Wolkenspiele - Gabriella Engelmann - E-Book

Wolkenspiele E-Book

Gabriella Engelmann

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Beschreibung

Die Erkenntnis, dass eine Ehe nicht ewig halten muss, bleibt auch Anna nicht erspart – nach 15 Jahren ist alles aus. Deshalb nimmt sich die 43-Jährige eine Auszeit und reist nach Amrum, wo sie die Biographie einer verstorbenen Schriftstellerin schreiben will. Auf der Fähre begegnet sie dem Fotografen Paul, der sie auf andere Gedanken bringt. Doch die Vergangenheit lässt Anna nicht los, und außerdem ist da noch ihr undurchsichtiger Vermieter, der ein dunkles Geheimnis zu hüten scheint … »Magisch wie das Spiel der Wolken, beglückend wie der Zauber der Insel Amrum!« Silke Schütze Wolkenspiele von Gabriella Engelmann: als eBook erhältlich!

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Engelmann Gabriella

Wolkenspiele

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Erkenntnis, dass eine Ehe nicht ewig halten muss, bleibt auch Anna nicht erspart – nach 15 Jahren ist alles aus. Deshalb nimmt sich die 43-Jährige eine Auszeit und reist nach Amrum, wo sie die Biographie einer verstorbenen Schriftstellerin schreiben will. Auf der Fähre begegnet sie dem Fotografen Paul, der sie auf andere Gedanken bringt. Doch die Vergangenheit lässt Anna nicht los, und außerdem ist da noch ihr undurchsichtiger Vermieter, der ein dunkles Geheimnis zu hüten scheint …

»Magisch wie das Spiel der Wolken, beglückend wie der Zauber der Insel Amrum!«Silke Schütze

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37EpilogDanksagungGabriella Engelmann im Gespräch
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Für meine Eltern.

In Liebe und Dankbarkeit.

Dieses Buch ist mein bislang persönlichstes und liegt mir daher ganz besonders am Herzen. Ich war mehrfach auf Amrum, um dort zu recherchieren, und habe mich währenddessen immer mehr in diese Insel verliebt. Sie werden auf den folgenden Seiten Orte und Lokalitäten wiedererkennen, die real existieren, aber auch solchen begegnen, die ich bewusst kreiert habe, um meiner Geschichte den entsprechenden Rahmen zu geben. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich ein Haus beschreibe, das es an dieser Stelle vielleicht gar nicht gibt, die Heldin unabhängig von den Öffnungszeiten den Leuchtturm in Wittdün besteigt – oder sich historische Persönlichkeiten mit fiktiven mischen. Denn das ist ja das Schöne an der Phantasie: sie ist grenzenlos!

Genau wie die Liebe …

GABRIELLA ENGELMANN

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Prolog

Berlin, 1974

Grollend tobte der Sturm über den Dächern Berlins und rüttelte an den knarzenden Fensterläden des Stadtpalais, als begehrte er Einlass.

Auch im Hause der Richters ging es hoch her. Das Künstlerpaar stritt sich in letzter Zeit häufiger, doch nach der heutigen Auseinandersetzung schien es, als sei alles gesagt – und ihre Liebe endgültig gescheitert.

David stand im ersten Stock oben an der Wendeltreppe und musterte seine Frau. Sie trug ihren geliebten bodenlangen Samtmantel, hielt ihre gepackte Reisetasche in der rechten Hand und war im Begriff zu gehen.

»Aber ich liebe dich doch«, sagte er flehentlich. »Ich habe mich wieder und wieder entschuldigt, wieso kannst du mir nicht verzeihen?«

Liane schüttelte den Kopf. Sie konnte ein Leben an der Seite dieses Mannes nicht länger ertragen. Und das, obwohl sie ihn mehr liebte als alles andere auf der Welt. Doch im Laufe der Jahre war zu viel vorgefallen, und jetzt war das Maß endgültig voll. Wenn sie sich ihre Selbstachtung bewahren wollte, musste sie ihn verlassen. »David, ich kann nicht mehr. Du hattest so viele Chancen, aber du hast alles immer nur kaputt gemacht. Ich will nicht den Rest meines Lebens unglücklich sein und gute Miene zum bösen Spiel machen. Lass mich jetzt bitte einfach gehen.«

Mit diesen Worten drehte sich Liane um und ging die lange Holztreppe ins Erdgeschoss hinunter. Draußen wartete ein Wagen, um sie abzuholen, und sie beschleunigte ihre Schritte. Tränen verschleierten ihren Blick.

»Pass auf dich auf!«, flüsterte David mit erstickter Stimme. Das Klackern ihrer Absätze hallte durch das Haus.

Plötzlich hörte er ein lautes Poltern, gefolgt von einem durchdringenden Schrei. Dann nichts als Stille. Selbst der Sturm schien sich gelegt zu haben.

In das milde Licht des dämmrigen Winternachmittags getaucht, sah David den Körper seiner Frau auf dem kalten Steinfußboden liegen. Der rote Taftrock war ihr bis zu den Hüften hinaufgerutscht, der Kopf zur Seite gedreht. Es sah aus, als sei Liane in einen friedlichen Schlaf gefallen.

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Kapitel 1

Hamburg, 2009

Möwen zogen am Horizont laut kreischend ihre Kreise, während Bernd und ich Hand in Hand am Strand entlangliefen. Das Meer war grau und unruhig, und ich hielt seine Finger fest umklammert. Plötzlich spürte ich eine kalte, unheilverkündende Leere. Als ich zur Seite blickte, war Bernd verschwunden.

 

Schweißgebadet erwachte ich von meinem eigenen Schrei, sank verschwitzt auf die Kissen zurück und versuchte, das beklemmende Gefühl aus meinem Traum abzuschütteln. Während sich mein Puls verlangsamte und ich Atemzug für Atemzug in die Wirklichkeit zurückkehrte, vernahm ich durch die Wand die Stimme meiner Nachbarin, die lautstark mit ihrer kleinen Tochter diskutierte.

Jeden Morgen dasselbe Theater, dachte ich benommen und musste dennoch lächeln, als ich das helle Stimmchen des Nachbarkindes hörte. Ich sah die kleine Emma förmlich vor mir, wie sie mit verschränkten Armen und trotzig verzogenem Mund auf ihrem Lieblingsoutfit beharrte. Ein kurzes Röckchen und Sandalen bei Schnee, den geliebten Ringelschal und Fellstiefel im Hochsommer.

Kinder, dachte ich seufzend und rollte mich müde zusammen. Dann klingelte das Telefon, und ich warf einen raschen Blick auf die Uhr. Kurz nach sieben. Wenn ich mich nicht abhetzen wollte, um die Fähre zu erreichen, musste ich unbedingt aufstehen. Müde griff ich zum Telefon neben mir auf dem Nachttisch. »Guten Morgen, Schlafmütze«, ertönte die fröhliche Stimme meiner Schwester, die sichergehen wollte, dass ich es pünktlich aus den Federn schaffte.

