten haben sich in seiner Schimmermähne verfangen. Ich senke meinen Oberkörper, und Pan knickt mit den Vorderbeinen ein, so wie er es bei unserer allerersten Begegnung auch getan hat. Ich rutsche auf seinen Rücken, und er steht auf, fließend und mühelos, als würde ich nicht mehr wiegen als die Luft um uns herum. Einen Moment stehen wir so, reglos, beide wartend. Dann entlasse ich alle positiven Gefühle gleichzeitig, spüre das Glück, hier zu sein, die Freude über den freien Vormittag und die unbändige Kraft, die von Pan ausgeht. Wir vermischen unsere Emotionen, unsere Energie, und Pan läuft los, angetrieben von uns, er galoppiert über die Wiese und scheucht Lun auf, ich muss lachen, und dann muss ich weinen, weil es so schön ist, hier zu sein.

Rauf, runter. Durch das Gestrüpp, über einen Baumstamm, der umgefallen ist. Ich produziere ständig neues Glück, sprudle vor Energie! Pan saugt sie auf, bis ich erschöpft auf seinen Hals sinke und Sternchen sehe. Meine Stimmung kippt, doch sofort hält Pan an, schwer atmend, noch immer berauscht von unserer Geschwindigkeit.

Daran muss ich mich definitiv gewöhnen – Windpferde laufen niemals langsam!

Plötzlich geht ein Ruck durch Pans Körper. Mein Kopf schnellt herum, ich sehe zwei Jungen an einer Böschung entlanglaufen. Sie schleppen etwas, das verdammt schwer sein muss … Eimer? Ja, Eimer an langen Stöcken. Jeder zwei davon. Jetzt erkenne ich die Jungen auch: Der größere, das ist Silvan, der Junge mit dem Silberpferd, der meistens auf die Herde aufpasst. Und der vordere ist Hannes.

Pan wird ungeduldig, er fängt an, mit dem Huf zu scharren und den Kopf hochzuwerfen. In meinem Kopf jagen wir auf die beiden zu und schneiden ihnen gekonnt den Weg ab!

Hannes dreht ganz leicht den Kopf und sieht zu uns herüber. Sein Blick trifft mich, ich merke es genau! Mein Magen flattert, und schon gibt es für Pan kein Halten mehr, er sprintet los, genau auf den Zaun zu, genau auf die Stelle mit dem losen Brett, die überfliegen wir einfach, und dann packe ich Hannes und …

»Halt!« Ich sammle das letzte Stückchen Verstand zusammen und zwinge mich dazu, Pan zu stoppen. »Nicht, Pan!«

Wieder das Windrauschen, wieder das Gefühl – Pan bäumt sich auf, bockt und springt in die Luft. Erst da merke ich, dass es gar nicht Pan ist, der auf den Zaun und auf Hannes zurennen will, sondern ich selbst, ich will hinstürmen und Hannes mit mir reißen! Pan fühlt nur mit mir und führt meine Gedanken aus.

»Bleib stehen«, befehle ich leise. All meine Sinne sind darauf gerichtet. Stehen bleiben. Nicht zu den Jungs hinübergucken. Kein Strom, kein Glück. Energie auf null runterfahren. Und atmen. Langsam. Bis der Atem in meinen Ohren rauscht.

Pan gehorcht keuchend. Ich zupfe am Zügel, und endlich bleibt er stehen, nur wenige Handbreit vor der kaputten Zaunlatte, und schnauft schwer.

Ich lehne mich vor und streichle seinen bebenden Hals. »Weißt du, was? Eigentlich hast du recht. Wir sollten Hannes besser mal ein wenig Angst machen. Vielleicht redet er dann wenigstens wieder mit mir?«

Hannes und Silvan laufen einfach weiter. Haben sie die Gefahr auf die Entfernung gar nicht bemerkt? Ich atme leise aus, springe von Pans Rücken und ziehe das Halfter über seine Ohren, sodass er wieder frei ist.

