Worlds Collide - Anabelle Stehl - E-Book

Worlds Collide E-Book

Anabelle Stehl

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wenn Welten aufeinanderprallen

Fiona hat es geschafft: Sie ist eine der erfolgreichsten Beauty-YouTuber:innen Englands, reist von Event zu Event und wird schon bald eine eigene Make-up-Linie herausbringen. Aber ihr Leben war nicht immer so glamourös. Aufgewachsen in einer finanziell schwachen Familie, nutzt sie jetzt ihre Reichweite, um anderen zu helfen. Ihr gutes Image gerät allerdings ins Wanken, als YouTuber Demian einen Skandal aufdeckt, in den Fiona unfreiwillig verwickelt ist. Auf einer Convention will sie ihren guten Ruf retten - doch dann sitzt bei dem Panel ausgerechnet Demian neben ihr ...

"WORLDS COLLIDE zu lesen, war so berührend, eindrucksvoll und mitreißend, wie die Sterne zu beobachten. Ich liebe es." AVA REED, SPIEGEL-Bestseller-Autorin

Auftaktband der WORLDS-Reihe rund um junge Influencer:innen in London von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Anabelle Stehl

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 699

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

Widmung

Playlist

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Anabelle Stehl bei LYX

Impressum

ANABELLE STEHL

Worlds Collide

Roman

Zu diesem Buch

Mit gerade einmal zwanzig Jahren hat Fiona Harris es geschafft. Sie ist eine der erfolgreichsten Beauty-Influencer:innen in Großbritannien mit Millionen von Follower:innen, reist von Event zu Event und bringt gerade ihre eigene Make-up-Linie heraus. Doch ihre Kindheit war deutlich weniger glamourös, denn Fiona stammt aus armen Verhältnissen und wuchs in einem Problembezirk Londons auf. Jetzt nutzt sie ihre Reichweite, um anderen zu helfen. Umso härter trifft es sie, als der bekannte YouTuber Demian O’Neill einen Skandal aufdeckt, in den Fiona unfreiwillig verwickelt ist: Bei einer Spendengala zugunsten benachteiligter Kinder, für die sie aus Zeitgründen nur ihren Namen hergegeben hat, sind die Einnahmen nicht bei den entsprechenden Organisationen angekommen. Im Gegenteil: Die anderen mitorganisierenden YouTuber:innen haben das Geld in die eigene Tasche gesteckt. Fiona ist entsetzt und will alles tun, um ihre Unschuld zu beweisen. Sie sieht ihre Chance auf der Video Con in London gekommen. Doch bei dem Panel, das ihren guten Ruf retten soll, sitzt ausgerechnet Demian neben ihr …

Liebe Leser:innen,

bitte beachtet, dass Worlds Collide Elemente enthält, die triggern können. Dies ist: emotional und finanziell missbräuchliche Beziehung zu Familienmitgliedern.

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Anabelle und euer LYX-Verlag

Für die Falkenfreunde: Babsi, Liza, Lucinda und Mikkel.

Danke für eure Zeit, Motivation und Freundschaft.

Playlist

Watermelon Sugar – Harry Styles

The Internet – Jon Bellion

If I Ruled The World – MILCK

Chandelier – Damien Rice

Bad Blood – Taylor Swift, Kendrick Lamar

Devil I Know – Allie X

False Confidence – Noah Kahan

Best of Me – Christina Aguilera

2021 Barbie Girl – Hannah Grae

Why – Sabrina Carpenter

Teeth – 5 Seconds of Summer

Heat Waves – Glass Animals

Clean – Hey Violet

Sirens – LORYN

Girl Crush – Harry Styles

The Chain – Fleetwood Mac

No Lines – LORYNFirst Day of My Life – Bright Eyes

Kiss – Prince

Older – Sasha Alex Sloan

Redemption – Dermot Kennedy

Neutron Star Collision – Muse

Only Us – Laura Dreyfuss, Ben Platt

1. KAPITEL

Fiona

Heute war der Tag, an dem ich endlich Stolz empfinden würde.

Kaum hatte ich die Augen aufgeschlagen, war der Gedanke da und verdrängte alle anderen. Ich drehte mich auf die Seite und griff nach meinem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es war gerade einmal sieben Uhr, ich war eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln wach geworden. Kein Wunder, denn mein Herz schlug wild vor Aufregung, und ich war diese Nacht bereits mehrmals aufgewacht. Ohne wie üblich meine Benachrichtigungen zu checken, legte ich das Handy mit dem Display nach unten wieder zur Seite und sah an die Decke, an die die gerade aufgehende Sonne helle Muster malte. Das Rauschen der vorbeifahrenden Autos vor meinem Fenster drang leise herein, und irgendwo in der Ferne waren die in London nie verklingenden Sirenen eines Krankenwagens oder Polizeiautos zu hören. Ich schloss die Augen und holte tief Luft, um mein viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen.

Heute war es so weit. Ich hatte geschafft, was ich mir erträumt hatte. Ich konnte stolz auf mich sein.

Ich ignorierte den Gedanken daran, dass ich mir diesen Satz nicht zum ersten Mal sagte. Bei meiner ersten bezahlten Kooperation, damals, als ich die 100 000 Abonnenten geknackt und YouTube mir meinen ersten Play-Button geschickt hatte, der nun die Wand im Wohnzimmer zierte, bei meinem ersten professionellen Fotoshooting für ein Magazin: Immer hatte ich dagesessen und in mich hineingehorcht. Hatte gehofft, dass sich das Gefühl von Stolz, Selbstliebe und was einem nicht immer gepredigt wurde, einstellte. Gefühlt hatte ich nichts. Natürlich war ich kurz glücklich gewesen, hatte mich gefreut – aber nie war die Freude so langanhaltend gewesen, dass sie nachhaltig etwas verändert hätte.

Doch heute war es so weit, da war ich mir sicher.

Viereinhalb Jahre hatte ich hierauf hingearbeitet, hatte Nächte durchgemacht, Rückschläge erlitten, doch nie aufgegeben. Und tatsächlich war da ein nervöses Kribbeln in mir, das sich nach Vorfreude anfühlte. Ganz von selbst stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht, so breit, dass ich fühlte, wie sich meine Wangen hoben. Ich schlug die Augen wieder auf, schnappte mir mein Handy, die Kleidung, die ich gestern schon bereitgelegt hatte, und ging ins Bad. Während Harry Styles’ Musik aus meinen Boxen in dem geräumigen Badezimmer drang, duschte ich, kleidete mich an und suchte mein Make-up zusammen. Jetzt konnte ich das breite Grinsen auch im Spiegel sehen, denn heute würde ich nicht nur irgendein Make-up benutzen.

Sanft strich ich über die mintgrüne Verpackung der Lidschatten-Palette und nahm den pfirsichfarbenen Lippenstift mit mattem Finish aus meiner Kollektion. Ja, meiner Kollektion. Denn sowohl auf der mintgrünen Palette als auch auf der schwarzen Verpackung des Lippenstifts stand in roségoldenen, geschwungenen Lettern »by Fiona« – in meiner Handschrift. Meine eigene Make-up-Linie. Meine erste eigene Make-up-Linie, wie meine Managerin Anita betont hatte, denn sie war sich sicher, dass weitere folgen würden, so gut wie die Vorbesteller-Zahlen bereits aussahen.

Mein Herz klopfte schon wieder aufgeregt, und die blauen Augen im Spiegel blickten mir funkelnd und so viel wacher, als ich es gewohnt war, entgegen. Das war immer mein Traum gewesen, schon seit ich mit vierzehn Jahren die erste Kollektion meiner liebsten YouTuberin gekauft hatte. Dass ich nun meine eigene in den Händen hielt, war unglaublich. Keine Ahnung, ob ich mich je daran gewöhnen könnte. Ich legte Primer, Foundation und mein übliches Tages-Make-up auf, bevor ich mich meinen Produkten widmete.

Wie immer wirkte das Ganze beinahe meditativ auf mich. Ich hatte schon früh begonnen, mit Make-up zu spielen – spielen war das richtige Wort, denn ich hatte gar keine Ahnung davon gehabt. Doch es war immer meine Ausflucht gewesen. Es war fast so, als hätte ich damals durch das Schminken eine Rüstung angelegt, um den Tag zu überstehen. Nicht jedoch weil ich Unreinheiten kaschieren konnte oder dergleichen. Vielmehr weil diese paar Minuten vor der Schule nur mir gehörten. Ich hatte mich auf nichts als auf mich, mein Gesicht und die Musik in meinen Ohren konzentriert, hatte alles ausblenden können. Die Flüche meiner Mum, die sie den Männern, die sie gerade datete, an den Kopf warf, das Trommeln an der Badezimmertür, wenn ich zu lang brauchte, das Bellen des Nachbarhundes, der viel zu wenig Auslauf bekam, der Lärm der Autos direkt vor der Tür – all das verschwand für einige Augenblicke. Auch heute noch wirkte es ähnlich beruhigend auf mich, auch wenn ich nicht länger bei meiner Mum wohnte und der Londoner Straßenlärm ein willkommenes Hintergrundrauschen geworden war.

