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DIE BELAGERUNG ORGRIMMARS IST ZU ENDE. Die Streitkräfte von Allianz und Horde haben Garrosh Höllschrei als Kriegshäuptling der Horde abgesetzt. Sein gnadenloser Feldzug hat Städte verwüstet, die Völker der Horde an den Abgrund gebracht und zahllose Leben zerstört in der WORLD OF WARCRAFT. Nun soll dem ehemaligen Kriegshäuptling auf dem legendären Kontinent Pandaria der Prozess gemacht werden. Namhafte Anführer aus ganz Azeroth haben sich versammelt, um diesem historischen Ereignis beizuwohnen. Während der Verhandlung konfrontieren Agenten des bronzenen Drachenschwarms die Anwesenden mit verstörenden Visionen der Gräueltaten Garroshs. Für die einen bedeuten diese Einblicke in die Vergangenheit eine Konfrontation mit schmerzhaften Erinnerungen und der Frage nach der eigenen Schuld, für die anderen sind sie der Anlass für ungezügelten Hass. Währenddessen sind dunkle Kräfte am Werk, die versuchen, den Richterspruch zu verhindern und das Leben aller Beteiligten in große Gefahr zu bringen.
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Seitenzahl: 531
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BEREITS ERSCHIENEN
WORLD OF WARCRAFT: Kriegsverbrechen
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2858-2
WORLD OF WARCRAFT: Der Untergang der Aspekte
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2859-9
WORLD OF WARCRAFT: Vol’jin – Schatten der Horde
Michael Stackpole – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2617-5
WORLD OF WARCRAFT: Jaina Prachtmeer – Gezeiten des Krieges
Christie Golden – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2523-9
WORLD OF WARCRAFT: Wolfsherz
Richard A. Knaak – gebundene Ausgabe, ISBN 978-3-8332-2233-7
WORLD OF WARCRAFT Band 9: Thrall – Drachendämmerung
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2439-3
WORLD OF WARCRAFT Band 8: Weltenbeben – Die Vorgeschichte zu Cataclysm
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2234-4
WORLD OF WARCRAFT Band 7: Sturmgrimm
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-2051-7
WORLD OF WARCRAFT Band 6: Arthas – Aufstieg des Lichkönigs
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-2050-0
WORLD OF WARCRAFT Band 5: Die Nacht des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1792-0
WORLD OF WARCRAFT Band 4: Jenseits des Dunklen Portals
Aaron Rosenberg, Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1791-3
WORLD OF WARCRAFT Band 3: Im Strom der Dunkelheit
Aaron Rosenberg – ISBN 978-3-8332-1640-4
WORLD OF WARCRAFT Band 2: Aufstieg der Horde
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1574-2
WORLD OF WARCRAFT Band 1: Teufelskreis
Keith R.A. DeCandido – ISBN 978-3-8332-1465-3
WARCRAFT Band 1: Der Tag des Drachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1266-6
WARCRAFT Band 2: Der Lord der Clans
Christie Golden – ISBN 978-3-8332-1337-3
WARCRAFT Band 3: Der letzte Wächter
Jeff Grubb – ISBN 978-3-8332-1338-0
WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 1: Die Quelle der Ewigkeit
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1092-1
WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 2: Die Dämonenseele
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1205-5
WARCRAFT: Krieg der Ahnen, Buch 3: Das Erwachen
Richard A. Knaak – ISBN 978-3-8332-1202-4
Weitere Infos und Titel unter:
www.paninicomics.de
Ein Roman von Christie Golden
Ins Deutsche übertragen vonTobias Toneguzzo & Andreas Kasprzak
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Amerikanische Originalausgabe: „WORLD OF WARCRAFT:
War Crimes“ von Christie Golden,
erschienen bei Gallery Books/Simon and Schuster, Inc., May 2014.
Deutsche Übersetzung © 2014 Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87,
70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.
© 2014 Blizzard Entertainment, Inc. Alle Rechte vorbehalten.
„WORLD OF WARCRAFT: War Crimes“, WORLD OF WARCRAFT, Blizzard Entertainment sind Marken und/oder eingetragene Marken von Blizzard Entertainment, Inc. in den USA und/oder anderen Ländern.
Übersetzung: Andreas Kasprzak und Tobias Toneguzzo
Lektorat: Katharina Reiche
Marketing: Holger Wiest
Chefredaktion: Jo Löffler
Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart
Titelillustration von Glenn Rane/Blizzard Entertainment
Satz und eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-8332-2888-9
Gedruckte Ausgabe:
ISBN 978-3-8332-2858-2
1. Auflage, Mai 2014
www.paninicomics.de
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Für Sean Copeland, Historiker Extraordinaire,
für seine unerschütterliche gute Laune, sein promptes, hilfreiches Feedback,
seinen Enthusiasmus und seine völlige Unterstützung meiner Arbeit.
Danke, Kumpel!
PROLOG
Draenor.
Der Geburtsort der Orcs, und so lange schon Garrosh Höllschreis einzige Heimat. Hier war er geboren, in Nagrand, dem schönsten, grünsten Teil dieser Welt. Dort hatte er die roten Pocken durchlitten und beschämt den Kopf gebeugt ob der Taten seines Vaters, des legendären Grommash Höllschrei. Als Draenor durch dämonische Magie befleckt worden war, hatte Garrosh dieser Legende die Schuld dafür gegeben. Er hatte es als Schande empfunden, das Höllschrei-Blut in sich zu tragen, bis Thrall, der Kriegshäuptling der Horde, ihm gezeigt hatte, dass der ältere Höllschrei zwar der Erste gewesen sein mochte, der den Fluch angenommen hatte, dass er aber auch sein Leben gegeben hatte, um diesen Fluch zu beenden.
Draenor. Garrosh war nicht mehr dorthin zurückgekehrt, seit er – voll hitzigem Stolz und inniger Liebe zur Horde von Azeroth – aufgebrochen war, um seine neue Heimat gegen die Grauen des Lichkönigs zu verteidigen.
Nun, so schien es, war er zurück.
Doch diese Welt war nicht so, wie er sie zuletzt in Erinnerung gehabt hatte, pulsierend vor Teufelsenergien, ihre wilden Kreaturen dezimiert und kränklich. Nein, dies war die Welt seiner Kindheit, und sie war wunderschön.
Einen Augenblick lang stand Garrosh da, sein mächtiger Leib verziert mit denselben Tätowierungen, die schon die Haut seines Vaters geschmückt hatten, und streckte sich, während er sein Gesicht der Sonne zuwandte und seine Lungen die saubere, süße Luft einsogen. Das konnte eigentlich nicht sein – aber so war es.
Und an diesem Ort, der nicht sein konnte, geschah nun noch etwas Undenkbares. Vor seinen Augen tauchte schimmernd das Bild seines Vaters aus dem Nichts auf. Grom Höllschrei lächelte – und seine Haut war braun.
Garrosh keuchte – einen Moment lang war er kein Kriegshäuptling, kein Held der Horde, kein tapferer Krieger, sondern ein Jüngling, der einem lange toten, auf ewig verloren geglaubten Elternteil gegenüberstand.
„Vater!“, rief er und ließ sich, überwältigt von der Vision, auf die Knie fallen. „Ich bin wieder hier. An unserem Geburtsort. Vergib mir, dass ich je an deinem wahren Wesen gezweifelt habe!“
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und während er zu Groms Gesicht hinaufblickte, quollen die Worte weiter aus ihm hervor. „Ich habe in deinem Namen so viel bewegt. Mein eigener Name wird inzwischen von der Horde geliebt und von der Allianz gefürchtet. Weißt … weißt du das vielleicht? Vater, sag mir – bist du stolz auf mich?“
Sein Vater öffnete den Mund, um zu sprechen, doch da erklang von irgendwo ein metallisches, klapperndes Geräusch, und Grom Höllschrei verschwand.
Garrosh zuckte aus dem Schlaf, wie immer sofort hellwach.
„Guten Morgen, Garrosh“, sagte eine angenehme Stimme. „Euer Frühstück ist bereitet. Bitte – tretet zurück.“
Hätten die Kerkerknechte einen Moment länger gewartet, hätte er die Antwort auf die Frage erhalten, die ihn schon sein ganzes Leben verfolgte und antrieb. Wenn er die unerträglich beherrschten Pandaren für diese Störung nur erwürgen könnte.
Garrosh begnügte sich damit, eine unerschütterliche Miene zur Schau zu tragen, während er sich, gekleidet in Robe und Kapuze, von seiner fellbedeckten Schlafstatt erhob. Anschließend wich er so weit wie nur möglich von dem Metallgitter und den violett glühenden, achteckigen Fenstern der Zelle zurück und wartete. Die Magierin in ihrer langen, mit Blütenmustern verzierten Robe trat vor und stimmte eine Beschwörung an, woraufhin das Glühen um die Fenster verblasste. Als sie zurücktrat, kamen die beiden anderen Pandaren – männliche eineiige Zwillinge – näher. Einer der Brüder behielt Garrosh genau im Auge, während der andere Tee und Brötchen durch eine Öffnung auf Bodenhöhe schob. Als die Wache sich wieder erhob, bedeutete sie dem Orc, dass er das Tablett jetzt nehmen durfte.
Garrosh machte keine Anstalten, der Aufforderung nachzukommen. „Wann ist meine Hinrichtung?“, fragte er rundheraus.
„Noch wird über Euer Schicksal entschieden“, erwiderte einer der Zwillinge.
Garrosh wollte seine Mahlzeit gegen die Gitterstäbe schleudern, oder – besser noch – schneller und weiter vorspringen, als die Pandaren erwarteten, und seinem schmunzelnden Peiniger mit einer gewaltigen Hand die Luftröhre zerquetschen, bevor das kleine Weibchen ihren Zauber wieder aktivieren konnte. Doch er tat weder das eine noch das andere, sondern bewegte sich ruhig und beherrscht zu den Fellen hinüber, um sich zu setzen.