»Von wegen Schlafmütze, ich bin längst wach!«

Vor meinem Fenster brach der neue Tag heran, und ich fröstelte. Die Vorstellung, jetzt aufbrechen zu müssen, behagte mir gar nicht.

Vielleicht sollte ich doch nicht nach Amrum fahren, sondern hier in meiner kuscheligen Höhle bleiben und nie wieder vor die Tür gehen, dachte ich und seufzte leise. Zu Leona sagte ich:

»Ich melde mich, wenn ich angekommen bin. Grüß Christian und gib den Kindern einen dicken Kuss. Ich rufe Lilly zu ihrem Geburtstag an, sie soll sich schon mal überlegen, was sie sich von mir wünscht.«

Mühsam kroch ich aus den warmen Daunen. In den ersten Monaten nach Bernds Auszug hatte ich es oft nicht vor drei Uhr nachmittags aus dem Bett geschafft – an manchen Tagen war ich gar nicht aufgestanden. Doch nun hatte ich eine Aufgabe, die keinen Aufschub duldete. Also riss ich mich zusammen und tappte barfuß in die Abstellkammer, um meinen Koffer vom Schrank zu holen.

»Heraklion« stand auf dem kleinen Papieretikett, das um den Griff baumelte, und sofort verspürte ich einen Stich in der Herzgegend. Auf Kreta hatten Bernd und ich unseren letzten gemeinsamen Urlaub verbracht, ein verzweifelter Versuch, unsere Ehe zu retten. Leider erfolglos.

Als Nächstes ging ich ins Badezimmer. Mir blieb noch eine knappe Stunde, um mich zu duschen, zurechtzumachen und nebenbei einen Kaffee zu trinken. Mir war es schon immer wichtig gewesen, mir morgens Zeit lassen zu können – nur nicht zu viel Realität auf einmal!

Ich trat vor den Spiegel und betrachtete mich. Vor mir stand eine zweiundvierzigjährige Frau, die keinen Tag jünger wirkte, als sie war – aber zum Glück auch nicht älter.

Mein Haar könnte einen Schnitt vertragen, dachte ich, als ich meine kastanienbraune Mähne zu einem festen Zopf flocht. Dann unterzog ich mein Gesicht einer genaueren Betrachtung: Wann hatten sich eigentlich diese zarten, aber unübersehbaren Krähenfüße um meine Augen gebildet? Doch ich wollte nicht zu streng mit mir ins Gericht gehen, schon gar nicht um diese Uhrzeit! Ich konnte stolz sein auf meine vollen, sinnlichen Lippen und mein schönes Dekolleté. Und auf meine Augenfarbe, die, je nach Lichteinfall, zwischen bernsteinfarben und hellgrün changierte. Bernd hatte mich immer »mein Bernsteinmädchen« genannt.

 

Vier Stunden später befand ich mich an Deck des Fährschiffes Rungholt auf dem Weg von Dagebüll nach Wittdün. Das Meer war an diesem Septembertag aufgewühlt und schäumte grau unter mir. Schlagartig hatte ich die traurigen Bilder meines Traums vor Augen, und wieder kroch dieses seltsame Gefühl von Leere in mir hoch.

»Wiedersehen«, murmelte ich, als die Fähre ablegte, und war froh über jede Seemeile, die mich vom Festland trennte. Während der Fahrtwind eine Strähne aus meinem Zopf zerrte, vernahm ich Schritte hinter mir, dabei hatte ich bewusst einen Platz auf dem zugigen Deck gewählt, der nicht so leicht zu entdecken war. Seit meiner Trennung hatte ich wenig Lust, unter Menschen zu sein und gute Laune zu heucheln. Ich suchte die Einsamkeit, auch wenn sie manchmal schwer auszuhalten war.

»Verzeihung, haben Sie zufällig Feuer?«, fragte eine männliche Stimme, und ich drehte mich um.

»Nein, tut mir leid. Im Übrigen dürfen Sie hier nicht rauchen.«

Ups … Hoffentlich hatte das nicht zu barsch geklungen.

»Wer sagt, dass ich rauchen will?«, entgegnete der Mann amüsiert. »Ich will nur das Preisschild unter meiner Schuhsohle entfernen. Diese Klebeetiketten sind ganz schön hartnäckig, und es muss ja nicht jeder wissen, dass die Stiefel neu sind.« Die Stimme gehörte einem sympathischen Mann in den Vierzigern mit offenen, hellgrauen Augen und welligem, rötlich-blondem Haar.

»Versuchen Sie es unten im Salon. Bestimmt haben die da ein Streichholz.«

»Haben Sie Lust auf labbrige Bockwürstchen und fiesen Kartoffelsalat mit Mayonnaise? Davon wird einem immer so schön übel.«

Ich musste lachen. »Nein, eher nicht, aber danke! Ich bin Vegetarierin, und außerdem ist der Raum da unten ein bisschen arg plüschig für meinen Geschmack.«

»Okay, ich verstehe. Und ich habe mich ja auch noch gar nicht vorgestellt! Ich heiße Paul Marquardt. Würden Sie denn wenigstens einen Tee mit mir trinken, wenn ich uns welchen hole?«

»Anna Bergman. Danke, das wäre sehr nett. Ich würde einen grünen Tee nehmen, wenn es welchen gibt.«

Nachdem Paul Marquardt gegangen war, starrte ich erneut aufs Wasser. Mein Blick fiel auf die zarten Birkenstämme, die teils einzeln, teils paarweise aus dem Meer ragten und mit Klebebändern versehen waren, die wie kurze, bunte Schals im Wind flatterten.

Als wollten sie sich gegen die Kälte schützen, dachte ich, zog den Ledermantel enger um mich und wackelte mit den Zehen, die ich kaum mehr spürte. Kalte Füße waren mein Markenzeichen. Früher hatte ich sie mit Vorliebe unter Bernds Bettdecke gesteckt und gegen seine warmen Beine gepresst. Tja. Früher …

Weshalb um alles in der Welt pflanzt man Birken mitten in die Nordsee?, dachte ich, während zahllose Bäumchenreihen an mir vorbeizogen. Die orangerote Boje, die soeben in meinem Blickfeld auftauchte, gab mir die Antwort: Sie markierten die Fahrrinne.

»Hier, bitte sehr! Die Bordküche ist gut sortiert.«

Erfreut nahm ich den Sencha-Tee entgegen und spielte mit der Beutelschnur, die aus dem Plastikbecher heraushing.

»Und was führt Sie nach Amrum?«, fragte ich, teils neugierig, teils, um die Stille zu überbrücken.