Mich zu schminken war mein Ventil. Während andere eine Leinwand bemalten, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und ihre Gedanken zu sortieren, trug ich meine direkt auf dem Gesicht. Mit der Zeit hatte ich es so sogar lieben gelernt. Die Sommersprossen, die ich früher nicht mochte, überschminkte ich nicht länger, und die Nase, die nicht ganz gerade war und die ich als Teenager unbedingt hatte richten lassen wollen, gehörte mittlerweile unabdingbar zu mir.

Dass ich nun meine eigenen Produkte auftragen, anderen vielleicht das gleiche Gefühl vermitteln und ihnen einen Funken Selbstbewusstsein mitgeben konnte, war unbeschreiblich. Zwar hatte ich die Linie bereits mehrmals benutzt, jedoch immer nur zum Testen, bevor sie in die Produktion ging. Ich hatte mich in den gesamten Prozess einbeziehen lassen und auch meine Follower und Followerinnen auf Social Media mitgenommen. Mein Management hatte mir zuerst davon abraten wollen, da ich ohnehin zu viel zu tun hatte. Doch nachdem ich meiner Managerin beteuert hatte, wie viel mir daran lag, hatte sie sich für mich eingesetzt. Ich hatte nicht einfach meinen Namen auf eine fertige Linie schreiben, ich hatte dabei sein wollen. Von Anfang an. Das erste positive Feedback meiner Abonnenten und Abonnentinnen, die ich bei Farbwahl und Zusammensetzung der Paletten hatte abstimmen lassen, hatte dann auch mein Management überzeugt. Klar, denn Engagement und Reichweite bedeuteten wieder Geld. Letzten Endes war es mir aber egal, denn ich hatte bekommen, was ich wollte: Ich hatte mich einbringen und mitentscheiden dürfen, und so fühlte sich das, was ich gerade in den Händen hielt, wirklich nach meinem Erfolg an.

Nachdem ich noch etwas Puder auf mein Gesicht aufgetragen hatte, drehte ich meine weißblonden Haare mit dem Glätteisen zu sanften Wellen, steckte die Hälfte hoch und schickte ein Selfie an meine beste Freundin Kaycee. Ich betrachtete das Foto eine Weile und musste wieder lächeln, während sich ein aufgeregtes Flattern in meiner Magengrube bemerkbar machte. Weil das Grinsen auf dem Foto echt aussah. Weil ich glücklich aussah. Ich blickte auf in mein Spiegelbild. Ich war glücklich. Nicht nur ein bisschen, sondern so richtig. Obwohl das Licht auf dem Foto nicht optimal war und ich es unter normalen Umständen nicht gepostet hätte, beschloss ich, das Bild genau so in die Story zu laden.

»Ich freu mich auf euch! «, schrieb ich dazu und postete es. Nach nur wenigen Sekunden trafen die ersten Nachrichten und Reactions ein, doch ich kam gar nicht dazu, sie zu öffnen, da Kaycee mich im nächsten Moment anrief.

»Hey«, nahm ich den Anruf an.

»Du siehst so gut aus! Aber wieso bist du schon wach? Ich bin grad erst aufgestanden und brauch noch mindestens ’ne halbe Stunde, bis ich loskann.« Im Hintergrund war ein Reißverschluss zu hören.

»Ziehst du dich grad beim Telefonieren an?«, fragte ich mit einem Lachen.

»Ja, ich will dich nicht warten lassen.«

»Keine Eile, wirklich! Ich war nur viel zu aufgedreht und schon zu früh wach.«

»Kein Wunder, sogar ich bin aufgeregt«, erwiderte Kaycee, was mich schon wieder zum Lächeln brachte. Kaycee war meine beste Freundin seit Kindertagen. Wir waren in derselben Straße aufgewachsen und kannten uns schon, seit wir die ersten Worte wechseln konnten. Sie war der Mensch, dem ich am meisten vertraute, und auch diejenige, die mich in allem völlig neidfrei und zu einhundert Prozent unterstützte. Dass sie heute dabei war, war also ein Muss!

»Okay, ich beeil mich. Soll ich zu dir oder treffen wir uns an unserem Platz im Park?«

»Park, ich glaub nicht, dass ich es aushalte, hier jetzt stillzusitzen.«

»Dachte ich mir. Okay, bis gleich! Hab dich lieb, ich bin so stolz auf dich!«

»Danke«, sagte ich und schluckte gegen den Kloß an, der sich plötzlich in meinem Hals gebildet hatte. Kaycee verabschiedete sich und legte auf. Ich ließ meine Hand mit dem Smartphone sinken und betrachtete mich ein letztes Mal im Spiegel.

Heute war mein Tag.

»Hier drüben!«, rief ich, als mein Blick auf Kaycee fiel, die mit der Hand die Sonnenstrahlen abschirmte und sich suchend umsah. Sie winkte zurück und kam auf mich zu.

Der Hyde Park war von meiner Wohnung aus in nur wenigen Minuten zu Fuß zu erreichen, und ich war ständig hier. Ich liebte die Ruhe inmitten der lebendigen Stadt, die Eichhörnchen, die auf Futter der Touristengruppen hofften, und die Musizierenden, die ihr Können häufig zur Schau stellten. Wie üblich hatte ich an einem der Brunnen der Italian Gardens gewartet, was vielleicht nicht die klügste Entscheidung war, so viel Trubel, wie hier immer herrschte. Gerade sonntags waren besonders viele Gruppen unterwegs, aber ich liebte den Platz zu sehr, um ihn aufzugeben, nur weil ich erkannt werden könnte.

»Hallo!« Kaycee umarmte mich mit so viel Elan, dass ich einen Schritt nach hinten taumelte.

Lachend erwiderte ich die Umarmung, bevor meine beste Freundin mich eine Armlänge von sich hielt und ihren Blick über mich wandern ließ. »Du siehst großartig aus!«

»Nicht wenn du mich ins Wasser schubst«, gab ich mit einem Blick hinter mich auf den flachen Brunnen zurück, woraufhin sie von mir abließ. »Aber danke! Ich wollte etwas Neutrales, damit sich nichts auf den Fotos beißt.«

Kaycee grinste. »Du hast wie immer an alles gedacht.«

Sie hatte sich, im Gegensatz zu mir, für Farbe entschieden – ihre Haare waren frisch gefärbt und hellrosa, und sie trug ein pastellblaues Kleid. Es kam nur selten vor, dass man Kaycee in etwas anderem als Schwarz sah.

»Wir haben ganz schön Glück mit dem Wetter.«

»Yep, heute ist alles perfekt!«, erwiderte ich. Kaycee hatte recht. Für März war es außergewöhnlich warm, und weit und breit waren keine Wolken zu sehen, als hätte sich London extra für mich zusammengerissen.

Kaycees Grinsen verwandelte sich in ein sanftes Lächeln, als sie mich betrachtete. »Ich freu mich wirklich unglaublich für dich. Was für eine Woche ist das bitte? Erst die zwei Millionen Abos und dann der heutige Launch.«

Ich erwiderte ihr Lächeln, woraufhin Kaycee kurz meine Hand drückte. Sie war die einzige Person in meinem Leben, die meine Gedanken ungefiltert kannte. Bei ihr musste ich mich nie zurückhalten. Nie die Angst haben, undankbar zu wirken, weil ich etwas nicht so fühlte, wie ich es – nach Meinung der Gesellschaft – tun sollte. Sie nahm mich, wie ich war, und vermittelte mir manchmal sogar das Gefühl, dass das Ich, das sie zu sehen bekam, eigentlich ganz okay war.

»So und jetzt genug Schnulz, gib dein Handy her, wir machen Fotos.«

»Müssen wir nicht, ich hab die Woche schon vorgeplant.«

»Fiona, das ist dein Tag! Ein Meilenstein in der Geschichte der Fiona Harris. Also rück dein überteuertes iPhone raus, und wirf dich in Pose.«

Kaycee zog eine dunkel geschminkte Augenbraue nach oben, und ich reichte ihr schmunzelnd das Smartphone. Mittlerweile hatte sie Übung darin, Licht und Hintergrund perfekt einzufangen, wusste genau, welche Seiten ich an mir mochte, welche weniger und welchen Winkel sie nutzen musste, damit ich mit dem Endresultat zufrieden war. So auch jetzt.