Nachdem die Magierin erneut das violette Dämpfungsfeld beschworen hatte, stiegen die drei Pandaren die Rampe hinauf und verließen den Raum. Die Tür fiel scheppernd hinter ihnen ins Schloss.
Noch wird über Euer Schicksal entschieden?
Was, im Namen der Vorfahren, sollte das denn bitte bedeuten?
1. KAPITEL
„Es sieht zu friedlich und idyllisch aus, um das Gefängnis für jemand so schrecklichen zu sein“, sinnierte Lady Jaina Prachtmeer, als sie sich dem Tempel des Weißen Tigers näherte. Sie, der blaue Drache Kalecgos, Waldläufergeneralin Vereesa Windläufer und König Varian Wrynn saßen in einem Karren, gezogen von einem stetig dahinschreitenden Yak, dessen flauschiges Fell verriet, dass das Tier erst vor Kurzem gebadet worden war. Dem edlen Status der Passagiere entsprechend war das Innere des Karrens mit Seidenkissen in strahlenden Farben gepolstert, wenngleich die Insassen natürlich trotzdem ein wenig durchgeschüttelt wurden, wann immer ein Rad durch eine Furche rollte.
„Besser, als er verdient hat“, sagte Vereesa. Sie richtete ihren Blick auf Varian. „Ihr hättet Go’el nicht davon abhalten sollen, ihn zu töten, Eure Majestät. Für dieses Monster ist der Tod die einzig gerechte Strafe, und selbst das wäre noch gnädiger als das, was er getan hat.“
Die Stimme der Waldläufergeneralin war schneidend, aber Jaina konnte ihr keinen Vorwurf machen, zumal sie ihre Ansichten vollauf teilte. Garrosh Höllschrei war verantwortlich für die Zerstörung – nein, dieser Ausdruck war zu milde, zu sauber, um zu beschreiben, was er angerichtet hatte –, die Auslöschung des Stadtstaates Theramore. Der Tod von Hunderten, innerhalb eines Herzschlags dahingerafft, war ihm zuzuschreiben. Durch eine List hatte der damalige Kriegshäuptling der Horde einige der besten Generäle und Admirale der Allianz nach Theramore gelockt, wo sie Pläne für die Art von Kriegsführung schmiedeten, die aus direktem, ehrlichen Kampf bestand. Doch Garrosh hatte eine Manabombe über dem Herz der Stadt abgeworfen und ihre Energie durch ein Artefakt, das er dem blauen Drachenschwarm gestohlen hatte, noch verstärkt. Jeder und alles innerhalb des Zerstörungsradius war gestorben. Jaina schüttelte den Kopf, um die grausige Erinnerung daran zu verdrängen, wie einige der Opfer, die ihr nahegestanden hatten, ihr Ende gefunden hatten. Jaina Prachtmeer würde nie wieder die Herrscherin von Theramore sein.
Eine sanfte Berührung an ihrem Arm brachte sie zurück in die Gegenwart. Sie blickte auf zu dem blauen Drachen Kalecgos, dem einzigen Guten, das diese Katastrophe in ihr Leben gebracht hatte. Er und Jaina hätten einander womöglich nie gefunden, wäre er nicht nach Theramore gekommen, um sie um ihre Hilfe bei der Suche nach der Fokussierenden Iris zu bitten. Doch während die Gezeiten des Krieges Jaina einen liebenden Gefährten gebracht hatten, hatten sie Vereesa Windläufer ihren Partner geraubt: Rhonin, der Erzmagier, der vor Jaina den Titel als Anführer der Kirin Tor getragen hatte, war im Zentrum der Stadt gewesen und hatte die Manabombe zu sich herangezogen, um die Explosion durch seine Magie einzudämmen. Zuvor hatte er Jaina gegen ihren Willen durch ein Portal gestoßen, um sie in Sicherheit zu bringen. So war Lady Prachtmeer neben Vereesa, der Nachtelfe Shandris Mondfeder und einer Handvoll ihrer Wachen die einzige Überlebende.
Die Anführer des Silberbunds hatten sich nie wirklich von diesem Verlust erholt – und würden es vermutlich auch nie tun. Vereesa war immer stark und direkt gewesen, aber jetzt wohnte ihren Worten eine Bissigkeit inne, und ihrem Herzen ein Hass, so kalt und bitter wie das Eis von Nordend. Doch dem Licht sei Dank taute dieses Eis, wenn sie mit ihren Zwillingssöhnen, Giramar und Galadin, sprach.
Vor gar nicht allzu langer Zeit hätte Varian sich vermutlich provozieren lassen und sich über Vereesas offene Verurteilung seiner Entscheidung geärgert. Nun sagte er aber nur: „Vielleicht geht Euer Wunsch noch in Erfüllung, Vereesa. Denkt daran, was Taran Zhu versprochen hat.“
Varian hatte verhindert, dass Go’el – vormals bekannt als Thrall, früherer Kriegshäuptling der Horde und nunmehr Anführer des Irdenen Rings – Garrosh mit dem mächtigen Schicksalshammer den Todesstoß versetzte. Danach war Garrosh in die Hände der Pandaren übergeben worden – ein Volk, dem sowohl die Horde als auch die Allianz vertraute, und das ebenfalls schwer unter Garroshs Hand gelitten hatte. Taran Zhu, der Anführer der Shado-Pan, hatte ihnen versichert, dass Garrosh der Prozess gemacht und der Gerechtigkeit für alle Genüge getan würde. Gegenwärtig wurde der Orc schwer bewacht in den Kellern unter dem Tempel des Weißen Tigers gefangen gehalten, und vor zwei Tagen hatte der Abgesandte des himmlischen Xuen persönlich die Botschaft überbracht: Wir bitten um Eure Anwesenheit in meinem Tempel. Die Entscheidung über Garroshs Schicksal soll getroffen werden.
Das war alles gewesen.
Sämtliche Anführer der Allianz hatten denselben Brief erhalten, und Jaina sah einige von ihnen am Fuße des Hügels, wo sie in ähnlich luxuriöse Karren stiegen, um die Reise hinauf zum Tempel anzutreten. Königin-Regentin Moira Thaurissan, eine der drei Herrscher über die Zwerge, schien gerade mit einem unbeeindruckten Pandaren zu streiten, wobei sie wütend auf den Karren deutete. Zweifelsohne fand sie das Gefährt „ungebührlich“ für jemanden in ihrer Position.
„Nein“, sagte Vereesa. „Wir wissen nicht, warum wir hier sind. Die Himmlischen schienen es für wichtig zu halten. Aber wenn es so verflucht wichtig ist, warum hat man uns dann nicht erlaubt, einfach zum Tempel zu fliegen? Warum Zeit mit diesem Karren verschwenden?“
„Man hat uns hierher eingeladen“, warf Kalec ein. „Falls sie bereit sind, zu warten, bis wir auf diese Weise ankommen, dann sollten wir es auch sein. Außerdem ist der Weg gar nicht so weit.“
„Gesprochen mit der Geduld eines Drachen“, sagte Vereesa.
„Ich bin, was ich bin“, erwiderte er, scheinbar unbeeindruckt von ihrer Bemerkung. Ja, dachte Jaina, er war in der Tat, was er war, wer er war, und sie war froh darüber, obwohl es noch vieles gab, was in ihrer Beziehung geklärt werden musste.
Sie versuchte, sich auf den bestickten Kissen zurückzulehnen und die langsame Fahrt den gewundenen Pfad hinauf zu genießen. Pandaria strahlte eine bemerkenswerte Friedlichkeit aus und bot Schönheit, wo immer das Auge hinfiel. Die Blütenblätter der Kirschbäume strahlten rosa, und ein paar von ihnen trieben durch die Luft, wann immer der Wind die Äste wiegte. Statuen weißer Tiger bewachten den ersten, anmutigen Durchgang, hinter dem der Weg steiler wurde. Während der Karren stetig weiterrollte, wurde es immer kälter, und Lady Prachtmeer zog den Umhang enger um ihre zierliche Gestalt, froh über die Wärme der zahlreichen Feuerschalen, an denen sie vorbeikamen. Der Boden war zunächst nur leicht mit Schnee bestäubt, dann mit Verwehungen, als sie höhere Lagen erreichten. Ein tiefes Gefühl der Leichtigkeit überkam Jaina, und mit einem Mal wurde ihr alles klar. Sie wusste nur zu gut, wie wichtig es war, einen Zauber mit Konzentration und Entschlossenheit zu wirken, und plötzlich war sie sicher, dass die Himmlischen den Gästen auf ihre eigene Weise die Möglichkeit geben wollten, eben dieses zu tun. Indem sie gemächlich den Berg hinaufrollten, um die vorgelagerten äußeren Bauwerke herum, während des gesamten Weges von Schönheit und Friedlichkeit umgeben, konnten Jaina und ihre Begleiter die Pflichten ihres Alltags vergessen und ihr Ziel mit wachem Verstand erreichen. Jaina ließ zu, dass der Wind, erfüllt vom dezenten Duft der Kirschblüten, ihren Geist reinigte.
Sie und Kalec saßen so, dass sie nach hinten blickten, sie konnte also nicht sehen, was plötzlich Vereesas wunderschönes Gesicht verfinsterte und Varians Lippen in schmale Striche verwandelte, als der Karren vor der ersten der wankenden Seilbrücken zum Stehen kam. Die Hand der Hochelfe glitt automatisch zu ihrer Mitte, dann ballte sie sich zur Faust, als Vereesa einfiel, dass man sie gebeten hatte, keine Waffen zum Tempel mitzubringen.