»Ein Fotoauftrag«, entgegnete Paul Marquardt und beugte sich über die Reling. »Da, schauen Sie!«, sagte er und deutete auf ein faustgroßes, kobaltblaues Loch am wolkenverhangenen Horizont. »Sieht das nicht aus, als hätte der Himmel ein Auge auf uns geworfen?«

»Irgendwie schon«, stimmte ich zu und schaute verträumt in die Ferne.

Als hätte der Himmel ein Auge auf uns geworfen … was für ein poetischer Gedanke! Wenn das wirklich so wäre, was würde der Himmel sehen?, überlegte ich.

Einen Mann und eine Frau. Zwei Fremde, deren Wege sich für einen kurzen Augenblick kreuzen, nur um sich dann gleich wieder zu trennen.

»Darf ich fragen, warum Sie zum Fotografieren ausgerechnet nach Amrum kommen? Ist nicht jeder Fleck dort hundertfach abgelichtet und auf Postkarten verewigt?«

»Erst würde ich gern wissen, was Sie auf die Insel führt«, erwiderte Paul meine Frage.

»Ich schreibe ein Buch über die Schriftstellerin Charlotte Mommsen, die sich 1915 auf Amrum das Leben genommen hat.«

»Oh, das klingt deprimierend!«

»Ja, das ist es auch … Charlotte Mommsen erging es wie vielen Künstlerinnen in der damaligen Zeit. Sie zerbrach an dem Bemühen, ihren Lebenstraum und die herrschenden Realitäten in Einklang zu bringen.«

»Aber hatte sie keine andere Möglichkeit, als Suizid zu begehen? Das kann doch nicht die Lösung sein. Irgendeinen Ausweg gibt es doch immer!«

Ich dachte nach. Irgendetwas an seiner Frage machte mich wütend. Nein, oft gab es im Leben keine zweite Möglichkeit, sosehr man sich auch bemühte. Meine Ehe war schließlich auch gescheitert, obwohl ich so sehr gekämpft hatte.

»Zu Beginn des Ersten Weltkriegs unverheiratet, mit einem Baby und nahezu mittellos dazustehen ist nicht gerade das, was ich als idealen Lebensumstand bezeichnen würde«, antwortete ich etwas heftiger als beabsichtigt. »Charlotte wurde zwar von ihrer Mutter unterstützt, aber Depressionen hatte sie trotzdem, weil sie nicht in das damalige Weltbild passte. Dabei wollte sie nichts weiter, als in Ruhe ihrer Passion, dem Schreiben, nachzugehen.«

»Das Schreiben war ihr wichtiger als ihr Baby? Was ist denn nach ihrem Tod aus dem armen Kind geworden?«

Mein Herz klopfte. Ich verstand nicht, warum, doch ich fühlte mich beinahe persönlich angegriffen und hatte nicht übel Lust, das Gespräch zu beenden und Paul Marquardt einfach stehen zu lassen. Wer war er, dass er so einfach über Charlotte Mommsen urteilte? »Lynn Mommsen wurde von Charlottes Mutter aufgezogen und hatte, soweit ich das zum heutigen Zeitpunkt beurteilen kann, ein gutes Leben. Sie hat die Insel 1935 verlassen und ist nach Berlin gezogen, um dort einen Bankier zu heiraten.« – »Nach Berlin«, antwortete Paul, »da komme ich auch her. Und Sie? Wo liegen Ihre Wurzeln?«

Froh über den Themenwechsel erzählte ich, dass ich in Hamburg wohnte und die Stadt über alles liebte – fast so sehr wie meine Arbeit als Journalistin. Paul schien dem Fotografieren mit ähnlicher Leidenschaft nachzugehen. Im Laufe seines Berufslebens hatte er sich auf Landschafts- und Architekturaufnahmen spezialisiert. Auf Amrum wollte er archäologische Fundstätten ins Visier nehmen.

»Ich wusste gar nicht, dass es so was auf der Insel gibt«, sagte ich verwundert.

»Aber natürlich, schließlich existiert Amrum nicht erst seit gestern. Wenn Sie Zeit haben, sollten Sie sich unbedingt die steinzeitlichen Grabkammern ansehen! Ich könnte auch eine kleine Führung für Sie veranstalten, wenn Sie mögen. Begleiten Sie mich doch einfach bei meinen Aufnahmen. Oder sind Ihnen die Tongefäße, in denen die Amrumer ihre Totenschädel aufbewahrt haben, zu morbide?«, fragte er und grinste. Noch bevor ich antworten konnte, fuhr er fort: »Ich bin eine Woche auf der Insel. Hier ist meine Karte. Rufen Sie mich an, wenn Sie Lust auf einen kleinen Ausflug haben.«

Stil hatte er, das musste man ihm lassen. Immerhin war er nicht so plump, einfach nach meiner Nummer zu fragen. Ich mochte Männer, die einem Raum ließen.

Am Pier wurde Paul von seinem Freund Dominik Lüdersen erwartet, in dessen Hotel er wohnen würde. Als Dominik meine riesigen Koffer sah, bot er sofort an, mich nach Norddorf zu fahren. Ich wollte protestieren, doch die beiden duldeten keinen Widerspruch, und ehe ich mich versah, saß ich in einem schwarzen Saab und ließ die Amrumer Heidelandschaft an mir vorbeiziehen.

 

»Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen«, sagte Paul, nachdem die beiden mich vor meiner Unterkunft abgesetzt hatten.

»Mich auch«, antwortete ich und beobachtete dann, wie das Auto davonfuhr. Ich tastete nach der Visitenkarte, die ich achtlos in meine Manteltasche gesteckt hatte. Dann wandte ich mich um und ging auf das kleine Häuschen zu, das in den kommenden sieben bis acht Wochen mein Zuhause sein würde.

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Kapitel 2

Herzlich willkommen im Watthuis«, begrüßte mich Martha Hansen strahlend. Die rundliche, rotwangige Frau kümmerte sich um die Vermietung der schnuckeligen Friesenkate im Ostteil von Norddorf und wohnte selbst ein paar Straßen weiter. Energisch nahm sie mir die Koffer aus der Hand und stellte sie auf die unterste Stufe der knarrenden Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Fröhlich plaudernd zeigte sie mir die Küche und das Wohnzimmer im Erdgeschoss, zwei kleine Schlafzimmer sowie die Stube in der ersten Etage und versicherte mir, ich könne jederzeit anrufen, wenn ich Fragen oder Lust auf einen Plausch hätte. Erfreut über die nette Begegnung verabschiedete ich Frau Hansen und begann, mich in aller Ruhe umzusehen.