»Danke dir!«, sagte ich, während ich die Fotos sichtete. »Du bist und bleibst der beste Instagram Husband.«

»Ich weiß.«

Ich ließ das Handy in meine Handtasche wandern. Irgendwann, als ich die Eine-Million-Marke geknackt hatte, hatte ich aufgehört, Fotos direkt auf Instagram zu posten. Zu häufig war es vorgekommen, dass meine Followerinnen das Café aufgesucht hatten, in dem ich gerade mit Kaycee gesessen hatte, oder vor dem Gebäude meines Managements campiert hatten, wenn ich von dort aus eine Story hochgeladen hatte.

Ich liebte es, die Menschen zu treffen, denen ich all das zu verdanken hatte, aber es machte auch vieles komplizierter. Es gab keinen Tag, an dem ich mir nicht die Zeit für ein Foto nahm, wenn jemand mich erkannte, aber mein Alltag war mittlerweile ziemlich vollgestopft, und durch den Londoner Verkehr war es so schon schwer genug, pünktlich zu Terminen zu kommen. Ein paarmal war ich auch ohne mein Wissen fotografiert worden, und es war ein seltsames Gefühl, wenn Fotos im Internet landeten, von deren Existenz man nicht wusste. Zumal die Fotos nur selten vorteilhaft waren. Also würden Kaycees Schnappschüsse erst später oder morgen auf Instagram landen.

Ich sog noch einmal tief die Frühlingsluft ein und merkte, wie sich schon wieder ein Lächeln auf mein Gesicht schlich. »Kaffee?«, fragte ich mit Blick zu dem Kaffeewagen hinter uns, der am Eingang des Parks stand.

Kaycee musterte mich eingehend. »Sicher, dass Kaffee eine gute Idee ist, so wie du jetzt schon rumspringst?«

»Ach, einer geht schon, ich hatte nach dem Aufstehen extra keinen.«

»Na, dann los. Da kannst du mich direkt für meine Fotografentätigkeit bezahlen.«

»Wird gemacht«, erwiderte ich und hakte mich bei meiner besten Freundin ein. »Und ich kann meine Rede noch mal durchgehen.«

»Noch mal? Die kann sogar ich mittlerweile auswendig.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich will einfach nicht, dass heute etwas schiefgeht.«

»Wird es nicht«, versicherte Kaycee mir. »Außerdem wird wohl keiner schreiend aus dem Laden rennen, nur weil du dich an einer Stelle verhaspelt hast.«

Sie knuffte mich in die Seite, und ich rollte mit den Augen. Natürlich hatte sie recht, und ich wusste, dass ich so gut vorbereitet war, wie ich sein konnte. Dass mich nichts Böses erwartete und all die Leute schließlich meinetwegen da waren, um mich zu unterstützen. Trotzdem fühlte es sich manchmal an, als hätte ich mir mit all dem kein sicheres Fundament erbaut, sondern ein stetig wankendes Kartenhaus, das ich höher türmte, als ich es mir in meiner Position – ohne guten Abschluss und mit gerade einmal zwanzig Jahren – erlauben sollte. Trotz des positiven Zuspruchs waren die negativen Stimmen in meinem Kopf manchmal lauter, und wenn sie zu laut wurden, blieb in mir nichts übrig als das Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein. Mir dieses »Imperium«, wie meine Managerin Anita es häufig betitelte, nur mit Schall und Rauch errichtet zu haben. Ein kleiner Teil von mir wartete angespannt darauf, dass dieser Rauch mir die Karten um die Ohren wehte und alles einstürzte.

Deshalb war dieser Tag so wichtig. Heute würden sich die Jahre harter Arbeit bezahlt machen. Ich hatte das verdient. Alles davon. Der heutige Tag war der Beweis.

»Oh mein Gott«, stieß ich aus, kaum dass das Taxi uns am Ende der Regent Street rausgeworfen und uns somit freien Blick auf den Piccadilly Circus und die Filiale gegeben hatte, in der in wenigen Stunden das Event starten würde. Ich war mir nicht sicher, ob Kaycee es über den Straßenlärm hörte oder einfach stehen blieb, weil sie in dem Moment sah, was ich sah.

Der Piccadilly Circus war überfüllt wie immer: Reisegruppen, Pendelnde, rote Doppeldeckerbusse, Taxis, Autos, Straßenstände und Leute, die einfach nur von A nach B wollten – und eine ewig lange Schlange, die sich vor Boots versammelt hatte.

»Die stehen jetzt schon an? Es startet doch erst um drei Uhr«, sagte ich und sah auf mein Handy, um die Uhrzeit zu checken, obwohl ich genau wusste, dass ich überpünktlich war. Drei Stunden vor Beginn des Events sollte ich da sein, und ich war sogar noch zwanzig Minuten zu früh, nur um auf Nummer sicher zu gehen.

»Was hast du erwartet? Vermutlich kamen die Ersten heute Morgen schon.«

»Aber warum? Wir haben doch Karten verlost, der Rest kann sowieso erst später rein.«

»Einhundert Karten«, meinte Kaycee und zeigte auf die Schlange. »Ich glaube nicht, dass das da die Leute mit Tickets sind. Die sehen eher so aus, als hofften sie, dass sie dich vor dem Event irgendwie zu Gesicht bekommen.«

Ich schluckte. Ich liebte es, meine Fans zu treffen, doch für gewöhnlich tat ich das auf Conventions und Messen. Sie jetzt hier mitten in London zu sehen, an einem Ort, den ich beim Shoppen passierte, war ungewohnt. Sie standen alle für mich an. Für mich. Das Mädchen aus Croydon. Das Mädchen, das all die Jahre lang belächelt worden war, weil es sich zu viel schminkte, weil es Videos ins Internet stellte, gedreht in seinem kleinen Kinderzimmer mit der altbackenen Tapete. Dieses Mädchen war noch in mir drin und konnte selbst jetzt, Jahre später mit zwei Millionen Abonnenten und Abonnentinnen auf YouTube, nicht glauben, dass Leute anstanden, um es zu sehen.

Mein Blick wanderte nach oben, ich sog die Luft ein und griff nach Kaycees Hand.

Oh. Mein. Gott.

Adrenalin schoss durch meinen ganzen Körper, eine Gänsehaut legte sich auf meine Arme und brachte die feinen Härchen dort zum Stehen, und mein Herz pochte so heftig in meinem Brustkorb, dass es beinahe wehtat.

»Au«, machte Kaycee, als ich ihre Hand noch fester drückte. »Was ist?«

Als ich nicht antwortete, folgte ihr Blick meinem, der nach wie vor starr geradeaus gerichtet war. Plötzlich erwiderte sie den Druck meiner Finger und gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem Quietschen klang und somit so gar nicht nach Kaycee.

»Oh mein Gott, das bist du!«

Ja, das war ich. Riesengroß.

Auf einer der Anzeigetafeln direkt über Boots, neben Werbung für Guess, Coca Cola und irgendeine britische Bank. Auf einer der Tafeln, deren Werbefläche Unsummen kosten musste, war mein Gesicht.

»Simply Beautiful by Fiona« stand dort in filigraner Handschrift neben meinem lächelnden Gesicht aus dem Fotoshooting, das ich vor wenigen Monaten mit Boots gehabt hatte.

»Schnell«, sagte Kaycee, zückte ihr Handy und schob mich in Position. Perplex folgte ich ihren Anweisungen, und im nächsten Moment hatte sie auch schon auf den Auslöser gedrückt. Dann noch einmal und beim letzten Foto hatte ich es endlich geschafft, mich aus meiner Starre zu lösen und wie ein normaler Mensch zu schauen.

Lachend betrachtete sie die Fotos. »Du siehst aus, als hätte man dir den letzten Carrot Cake geklaut.«

»Wie würdest du denn gucken?«, fragte ich mit Blick auf das Bild. Als ich wieder zu den Anzeigetafeln sah, war mein Gesicht von einer Disney-Werbung ersetzt worden. »Das ist …« Ich schüttelte den Kopf, weil ich keine Worte hatte, um zu beschreiben, wie unglaublich das gerade war.

»Was fühlst du?«

Ich stieß ein Lachen aus und hob die Schultern. »Keine Ahnung, es ist vollkommen verrückt. Aufregung, Freude, aber vor allem Angst, dass jetzt alle erwarten, dass ich so porenlos aussehe wie da oben.«

Ich schob mir eine Haarsträhne zur Seite und hielt Kaycee meine Wange entgegen. »Natürlich hat meine Haut genau heute nämlich Zicken gemacht, guck. Super Timing.«

»Ich denke nicht, dass da irgendjemand drauf achtet, die sind alle genauso aufgeregt wie du. Außerdem zeigst du dich oft genug ungeschminkt, niemand erwartet, dass du perfekt bist.«

»Ich hoffe es.« Kopfschüttelnd sah ich dabei zu, wie die Disney-Werbung einer Anzeige für Handtaschen wich, bevor wieder ich dort erschien. In der Schlange darunter fotografierten einige Mädchen das Bild und tippten danach auf ihrem Handy herum, vermutlich, um das Foto online zu stellen.