„Was haben die hier zu suchen?“, schnappte sie, nur um die Frage selbst zu beantworten. „Nun, Garrosh ist ihr früherer Anführer. Sie haben wohl das Recht, dabei zu sein, wenn über sein Schicksal entschieden wird.“
Jaina drehte sich auf ihrem Sitz herum, und als sie zum Hof des eigentlichen Tempels hochblickte, weiteten sich ihre Augen unmerklich. Ihr Magen zog sich zusammen, als sie sich an Garroshs Taktik bei Theramore erinnerte – möglichst viele Militärstrategen der Allianz an einem Ort zu versammeln –, denn es schien, als hätten nicht nur die Anführer der Allianz eine Einladung erhalten, sondern auch die der Horde. Natürlich war der blauhäutige Troll Vol’jin unter ihnen, der neue Kriegshäuptling und damit Varians Gegenstück. Würde er ein besserer Anführer sein als ein Orc? Oder ein noch schlimmerer? War das überhaupt wichtig? Nicht einmal der vorige Häuptling, Thrall, der heute seinen Geburtsnamen Go’el benutzte, hatte die Blutlust der Horde dämpfen können, und dabei hatte er es wirklich versucht.
Während sie noch über ihn nachdachte, entdeckten ihre Augen den Orcschamanen. An Go’els Seite ging seine Partnerin, Aggra, ein kleines Bündel auf dem Arm.
Go’els Sohn.
Jaina hatte gehört, dass er Vater geworden war, und nun erzählte man sich, dass Aggra schon wieder schwanger war. Einst hätte Go’el sie aufgefordert, das Kind zu halten, aber diese Zeit war vorbei. Der Schamane musterte die Menge, und seine Augen, so blau wie Jainas, fielen auf Lady Prachtmeer.
Wut und Bedauern durchströmten sie, und sie wandte den Blick ab.
Um sich abzulenken, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den größten der Anführer, Baine Bluthuf. Mit Ausnahme von Go’el war er das einzige Oberhaupt in der Horde, von dem Jaina je als Freund hatte denken können. Sie hatte an der Seite des Tauren gestanden, als Garrosh erst seinen Vater, Cairne, getötet und dann tatenlos zugesehen hatte, während die Grimmtotem-Tauren Donnerfels überfielen. Baine hatte sich revanchiert, indem er sie vor dem drohenden Angriff auf Theramore warnte. Natürlich war er davon ausgegangen, dass es nur ein gewöhnlicher Angriff sein würde, hatte er doch nicht vom Diebstahl der Fokussierenden Iris gewusst, und ebenso wenig von Garroshs tödlichen Absichten für das Artefakt. Soweit es Jaina betraf, war jegliche Schuld zwischen ihnen beiden getilgt.
Auch ein paar andere erspähte sie: Lor’themar Theron von den Blutelfen, mit dem sie vor Kurzem erst verhandelt hatte, wenn auch gezwungenermaßen, und der unausstehliche Handelsprinz der Goblins, Jastor Gallywix, der seinen lächerlichen Zylinder zur Schau stellte.
Ein Pandaren in den Roben eines Mönchs verbeugte sich zum Gruß, als sie aus dem Karren stiegen. „Verehrte Gäste“, sagte er. „Willkommen. Hier soll es nur Frieden geben, während Ihr der ersten Zusammenkunft aller Anführer von Azeroth beiwohnt. Gelobt Ihr, euch an diese Regel zu halten?“
„Ich dachte, wir sind hier, um zu sehen, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird“, begann Vereesa, aber Jaina legte ihr die Hand auf den Arm. Die Elfin biss sich auf die Lippe und verstummte. Seit dem Tod ihres Mannes suchte sie die Nähe von Jaina, und die Anführerin der Kirin Tor schien die Einzige zu sein, die die brodelnden Wogen ihres Zorns auf die Horde zu beschwichtigen vermochte.
„Ihr wisst, dass wir keinen Frieden in unseren Herzen tragen“, wandte Jaina sich an den Mönch. „Dort gibt es nur Schmerz und Wut und den Wunsch nach Gerechtigkeit, wie Vereesa gesagt hat. Ich für meinen Teil schwöre aber, keine Gewalt anzuwenden.“
Die drei anderen machten ähnliche Zusicherungen, wenngleich es Vereesa schwerfiel, die Worte auszusprechen, und der Pandaren forderte sie auf, ihm über die schwankende Brücke und die gewaltige zentrale Brücke hinauf zu folgen, hinein ins Kolosseum.
Aysa Wolkensänger, eine der ersten Pandaren, die sich der Allianz angeschlossen hatten, stand am Eingang zum Tempel, und ihre Augen leuchteten vor Wiedersehensfreude, als die Neuankömmlinge sich vor ihr verbeugten. Aysa hatte sich in der Stadt Sturmwind niedergelassen, und Jaina war der Abgesandten der Huojin-Mönche seit ihrer Ankunft nicht mehr begegnet.
„Ich wusste, Ihr würdet kommen“, sagte Aysa, wobei sie sich ihrerseits vor jedem von ihnen verbeugte. „Danke.“
„Aysa“, fragte Varian, „könnt Ihr uns verraten, was hier vor sich geht?“
„Ich weiß nur, dass die Anführer der Fraktionen von Allianz und Horde gebeten wurden, sich hier friedlich einzufinden, und dass die Himmlischen Erhabenen eine Entscheidung getroffen haben“, antwortete sie. „Bitte – betretet den Tempel schweigend und gesellt euch zu euren Gefährten auf der linken Seite des Hauptbereichs. Die Himmlischen werden bald eintreffen.“ Ihre normalerweise wohlmodulierte Stimme war höher als sonst und verriet, welchen Druck und welche Besorgnis sie verspürte. Das war kein gutes Zeichen, aber sie alle nickten zustimmend.
Der Tempel des Weißen Tigers war riesig. Hier, in der höhlenartigen Arena im Zentrum des Bauwerks, durchliefen die Mönche unter dem wachen Auge von Xuen ein diszipliniertes Training, das sie in Meister ihrer Kampfkunst verwandelte. Trotz seiner Größe fühlte der Tempel sich aber nicht bedrückend an, was vielleicht daran lag, dass niemand, der sich auf den zahlreichen Sitzen hier einfand, Blutvergießen sehen wollte – nur Talent und Können.
Der Eingang befand sich auf der Südseite, direkt gegenüber einem großen, von Feuerschalen flankierten Thron auf den Sitzrängen. Im Westen, Norden und Osten hatte man Banner angebracht, und auf dem Boden befand sich ein Ring aus sechs großen, in sich geschlossenen Bronzeringen, mit einem größeren, leicht abgesetzten siebten Ring in der Mitte. Für die Beleuchtung sorgten helle Laternen, die von der Decke hingen, und das Tageslicht, das durch die offenen Türen des Eingangs hereinströmte.
Einige andere hatten sich bereits hier eingefunden. Varians Sohn, Prinz Anduin, kam ihnen entgegen und umarmte seinen Vater. Es freute Jaina, die Ungezwungenheit und Zuneigung zwischen den beiden zu sehen, nachdem ihre Beziehung vor Kurzem noch so angespannt gewesen war. Anduin, der länger als jeder von ihnen in diesen Landen verweilt hatte, hob den Finger an die Lippen, und sie nickten verstehend.
Wortlos, wie erbeten, gingen sie hinüber zu Hohepriesterin Tyrande Wisperwind, die die Nachtelfen repräsentierte, und der Generalin der Schildwache, Shandris Mondfeder. Velen, der uralte Anführer der außerirdischen Draenei, neigte zum Gruß den Kopf, und Anduin trat wieder an die Seite seines Lehrmeisters und Freundes, während die anderen ihre Plätze einnahmen. Nun traten Genn Graumähne, König von Gilneas, und Hochtüftler Gelbin Mekkadrill ein, gefolgt von Moira, Muradin Bronzebart und Falstad Wildhammer, dem Triumvirat, das für die Zwergenkönigreiche sprach.
Graumähne hatte sich heute für seine Worgenform entschieden, eine Wahl, die Bände sprach. Zum einen zeigte er den anwesenden Mitgliedern der Horde damit, dass auch in der Allianz einige wussten, was es hieß, von der wilderen Seite ihrer Natur zu kosten, andererseits demonstrierte er vor seinen Allianz-Gefährten, dass er sich nicht für diese Form schämte.
Auf der rechten Seite des Raumes hatten sich die Vertreter der Horde versammelt, und Jaina presste die Lippen zusammen, als sie zu ihnen hinüberblickte. Go’el befand sich nun in Begleitung seines alten Freundes und Beraters Etrigg und eines anderen, älteren Orcs, den Lady Prachtmeer ebenfalls kannte: Varok Saurfang. Sein Sohn, Dranosh, war bei der Pforte des Zorns gefallen und vom Lichkönig wiederbelebt worden, nur um ein weiteres Mal zu sterben – und diesmal endgültig. Varok sah aus wie ein hartgesottener Krieger, aber er war auch ein Vater, der um seinen Sohn trauerte.
Jaina hörte ein scharfes Einatmen neben sich und folgte Vereesas Blick.
Eine schlanke, grazile Gestalt hatte den Tempel des Weißen Tigers betreten; auf den ersten Blick wirkte sie wie eine Elfen-Bogenschützin, aber ihre Haut hatte einen leicht blaugrauen Farbton und ihre Augen funkelten rot, als würde hinter ihnen ein unstillbares Feuer brennen.
Sylvanas Windläufer, die dunkle Fürstin der Verlassenen und Vereesas Schwester, hatte den Raum betreten.
2. KAPITEL
Für gewöhnlich konnte Pandaria das Herz und den Geist von Baine Bluthuf besänftigen, wie es sonst eigentlich nur Mulgore vermochte. Als Krieger respektierte er das Talent und die Tapferkeit derer, die in Xuens Tempel kämpften, doch heute erfüllte ihn eine innere Unruhe.