Das Ferienhaus konnte bis zu drei Personen beherbergen und war einfach, aber liebevoll eingerichtet. Abgesehen von einem großzügigen Badezimmer gab es eine separate Dusche mit Toilette. Es dominierten die inseltypischen Farben Blau und Weiß, und auf dem Küchentisch stand ein üppiger Strauß dunkelroter Dahlien, die mir freundlich die Köpfe entgegenreckten, als wollten sie mich begrüßen.

Als ich die Stube im ersten Stock inspizierte, stellte ich zufrieden fest, dass ich hier wunderbar würde arbeiten können. Der Holztisch stand genau so, dass ich das eindrucksvolle Wattpanorama vor dem Fenster genießen konnte. Alles um mich herum wirkte wie in einer Puppenstube, filigran und irgendwie nostalgisch. Gedankenverloren packte ich meine Koffer aus. Ein Kleidungsstück nach dem anderen verschwand in dem alten Bauernschrank des Schlafzimmers, wo kleine Lavendelsäckchen ihren süßlichen Duft verströmten. Nachdem ich Bücher und Laptop auf den Schreibtisch gestellt und den Internet-Anschluss überprüft hatte, sah ich aus dem Fenster und verspürte einen leisen Anflug von Melancholie.

Es war wirklich nett von Paul Marquardt und seinem Freund, mich hierherzubringen. So viel Zuvorkommen war ich kaum mehr gewohnt. Wen interessierte es schon, ob ich heil auf der Insel angekommen war? Meine Schwester vielleicht. Oder meine Lektorin und den Verleger, weil sie auf mein Manuskript warteten. Aber sonst? Was gab es in meinem Leben außer Arbeit? Seufzend griff ich zum Telefonhörer.

 

»Du klingst so komisch, ist alles in Ordnung?«, fragte Leona, als sie sich nach dem siebten Klingeln endlich gemeldet hatte. Ich versuchte, meine Traurigkeit zu überspielen, und behauptete, ich sei müde von der Überfahrt.

»Ja, du Arme, so eine Reise kann schon anstrengend sein. Hast du die Landschaft wenigstens genossen und dich nicht nur die ganze Zeit hinter deinen Büchern verkrochen? Ich hoffe, du nutzt die Zeit auf Amrum, um dich endlich mal wieder ein wenig zu amüsieren. Seit der Trennung von Bernd spielst du für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr den Einsiedlerkrebs!«

Für einen Moment war ich versucht, Leona von meiner Begegnung mit Paul Marquardt zu erzählen, ließ es dann aber doch lieber bleiben. Meine Schwester sollte keine falschen Schlüsse ziehen.

»Sei unbesorgt, das wird schon wieder. Lass mir einfach noch Zeit.«

Wenig später überprüfte ich den Inhalt der Küchenschränke und schrieb eine Einkaufsliste. Ich ertappte mich dabei, wie meine Gedanken immer wieder zu Paul Marquardt wanderten. Was er wohl gerade tat? Im Gegensatz zu mir litt er sicher nicht unter Einsamkeit, wahrscheinlich wartete irgendwo in Berlin eine Frau sehnsüchtig auf seine Rückkehr.

Unwillkürlich musste ich an Bernd denken. Anfang kommenden Jahres würde er offiziell mein Ex-Mann sein, unsere Scheidungsanwälte arbeiteten schon an der Aufteilung unseres Vermögens. Die Ferienwohnung am Timmendorfer Strand würden wir verkaufen. Schrecklich, dass es nach fünfzehnjähriger Partnerschaft nichts Wichtigeres zu geben schien, als die Frage, wer welchen Wagen bekam und wer den antiken Sekretär. Wie gut, dass wir kinderlos waren! Es hätte mir das Herz gebrochen, per Anwalt über Sorgerecht und Besuchszeiten verhandeln zu müssen.

»Schluss jetzt!«, rief ich mich energisch zur Räson. Der Supermarkt würde bald schließen, ich hatte keine Zeit für trübe Gedanken.

Wenig später schwang ich mich auf das Fahrrad, das zur Ausstattung des Watthuis’ gehörte, und radelte in die Ortsmitte von Norddorf.

Als ich am Deich entlangfuhr und die Pferdekoppel eines Reiterhofs passierte, bekam ich zusehends bessere Laune. Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr Rad gefahren, und nach einem etwas wackeligen Start fühlte ich mich frei und sorglos wie ein Kind. Am liebsten hätte ich die Arme weit ausgestreckt und in den Himmel geschaut.

Während ich kräftig in die Pedale trat und mich vom Wind vorwärtstreiben ließ, fiel mir ein, dass es unweit des Supermarkts einen kleinen Laden gab, in dem Marthas Tochter Janneke arbeitete. »Da bekommen Sie zwar nicht alles, aber es geht gemütlicher zu als in den großen Geschäften«, hatte Martha Hansen gesagt. Also bog ich in die kleine Seitenstraße ein, die sie mir genannt hatte, und parkte mein Fahrrad vor dem Laden. Martha Hansen hatte nicht zu viel versprochen: Im Klabautermann fühlte ich mich sofort wohl. Auf den dunklen, schief angenagelten Holzregalen stapelten sich Tee, friesische Butterkekse, Plüschrobben, Federballspiele und Hustenbonbons. Neben dem wirren Sammelsurium gab es eine Frischetheke, und ich spürte, wie mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich nahm mir einen Einkaufskorb, schritt die Regalreihen ab und griff nach rustikalen Einmachgläsern mit selbstgemachtem Honig und Marmelade. Während ich den Zeitschriftenständer nach einem Magazin absuchte, mit dem ich mir den Abend vertreiben konnte, sah ich eine junge Frau Anfang zwanzig, die sich mit einer älteren Dame unterhielt. Sie trug einen nicht mehr ganz blütenweißen Kittel, eine ausgefranste Jeans und ein Namensschild, das ich aus der Entfernung nicht lesen konnte. Mit den Worten »Schönen Abend, Fräulein Janneke«, verabschiedete sich die Kundin und schob ihren Gehwagen langsam Richtung Ausgang. Das Mädchen hielt ihr die Tür auf und winkte zum Abschied.

»Dann sind Sie also Janneke Hansen?«, fragte ich und lächelte. »Ich bin Anna Bergman aus Hamburg. Ich wohne im Watthuis.«

»Ah, die Schriftstellerin. Ich habe schon von Ihnen gehört«, entgegnete Janneke freundlich lachend, wobei sie eine breite Zahnlücke entblößte. Amüsiert studierte ich ihr Gesicht. Ihr Teint war von Wind und Sonne gegerbt, in der linken Augenbraue trug sie ein silbernes Piercing, und ihre blauen Augen strahlten mich offen an. Ihre ursprüngliche Haarfarbe konnte man in dem Mischmasch aus kolorierten Strähnchen nicht mehr ausmachen.