»Ich glaube, das ist der aufregendste Tag meines Lebens. Und ich glaub nicht, dass ich das jemals realisieren werde.«

»Du hast dir all das verdient.«

Mit erhobenen Brauen sah ich sie an. Sie kannte meine Gedanken dazu, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie den Satz genau deshalb gesagt hatte. »Das hier? Den Launch? Die Leute? Ich weiß nicht, das war einfach Glück.«

Kaycee boxte mich so fest gegen den Oberarm, dass ich aufjaulte. »Aua. Was soll das denn?«

»Ich hab dir schon mal gesagt, dass du damit rechnen musst, wenn du so was von dir gibst. Hör auf, deine harte Arbeit als Glück abzutun. Du hast dir jahrelang den Arsch dafür aufgerissen, hast nach der Schule bis in die Nacht rein Videos geschnitten, dir die Sprüche unserer Klassenkameraden angehört und immer weitergemacht. Hast dich in Steuerkram eingelesen, den ich bis heute nicht verstehe … Das hat nichts mit Glück zu tun. Du hast es rausgeschafft, Fiona. Trotz all der Scheiße, die daheim los war.« Sie lächelte mich schief an. »Also hör bitte auf, dich selbst kleinzureden und es auf Glück zu schieben. Sei verdammt noch mal stolz auf das, was du erreicht hast. Auch wenn oder gerade weil andere dir einreden, dass du es nicht sein kannst.«

Ihr letzter Kommentar brachte mich mehr zum Schlucken als die Worte davor, weil ich nicht wusste, ob es eine Spitze gegen all die Kritiker und die Nachrichten war, die mich als dummes Blondchen, das mit Make-up spielte, abtaten – oder gegen meine Mutter. Ich verdrängte jeden Gedanken an sie und daran, dass sie sich an meinem großen Tag noch nicht gemeldet hatte. Es sollte mir egal sein. Ich sollte daran gewöhnt sein. In Wahrheit jedoch war das die eine Sache, die diesem perfekten Tag einen Dämpfer versetzte.

Kaycee sah mich noch einmal eindringlich an, dann tippte sie auf ihrem Display herum, und kurz darauf gingen die Fotos bei mir ein, die sie von mir geschossen hatte. Sie strich sich die rosafarbenen Haare nach hinten und straffte die Schultern.

»Oh Gott, sogar ich bin nervös. Bist du bereit?«

»Ja, einen Moment noch«, sagte ich und betrachtete das Foto mit klopfendem Herzen. Ich hatte warten wollen, bis sie sich von sich aus meldete. Hatte sehen wollen, ob sie selbst an meinen großen Tag dachte. Ein Teil von mir sagte mir, dass ich genau das auch machen sollte: mein Handy wegpacken und sehen, ob sie auch ohne Erinnerung daran dachte, was dieser Tag für mich bedeutete. Dass sie keinen Stupser benötigen sollte, um an mich zu denken.

Doch es hatte nur diese eine Bemerkung von Kaycee gebraucht, dass der andere Teil in mir, der schwache, der immer wieder zum Vorschein kam, sich zu Wort meldete. Und wie so oft nahm er das Ruder in die Hand. Ich klickte auf den Chat mit meiner Mutter und schickte ihr das Foto – das lächelnde, nicht das mit meinem erschrockenen Gesichtsausdruck – ohne Kommentar.

Ich sperrte das Handy, bevor Kaycee nachfragen konnte, was ich da tat, denn ich wusste genau, mit welchem Blick sie mich dann betrachtet hätte.

»Okay, startklar«, sagte ich.

»Wie mogeln wir uns an der Schlange vorbei? Wenn du jetzt mit deiner Autogramm-Session startest, kommen wir definitiv zu spät.«

Ich ließ den Blick über die Menschenmasse wandern, die uns an unserer Position an der Treppe zur Tube zum Glück noch nicht entdeckt hatte.

»Da«, sagte ich und deutete nach links auf eine Frau mit braunen, schulterlangen Locken. »Da steht Anita.« Diese blickte ebenso suchend über den Platz wie ich zuvor, und ich verkniff mir ein Winken, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

»Zum Glück hast du eine Managerin, die genauso überpünktlich ist wie du.«

»Sie kennt mich einfach nur gut«, gab ich zurück, griff nach Kaycees Hand und schlängelte mich mit ihr durch die Massen, die uns vor den anstehenden Fans versteckten.

Während sie meine Hand drückte, vibrierte das Handy in meiner anderen. Ich warf einen Blick darauf und merkte im nächsten Moment, wie sich mein Herz beinahe schmerzhaft zusammenzog – nicht weil etwas Schlimmes passiert war, sondern ganz im Gegenteil. Das, was ich da las, war so unerwartet und so … Ich sog die Luft ein und ließ meinen Blick über die Worte wandern. Über jeden einzelnen der kleinen schwarzen Buchstaben. Glitt sie entlang und hoffte, dass sie sich in meine Netzhaut einbrannten und mich nie wieder verließen.

Mum, 11.45 am:

Wow! Stolz auf dich. xx

Da war es, das Gefühl, auf das ich so lang gewartet hatte: Stolz. Ich fühlte ihn, als flösse er durch die Adern unter meiner Haut, als erfüllte er meinen gesamten Körper. Meine Mum war stolz auf mich. Ich presste das Handy an die Brust, genau über meinem Herzen, als könnte ich sie so spüren. Ich war stolz.

Ich hatte es geschafft, Kaycee hatte recht: Ich hatte das hier verdient. Heute war mein Tag, der Beginn von etwas Neuem.

2. KAPITEL

Fiona

»Vielen Dank, dass ihr alle hier seid, um mit uns gemeinsam diesen besonderen Tag zu feiern. Ihr habt die einmalige Chance, vor allen anderen Fionas Produkte zu testen, euch Fotos und Autogramme zu holen, und natürlich erwartet euch alle auch eine Goodie Bag, die ihr hier vorn abholen könnt. Darin sind nicht nur die Produkte der Simply-Beautiful-Reihe, sondern auch ein paar kleine Extras, die euer Fan-Herz höherschlagen lassen, als Dankeschön für all eure Unterstützung. Danke auch an alle, die beim Livestream dabei sind, die Produkte vorbestellt haben und die Linie und Fiona so unterstützen.« Anita sandte ein warmes Lächeln durch die Menge. Sie wusste, wie sie Leute zum Zuhören brachte, und schaffte es immer, jedem ein gutes Gefühl zu geben. So auch mir, als sie mich damals, zu Beginn meiner Karriere, kontaktiert hatte. Wir hatten uns kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag getroffen, als ich ziemlich blauäugig in die Business-Seite der YouTube-Welt gestartet war, und es hatte sich als absoluter Glücksgriff herausgestellt, Anita und das Management in meinem Rücken zu wissen. Nicht nur, dass ich die Flut an E-Mails und Terminen heute nicht ohne das Team hätte bewältigen können, sie hatten mich mit Sicherheit vor etlichen rechtlichen Fauxpas bewahrt. Anitas Blick flog kurz zu mir, da ich nach wie vor bei Kaycee und zwei Boots-Mitarbeiterinnen in der kleinen Kabine am Rand stand – abgeschirmt von den Blicken der anderen und mit so heftig klopfendem Herzen, dass man es mit Sicherheit durch mein Top sehen konnte. Es würde mich kaum wundern, wenn es mir in dem Moment, in dem ich gleich die kleine Bühne betrat, aus der Brust springen und für alle sichtbar auf dem Boden landen würde.

Ich konnte das hier. Ich war nicht mehr das unsichere Mädchen aus dem bruchreifen Haus in West Croydon. Ich war Fiona Harris, hatte mir einen Namen gemacht, und all diese Leute waren meinetwegen hier: weil sie mich sehen wollten. Ich musste mich nicht hinter Filtern und einer Scheinwelt verstecken, das hatten mir meine Fans bereits mehrmals bewiesen. Genau wie Kaycee gaben sie mir immer wieder das Gefühl, okay zu sein. Als Kaycees Hand sanft meinen Rücken berührte, zuckte ich zusammen und konzentrierte mich wieder auf Anita.