Man konnte argumentieren, dass die Tauren die ersten aus der Horde gewesen waren, denen Garrosh Unrecht zugefügt hatte – indem er Baines geliebten Vater, den großen und schmerzlich vermissten Cairne Bluthuf, tötete. Baine zweifelte keine Sekunde daran, dass sein Vater siegreich aus dem Mak’gora hervorgegangen wäre, wäre dieses Duell wirklich fair gewesen. Es war kein überlegener Hieb, der Cairne niedergestreckt hatte, sondern das Gift, das ohne Garroshs Wissen auf seine Klinge aufgetragen worden war.
Was Garrosh jedoch gewusst hatte, war, dass Magatha, die Schamanin, die die Waffe „gesegnet“ hatte, gegen ihr eigenes Volk stand, und er hätte nie einem Tauren trauen dürfen, der nicht seiner Wurzeln gedachte und sie ehrte. So war der Beste ihres Volkes durch einen Betrug gestorben. Vielleicht war es unvermeidlich gewesen, dass Garrosh, obgleich unschuldig im Falle dieser konkreten List, emotional verkümmerte und der Dunkelheit anheimfiel, fähig, die Grausamkeiten zu begehen, die niemand hier leugnen konnte. Erst war Theramore vernichtet worden, eine Erinnerung, die Baine noch immer in seinen Träumen heimsuchte – und dann hatte er das Tal der Ewigen Blüten verwüstet, ein Schlag, der Baine wegen seiner Liebe und Bewunderung für die Erdenmutter besonders tief traf.
Das Tal war von den Titanen erschaffen worden, ein in seiner Üppigkeit und Schönheit fast schon unwirklicher Ort von Wachstum und Harmonie. Nachdem das uralte Volk der Mogu besiegt worden war, hatte man das Tal abgeschottet, und achtsame Hüter hatten es gepflegt. Erst jüngst hatten Allianz und Horde das Recht erlangt, den Ort zu betreten, doch diese kurze Zeit hatte Garrosh Höllschrei gereicht, um in seiner Machtgier zu zerstören, was jahrtausendelang gewährt hatte. Wie sich herausgestellt hatte, waren die Blüten in dem Tal doch nicht „ewig“, überlegte Baine verbittert. Sie waren fort, nur noch eine Erinnerung, wenngleich neues Leben – und neue Hoffnung – an jenem Ort Einzug gehalten hatte, nachdem das Sha endgültig niedergerungen war.
Baine vertraute den Himmlischen. Er glaubte an ihre Weisheit und Gerechtigkeit.
Warum also war er so unruhig?
„Ich habe Garrosh einmal gesagt, er würde genau wiss’n, woher der Pfeil kommt, der sein schwarzes Herz durchbohrt. Ich weiß genau, warum Ihr mit den Hauern knirsch’n würdet, wenn Ihr welche hättet.“
Baine zuckte zusammen. Vol’jin bewegte sich so leise, dass der Tauren nicht einmal bemerkt hatte, dass der Troll neben ihn getreten war.
„Es stimmt“, sagte er. „Ich tue mich schwer, das, was mein Vater mir über Ehre und Gerechtigkeit beigebracht hat, mit dem zu vereinen, was ich hier heute sehen möchte.“
Vol’jin nickte. „Wie sagt man beim Braufest so schön: Stellt Euch hint’n an“, lachte er. „Aber wenn wir noch mal von vorne anfang’n wollen, müssen wir auf Varian hören. Wenn wir einen Märtyrer aus ihm machen, werd’n die übrigen Orcs weiter dem von ihm eingeschlagenen finsteren Weg folg’n. Wie immer die Himmlischen entscheid’n, niemand hier kann sich leisten, ihr Urteil infrage zu stell’n.“
Baine blickte zu Go’el, Etrigg und Varok Saurfang hinüber. Go’el hatte den Sohn mitgebracht, den er mit Aggra hatte, Durak, und hielt ihn sicher und mühelos auf dem Arm. Baine, der seinen eigenen Vater durch Gewalt verloren hatte, wusste, dass Go’el eine aktive Rolle bei der Erziehung des Kleinen spielen wollte. Cairne war ebenfalls ein aufmerksamer Vater gewesen, und vielleicht lag es daran, dass der Anblick ihn wider Erwarten so rührte. Väter und Söhne … Grom und Garrosh, Cairne und Baine, Go’el und Durak, Arthas und Terenas Menethil, Varok und Dranoth Saurfang. Diese Familienfolge war gewiss ein Zeichen der Erdenmutter, eine Erinnerung daran, wie tief diese Verbindungen reichen konnten und wie schnell sie unendlich Gutes oder abgrundtief Böses bewirken konnten.
„Ich hoffe, Ihr habt recht“, sagte Baine, an Vol’jin gewandt. „Go’el ist derjenige, der Garrosh das Kommando übergeben hat, und Saurfang hegt einen tiefen Groll.“
Der Troll zuckte mit den Schultern. „Sie sind Orcs, und jeder Orc kennt Ehre. Die da bereitet mir schon eher Kopfzerbrech’n. Niemand weiß mehr über Hass als die dunkle Lady. Und am liebst’n serviert sie ihren Hass eiskalt.“
Baine musterte Sylvanas, die stolz und allein zwischen den anderen stand. Die meisten der Anführer hatten berühmte Mitglieder ihres Volkes mitgebracht; er selbst war in Begleitung von Kador Wolkenlied, des Schamanen, der ihm in dunklen Zeiten stets Trost geschenkt hatte, und Perith Sturmhuf, seinem vertrauenswürdigsten Späher. Sylvanas wurde nur selten ohne ihre Val’kyr gesehen, jene untoten Wesen, die einst Arthas gedient hatten, nun aber ihrem Befehl folgten. Die dunkle Fürstin betrachtete die Anwesenden verächtlich, als könnte sie Garrosh ganz allein mit ihrer mächtigen und zornerfüllten Präsenz töten, ohne die Mithilfe oder Erlaubnis der anderen.
Baines Blick wanderte durch die Arena zu der Stelle, wo die Vertreter der Allianz versammelt standen. Da waren der junge Anduin und Lady Jaina, mit der er einmal zusammengesessen und eine Tasse Tee getrunken hatte – die Erinnerung rang ihm ein trauriges Lächeln ab. Neben ihr entdeckte er jemanden, der ihm auf unheimliche Weise vertraut wirkte, obwohl es sich dabei um einen lebenden, atmenden Hochelfen handelte. Das musste Vereesa Windläufer sein – die Schwester von Sylvanas und der verschwundenen Alleria.
Es schien, als würden dieser Tage überall alte Wunden aufgerissen. Doch noch während Baine sich wünschte, dass die Himmlischen endlich erscheinen und ihre Bekanntmachung verkünden mochten, stellte sich das Fell an seinen Armen auf, und mit einem Mal fühlte sein Herz sich leichter an.
Vier Gestalten tauchten am Eingang auf, Silhouetten gegen das Licht von draußen. Als sie in die Arena schritten, wurde dem Tauren klar, dass sein Herz und sein Geist diese Wesen zwar als die Himmlischen Erhabenen erkannten, sie seinen Augen aber vollkommen verändert erschienen. Zuvor hatte er sie stets in der Gestalt von Tieren gesehen, doch heute, so schien es, waren sie in eine andere Form geschlüpft.
Chi-Ji, der rote Kranich, Bringer der Hoffnung, hatte das Aussehen eines schlanken, feinknochigen Blutelfen mit langem, feurig roten Haar angenommen, und was Baine im ersten Moment für einen goldenen Umhang gehalten hatte, erwies sich schon bald als angewinkelte Flügel. Xuen, der weiße Tiger, dessen Tempel dies war, strahlte mit den flüssigen Bewegungen seines blassblauen Nachtelfenkörpers kontrollierte Stärke aus, sein Haar und seine Haut von schwarzen und weißen Streifen durchzogen. Baine fühlte sich geehrt, dass der unbezwingbare schwarze Ochse, Niuzao, in der Gestalt eines Yaungol vor die Augen der Sterblichen trat. Er neigte seinen weißen Kopf, während er die Besucher mit strahlend blauen Augen musterte, und jedes Klappern seiner glühenden Hufe schien ein Echo hervorzurufen. Die weise Jadeschlange Yu’lon schließlich hatte die wohl ungewöhnlichste Inkarnation von allen gewählt – die eines Pandaren-Jungen. Doch noch während Baine dieser Gedanke durch den Kopf ging, richteten sich Yu’lons Augen auf ihn, und sie lächelte. Er erkannte, dass diese sanftmütige, liebliche Erscheinung ein Zeichen wahrer Weisheit war, denn jeder würde sich zu ihr hingezogen fühlen.
Die vier Himmlischen gingen zum nördlichen Teil der Arena, wo für gewöhnlich Xuen saß, wenn er eine Audienz abhielt. Der Tauren fühlte, wie sich ein lange vermisstes Gefühl von Ruhe und Klarheit auf ihn herabsenkte. Er atmete aus und schloss kurz die Augen, dankbar für ihre bloße Anwesenheit.
Alle Anwesenden schwiegen still, warteten angespannt darauf, dass die Himmlischen das Wort ergriffen.
Doch die Vier sagten nichts. Stattdessen wandten sie sich um und blickten erwartungsvoll zu der kleinen Gestalt hinüber, die gerade eben den Tempel betreten hatte.
Die Gestalt trug eine dunkle Lederrüstung, und das Bild eines weißen Tigers mit gefletschten Zähnen zierte ihre rechte Schulter. Der breite Hut und das rote Tuch vor dem unteren Teil ihres Gesichts hätten ihre Identität verborgen, hätte nicht jeder der Anwesenden bereits gewusst, wen sie erwarten sollten. Taran Zhu, Anführer der Shado-Pan-Mönche, verbeugte sich ungelenk, wobei er leicht das Gesicht verzog. Anschließend ging er auf den zentralen Ring zu, und seine geschmeidigen Schritte täuschten über sein Alter und seinen trügerisch rundlichen Körper hinweg. Noch einmal verbeugte er sich, einmal vor jedem der mächtigen, stummen Wesen, dann wandte er sich den versammelten Gästen zu.