»Eigentlich bin ich Journalistin, schreibe aber gerade an einer Biographie über Charlotte Mommsen. Ich nehme an, der Name sagt Ihnen etwas?«

Janneke knibbelte an ihren Fingernägeln, die sie mit schwarzem Lack bemalt hatte, der an einigen Stellen bereits abblätterte. Mit ihren vollen, blutroten Lippen und den unschuldigen Augen wirkte sie wie eine Mischung aus kleinem Mädchen und Inselpunk.

»Ach, die Selbstmörderin, die auf dem Friedhof der Heimatlosen liegt.«

»Ja, genau die«, entgegnete ich mit einem Lächeln. Irgendetwas an Martha Hansens Tochter gefiel mir.

»Und wieso schreiben Sie das Buch nicht zu Hause, sondern hier?«, erkundigte sich Janneke neugierig.

»Ich wollte ganz in ihr Leben eintauchen, die Orte und die Atmosphäre der Insel auf mich wirken lassen. Außerdem ist es sicher hilfreich, mit Zeitzeugen zu sprechen, die die Familie Mommsen gekannt haben. Zum Schluss versuche ich, all die kleinen Puzzleteile zu einem harmonischen, stimmigen Bild zusammenzufügen.«

»Klingt interessant!«, entgegnete sie und blickte den Ladenbesitzer an, der hinter einem Regal hervortrat.

»Wenn Sie dann bitte zahlen würden, wir schließen«, forderte er mich höflich auf, und Janneke nahm hinter der Kasse Platz. Gemächlich schob sie meine Einkäufe übers Band. »Könnte ich Ihnen bei der Arbeit nicht helfen? Ich kenne die Einwohner hier ganz gut. Vielleicht kann ich Kontakte für Sie herstellen?«, bot sie an, während sie meine Sachen in einer Papiertüte verstaute. »Das Leben hier ist nämlich verdammt langweilig, ein bisschen Abwechslung wäre schön. Außerdem bin ich ein wissensdurstiger Mensch!«

Ich lächelte. Neugierig war ich selbst auch, und Wissbegierde imponierte mir.

»Das ist nett von Ihnen, ich komme gerne auf Ihr Angebot zurück. Aber geben Sie mir bitte ein paar Tage Zeit, ich muss mich erst mal ein wenig einleben. In Ordnung?«

»Aber klar doch! Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Außer dienstags, da habe ich frei. Und Mittwochnachmittag haben wir geschlossen.«

Ich drehte mich noch einmal um, bevor ich auf mein Fahrrad stieg. Durch das Schaufenster sah ich Janneke mit der Bonrolle hantieren, während der ältere Herr den Eingang fegte. Ich konnte verstehen, dass sie sich hier langweilte. Was macht man in diesem Alter abends auf einer Insel?, fragte ich mich. Soweit ich wusste, gab es in Norddorf ein Kino und natürlich Die blaue Maus, eine urige Kneipe, aber selbst das musste irgendwann öde werden.

Langsam radelte ich in Richtung Watthuis und amüsierte mich über das aufgeregte Geschnatter der Enten, die in den Gärten der Inselbewohner nach Körnern pickten. Zeit zum Abendessen dachte ich, und merkte, dass mein Magen knurrte.

Nach meinem Ausflug war mir wesentlich leichter ums Herz, ja, ich freute mich sogar ein wenig auf den vor mir liegenden Abend. Ich würde ein kleines Picknick mit meinen frisch erstandenen Köstlichkeiten veranstalten und dazu ein Glas Rotwein trinken. Und dann würde ich mich in Charlottes Tagebuchaufzeichnungen vertiefen …

Mai 1899

Nun bin ich bei Tante Gundel in Lübeck. Der Empfang war sehr freundlich, aber noch fühle ich mich fremd. Schließlich habe ich Onkel Fritz, Tante Gundel und die Kinder erst wenige Male gesehen. Meine Base Imke zeigte mir sogleich ihr Puppenhaus und ließ mir keine Ruh, obwohl ich mich lieber zurückziehen und lesen wollte. Ihr Bruder Henrik ist ein sehr stiller, höflicher Mensch. Er hat mir guten Tag gesagt und ist dann gleich verschwunden. Eine verwandte Seele, die mein Bedürfnis nach Einsamkeit teilt. Jetzt ist mir angst und bang, dass ich nachts nicht schlafen kann. Das fremde Bett, der ungewohnte Duft der Laken, die Bilder an der Wand. All das ist so anders als daheim auf Amrum. Ich sehne mich nach dem Geschrei der Möwen. Nach der frischen Brise, die durch die Vorhänge in meine Kammer strömt. Travemünde ist zwar nicht weit, aber was ist die Ostsee im Vergleich zur tosenden Gischt meiner über alles geliebten Nordsee?

 

An dieser Stelle legte ich die Aufzeichnungen beiseite.

Bedauerlicherweise waren von Charlotte Mommsens Tagebuch nur noch wenige Fragmente erhalten, und ich hoffte sehr, in den kommenden Wochen die Lücken mit Inhalt füllen zu können.

Die Loseblattsammlung befand sich noch im Archiv des Verlages Mädesüß, der Charlottes Mommsens einzigen Roman Freigehege1920 unter ihrem Künstlernamen Nora Roquette veröffentlicht hatte. Leider war es mir bislang nicht geglückt, eine der früheren Ausgaben zu ergattern. Ich besaß lediglich eine Neuauflage von 2005 mit Charlottes richtigem Namen.

Nachdenklich goss ich mir ein zweites Glas Rotwein ein. Wie gut wir Frauen doch heutzutage gestellt waren! Größtenteils zumindest. Natürlich hatte die Freiheit, alles haben zu können – einen Beruf, Karriere, Familie –, zuweilen auch Nachteile. Doch über solche Sorgen hätten die Frauen früherer Generationen wahrscheinlich nur gelacht. Aber eines würde sich für uns alle nie ändern: die Schwierigkeit, alleine zu sein. Im Grunde ihres Herzens hatte sicher auch Charlotte von inniger Zweisamkeit geträumt, da war ich mir ganz sicher.

Wie aufs Stichwort klingelte mein Handy. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Schon nach elf. Ich erhob mich aus dem Schaukelstuhl, in dem ich es mir mit einer Wolldecke gemütlich gemacht hatte, und ging zur Kommode, wo mein Handy vor sich hin surrte.

Es war Bernd.

Ich zögerte. Momentan hatte ich überhaupt keine Lust, mit ihm zu sprechen – es konnte sich ja doch nur um die Scheidung drehen. Andererseits musste es wichtig sein, wenn er so spätabends noch anrief.