Ich muss aufpassen. Pan wird immer stärker. Eines Tages wird er nicht mehr auf mich hören und den Zaun einfach einreißen.

»Wir üben das«, erkläre ich ihm. »Ja? Du wirst ein gutes Windpferd sein und keine Menschen jagen. Meine Energie muss reichen, hast du gehört?«

Pan schiebt den Kopf über meine Schulter und reibt seine Wange an meiner.

Ich muss lachen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Hannes und sein Begleiter hinter einer Mauer verschwinden.

»Wo wohnt Hannes eigentlich?«, frage ich Irma, die im Zaun hängt und mich mit großen Augen anguckt.

»Hier«, sagt sie nur.

»Was heißt hier?«

»Hier, bei uns.«

»Bei euch?« Ich gucke zu dem Haus hinab, das direkt an den Paddock grenzt. »Bei Hilde und dir?«

Irma lacht. »Ach, nein! Doch nicht in unserem Haus. In unserem Dorf!«

»Ja, das weiß ich doch. Aber in welchem Haus wohnt er?«

Irma beißt sich auf die Lippen. »Am Anfang hat er bei Norwin gewohnt. Aber dann ist er umgezogen. Er schläft jetzt immer bei Ernas Familie.«

»Er wohnt nicht bei seinen Eltern?«, frage ich überrascht.

Irma schüttelt langsam den Kopf.

Mein Herz macht einen kleinen Satz und sofort wird Pan wieder unruhig. »Ist diese Erna … ist das seine Freundin?«

Warum interessiert mich das überhaupt? Ich will nur mit Hannes reden, sein Geheimnis erfahren, nichts weiter! Er kann wohnen und schlafen, wo er will!

Irma hüpft vom Zaun und zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Bei Hannes kennt sich keiner aus.« Sie grinst mich an, und ich hoffe, ich werde nicht rot dabei. »Es ist das gelb angemalte Haus hinter der uralten Weide. Da findest du ihn.«

Auf einmal weiß ich gar nicht mehr so genau, ob ich das überhaupt will. Pan tänzelt an meiner Schulter und ich lege meine Hand auf seine Brust. Wir gehen jetzt in den Wald spazieren. Damit wir beide wieder zur Ruhe kommen.

Ich biege gerade in unseren Lieblingspfad zwischen den Federblumen ein, als eine Stimme erklingt, eine Stimme, die mich sofort zum Anhalten bringt:

»PaNia! Wartet. Ich habe eine wichtige Nachricht für euch!«

4

Ich drehe mich um, dabei weiß ich schon, wer da hinter mir steht: Norwin. Seine Stimme klingt ruhig und freundlich, wie immer, und trotzdem hat sie diesen Unterton, dieses Lauern, so als würde er in Wahrheit gar nicht das sagen, was er denkt. Ich schüttle den Gedanken ab. Blödsinn! Ich habe bloß Respekt vor ihm, so wie alle. Und weil ich immer noch nicht weiß, wem Pan eigentlich gehört.

»Hallo, Norwin«, rufe ich ihm entgegen und lächle höflich.

Er kommt zu mir auf den Hügel und bleibt vor mir stehen.

»Ich habe euch beobachtet.«

Mein Kopf fühlt sich schon wieder unangenehm heiß an. Beobachtet … oh Gott, hat er etwa gesehen, dass wir beinahe über den Zaun gejagt wären? Aber er kann nicht wissen, was tatsächlich los war. Das hat sich doch nur in meinen und Pans Gedanken abgespielt!

»Ihr seid großartig zusammen.« Norwin nickt Pan anerkennend zu. »Er ist so jung, so voller Energie! Deshalb habe ich eine Aufgabe für euch. Eine äußerst wichtige Aufgabe.«

Ich halte den Atem an. Was immer er mir zu sagen hat … solange es mit Pan zu tun hat, bin ich zu allem bereit.