„Willkommen“, begann er. „Heute spreche ich für die Himmlischen, und lasst mich Euch wissen, wir begrüßen Euch mit dankbarem, demütigen Herzen. Ich möchte Euch alle bitten, einen Moment lang diesen Anblick in Euch aufzunehmen, wie es ihn noch nie auf dieser Welt zu sehen gab. All jene, die als Anführer der Horde dienen, und all jene, die für die Völker der Allianz sprechen, sind heute hier versammelt. Niemand unter Euch trägt Waffen, und ich habe Anweisung gegeben, ein Dämpfungsfeld zu beschwören, um den unerwünschten Einsatz von Magie zu verhindern – einschließlich der Beschwörung dessen, was Ihr das Licht nennt. Ihr alle seid aus demselben Grund hier, so, wie Ihr Euch auch schon zuvor für größere Ziele verbündet habt. Bitte – nehmt Euch ein wenig Zeit, Eure lieben Freunde und Eure ehrenwerten Feinde zu betrachten.“
Baine blickte zuerst zu Anduin hinüber, ein Gesicht, von dem er wusste, dass es nicht vor Zorn verzerrt sein würde. Von dort schweiften seine Augen über die steinernen Mienen der Zwerge und zu Genn Graumähnes wuterfüllten Zügen. Vereesa sah aus, als würde sie die Zähne zusammenbeißen und ihre kleinen, starken Fäuste ballen, und er fragte sich, ob Jaina wusste, wie leicht man ihr Unzufriedenheit und Verbitterung am Gesicht ablesen konnte. Während sich die Minute der Betrachtung in die Länge zog, entdeckte Baine, wie sich einige der angespannten Mienen entspannten, andere hingegen schienen noch ungeduldiger zu werden. Und das auf beiden Seiten.
Nun fuhr Taran Zhu fort: „In einem gut bewachten Gefängnis unter unseren Füßen verweilt einer, dessen Schicksal zu erfahren ihr hierher gekommen seid: Garrosh Höllschrei.“
Baine schluckte. Er konnte die Anspannung in der Luft spüren, den Zorn und die Furcht und die Sorge riechen. Doch der sanftmütige Mönch ließ sich nicht drängen.
„Euch wurde gesagt, dass heute das Urteil über Garrosh Höllschrei gesprochen werden soll, und dem ist auch so. Die Himmlischen lügen nicht. Doch es gibt etwas, das sie euch noch nicht mitgeteilt haben. Nach langer Diskussion und Meditation sind sie zu dem Schluss gekommen, dass Höllschrei nicht allein von ihnen verurteilt werden sollte. Alle haben unter Garrosh gelitten, nicht nur Pandaria, obwohl auch sein Volk Schreckliches durchmachen musste.“ Er legte die Pfote auf seine Mitte, wo die Axt Blutschreis vor gar nicht allzu langer Zeit eine tiefe Wunde geschlagen hatte. „Darum habt Ihr es verdient, an der Urteilsfindung teilzuhaben. Seine Schuld steht außer Frage – aber ihm soll ein gerechter und offener Prozess gemacht werden, um sein Los zu bestimmen. Ein Prozess, der von der Horde ebenso wie von der Allianz geprägt werden soll, mit der Möglichkeit, seine Strafe zu mildern – oder ihm vielleicht sogar die Freiheit zu schenken.“
Tumult.
Baine konnte nicht sagen, wer lauter schrie, die Horde oder die Allianz.
„Ein Prozess? Er hat mit seinen Schandtaten geprahlt!“
„Wer so vielen den Tod gebracht hat, verdient ihn selbst!“
„Stellen wir doch die gesamte Horde vor Gericht!“
„Wir wissen, was er getan hat! Die ganze Welt weiß, was er getan hat!“
Xuens Augen wurden ein wenig schmaler, und seine Stimme schnitt klar wie eine Glocke und scharf wie ein Schwert durch den Aufruhr. „In meinem Tempel herrscht Ruhe!“
Man gehorchte ihm. Zufrieden bedeutete er Zhu mit einem Nicken, fortzufahren:
„Die Himmlischen Erhabenen stellen nicht in Frage, dass Garrosh Höllschrei sich schrecklicher, schwerwiegender Taten schuldig gemacht hat. Lasst es mich noch einmal sagen – dass er Verbrechen begangen hat, steht ohne jeden Zweifel fest. Was nun entschieden werden muss, ist jedoch, wie diese Verbrechen zu ahnden sind. Die Frage ist nicht, ob er zur Verantwortung gezogen werden soll, sondern wie er zur Verantwortung gezogen werden soll. Und der einzige Weg, eine Antwort zu finden, liegt in einem Verfahren. Auf diese Weise können die Horde und die Allianz und jede andere Stimme, die etwas zu sagen hat, sich Gehör verschaffen.“
„Aber am Ende werden doch die Himmlischen die Rolle von Richter, Geschworenen und Henker übernehmen, oder?“ Das kam von Lor’themar Theron. Baine war sicher, dass die „Kooperationsbereitschaft“ des Blutelfen bereits über Gebühr auf die Probe gestellt worden war.
„Nein, Freund Lor’themar“, erwiderte Taran Zhu. „Die Himmlischen haben sich zwar als Geschworene angeboten, aber sie sind offen für andere Meinungen. Ich würde mich geehrt fühlen, als Fa’shua zu dienen – als Richter. Die Himmlischen sind weise Wesen, die wahre Gerechtigkeit wollen. Ich habe inzwischen viele von Euch, die Ihr hier vor mir steht, kennengelernt, und im Einklang mit dem Gesetz der Pandaren sollen sorgfältig ausgewählte Mitglieder von Horde und Allianz die Anklage und die Verteidigung stellen.“
„Er ist schon schuldig – das habt Ihr selbst gesagt“, erklärte Vereesa. „Wie kann es da noch Anklage und Verteidigung geben?“
„Der Verteidiger wird sich für ein milderes Strafmaß einsetzen und der Ankläger wird natürlich versuchen, eine strengere Bestrafung zu erwirken. Ihr könnt aus Euren Reihen wählen, wen Ihr möchtet, und die Gegenseite kann einen Kandidaten ablehnen.“
„Ich lehne dieses gesamte Prozedere ab!“, schnappte Genn Graumähne. „Garrosh Höllschrei hat die Horde gegen unser Volk geführt und es wie ein Schlächter niedergemetzelt. Falls wir ein Verfahren durchführen sollen, warum dann nicht eines für jeden Anführer der Horde. Bestenfalls haben sie tatenlos danebengestanden und Garrosh gewähren lassen; schlimmstenfalls haben sie ihn unterstützt oder“ – an dieser Stelle warf er Sylvanas einen giftigen Blick zu, „sogar ihre eigenen Angriffe durchgeführt!“ Ein Chor wütender Zustimmung erhob sich, und es betrübte Baine, Jaina unter den Rufenden zu sehen.
„Das würde sehr lange dauern“, sagte Taran Zhu ruhig, „und nicht alle von uns haben so lange Leben.“
„Die Allianz“, stieß Gallywix hervor, „sollte überhaupt nicht mit einbezogen werden. Garrosh muss von seinesgleichen verurteilt werden, damit jene von uns, die durch ihn zu Schaden kamen, entsprechend entschädigt werden können.“
Mekkadrill lachte humorlos. „Mit Geld entschädigt, meint Ihr wohl!“
„Das wäre eine annehmbare Form der Wiedergutmachung, ja“, bestätigte Gallywix.
Taran Zhu seufzte und hob die Pfoten, um Stille einzufordern. „Die Anführer der Horde und der Allianz müssen entscheiden. Kriegshäuptling Vol’jin, König Varian Wrynn, seid Ihr einverstanden mit den Bedingungen, die ich vorgetragen habe?“
Troll und Mensch blickten einander einen Moment lang an – dann nickte Vol’jin. „Die Himmlisch’n scheinen in solchen Dingen einen besseren Überblick zu hab’n als wir, die wir mitt’n drinstecken, und Ihr seid über jed’n moralischen Zweifel erhaben, Taran Zhu. Ich finde es gut, dass wir eine Stimme haben und nicht einfach nur ein Urteil vorgesetzt bekomm’n. Die Horde ist einverstanden.“
„Die Allianz ebenfalls“, erklärte Varian ohne Zögern.
„Man wird Euch an einen Ort bringen, wo Ihr Euren Verteidiger und Euren Ankläger auswählen könnt“, sagte Taran Zhu. „Vergesst nicht – es gibt ein Veto für jede Seite.“
Ji Feuerpfote, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat nun auf Vol’jin zu und verbeugte sich tief. „Ich werde Euch in einen der Nebentempel bringen, wo wir Feuerschalen aufgestellt haben.“ Ein Grinsen teilte sein breites, fellbedecktes Gesicht, und er zwinkerte. „Und Erfrischungen gibt es auch.“
Der Pandaren hatte nicht gelogen. Fünfzehn Minuten später saßen Vol’jin, Go’el, Baine, Etrigg, Varok Saurfang, Sylvanas, Lor’themar Theron und Jastor Gallywix auf einem Teppich, der zwar nicht bestickt war, sie aber vor der Kälte des Steins schützte. Man hatte Fleisch und Getränke bereitgestellt, und die zugesicherten Feuerschalen erwärmten die Luft.
Vol’jin nickte in Richtung des Essens. „Mit vollem Magen lässt sich besser diskutier’n“, meinte er. Sie taten sich an den Speisen gütlich, und da dies Pandaria war, gab es reichlich Bier, um sie hinunterzuspülen. Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, kam der Troll sofort zum Thema.