»Tut mir leid, wenn ich störe«, entschuldigte er sich. »Aber ich wollte dir sagen, dass Dr.Schmiedbauer einen Käufer gefunden hat, der bereit ist, fünftausend Euro mehr für die Wohnung zu zahlen als die anderen Interessenten. Er will den Deal möglichst bald über die Bühne bringen, damit wir für Ende kommender Woche einen Notartermin vereinbaren können. Passt dir das?«

Den Deal … das war so typisch für Bernd! Seit er als Medienanwalt arbeitete, hatten sich immer mehr Amerikanismen in sein Vokabular geschlichen. Vieles, was er sagte, klang bemüht lässig und ein wenig arrogant. Aber das war ja zum Glück nicht mehr mein Problem.

»Eigentlich nicht«, entgegnete ich und klärte Bernd darüber auf, dass ich auf Amrum war. »Allein die Fahrt hin und zurück würde mich fast zwei Tage kosten. Kann ich dir eine Vollmacht erteilen, und du wickelst den Deal alleine ab?« Bernd registrierte meine Ironie nicht einmal.

»Okay, wenn du meinst. Ich frage nach, ob das geht, und melde mich dann wieder. Und sonst? Ist alles in Ordnung bei dir?«

Ungeduldig rang ich mir ein paar halbherzige Smalltalk-Plattitüden ab und hoffte, Bernd schnellstmöglich aus der Leitung zu bekommen. Ich wollte endlich Ruhe vor der Vergangenheit.

Als ich aufgelegt hatte, tigerte ich unruhig im Wohnzimmer auf und ab und beschloss schließlich, noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Energisch nahm ich meinen Mantel vom Haken und trat hinaus in die sternklare Nacht.

Zahllose Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Bernds Anruf hatte mich ziemlich aufgewühlt. Nach meinem Zusammenbruch damals hatte er mich wie ein kleines Kind behandelt und war offenbar auch heute noch der Meinung, auf mich aufpassen zu müssen. Dabei war das alles jetzt beinahe fünf Jahre her.

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Kapitel 3

Gut geschlafen?«, fragte Martha Hansen am nächsten Morgen, als ich ihr im Bademantel und mit zerstrubbeltem Haar die Tür öffnete.

»Äh, ja, danke«, antwortete ich, kaum fähig, meine Augen im grellen Tageslicht zu öffnen. Frau Hansen hatte mich mitten aus dem Tiefschlaf gerissen.

»Ich dachte, Sie freuen sich vielleicht über frische Brötchen und Eier als kleinen Willkommensgruß«, erklärte Martha Hansen, die aussah, als sei sie schon seit Stunden auf den Beinen, und streckte mir einen Leinenbeutel entgegen. »Da ich nicht wusste, was Sie mögen, habe ich einfach mehrere Sorten dazugepackt. Die Eier sind von unseren eigenen Hühnern. Aber nicht dass Sie denken, Sie bekommen das jeden Samstag von mir«, sagte sie augenzwinkernd.

»Oh, danke«, murmelte ich und deutete Martha mit einer vagen Geste an, einzutreten. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nein danke, ich muss weiter. Ich habe heute Dienst im Öömrang Hüs, und da darf ich nicht zu spät kommen. Aber gern ein anderes Mal!« Mit diesen Worten drehte sie sich um, lief mit energischen Schritten davon und schwang sich auf ihr Fahrrad, das am Zaun des kleinen Vordergartens lehnte.

Öömrang Hüs?, fragte ich mich verwundert. Was das wohl war? Gähnend blickte ich auf die hölzerne Standuhr in der Ecke der Wohnküche. Ich hatte bis elf geschlafen. Viel zu lange!

Während ich Marthas Brötchen verspeiste und der Kaffee langsam meine Lebensgeister weckte, blätterte ich in einem der Reiseführer, die ich mir vor meiner Ankunft extra noch besorgt hatte.

Ich erfuhr, dass das Öömrang Hüs, in dem Frau Hansen heute Dienst hatte, zum Nachbarort Nebel gehörte, im Jahre 1736 erbaut und bis in die neunziger Jahre bewohnt worden war. Seitdem diente das ehemalige Kapitänshaus als Museum. Eine Handvoll Amrumer arbeitete dort auf ehrenamtlicher Basis. Ich notierte mir die Öffnungszeiten und beschloss, so bald wie möglich dort vorbeizuschauen.

Anschließend überlegte ich, wie ich die kommenden Tage verbringen wollte. Bevor ich mit meinen Recherchen begann, wollte ich das Wochenende nutzen, um am Strand spazieren zu gehen. Meine Seele war immer noch nicht ganz angekommen, und wenn ich im Laufe der letzten Jahre eines gelernt hatte, dann, besser auf mich achtzugeben.

Als ich in meiner Manteltasche nach dem kleinen Schutzengel suchte, den ich immer bei mir trug, entdeckte ich die Visitenkarte von Paul Marquardt. Eine Woche würde er auf der Insel sein. Heute wäre der perfekte Tag für einen Ausflug, der Spätsommer zeigte sich von seiner besten Seite. Am strahlend blauen Himmel sah man nur ab und an kleine Rasierschaumwolken vorbeiziehen; die Luft war angenehm mild.

Meine Finger spielten unschlüssig mit der Karte. Ob Paul Marquardt sich wirklich freuen würde, wenn ich anrief? War er auf der Fähre nicht einfach nur höflich gewesen und ich nun drauf und dran, falsche Schlüsse zu ziehen?

Ach, was soll’s, dachte ich, ging zum Schrank und suchte nach einem Pullover für meinen Strandspaziergang. Ich hatte das ewige Gegrübel satt! Ich war gerade erst angekommen, anrufen konnte ich auch ein anderes Mal.

Eine Stunde später saß ich in einem Strandkorb, bohrte meine nackten Zehen in den warmen Sand und schaute auf das Meer, das glitzernd vor mir lag. Nur ein paar sanfte Wellen brachen sich am Ufer und verteilten ihre Schaumkronen. Ich beobachtete eine ältere Dame, die ihre Schuhe an den Schnürsenkeln zusammengeknotet und über die Schultern geworfen hatte. Sie war barfuß, hatte ihre Hosenbeine hochgekrempelt und strahlte so viel Ruhe aus, dass ich für einen kurzen Moment neidisch wurde. Wie gerne wäre ich auch so mit mir im Reinen gewesen! Ich nickte ihr zu und vertiefte mich wieder in mein Buch über nordfriesische Sagen. Eigentlich müsste man die Mythen um Spökenkieker und Strandpiraten an einem dunklen, vernebelten Novemberabend am Kachelofen lesen, das wäre so richtig schön gruselig. Auch Charlotte Mommsen hatte solche Geschichten geliebt.