»Ich will, dass ihr mit den Windhütern reitet.«

Mein Unterkiefer klappt auf. »Mit den … du meinst, Wache halten? An der Pferdewiese?«

Norwin lächelt geheimnisvoll. Dann nickt er. »So ist es. Ich wollte euch eigentlich noch länger beobachten, euch Zeit geben, einander kennenzulernen. Ihr seid beide jung.« Zwei Falten bilden sich auf seiner Stirn. »Aber es ist so, dass uns ein Hüter fehlt. Du weißt sicher, was vor ein paar Tagen mit KaRio geschehen ist. Wir brauchen Ersatz für ihn, so schlimm sein Schicksal auch sein mag.«

Mein Mund ist so trocken, dass ich kaum atmen kann. Ersatz. Ich soll der Ersatz sein – für den Jungen, der mich entführt hat? Der von seinem Windpferd in den Wald geschleppt wurde und als alter Mann zurückgekehrt ist? Ich weiß noch gut, wie er dalag, wie hilflos er plötzlich war. Und alles nur, weil das Halfter gerissen war … Ich schlucke fest. Nein, nein! Pan und mir kann das nicht passieren, schließlich brauche ich das Halfter nicht, um ihn zu kontrollieren!

»Es ist eine ehrenvolle Aufgabe, eine Windhüterin zu sein. Und du willst doch zu uns gehören … zu Pan. Oder?« Lauernd sieht Norwin mich an. Wieder habe ich das Gefühl, einen Unterton aus seiner Stimme zu hören. Aber wieder lächelt Norwin ihn fort. »Kann ich euch denn vertrauen, PaNia?«

Er spricht mich nicht mit meinem Namen an, sondern mit unserem Namen. Pan und meinem. Wir sind verbunden, und wir sollen zusammen eine Aufgabe übernehmen, eine wichtige, verantwortungsvolle Aufgabe – das Bewachen der Windpferde!

Ich nicke. Stolz sammelt sich in meiner Kehle, doch dann fällt mir etwas ein, und ich halte inne. »Ich muss zuerst … also, ich weiß nicht, wie das mit der Schule geht. Die Ferien sind vorbei, aber ich würde viel lieber hier auf die Schule gehen, als mit den anderen aus Windheim wegzufahren. Meinst du, das dürfte ich?«

Norwin runzelt die Stirn. »Du wolltest aus Windheim fort?«

Ich schüttle schnell den Kopf. »Ich wollte es nicht und … ich konnte es auch gar nicht. Mir ist plötzlich schlecht geworden, mein Kopf tat weh, und meine Brust hat sich angefühlt, als ob sie zerreißen würde. Aber jetzt geht es mir wieder gut«, schiebe ich schnell hinterher, damit er nicht denkt, dass ich der Aufgabe einer Windhüterin nicht gewachsen wäre.

Norwin tritt einen Schritt auf mich zu und legt mir die Hände auf die Schultern. »PaNia, du gehörst längst zu uns. Nicht auf die Schule dieser … Leute. Ich werde das regeln. Hab keine Sorge! Ab morgen werde ich Hilde bitten, euch zu Windhütern auszubilden, und im Nu wirst du gar nicht mehr fortwollen.«

»Ich wollte es ja gar nicht«, murmle ich, aber seine Worte sinken bereits tief in meinen Bauch. Etwas Warmes, Wohliges breitet sich darin aus, ein Gefühl, das so gut schmeckt wie warmer Kakao mit Honig. Morgen schon! Morgen darf ich mit den Windhütern reiten, ich darf zurück auf die Pferdewiese, das Wasser aus der Quelle trinken und den Windpferden zusehen, wie sie frei und glücklich unter dem Dach des Waldes leben.

»Ich will überhaupt nie mehr woanders sein«, sage ich zu Norwin und registriere zufrieden, wie etwas in seinen Augen aufblitzt.

Als ich mit Pan von unserem Waldspaziergang zurückkehre – wir haben einen neuen Pfad entdeckt und dort schöne blassgelbe Federblumen gesammelt, die ich mir unterwegs ins Haar geflochten habe –, gehe ich doch noch mal durchs Dorf, wo am großen Platz