„Meine Orc-Brüder, ihr wisst, wie sehr ich euch respektiere. Aber ich bin sicher, falls wir einen Orc auswähl’n, um Garrosh zu verteidigen, wird die Allianz garantiert ihr Veto einsetzen.“
Go’el nickte. „Es ist bedauerlich. Garrosh ist so tief gefallen, dass seinetwegen in den Augen der anderen nun ein ganzes Volk verurteilt wird. Nichts, was ein Orc-Verteidiger sagen könnte, würde ernst genommen werden, ob es nun positiv oder negativ wäre.“
Baine war da anderer Ansicht. „Im Gegenteil: Es wäre gut, wenn alle während eines so öffentlichen Ereignisses sehen könnten, dass ein Orc auch mit Ehre und Anstand handeln kann. Etrigg ist bekannt für seine besonnene Art und seinen weisen Kopf.“
Doch der alte Orc schüttelte diesen weisen Kopf, noch bevor Baine zu Ende gesprochen hatte. „Deine Worte bedeuten mir viel, Oberhäuptling, aber Go’el hat recht. Ich – und er, ebenso wie Saurfang – werden Gelegenheit haben, zu sprechen, falls wir es wünschen. Taran Zhu hat es uns zugesichert, und ich glaube ihm.“
„Ich werde Garrosh verteidigen“, warf Sylvanas ein. „Es ist wohlbekannt, dass wir unterschiedlicher Meinung waren. Die Allianz kann mich also nicht beschuldigen, ich würde zu sanft mit ihm umgehen.“
„Ihr wärt ein hervorragender Ankläger, das stimmt“, entgegnete Vol’jin. „Aber wir such’n hier einen Verteidiger.“
„Ich bitte Euch, Kriegshäuptling“, sagte Sylvanas. „Niemand hier will, dass Garrosh diesen Ort verlässt, es sei denn, um zum Richtblock geführt zu werden! Das wisst Ihr! Ihr selbst habt einmal gesagt, dass …“
„Was ich gesagt habe, weiß ich besser als Ihr, Sylvanas“, unterbrach der Dunkelspeertroll sie mit leiser, warnender Stimme. „Ihr wurdet schließlich nicht mit aufgeschlitzter Kehle zurückgelass’n und für tot gehalten. Ich weiß, was wir alle hier unter seiner Herrschaft erdulden musst’n. Aber ich weiß auch, dass die Himmlischen eine Verhandlung erwarten, die so gerecht sein soll, wie es Sterblich’n eben möglich ist. Ich glaube, es gibt nur eine echte Wahl für diese Aufgabe. Jemand, der sowohl von der Horde als auch der Allianz geachtet wird, der Garrosh gegenüber keine Sympathien hegt, aber niemals lüg’n oder nicht sein Bestes tun würde.“
Er drehte sich zu Baine herum.
Eine Sekunde lang glaubte der Tauren, Vol’jin würde ihn nur anblicken, weil er seine Meinung hören wollte. Doch dann begriff er.
„Ich?“, stieß er hervor. „Bei der Erdenmutter, Garrosh hat meinen Vater erschlagen!“
„Genau darauf wollte der Kriegshäuptling hinaus“, warf Lor’themar ein. „Trotz allem, was Garrosh Euch persönlich angetan hat, standet Ihr loyal zur Horde, bis klar wurde, dass Blutschrei ihr ebenfalls Schaden zufügt. Die Allianz hat viele Spione, und Ihr habt Euch in der Vergangenheit gut mit Lady Prachtmeer verstanden.“
Baine wandte sich zu Go’el um, in seinen großen Augen die Bitte, der Orc möge eingreifen, doch stattdessen lächelte der einstige Häuptling nur. „Die Tauren sind schon immer das Herz der Horde gewesen. Falls ein Verteidiger Gehör finden kann, dann Ihr, mein Freund.“
„Ich will ihn nicht verteidigen – ich will, was ihr wollt“, schnappte Baine. „Garrosh hat den Tod hundert Mal verdient.“
„Bringt sie dazu, Euch zuzuhören“, erklang eine Stimme, die bislang geschwiegen hatte. Trotz ihres Alters war sie tief und kräftig, und ein scharfer Unterton des Schmerzes schwang darin mit. „Garrosh eine Aufzählung seiner Gräueltaten an den Kopf zu werfen ist nicht schwer“, sagte Saurfang. „Richter und Geschworene dazu zu bringen, Euch wirklich zuzuhören, das ist die Herausforderung. Ihr seid der Einzige, der das tun kann, Baine Bluthuf, denn alle wissen, wie sehr Ihr gelitten habt.“
„Ich bin ein Krieger, kein Priester! Ich habe kein Talent für sanfte, beschwichtigende Worte oder Gefühlsduselei!“
„Garrosh ist ebenfalls ein Krieger“, erwiderte Go’el. „Ob es Euch gefällt oder nicht, Ihr seid von uns allen derjenige, der einem passenden Vertreter am nächsten kommt.“
Der Tauren knirschte mit den Zähnen. „Ich habe der Horde und meinem Kriegshäuptling treu gedient, als dieser Titel noch von Garrosh beansprucht wurde. Also werde ich mich Euch sicher nicht verweigern, der Ihr dieser Position wirklich würdig seid, Vol’jin.“
„Ich kann es dir nicht befehl’n“, sagte der Troll, wobei er Baine eine Hand auf die Schulter legte. „Ihr müsst Eurem Herzen folg’n.“
Die Dinge entwickelten sich nicht so, wie Sylvanas Windläufer es sich gewünscht hatte. Nicht im Geringsten.
Zunächst hatte sie – so wie jedes Mitglied der Horde, selbst dieser weichherzige Go’el – gehofft, dass man sie hierher gerufen hatte, um zu entscheiden, welchem von ihnen die Ehre zuteil würde, Garrosh hinzurichten – am besten langsam und unter größtmöglichen Schmerzen. Varian Wrynn hatte sie bereits zu lange um dieses Vergnügen gebracht, und nun zu erfahren, dass die Himmlischen einen fairen Prozess wollten, war einfach nur lächerlich, zumal sogar sie und Taran Zhu an Garroshs Schuld glaubten. Dieser Versuch, der „Gerechtigkeit“ Genüge zu tun und „nicht aus Rache zu handeln“ war ekelerregend und weder die Zeit noch die Mühe wert, die sie nun schon investiert hatten. Das Einzige, was Sylvanas versöhnlich hätte stimmen können, war die Aussicht, vor den anderen sprechen zu dürfen und dem himmelhohen Berg von Beweisen für Garroshs Fehlverhalten ihre eigenen Anschuldigungen hinzuzufügen.
Sie erwartete nicht, dass man sie als Verteidiger wählen würde, und sie wusste, dass Vol’jin recht hatte, wenn er sagte, dass die Allianz sie schon allein aus persönlichem Hass abgelehnt hätte. Doch Baine? Der friedlichste „Krieger“, den sie je gesehen hatte, Produkt eines Volkes sanftmütiger Wesen?
Das war Wahnsinn. Der Tauren hatte sogar noch mehr Grund als sie, Garrosh tot sehen zu wollen. Der Orc musste für Baine sein, was Arthas für sie war, und dennoch würde er – sollte er die Aufgabe übernehmen – so überzeugend argumentieren, dass jeder Garrosh am Ende des Prozesses mit Blumen würde überschütten wollen.
Baines Ohren sanken nach unten, und er seufzte schwer. „Ich werde der Verteidiger sein“, erklärte er, „auch, wenn ich keine Ahnung habe, wie ich erfolgreich sein soll.“
Sylvanas musste sich zusammenzureißen, um nicht verächtlich die Lippen zu verziehen.
Ji streckte den Kopf zur Tür herein. „Die Allianz hat ihren Ankläger bestimmt. Falls Ihr ebenfalls bereit seid, können wir wieder in der Arena zusammenkommen.“
Sie folgten ihm über den schneebestäubten Weg zurück nach oben. Die Vertreter der Allianz waren bereits dort und drehten sich um, als ihre Gegenparts von der Horde eintraten. Taran Zhu wartete, bis alle wieder auf ihrem Platz standen, dann richtete er sich an beide Fraktionen. „Ihr habt eine Entscheidung getroffen. Kriegshäuptling Vol’jin, wen habt Ihr als Verteidiger für Garrosh Höllschrei gewählt?“
Verteidiger für Garrosh Höllschrei. Die Worte allein waren eine Beleidigung.
„Wir haben Oberhäuptling Baine Bluthuf vom Volk der Tauren gewählt“, verkündete der Troll.
„Allianz? Habt Ihr daran etwas auszusetzen?“
Varian drehte den dunkelhaarigen Kopf, um seine Begleiter zu mustern. Keiner von ihnen sagte etwas; im Gegenteil, wie von Vol’jin prophezeit schienen viele von ihnen erfreut über die Wahl. Varians Abkömmling setzte sogar ein schmales Lächeln auf, wie Sylvanas ungläubig feststellte.
„Die Allianz akzeptiert die Wahl von Baine Bluthuf, dessen Ehrbarkeit weithin bekannt ist“, erklärte Wrynn.
Taran Zhu nickte einmal. „König Wrynn, wer soll für die Allianz die Anklage gegen Garrosh Höllschrei führen?“
„Ich werde diese Aufgabe übernehmen“, antwortete Varian.
„Auf keinen Fall!“, entfuhr es Sylvanas. „Ihr habt uns lange genug herumgeschubst!“ Sie war nicht allein in ihrem Protest; mehrere wütende Stimmen wurden laut, und Taran Zhu musste schreien, um sie zu übertönen.