In den frühen Abendstunden meldete sich mein Magen, die Brötchen zum Frühstück hielten nicht ewig vor. Ich hatte Lust auf einen frischen, knackigen Salat und beschloss das nächstgelegene Restaurant aufzusuchen, das nur ein paar Meter vom Strand entfernt lag und mir schon bei der Herfahrt aufgefallen war. Danach würde ich mich noch einmal in den Strandkorb verkriechen und den ausklingenden Tag genießen.

Ich hatte Glück und ergatterte einen Tisch mit Blick aufs Meer. Gerade als ich meine Bestellung aufgegeben hatte, fragte ein Herr, ich schätzte ihn auf Ende sechzig, ob er sich zu mir setzen dürfe.

»Bitte«, antwortete ich, deutete auf den Stuhl gegenüber und las weiter in meinem Sagenbuch Amrum erzählt. Der Mann musterte mich mit seinen durchdringenden dunkelbraunen Augen. Er war nicht unattraktiv und erinnerte mich ein wenig an den Schauspieler Maximilian Schell.

»Sie interessieren sich für Amrumer Mythologie?«, fragte er. Ehe ich mich versah, war ich mitten in einer angeregten Diskussion über den rätselhaften Tod des Vogtes Hinnrich Quedens. Ich war erstaunt, wie viel der Mann wusste und wie lebendig er erzählen konnte. Während ich meinen Salat mit den gebratenen Scampi aß, kramte mein Tischnachbar in der Tasche seiner ausgebeulten, hellen Stoffhose, die an den Knien durchsichtig schimmerte. Im Gegensatz zu mir, die fürstlich tafelte, trank er nur ein Glas schwarzen Tee. »Hier, für Sie«, sagte er plötzlich und schob einen kleinen Gegenstand über den Tisch. »Das ist ein Hexenschüsselchen, auch Trollgeschirr genannt. Seit Jahrhunderten suchen die Amrumer Mädchen am Strand für ihre Puppen danach. Aber sie sind mindestens so schwer zu finden wie vierblättrige Kleeblätter.«

»Aber das kann ich unmöglich annehmen«, protestierte ich und betrachtete den Stein fasziniert. Er sah aus wie ein kleiner Schuh, in der Mitte ausgehöhlt und bronzefarben. Die anthrazitfarbene Rückseite war flach. Das Schüsselchen war gut getarnt. Verständlich, dass es so schwer zu finden war. Vorsichtig strich ich über das bronzefarbene Innere.

Als ich aufsah, war mein Tischnachbar wie vom Erdboden verschluckt. Und mit ihm sein Teeglas. Verwundert blickte ich mich um. Hatte ich geträumt? Das Trollgeschirr lag immer noch in meiner Hand.

»Ich glaub, ich hab zu viele Gespenstergeschichten gelesen«, murmelte ich und winkte der Kellnerin. Mit einem Mal kam es mir so vor, als hätte mich die Magie der Insel gestreift. Als sei ich plötzlich ein Teil von ihr geworden.

Das Hexenschüsselchen bekam einen Ehrenplatz auf meinem Schreibtisch. Es würde ab sofort mein Talisman werden. Wer auch immer der mysteriöse Mann war, der es mir geschenkt hatte, ich war ihm dankbar.

 

* * *

 

Nachdem ich den Sonntag ebenfalls entspannt am Strand verbracht hatte, packte mich am Montag der Ehrgeiz. Ich war ausgeruht und bereit, mit meinen Recherchen zu beginnen. Meine erste Station war das Antiquariat von Linnart Ingwersen in Wittdün. Der Ort war bequem mit dem Bus zu erreichen, und so stand ich um halb zwölf vor einem kleinen Laden mit dem klangvollen Namen Wohlfeile Bücher. Als ich die Tür öffnete, hörte ich ein Glöckchen bimmeln. Der Antiquar kam aus dem Nebenraum geschlurft und begrüßte mich mit einem Lächeln, das sich über viele Jahre in sein Gesicht gegraben hatte. Seine grauen Augen wirkten milchig, wie so oft bei alten Menschen, und ich fragte mich, weshalb er überhaupt noch arbeitete.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er mit kratziger Stimme. Ich stellte mich vor und erzählte von meiner geplanten Biographie.

»Charlotte Mommsen«, antwortete er und strich sich über seinen weißen, dünnen Bart. »Diesen Namen habe ich ja schon ewig nicht mehr gehört. Früher haben manchmal Touristen nach ihrem Grab gefragt, aber mittlerweile … Wie kommen Sie auf diese Autorin?« Mit einem Nicken deutete er mir an, in einem alten Lehnstuhl Platz zu nehmen, er selbst setzte sich gegenüber auf einen Hocker. Ich erzählte ihm von der Idee meines Verlegers, eine Biographienreihe über norddeutsche Künstlerinnen herauszubringen. Aus der Fülle der möglichen Beiträge hatte ich mir Charlotte Mommsen ausgesucht, weil mich ihre Geschichte besonders berührte. Ich berichtete von meiner Arbeit und was ich bereits in Erfahrung gebracht hatte. Linnart Ingwersen stand unvermittelt auf und entschuldigte sich. Ich blieb sitzen und ließ meinen Blick über den Raum gleiten. Um mich herum türmten sich Berge von Büchern, die darauf warteten, in Regale sortiert und katalogisiert zu werden. Viele von ihnen waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Offensichtlich konnte Linnart Ingwersen Unterstützung gebrauchen …

»Hier, das könnte Sie interessieren«, unterbrach er meine Gedanken und drückte mir eine speckige Sammelmappe in die Hand. Behutsam entfernte ich das ausgeleierte Gummiband, das die Pappdeckel zusammenhielt, und blätterte in einem Sammelsurium aus altem, vergilbtem Papier.

Liebste Mama, ich schicke dir Grüße aus Lübeck stand da mit Feder und Tinte geschrieben. Ich hielt den Atem an. Waren die Briefe von Charlotte Mommsen? Linnart beobachtete mich wie ein Vater seine Tochter bei den Schularbeiten. Meine Augen flogen über die Seiten, ich konnte es immer noch nicht fassen.

»Woher haben Sie die?«, fragte ich ungläubig.

»Von meinem Freund Frederick Thomsen, einem Literaturwissenschaftler, der maßgeblich an der Veröffentlichung von Freigehege beteiligt war. Charlottes Mutter Marret hatte ihm die Aufzeichnungen nach dem Tod ihrer Tochter übergeben. Wenn Sie wollen, leihe ich Ihnen die Briefe. Ein paar Straßen weiter gibt es einen Schreibwarenladen mit einem Kopierer.«

»Sehr gern, vielen Dank! Ich lasse Ihnen meinen Personalausweis da«, stammelte ich, immer noch überwältigt von der unerwarteten Entdeckung. Fast war es, als hätte mich Charlotte hierhergeführt, damit endlich jemand ihre Geschichte aufschriebe. Herr Ingwersen nickte und steckte meinen Ausweis in die Seitentasche seines Leinensakkos.