»Aber jetzt genug der Worte, ihr könnt es bestimmt kaum erwarten, dass ich mit dem Reden aufhöre und das Pult dem eigentlichen Star überlasse: Fiona.«

Mein zischendes Ein- und Ausatmen ging im Klatschen und Gekreische der Menge unter. Wie konnten hundert Menschen so einen Lärm veranstalten? Anita schenkte mir ein beruhigendes Lächeln, als ich auf sie zuging und sie am Rednerpult ablöste. Das Geschrei wurde noch lauter, da nun auch die Fans draußen, die mich durch die verglaste Front der Filiale sahen, zu rufen begannen. Ich stellte mich an das schmale Pult und richtete das Mikrofon etwas weiter nach oben, da Anita ein ganzes Stück kleiner war als ich.

»Hey«, begann ich, und wie es so oft bei Conventions der Fall war, wurde es mucksmäuschenstill, als wollte niemand auch nur ein einziges Wort dessen verpassen, was ich zu sagen hatte. Ein seltsames Gefühl für jemanden, der es in der Schule nicht einmal geschafft hatte, sich im Unterricht zu melden.

»Ich freu mich riesig, dass ihr alle da seid und mit mir feiern wollt. Das hier ist einer meiner größten Träume. Wenn ich das sage, werde ich oft belächelt, schließlich handelt es sich nur um Make-up. Ich habe keine Krankheit geheilt und keinen Nobelpreis gewonnen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich beides auch nie tun werde. Für viele bin ich einfach nur das Mädchen, das sich schminkt und davon Videos ins Internet stellt. Anfangs war ich auch nur das, glaube ich. Für euch, für mich und für alle da draußen. Ich war ziemlich verschlossen und hatte – wie ihr sicher bereits wisst – mit einigen Dingen zu kämpfen. Die Schule war nicht leicht für mich, ich bin nicht gerade in reichen Verhältnissen aufgewachsen, und es fiel mir schwer, Freundinnen zu finden. Make-up war und ist meine Art, mich auszudrücken. Es war meine Ausflucht aus dem Alltag, meine Ablenkung, wenn alles andere schieflief. Und dann wart da plötzlich ihr, und ich war nicht mehr allein.«

Ich sah in die zahlreichen Gesichter, die zu mir aufblickten. Jungs, Mädchen, einige jünger, andere älter als ich. So unterschiedlich, und doch verbanden uns Hoffnungen und Träume. Als ich merkte, dass sich ein Kloß in meinem Hals formte, schluckte ich schnell dagegen an. Mir war klar gewesen, dass mich der heutige Tag emotional aufwühlen würde. Weil ich mir selbst so sehr gewünscht hätte, dass jemand all das zu mir gesagt hätte. Damals, als mein Vater die Familie verlassen hatte und ich viel zu jung gewesen war, um zu verstehen, dass er für immer weg war. Als meine Mutter mir ein paar Jahre später offenbart hatte, dass er meinetwegen gegangen war. Als die Kinder in meiner Klasse mich seltsam fanden, weil ich so still war. Damals hatte ich nicht geahnt, dass es einmal so viele Menschen geben würde, die mich trotzdem in Ordnung fanden. Doch ich wollte nicht weinen, solange ich hier oben stand – ich wollte das, was ich zu sagen hatte, mit klarer Stimme ausdrücken. Und ich hoffte so sehr, dass es sich bei allen einbrannte und sie sich an diese Worte erinnern konnten. Ich glaubte jedes davon.

»Was ich mit all dem sagen will: Ihr seid wichtig, jeder Einzelne von euch, denn ihr könnt etwas bewegen. Egal wie klein euch das, was ihr liebt und gern tut, auch erscheinen mag. Lasst euch von niemandem das Gegenteil einreden. Ihr braucht keine perfekte Haut, keinen großartigen Körper, keine Überflieger-Noten und kein herausragendes Talent, um liebenswert und erfolgreich zu sein. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass ich in all diesen Dingen komplett durchschnittlich bin. In manchen Dingen sogar unterdurchschnittlich. Aber darauf kommt es nicht an – klar, all das ist toll und bringt euch vielleicht Vorteile. Aber was wirklich zählt, sind Leidenschaft und Durchhaltevermögen. Glaubt an eure Träume und lasst nicht locker, bis ihr sie in die Tat umgesetzt habt. Lasst euch nicht verunsichern, achtet darauf, wessen Rat und Meinungen euch wichtig sind, und hört auf diese Menschen, anstatt auf die Stimmen, die euch sagen, dass etwas nicht geht, nur weil es unwahrscheinlich ist oder in den Augen der anderen als nicht wertvoll gilt.

Denn wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe, dann das: Egal, wer ihr seid und was ihr tut, jemand lernt von euch und sieht zu euch auf. Dafür braucht ihr keinen YouTube-Kanal. Es braucht gar nicht so viel, wie ich immer dachte, damit Menschen euch, auf welche Art auch immer, in ihr Leben lassen. Warum ich das weiß? Weil ihr mich in eures gelassen habt, als ich euch nichts zu bieten hatte außer mir und meiner Zeit. Trotzdem habt ihr mir so viel gegeben. Ich erhalte oft Nachrichten, dass ich euer Leben verändert habe, und ich glaube, ihr wisst gar nicht, wie sehr ihr meines verändert und bereichert habt.«

Ich räusperte mich und lächelte in die Runde. Eine junge Frau in der zweiten Reihe wischte sich mit dem Finger am Auge entlang, und alle erwiderten mein Lächeln.

»Diese Make-up-Linie, die wir heute ausprobieren können, ist eines von vielen Dingen, die wir gemeinsam erreicht haben. Ich danke euch von ganzem Herzen dafür. So, und jetzt habe ich lang genug hier gestanden. Wir machen lieber mal ein paar Fotos und schauen uns die Produkte an, oder? Außerdem habe ich eben Cupcakes gesehen, und ich bin so nervös, ich könnte gerade echt eine Ladung Zucker vertragen.«

Unter Lachen und Klatschen trat ich einen Schritt zurück und atmete so tief aus, dass meine Schultern erleichtert nach unten sanken. Mein Blick wanderte von Anitas anerkennendem Nicken über Kaycees angedeutetes High Five bis hin zu all den Gesichtern, die mich nach wie vor anstrahlten. Mein Herz pumpte Adrenalin durch meine Adern, und das Flattern in meinem Bauch, das ich seit dem Aufstehen mehrmals gespürt hatte, war wieder da und schoss durch meinen ganzen Körper. Ich war zufrieden und – erfüllt. Mir fiel kein besseres Wort ein, um zu beschreiben, was ich gerade fühlte, aber es war definitiv etwas, an das ich mich gewöhnen konnte.

Mit einem Lächeln löste ich mich aus der Umarmung und posierte für ein weiteres Foto. Die Hände des Mädchens, das gerade das Handy seiner Freundin hielt, zitterten, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, damit alle sich erst einmal entspannen und runterfahren konnten. Doch leider war nie genug Zeit.

»Ist es was geworden?«, fragte ich das brünette Mädchen vor mir. »Sonst können wir noch eines machen.«

Sie schaute kurz auf das Display und strahlte mich dann an. »Nein, das ist super. Ich guck dich schon seit vier Jahren, also fast von Anfang an, und ich liebe jedes deiner Videos. Wir haben uns sogar dadurch kennengelernt.«

Das Mädchen mit den rotblonden Haaren, das bis eben noch das Handy gehalten hatte, trat einen Schritt nach vorn. »Ja, in der Schlange der Video Convention letztes Jahr. Bist du auch wieder dabei?«

Ich nickte. Die Video Con fand jedes Jahr in London statt und war ein Muss für die britische YouTube-Szene. Das Ganze war in nur zwei Wochen, und neben Signierstunden und Panels würde ich dieses Mal in Zusammenarbeit mit Boots meine Fans schminken. Die Aktion würde jedoch erst am Montag beim offiziellen Launch der Linie bekanntgegeben werden. »Ich bin auf jeden Fall da. Vielleicht sehen wir uns ja sogar wieder.«

»Das wäre toll! Können wir vielleicht noch ein Foto zu dritt machen?«

»Na klar! Kaycee?« Ich drehte mich zu meiner besten Freundin um, die im Gegensatz zu mir bereits einen Cupcake in der Hand hielt. Hoffentlich war nachher noch einer für mich da. Sie stellte ihren auf der hellen Theke neben der Kasse ab und kam dann zu uns.

»Schon am Start.« Sie nahm das Smartphone des Mädchens entgegen und dirigierte uns so, dass wir von den aufgebauten Lampen gut ausgeleuchtet wurden. Ein paar Schnappschüsse später gab sie das Handy wieder ab.

»Die sind super!«

»Kaycee macht die meisten meiner Instagram-Fotos, sie hat Übung darin«, erwiderte ich grinsend.