„Bleibt friedlich!“ Trotz der Bedeutung seiner Worte klang seine Stimme herrisch, und die Rufe verwandelten sich in Gemurmel, bis sie schließlich ganz verstummten. „Kriegshäuptling Vol’jin, wollt Ihr von Eurem Recht Gebrauch machen, König Varian als Ankläger abzulehnen?“
Varian hatte nur wenige Freunde in der Horde. Die meisten zweifelten an seinem plötzlichen Gesinnungswechsel, und selbst seine Weigerung, Orgrimmar zu besetzen, hatte ihm nur zähneknirschende Anerkennung eingebracht. Die Menschen waren der Feind und würden es immer bleiben. Sylvanas wusste, dass der Unmut der Horde ob dieses unnötigen Verfahrens nur noch größer würde, falls sie Varian als Ankläger erdulden mussten. Vol’jin schien das ebenfalls zu erkennen.
„Ja, Meister Taran Zhu. Wir setzen unser Veto ein“, sagte er.
Seltsamerweise erhob die Allianz keinen Einspruch. Diese Reaktion beunruhigte Sylvanas, und ihr Geist enttarnte die kalkulierte List, noch während der Name des Anklägers verkündet wurde.
„Dann fällt unsere Wahl auf Hohepriesterin Tyrande Wisperwind“, erklärte Varian ohne Zögern.
Tyrande Wisperwind. Von all den Völkern hasste keines die Orcs mehr als die Nachtelfen, und das zu Recht, liebten sie doch die Natur, während die Orcs stets nach Bau- und Kriegsmaterialien suchten. Im ersten Moment war die dunkle Fürstin außer sich vor Zorn, aber dann fragte sie sich, ob die Wahl wirklich so schlecht war wie sie schien. Die meisten Mitglieder der Horde selbst hätten Garrosh lieber angeklagt als verteidigt, wie Baines Widerwille gezeigt hatte.
Doch als Tyrandes Augen über die Horde schweiften, sah Sylvanas keinerlei Mitgefühl darin. Die Nachtelfe war zwar eine Priesterin, aber sie hatte auch schon in vielen Schlachten gekämpft.
Taran Zhu sprach derweil weiter und beschrieb den Ablauf, den das Verfahren laut den Gesetzen der Pandaren nehmen musste, aber die Bansheekönigin hörte ihm nicht weiter zu.
„Gut gespielt, Allianz“, murmelte sie in ihrer früheren Muttersprache.
„Sie haben Varian nur vorgeschlagen, weil sie wussten, dass wir ihn ablehnen würden. So konnten sie jemand einsetzen, der sogar noch entschlossener ist, um auf Nummer sicher zu gehen, falls einige von uns Garrosh doch noch gewogen sein sollten“, ertönte eine Stimme in derselben Sprache. „Sie scheinen nicht zu verstehen, dass wir ihn ebenso hassen wie sie.“
Sylvanas blickte zu Lor’themar hinüber und zog die Augenbraue hoch. Der Anführer der Sin’dorei war stets höflich, aber kalt und ablehnend gewesen, wann immer sie mit ihrer Absicht, einen Bund zu schmieden, an ihn herangetreten war. Selbst, als er erpresst wurde, hatte er an seiner heißgeliebten Würde festgehalten. Deutete diese Unterhaltung auf Thalassisch vielleicht ein Umdenken an? War er womöglich gekränkt, weil man ihn bei der Suche nach einem neuen Anführer der Horde übergangen hatte?
„Sie hat nur Hass für Garrosh übrig“, fuhr Sylvanas fort.
„Ebenso für die Horde“, entgegnete Lor’themar. „Ich frage mich, ob Vol’jin es noch bedauern wird, dass er Varian abgelehnt hat. Ich schätze, uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und zu beobachten.“
„Wie wir es immer tun“, flüsterte sie, neugierig darauf, wie er auf die angedeutete Partnerschaft reagieren würde. Er schien ihr aber nicht mehr zuzuhören, sondern verbeugte sich vor jemandem auf der Seite der Allianz, während die diversen Repräsentanten den Raum verließen. Sylvanas wollte sehen, wer es war, und drehte sich herum.
Vereesa. Ihr letztes Zusammentreffen mit Lor’themar lag noch nicht lange zurück, dennoch war es ein wenig überraschend, dass ihre Schwester dem Anführer der Blutelfen mit Höflichkeit begegnete. Noch verblüffender war aber, dass Vereesa nach diesem Gruß ganz bewusst Sylvanas Blick suchte und ihr einen langen Moment in die Augen sah, bevor sie sich abwandte.
Es war das erste Mal seit Jahren, dass die Windläufer-Schwestern – zumindest diese beiden – einander begegneten, und darum war es sicher emotional für Vereesa, Sylvanas zu sehen, doch ihr Gesicht hatte weder Verbitterung noch Trauer widergespiegelt.
Da war nur grimmige Entschlossenheit gewesen, und eine seltsame Art von … Befriedigung?
Doch Sylvanas hatte keine Ahnung, warum.
3. KAPITEL
Baine atmete freier, als er wieder den Huf auf die Erde von Mulgore setzte. Während des Aufenthalts in Pandaria war seine Brust wie zugeschnürt gewesen, und nun sog er die saubere, duftende Nachtluft tief in die Lungen und seufzte.
Der Schamane Kador Wolkenlied wartete auf ihn. „Es ist gut, dich wieder in der Heimat zu haben“, brummte er mit einer tiefen Verbeugung.
„Und es ist gut, wieder in der Heimat zu sein, wenn auch nur kurz – und aus so betrüblichem Anlass“, antwortete Baine.
„Die Toten sind immer bei uns“, erklärte Wolkenlied. „Wir mögen trauern, weil wir der Freude ihrer physischen Gegenwart beraubt wurden, aber der Wind trägt ihre Lieder mit sich, und das Wasser ihr Lachen.“
„Könnten sie nur zu uns sprechen und uns Ratschläge geben, so wie sie es einst taten.“ Der Gedanke ließ Baines Brust einmal mehr schmerzen, und er fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee war, diese alte Wunde aufzureißen. Doch er war sicher, Wolkenlied hätte ihn davon abgebracht, hätte der Schamane sein Vorhaben für töricht gehalten.
„Sie sprechen zu uns, Baine Bluthuf, nur eben nicht auf die Weise, an die unsere Ohren gewöhnt sind.“
Er nickte. Sein Vater, Cairne, war wirklich immer bei ihm. Baine und Wolkenlied hatten sich bei den roten Teufelsfelsen getroffen, jenem uralten Ort, wo die gefallenen Helden der Tauren durch reinigende Flammen zur Erdenmutter und dem Himmelsvater entsandt wurden. Diese treffend bezeichnete, natürliche Formation aus rotem Sandstein befand sich nicht weit von Donnerfels entfernt und war eine Stätte des Friedens und der Besinnlichkeit, ein Schnittpunkt dieser Welt und der Nachwelt, wo man das Treiben in der Hauptstadt der Tauren vergessen konnte. Baine war seit seinem letzten Abschied von Cairne nicht mehr hier gewesen. Auch damals hatte Wolkenlied an seiner Seite gestanden, diesmal waren die beiden jedoch allein. Als er direkt nach Westen blickte, konnte der Oberhäuptling in der Ferne Donnerfels ausmachen, eine Silhouette vor dem sternenbedeckten Himmel, deren Feuer und Fackeln selbst wie Sterne leuchteten. Hier, im Osten bei den Teufelsfelsen, brannte ebenfalls ein kleines Lagerfeuer, das ihnen Wärme und tröstendes Licht schenkte.
Feuer. Er drehte sich wieder zu den Plattformen für die Scheiterhaufen um, nun bar jeglicher Leichen, die ihrer rituellen Verbrennung harrten. Von den Toten blieb nur Asche übrig, und selbst die wurde von den summenden Winden in alle Richtungen verstreut. Obwohl die Tauren inzwischen in Donnerfels ein festes Zuhause gefunden hatten, begruben sie ihre Gefallenen nicht. Ihr Todesritual erinnerte sie an ihre Nomadenwurzeln, und wenn die Verblichenen durch Wind und Feuer befreit wurden, konnten sie im Tod ebenso frei umherstreifen wie zu ihren Lebzeiten.
„Hattest du genügend Zeit, um alles vorzubereiten?“, fragte er Wolkenlied.
„Ja“, nickte der Schamane. „Es ist kein allzu kompliziertes Ritual.“ Baine war nicht überrascht. Die Tauren waren ein einfaches Volk, und ihre Zeremonien verlangten nicht nach langen Beschwörungen oder seltenen, nur schwer zu beschaffenden Objekten. Meist reichte, was die gute Erde ihnen zur Verfügung stellte. „Bist du bereit, Oberhäuptling?“
Baine lachte gequält. „Nein, aber lass uns trotzdem beginnen.“
Wolkenlied – gekleidet in das Leder von Tieren, die er selbst erlegt hatte – begann, in langsamem, steten Rhythmus mit seinen Hufen zu stampfen, wobei er den Kopf zum östlichen Himmel hob.
„Gelobt seien die Geister des Windes! Brise und Wind und Sturm, alle Formen, die ihr annehmt. Heute Nacht bitten wir euch, diesem unserem Ritual beizuwohnen und die Weisheit des großen Cairne Bluthuf in die wartenden Ohren seines Sohnes, Baine, zu wispern.“
Es war ein windstiller Abend gewesen, aber nun zerzauste ein sanfter Lufthauch Baines Fell. Er stellte seine Ohren auf, konnte fürs Erste aber nur ein leises Murmeln hören. Wolkenlied griff in seine Schamanentasche und holte eine Handvoll grauen Staubs hervor, den er über dem Boden verstreute, während er dahinschritt, so, dass er eine geschwungene Linie von Osten nach Süden beschrieb. Bei Ritualen, die mit dem Leben zu tun hatten, benutzte man zu diesem Zweck gewöhnlich Maispollen, aber dieses Ritual galt den Toten, darum der graue Staub, bestehend aus der Asche jener, die an diesem Ort in die Geisterwelt geschickt worden waren.