»Bis gleich!«, rief ich ihm zu und drückte die Mappe an meine Brust. Selig lächelnd trat ich auf die Straße und stellte mir vor, wie viele Geheimnisse darin verborgen waren und nur darauf warteten, von mir entdeckt zu werden.

»Passen Sie auf!«, schrie plötzlich jemand neben mir, und ich wurde zu Boden gerissen. Benommen lag ich auf dem Bürgersteig und brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, was passiert war. Um ein Haar wäre ich von einem Linienbus überfahren worden, weil ich, ohne links oder rechts zu schauen, über die Straße gegangen war.

Der Bus entfernte sich hupend, wobei der Fahrer schimpfte und wild gestikulierte. Irgendjemand hatte mich in letzter Sekunde von der Straße gezerrt. Zitternd drehte ich mich zu meinem Retter um und erkannte Paul Marquardt.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte ich und vergaß vor lauter Überraschung, mich zu bedanken.

»Dasselbe könnte ich Sie fragen. Ich dachte, Sie wollten nach Amrum, um zu arbeiten und nicht, um dem traurigen Weg Ihrer Schriftstellerin zu folgen.«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, erwiderte ich verlegen und sah, dass meine Mappe auf den Boden gefallen war. Der Wind spielte mit Charlottes Briefen und trieb sie vor sich her.

»Halt! Hiergeblieben!«, rief Paul und packte mich am Ärmel, als er sah, dass ich hintherhechten wollte und gleich noch einmal mein Leben aufs Spiel setzte.

»Die Papiere holen wir, wenn sich der Verkehr wieder ein wenig gelegt hat!«

Hilflos sah ich zu, wie eine Seite nach der anderen durch die Luft wirbelte. Was sollte Herr Ingwersen von mir denken? Natürlich hatte er meinen Beinahe-Zusammenstoß durch das Schaufenster beobachtet und stand nun ebenfalls auf der Straße.

»Meine Güte, Kind«, sagte er, »wo haben Sie denn Ihre Augen?« Sobald die Straße frei war, jagten wir wie wild den weißen Blättern nach.

Einige Minuten später saß ich mit meinem Retter in einem Café und trank ein Glas Cognac. Herr Ingwersen hatte die Unterlagen wieder an sich genommen, um sie zu sortieren und auf ihre Vollständigkeit zu überprüfen.

»Nun beruhigen Sie sich erst mal, Sie sind ja ganz blass!«, sagte Paul und nippte an seinem Kaffee, während ich immer noch zitterte. »Wenigstens sehen wir uns auf diese Weise mal wieder. Natürlich wäre ein Zusammentreffen unter anderen Umständen erfreulicher gewesen«, fügte er grinsend hinzu.

»Ich bin wirklich heilfroh, dass Sie in der Nähe waren und so schnell reagiert haben. Wie kann ich das wiedergutmachen?«

»Wenn ich die Situation ausnutzen wollte, würde ich mir eine Einladung zum Abendessen erschleichen«, entgegnete Paul und lächelte noch breiter. Ohne es zu wollen, fiel mein Blick auf seine Lippen. »Aber ich bin natürlich ein Gentleman und würde so etwas nie tun. Es sei denn, Sie bestehen darauf.«

Während der Alkohol zu wirken begann, entspannte ich mich allmählich. Eigentlich hatte Paul recht. Ein Abendessen war das mindeste, was ich ihm schuldete.

»Ich würde sehr gerne für Sie kochen. Aber ich warne Sie, ich bin keine Sarah Wiener! Vielleicht ist es doch besser, Sie nennen mir ein Restaurant Ihrer Wahl. Ich habe gehört, dass es in Norddorf ein paar ausgezeichnete Lokale gibt.«

Paul tat so, als müsse er gründlich überlegen. Währenddessen sah ich durch das Fenster mit den Spitzengardinen auf die Straße. Mein Blick blieb an einem älteren Herrn hängen, der hastig am Café vorbeieilte und mir irgendwie bekannt vorkam …

»Ich habe nichts dagegen, mich von Ihnen bekochen zu lassen, aber nur unter der Bedingung, dass ich den Wein und das Dessert beisteuern darf«, verkündete Paul, während meine Augen der Silhouette des Mannes folgten.

»Okay«, antwortete ich etwas abwesend. »Ich bin sowieso keine Dessertspezialistin. Aber für den Wein sorge ich. Würde es Ihnen Mittwochabend passen?«

»Mittwoch klingt gut. Sagen wir acht Uhr? Ich weiß ja, wo Sie wohnen.« Paul trank seinen Kaffee aus und erhob sich.

Er zahlte so schnell, dass ich keine Chance hatte, ihm zuvorzukommen. »Es war schön, Sie wiederzusehen. Jetzt muss ich aber los, sonst versäume ich das frühe Nachmittagslicht für meine Fotos. Bis Mittwoch also. Passen Sie gut auf sich auf!«

Und schon war er durch die Tür. Ich blieb noch einen Moment sitzen, leicht benebelt vom Cognac und von der Aufregung. In den letzten zwei Stunden war so viel passiert wie schon lange nicht mehr. Ich trank noch einen Espresso und ging dann mit klopfendem Herzen ins Antiquariat zurück. Hoffentlich waren keine Unterlagen verlorengegangen! Doch Herr Ingwersen beruhigte mich. Die Briefe waren allesamt wieder in der Mappe, und er war sogar bereit, sie mir ein weiteres Mal anzuvertrauen. Erleichtert ging ich zum Schreibwarenladen – und nahm diesmal den Umweg über den Zebrastreifen.

Mit einem Stapel Kopien unter dem Arm konnte ich den kostbaren Schatz kurz darauf unversehrt zurückgeben.

»Achten Sie bitte in Zukunft besser auf sich!«, sagte Herr Ingwersen zum Abschied und hielt mir formvollendet die Tür auf.

 

Zurück im Watthuis legte ich die Kopien zu meinen Unterlagen. Heute Abend würde ich einiges zu lesen haben, wie schön!

Dann griff ich nach der zweiten Errungenschaft dieses Nachmittags, einem Kochbuch, das ich im Anschluss an meinen Besuch im Schreibwarenladen in der Buchhandlung Ingwersen in der Inselstraße erstanden hatte. Ein heimeliger Laden, der neben den aktuellen Bestsellern auch Kalender und Fotoartikel im Sortiment hatte und von einem Verwandten von Linnart Ingwersen geführt wurde. Versonnen hatte ich vor dem Regal mit den Regionalia gestanden und einen kurzen Moment davon geträumt, meine Biographie über Charlotte dort stehen zu sehen.