»Ich kenn dich schon aus ihren Insta-Storys.«

»Ja, manchmal weiche ich nicht schnell genug aus«, meinte Kaycee ebenfalls grinsend.

»Magst du Instagram nicht so?«, fragte das brünette Mädchen mit schiefgelegtem Kopf, als grenzte das heutzutage an ein Wunder. Vielleicht war das auch so.

»Doch schon, aber ich poste keine Fotos von mir, sondern nur von Torten und Kuchen und so was. Ich backe.«

»Was mich daran erinnert: Kannst du mir einen Cupcake für später retten?«

»Ich bin dir schon Schritte voraus: Hab uns beiden ein ganzes Tablett für heute Abend geklaut.« Sie sah zu den beiden Mädchen. »Sagt das bloß nicht weiter.«

Die beiden kicherten, umarmten mich noch einmal zum Abschied und gingen dann zu den beiden Mitarbeiterinnen des Ladens, die die Goodie Bags verteilten.

»Anstrengender Tag?« Kaycee musterte mich besorgt. »Magst du was trinken?«

»Guter Tag«, erwiderte ich. »Mach dir keine Sorgen. Anita wacht auch schon mit Argusaugen über mich, zwingt mich zum Trinken und reicht mir alle fünf Umarmungen Desinfektionsmittel. Ich glaub, ihre größte Angst ist, dass ich mir passend zur Convention in zwei Wochen was einfange.«

Schmunzelnd ließ Kaycee den Blick an meiner Schulter vorbei in die Ecke wandern, von der aus Anita alles im Auge behielt. Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Jetzt sieht sie aber wirklich aus, als hätte sie Angst.«

Ich drehte mich um und konnte Kaycee nur zustimmen. Anita sah tatsächlich besorgt aus. Mit zusammengezogenen Brauen betrachtete sie ihr Handy, klickte auf den Bildschirm und hielt es sich dann zum Telefonieren ans Ohr. Vermutlich hatte es rein gar nichts mit mir zu tun, schließlich war ich bei Weitem nicht die einzige Influencerin, die sie betreute, aber die Agentur hatte genug Angestellte, dass sie nicht ausgerechnet Anita während des Events kontaktieren mussten.

Ich widmete mich wieder der Schlange vor mir, machte Fotos, umarmte alle, unterhielt mich, nahm Fan-Arts entgegen – und schaute immer wieder zu Anita, die von Mal zu Mal aufgebrachter wirkte. Okay, irgendetwas war definitiv im Busch.

»Gebt ihr mir zwei Minuten?«, fragte ich die nun schon kürzer gewordene Schlange vor mir. Die meisten hatten sich in der Filiale verteilt, aßen Häppchen, unterhielten sich und packten begeistert ihre Goodies aus.

»Na klar!«, erwiderte das Mädchen vor mir direkt. Ich wandte mich mit einem Lächeln ab und ging auf meine Managerin zu, die wieder über ihr Handy gebeugt dastand.

»Anita?«

Ihr Blick schnellte hoch, aber sie sagte nichts und sah mich nur an. Ihre Augen funkelten, doch nicht wie sonst warm und herzlich, vielmehr wirkte sie empört. Kein neuer Anblick, denn ich hatte sie in Verhandlungen erlebt, und wir arbeiteten mittlerweile so lang und eng genug zusammen, dass die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem manchmal verwischten und sie auch schon Dampf bei mir abgelassen hatte. Doch gerade bereitete ihre Wut mir Sorgen, da ich das Gefühl nicht loswurde, dass sie in irgendeiner Form mit mir zu tun hatte.

»Ist alles okay?«

Ihre Kiefer mahlten, und sie nickte an mir vorbei in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war.

»Du hast noch zehn Leute in der Schlange, kümmere dich bitte um die. Wir reden später, ja?«

Ihr Tonfall war so viel förmlicher, als ich es gewohnt war.

»Sag mir, was los ist.«

»Das werde ich, aber gerade hast du einen Job zu erledigen. Konzentrier dich darauf, dann können wir sprechen.«

»Fucking hell«, stieß Kaycee neben mir aus. Sie hielt ihr Handy umklammert und scrollte durch irgendeinen Feed. Twitter, wenn ich es richtig erkannte.

»Was ist passiert?«

Der Blick aus Kaycees hellbraunen Augen trug nicht gerade dazu bei, mich zu beruhigen.

»Jetzt spuck’s schon aus.«

Wortlos reichte sie mir ihr Handy, und ich scrollte durch den Twitter-Feed. Es dauerte eine Weile, bis mein Kopf den Hashtag, den ich in den zahlreichen Tweets sah, entschlüsselte.

»Ist das … Meinen die mich?«

»Dich und deine Freunde«, erwiderte Anita mit Ironie in der Stimme, nahm mir das Handy ab und drückte es mir Sekunden später wieder in die Hand. Sie hatte ein Video geöffnet, das unter einem der Tweets verlinkt war.

Irritiert drehte ich den Ton lauter, um in dem Stimmengewirr der Filiale etwas verstehen zu können. Im selben Moment zog Anita mich in den kleinen Mitarbeiterbereich.

»Das muss nicht jeder mitkriegen.«

Ich nickte, nahm ihre Worte jedoch nur am Rande wahr, da mein Blick und all meine Aufmerksamkeit auf das Video vor mir gerichtet waren. Ein attraktiver Kerl mit dunkelblonden Haaren, kurzen Bartstoppeln und runder Brille mit schmalem, hellbraunem Rand sprach in die Kamera. Ich kannte ihn. Die meisten in der Szene kannten ihn mittlerweile. Demian O’Neill. Seine grünen Augen funkelten, wie immer, wenn er einen weiteren Skandal der Influencerszene in seinem Format aufdeckte.

Dann wechselte das Bild und zeigte eine Collage von vier Personen – inklusive mir – in der oberen rechten Ecke. Es war ein Selfie meines Instagram-Kanals, auf dem ich die Zunge rausstreckte. Ich verdrehte die Augen. Dann wohl kein Skandal. Vermutlich machte er sich nur ein weiteres Mal über die Fashion- und Beauty-Szene lustig, und dieses Mal war ich eben dran. Das war ich von anderen Kanälen und sogar aus dem Fernsehen schon gewohnt. Doch Anitas Blick, der mit einer Mischung aus Strenge und Sorge auf mir lag, zwang mich, weiter zuzuhören.

»Dylan Bennett, Natalie Graham, Zane Middleton und Fiona Harris. War es nicht süß, wie sie sich bei diesem Christmas-Charity-Event für andere einsetzten? Zugegeben, es hat selbst mein Herz erwärmt …«

Ich stutzte. Es ergab keinen Sinn, dass Demian meinen Namen in einem seiner Videos erwähnte. Nicht in diesem Format, nicht in De(x)posed.

»… heute muss ich euch leider die traurige Wahrheit über diesen ganzen Schwindel erzählen.«

Mein Blick schoss von Demian zu Anita. »Was meint er damit?«

»Guck gern weiter«, erwiderte Anita, und ihr angespannter Tonfall jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Wir stecken gewaltig in der Scheiße.«

3. KAPITEL

Demian

Willkommen zurück zu De(x)posed. Habt ihr mich vermisst? Ich weiß, ich weiß, ich hab euch lang warten lassen. Die gar nicht so veganen Proteinriegel, der Adventskalenderskandal – das alles ist schon eine ganze Weile her, dabei gibt es doch beinahe täglich Skandale in dieser Influencer-Welt, die so zwanghaft versucht, authentisch zu sein. Ich verspreche euch, das Warten hat sich gelohnt, denn ich wollte selbst nicht recht glauben, was ich da vor wenigen Wochen aufgedeckt hab. Wie immer wollte ich ganz sichergehen, dass auch alles der Wahrheit entspricht – bei diesem Fall erschien selbst mir das nämlich zu skrupellos. Mittlerweile hat es frühlingshafte Temperaturen, aber versetzt euch für dieses Video bitte noch einmal zurück in den Dezember, weckt eure innere Weihnachtsstimmung und denkt zurück an das Fest der Liebe. Das Fest der Nächstenliebe. Erinnert ihr euch noch an das hochgelobte Influencer-Festival im Sky Garden? Teure Tickets, Spendenpools – aber das alles hat sich gelohnt, denn die Einnahmen sollten komplett an wohltätige Organisationen gehen, und schließlich hatten anwesende Fans und Firmen ja auch die einmalige Gelegenheit, die Elite des Londoner Influencertums zu treffen: Dylan Bennett, Natalie Graham, Zane Middleton und Fiona Harris. War es nicht süß, wie sie sich bei diesem Christmas-Charity-Event für andere einsetzten? Zugegeben, es hat selbst mein Herz erwärmt, es kamen ja auch unglaublich viele Spenden zusammen, die der Kinderhilfsorganisation Hungry Eyes und der Obdachlosenhilfe Nightsky zugutekommen sollten. Ich sage bewusst kommen sollten – nicht gekommen sind. Denn heute muss ich euch leider die traurige Wahrheit über diesen ganzen Schwindel erzählen. Die Wahrheit ist, dass diese Spenden nie ankamen. Ein Betrag von knapp 12 500 Pfund ging bei den jeweiligen Organisationen ein – eine nette Summe, nicht jedoch in Anbetracht der Tatsache, dass die Spenden an dem Abend bei mindestens 300 000 Pfund gelegen haben dürften. Wo das restliche Geld hin ist? Nun, man fragt sich, ob es ein Zufall ist, dass Zane Middleton sich als verfrühtes Weihnachtsgeschenk nur vier Tage später ein neues Motorrad leistete. Aber genug des Vorgeplänkels, reisen wir doch einmal zurück an jenen folgenreichen 12. Dezember und gehen der Sache auf den Grund …