„Gelobt seien die Geister des Feuers!“ Wolkenlied drehte sich zu dem kleinen Feuer herum und hob seinen Stab, um es zu ehren. „Glühender Funke und Flamme und Inferno, alle Formen, die ihr annehmt. Heute Nacht bitten wir Euch, diesem unserem Ritual beizuwohnen und Baine Bluthuf mit dem Mut seines geliebten Vaters, Cairne Bluthuf, zu wärmen.“
Einen Moment lang loderten die Flammen höher, und Baine spürte eine Hitze wie von einer ganzen Feuersbrunst. Nachdem es so auf sich aufmerksam gemacht hatte, sank das Feuer in sich zusammen und brannte wieder sanft und knisternd vor sich hin.
Jetzt richtete Wolkenlied den Blick gen Westen, wo er die Geister von „Regentropfen, Flüssen und Sturmflut“ anrief und sie bat, den Oberhäuptling in Erinnerungen an die Liebe seines Vaters zu baden. Kurz pochte Baines Herz voller Schmerz, und er dachte: Auch Tränen bestehen aus Wasser.
Die Geister der Erde wurden als Nächste willkommen geheißen – Staub und Stein und Berge, die Knochen der verehrten Gefallenen. Wolkenlied bat sie darum, dass Baine Trost aus diesem Land ziehen möge, in welches Cairne sie dereinst geführt hatte. Nun war der geheiligte Kreis aus grauer Asche geschlossen, und Bluthuf spürte, wie sich die Energien in seinem Inneren verschoben und ballten. Es erinnerte ihn an das Gefühl, das er hatte, wenn ein Sturm aufzog, nur dass es sich jetzt ungewöhnlich sanft anfühlte.
„Willkommen, Geist des Lebens“, rief Wolkenlied. „Du bist in der Luft unseres Atems, dem Feuer unseres Blutes, der Erde unserer Knochen und dem Wasser unserer Tränen. Wir wissen, dass der Tod lediglich der Schatten des Lebens ist, und dass das Ende der Dinge ebenso natürlich ist wie ihre Geburt. Wir bitten dich, diesem unserem Ritual beizuwohnen und laden einen, der in deinem Schatten weilt, ein, in dieser Nacht bei uns zu sein.“
Einen Moment lang standen sie schweigend in der Mitte des Kreises, ihr Atmen rhythmisch und gleichmäßig, dann nickte Wolkenlied und bedeutete Baine, sich zwischen die verwaisten Scheiterhaufen zu setzen, mit dem Gesicht in Richtung Donnerfels. Der Oberhäuptling kam der Aufforderung nach, wobei er weiter tief atmete und die rasenden Gedanken aus seinem Geist verbannte. Jetzt reichte der Schamane ihm einen irdenen Kelch, darin eine dunkle Flüssigkeit, in der sich das Sternenlicht spiegelte.
„Dies wird dir eine Vision zeigen, so die Erdenmutter es gestattet. Trink.“ Baine hob den Kelch an die Lippen und kostete das nicht unangenehme Aroma von Silberblatt, Wilddornrose, Erdwurzel und etwas anderem, das er nicht genau identifizieren konnte. Anschließend gab er Wolkenlied das Gefäß zurück. „Schlummere nicht, Baine Bluthuf, sondern betrachte dieses Land durch sanftere Augen“, wies der Schamane ihn an, und Baine gehorchte. Jegliche Anspannung schwand aus seinem Körper, und sein Blick trübte sich.
Das leise Pochen einer lederbespannten Trommel, die im Takt eines Taurenherzens geschlagen wurde, drang an seine Ohren. Er wusste nicht, wie lange er dasaß und Wolkenlieds Spiel lauschte, nur, dass er zutiefst entspannt war und tiefen Frieden in seinem Herzen spürte, während es im Gleichklang mit der Trommel klopfte.
Schließlich wurde er sich Stück für Stück einer Präsenz bewusst.
Cairne Bluthuf lächelte auf seinen Sohn herab.
Dies war jedoch ein Cairne, den Baine nie gekannt hatte – der mächtige Bulle auf dem Höhepunkt seiner Kraft, mit scharfen, stechenden Augen. In der Hand hielt er seinen Runenspeer, und die Waffe war wieder heil, ebenso wie ihr Besitzer. Die Muskeln an Cairnes breiter Brust wölbten sich, als er den Speer zum Gruß hob.
„Vater“, keuchte Baine.
„Mein Sohn“, sagte Cairne, die Augen liebevoll zusammengekniffen. „Es ist schwierig, zwischen deiner Welt und meiner zu schreiten, und ich habe nicht viel Zeit, aber ich wusste, dass ich kommen muss, denn dein Herz ist schwer.“
All der Schmerz, den Baine tief in seinem Inneren vergraben hatte, den er nicht ausdrücken konnte, den zu fühlen er sich nicht gestatten durfte, weil seine Pflichten den Tauren gegenüber darunter leiden würden – all dieser Schmerz brach nun hervor wie eine Springflut.
„Vater … Garrosh hat dich getötet! Er hat dir das Recht auf einen ehrenhaften Tod verwehrt! Als die Grimmtotem und ich kämpften wie … wie wilde Tiere in einer Grube, stand er tatenlos daneben und wartete ab, wer gewinnen würde. Er hat dieses Land geschändet, sein eigenes Volk belogen und Theramore …“
Tränen der Trauer und des Zorns rannen über seine Schnauze, und einen Moment lang konnte er nicht weitersprechen. Die Emotionen schnürten ihm die Kehle zu.
„Und jetzt wurdest du gebeten, ihn zu verteidigen“, sagte Cairne. „Obwohl du nichts lieber tätest, als seine Kehle unter deinen Hufen zu zermalmen.“
Baine nickte. „Ja. Du hast dich gegen ihn ausgesprochen, als die anderen noch nicht den Mut dazu hatten. Vater … hätte ich das auch tun sollen? Hätte ich ihn aufhalten können? Klebt all das Blut, das er vergossen hat, auch an meinen Händen?“
Er war selbst von dieser Frage überrascht, aber die Worte kamen wie aus eigenem Antrieb über seine Lippen. Cairne lächelte sanftmütig.
„Was geschehen ist, ist geschehen. Es ist vergangen, davongeweht wie Blüten im Wind. Garrosh hat seine Entscheidungen getroffen, und er allein muss die Verantwortung dafür tragen. Du bist wie immer deinem Herzen gefolgt, und wie immer hast du mich stolz gemacht.“
In diesem Moment wusste Baine, welche Antwort sein Vater ihm geben würde. „Du … denkst, ich sollte es tun“, wisperte er. „Ich sollte Garrosh Höllschrei verteidigen.“
„Was ich denke, ist unwichtig. Du musst fühlen, was für dich das Richtige ist. So, wie du es immer getan hast. Seinerzeit war es für mich das Richtige, Garrosh die Stirn zu bieten. Für dich war es zu einer anderen Zeit das Richtige, ihn als Anführer der Horde zu unterstützen.“
„Varian hätte Go’el nicht davon abhalten sollen, ihn zu töten“, knurrte Baine.
„Aber er hat es getan, und darum sind wir nun hier“, erwiderte der junge, alte Bulle gelassen. „Beantworte diese Frage, und du wirst wissen, was zu tun ist. Falls es dich grämt, dass ich durch eine List starb, kannst du dann nach etwas anderem streben als nach absoluter Wahrheit und Redlichkeit, auch – und vielleicht sogar vor allem – dann, wenn es dir schwerfällt? Willst du nicht dein Bestes geben, um diese Rolle zu erfüllen, die dir aufgetragen wurde? Lieber Sohn meines Blutes und meines Herzens, ich glaube, du kanntest die Antwort schon, bevor du hierher kamst.“
Es stimmte. Doch das Wissen darum quälte Baine.
„Ich werde diese Bürde auf mich nehmen“, murmelte er. „Und ich werde Garrosh verteidigen, so gut es mir möglich ist.“
„Würdest du das nicht tun, wärst du nicht du selbst. Wenn alles vorbei ist, wirst du froh über deine Entscheidung sein. Nein, nein“, sagte Cairne, die Hände erhoben, als Baine den Mund öffnete. „Ich kann dir nicht sagen, wie es endet. Aber ich versichere dir – dein Herz wird Frieden finden.“
Das Bild des Bullen begann zu verblassen, und Baine erkannte betroffen, dass er diese kostbare Gelegenheit damit verschwendet hatte, sich zu beschweren wie ein Jüngling, wo doch sein Vater … sein Vater …!
„Nein!“, schrie er, seine Stimme zitternd vor Emotionen. „Vater – bitte, geh noch nicht …“
Es gab so vieles, was er sagen wollte. Wie schrecklich er Cairne vermisste. Wie sehr er sich anstrengte, das Andenken an seinen Vater zu ehren. Dass diese wenigen Sekunden ihm mehr bedeutet hatten als alles andere. Verspätet streckte er die flehende Hand aus, aber sein Vater wandelte im Schatten des Lebens, nicht in seinem Licht, und Baines suchende Finger schlossen sich nur um leere Luft.
Cairnes Augen füllten sich mit Trauer, und auch er streckte den Arm aus, doch einen Atemzug später war er bereits verschwunden.
Wolkenlied fing Baine, als er stürzte.
„Hast du die Antworten gefunden, nach denen du suchtest, Oberhäuptling?“, wollte der Schamane wissen, als er ihm einen Kelch mit kühlem Wasser reichte. Baine nippte daran, und sein Kopf begann, sich zu klären.
„Die Antworten, die ich suchte? Nein. Ich habe die Antworten gefunden, die ich brauchte“, sagte er und lächelte seinen Freund betrübt an. Wolkenlied nickte verstehend. Die Geräuschkulisse der Nacht, das Lied der Grillen und das Seufzen des Windes wurden von einem vertrauten Summen unterbrochen, und bunte Farbwirbel nahmen vor ihnen Gestalt an.