»Und Upload«, sagte ich mehr zu mir selbst als zu Thiago, der neben mir an seinem PC saß. Dennoch schob mein Mitbewohner sich das Headset von den Ohren und sah mich fragend an. Dann wanderte sein Blick auf einen der Monitore vor mir.

»Uh, es ist online?«

»Yep«, erwiderte ich und streckte Arme und Beine aus. Ich hatte das Video die halbe Nacht hindurch geschnitten, kurz geschlafen, mich an das Thumbnail gesetzt, und nun war es endlich online. Keine Ahnung, wieso es meinem Management so wichtig war, dass es heute noch rausging, aber mir war es gleich, ob es nun heute oder nächste Woche so weit war.

»Nice«, erwiderte Thiago. »Pub?«

»Ähm, es ist vierzehn Uhr.«

»Eben. Ihr geht hier doch eh alle mittags schon trinken und macht dann viel zu früh wieder zu.«

»Sag nicht ihr, du bist mittlerweile auch eingefleischter Londoner.«

»Pf, vergiss es.«

Thiago kam aus Sevilla, lebte allerdings seit knapp vier Jahren in London, nachdem er für seine Ex-Freundin hergezogen war. Mittlerweile kannte er die Stadt besser als ich. Das lag wohl auch daran, dass er neben der Uni für ein Kulturmagazin Kolumnen schrieb und ständig auf Konzerten und Events zugegen war.

»Ich find trotzdem, wir sollten darauf anstoßen. Und danach stecken wir dich ins Bett. Du siehst echt fertig aus. Es fühlt sich für dich doch eh nicht an wie zwei Uhr, so lang wie du schon wieder wach bist.«

Gähnend lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, nahm die Brille ab und fuhr mir über das Gesicht. Ich brauchte keinen Blick in den Spiegel, um zu wissen, dass Thiago recht hatte. Die letzten Tage, eigentlich sogar Wochen, hatte ich zu wenig geschlafen und all meine Energie in das Video und die Recherche dazu gesteckt. Wenn Susan und Liam recht behielten, würde es sich lohnen. Ich stand kurz vor einer halben Million Abonnenten, und die beiden waren sicher, dass das Video für den benötigten Aufschwung sorgen würde. Zum einen, weil es vier der erfolgreichsten britischen YouTuber und YouTuberinnen betraf, zum anderen, weil es diesmal nicht um eine Lappalie ging, die ich aufdeckte. Was die vier da verbockt hatten, war auf so vielen Ebenen falsch, dass ich endlich mal wieder mit Feuer und Flamme dabei gewesen war. Für einen kurzen Moment war die Leidenschaft zurückgekehrt, mit der ich den Kanal begonnen hatte. Über die Monate hinweg war er viel zu sehr Mittel zum Zweck geworden, um das Geld und die Unterstützung zu haben, meiner eigentlichen Leidenschaft nachzukommen: meinem Zweitkanal zur Astronomie, der eigentlich mein Hauptkanal sein sollte. Nur dass sich weit mehr Menschen für Klatsch und Tratsch als für Wissenschaft interessierten.

»Erde an Demian.« Thiago schnippte zweimal mit den Fingern und holte mich ins Hier und Jetzt zurück.

»Na, dann los.« Ich streckte mich noch einmal ausgiebig und stand auf. »Ich geb einen aus. Denkst du, wir erreichen Austin?«

»Ich schreib ihm mal.«

Unser Mitbewohner und bester Freund war gestern Abend nicht nach Hause gekommen und mit ziemlicher Sicherheit noch bei der Frau, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte. Amelia? Allison? Irgendetwas in der Richtung. Austin war kein Typ für One-Night-Stands, wie er regelmäßig betonte, aber eben auch nicht der Typ für langanhaltende Beziehungen. Er streamte Videospiele auf Twitch, Stunden am Stück, und ich hatte ernsthaft keinen blassen Schimmer, wie er es dabei schaffte, so viele Frauen und Männer kennenzulernen.

»Nur ein Haken an der Nachricht«, grummelte Thiago. »Dieser Junge muss lernen, sein Ladekabel einzupacken.«

»Willst du warten?«

»Pah«, machte Thiago. »Man muss Erfolge feiern, solang sie frisch sind.«

Er packte sein Handy weg und ging voraus in den Flur, wo er sich Schuhe und Lederjacke schnappte. Ich steckte mein Portemonnaie ein, das in der Schale im Flur lag, und gemeinsam verließen wir unsere Wohnung im The Pavilion – dem noch recht neuen, gewaltigen Hochhaus direkt bei Elephant & Castle. Manchmal konnte ich immer noch nicht fassen, dass ich jetzt hier lebte. In diesem Gebäude und in London generell, das so viel bunter und lebendiger war als Norwich, wo ich aufgewachsen war.

Als der Aufzug sich mit einem Ping öffnete, um uns nach unten zu befördern, gab auch mein Smartphone Laut.

Susan Davies, 2.12 pm:

Mega! Dein Video wird gerade von allen geteilt, die Startseite ist dir sicher!

Komm morgen gern zum Anstoßen vorbei, das wird gefeiert.

Ich runzelte die Stirn, musste angesichts ihrer Begeisterung aber lachen.

»Alles okay?«

»Ja, nur ein Lob von Susan.«

»Ist doch gut, oder? Warum guckst du so kritisch?«

»Weil sie feiern und anstoßen will, dabei ist das Video gerade mal ein paar Minuten online. Sie waren so gehypt, als ich auf das Thema gestoßen bin. Keine Ahnung, ob sie eine persönliche Agenda gegen einen der vier haben und sich jetzt freuen, was gegen ihn oder sie in der Hand zu haben, oder ob sie einfach wirklich glücklich sind, dass mein Video durch die Decke geht.«

Mit einem Schulterzucken verließ ich den Fahrstuhl und nickte dem Concierge im Eingangsbereich des Gebäudes im Vorbeigehen zu.

»Aber wenn sie feiern will, soll es mir recht sein.«

»Wird Zeit, dass du endlich mehr Anerkennung kriegst, wenn du mich fragst. Jetzt sollen sie mal ein bisschen Geld in deinen anderen Kanal stecken.«

Ich nickte und blinzelte gegen die Sonne an, die uns draußen begrüßte. Das wäre tatsächlich schön, denn das versprach mir das Studio schon seit einer ganzen Weile. Diese Marke erreichen, jenes Engagement seitens der Abonnierenden erlangen, dann wäre der Weg geebnet, um mich mehr der eigentlichen Sache zu widmen: meinem Herzenskanal – der bislang leider zu wenig Geld abwarf. Das war nicht nur meinem Management klar, sondern auch mir.

Ein weiteres Mal betrachtete ich Susans Nachricht, diesmal schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Vielleicht war das wirklich der Durchbruch, auf den wir die ganze Zeit gehofft hatten. Die Zuversicht in ihrer Nachricht übertrug sich auf mich, und ich grinste Thiago an.

»Na, dann lass uns schon mal das Anstoßen üben.«

»Bottoms up, tops down, wear a smile and not a frown!«

Grinsend, aber mit einem Kopfschütteln, betrachtete ich Thiago, der gerade mit seinem zweiten Bier anstieß. Vor einer Weile hatte er es sich zur Berufung gemacht, englische Sprichwörter auswendig zu lernen und sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu nutzen.

»Ich glaub, mittlerweile kennst du mehr Trinksprüche als ich.«

»Bin eben integriert«, gab Thiago zurück.

»Bist du. Du hast definitiv mehr von London gesehen als ich.«

»Na ja, ich leb auch schon ein Jahr länger hier als du. Außerdem bringt das der Job mit sich. Aber wir sind alle ganz schön weit gekommen. Schau mal, wo wir vor zwei Jahren waren und wo wir jetzt sind. Gut, Austin sitzt immer noch genauso viel am PC wie eh und je. Aber deine Kanäle wachsen total, ich hab endlich ’nen anständigen Job – trotz Brexit. Es läuft.«

»Wenn man davon absieht, dass das mit dem Studienplatz nicht geklappt hat«, gab ich zurück und wünschte im nächsten Moment, ich hätte es nicht gesagt. Doch Thiagos Worte hatten einen faden Beigeschmack hinterlassen. Wieder einmal.

»Du hast dir jetzt aber ein Leben aufgebaut, auf das dieser Typ, der den Platz bekommen hat, mit Sicherheit neidisch ist.«

»Stimmt«, entgegnete ich mit einem Lächeln, das sich falsch anfühlte. Ich war mir nicht sicher, ob Josh so neidisch wäre. Josh, der damals mit mir in der letzten Runde des Bewerbungsverfahrens für die Royal Academy of Physical Sciences gesessen hatte. Josh, der den Platz – im Gegensatz zu mir – erhalten hatte. Mir war klar, dass es absolut kindisch war, einen Groll gegen ihn zu hegen, da er den Platz verdient erhalten hatte, seine Antworten auf die Fragen des Interviewers hatten alle Hand und Fuß gehabt. Aber es hatte trotzdem Dinge in mir losgetreten, die bis heute Bestand hatten. Insbesondere dank Joshs Worten an mich, dass es naiv wäre zu glauben, dass Wissen reichte.

Hättest du dir mal nebenher was aufgebaut, dir einen Namen gemacht. Dachtest du wirklich, sie nehmen jemand Unbekannten, Austauschbaren? Sie wollen sich mit ihren Studierenden genauso rühmen können wie andersrum.

»Hey, Lieblingsmitbewohner!« Die Stimme riss mich aus meinen Gedanken, und Austin schob mich mit seinem Hintern zur Seite, sodass er Platz auf der Eckbank neben mir fand.

»Ich hab gehört, du gibst einen aus.« Er grinste mich breit an.

»Dazu hättest du schon pünktlich hier sein müssen«, sprang Thiago sofort dazwischen. »Wenn überhaupt, gibt Demian mir noch mehr aus, weil ich als sein treuer Freund und Unterstützer direkt vor Ort war.«

»Tz«, machte Austin, zuckte aber mit den Schultern. »Ich geh ja schon selbst.«

»Gute Nacht gehabt?«, fragte ich ihn, obwohl mir die Antwort bereits klar war. Wie zu erwarten, nickte er mit vielsagendem Grinsen.

»Spar dir deinen skeptischen Blick. Den hast viel eher du verdient, weil du dir dein gutes Aussehen nicht zunutze machst.«

»Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als meine Position auszunutzen.«

»Ich hab gesagt, du sollst dir dein Aussehen zunutze machen, nicht deinen Status.« Austin seufzte. »Manchmal hab ich das Gefühl, ihr wollt mich absichtlich falsch verstehen. Oder aber ihr hört gar nicht zu, so wie der hier.« Er schnappte sich einen Bierdeckel vom Tisch und schnippte ihn gegen Thiagos Kopf. Dieser ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und starrte konzentriert auf sein Handy-Display.

»Alter!«, stieß er plötzlich aus.

»Hm?« Ich nickte ihm zu, damit er weitersprach.

»Die nächste Runde geht auf mich!« Thiago verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, als er mir sein Smartphone entgegenstreckte. Ich nahm es entgegen, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als ich sah, weshalb Thiago die Runde schmeißen wollte.

»Glückwunsch zur halben Million, Mann!«

»Nicht dein Ernst!«, rief Austin und klopfte mir fest auf die Schulter. »Da bin ich ja genau rechtzeitig gekommen. Glückwunsch! Dann machen wir gleich zwei Runden draus, ich zahl die zweite.«

Ich nickte, nahm die Glückwünsche jedoch nur noch am Rande wahr, da mein Blick auf die Zahl vor mir fixiert war. 500 000. Eine halbe Million Menschen schaute meine Videos. Würde man das Ganze auf die Einwohnerzahl Londons runterbrechen, wäre das knapp jeder achtzehnte Mensch in dieser Stadt. Das war unglaublich. Ich wusste, dass es das war, dennoch entsprachen die Aufregung und die Freude, die mich beim Anblick dieses Meilensteins durchfluteten, nicht ganz der Euphorie, die ich erwartet hatte. Klar, es war nicht mein Wissenschaftskanal, der diese Aufmerksamkeit bekam, obwohl mir das tausendmal lieber gewesen wäre. Aber immerhin tat ich auch auf diesem Kanal Gutes mit meiner Arbeit. Ich steckte meine Energie in etwas Sinnvolles, anstatt sie, wie Fiona und Natalie, die Bestandteil des letzten Videos gewesen waren, in Beauty oder Fashion zu investieren. Das war immerhin etwas, und darauf konnte ich stolz sein. Es war ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

»Denkst du, er hat ’nen Schock?« Austin stupste mir mit dem Zeigefinger in die Schulter, und ich schlug seine Hand weg.

»Keine Ahnung, wie ging es dir denn damals bei der ersten halben Million?«

»Weiß ich nicht mehr, wir waren mit der Gruppe feiern und …« Austin hob die Schultern. »… sagen wir einfach, meine Erinnerung an diesen Abend ist etwas lückenhaft.«

Gerade als das Display von Thiagos Handy sich vor mir verdunkelte, spürte ich meines in der Jeanstasche vibrieren.

»Bringt ihr mir ein Guinness?«, fragte ich an die anderen gewandt. »Ich muss hier kurz ran.«

»Klar doch«, sagte Austin und klopfte mir im Vorbeigehen auf die Schulter.

»Ja?«, fragte ich, als ich das Gespräch annahm.

»Demian!« Liams Stimme erklang fröhlich in meinem Ohr. »Herzlichen Glückwunsch von mir und dem ganzen Team!«

Im Hintergrund hörte ich Susan Glückwünsche rufen und zwei weitere Menschen jubeln. Waren sie ernsthaft an einem Sonntag im Büro? Agenturen. Mich wunderte langsam nichts mehr.

»Danke euch.«

»Feierst du schon? Klingt nach Musik bei dir.«

»Ich wurde ins Pub geschleppt«, gab ich zurück.

»Das macht ihr richtig.« Liam lachte. »Susan meinte, du kommst morgen zum Anstoßen vorbei? Wir haben auch noch ein paar Termine und so was, das können wir dann auch besprechen und vor allem auf dich anstoßen.«

»Klar. Ich kann morgen früh da sein.«

»Sagen wir mittags, dann laden wir dich zum Lunch ein, und du hast Zeit auszunüchtern, falls es heute noch länger geht.«

»Klingt gut.«

»Wir haben auch schon Interviewanfragen, und diesmal sind ein paar echt große Zeitungen und Sender dabei, nicht nur Klatschmagazine wie beim letzten Mal. Du hast mit deinem Video und der Recherche echt was gerissen!«

»Wirklich? So schnell? Wer denn?«

»Rate!« Ich konnte das Grinsen aus Liams Stimme heraushören und rollte mit den Augen.

»Du weißt, ich hasse das. Spuck’s schon aus.«

»Okay, okay. Es fängt mit G an, du liest darin selbst jeden Morgen und …«

»Der Guardian hat angefragt?«

Plötzlich kostete es mich einiges an Anstrengung, sitzen zu bleiben und nicht direkt zu Austin und Thiago zu rennen, um ihnen davon zu erzählen.

»Jap! Ich sag doch: große Wellen. Wir klären morgen alle Details, und dann können wir gucken, worauf du Lust hast, was sich lohnt und wie es weitergeht.«

»Wow, danke.«

»Nichts zu danken, das war schließlich deine Arbeit.«

Ich nickte, wohl wissend, dass er das nicht sehen konnte. Es war zwar kein Thema, das ich übers Telefon bereden mochte, aber da Liam so gut aufgelegt war, konnte ich es gleich jetzt versuchen.

»Hey, Liam?«

»Hm?«

»Können wir morgen auch über die Pläne für Edge of The Universe sprechen? Der liegt aktuell ein bisschen brach.«

Im Gegensatz zu eben antwortete Liam nicht direkt, und ich konnte beinahe durchs Telefon hören, wie es in seinem Kopf arbeitete, während er sich die passende Antwort zurechtlegte. Ich war nicht doof, ich wusste, dass ich hingehalten wurde – und das nicht erst seit gestern. Ich hatte mich damit abgefunden und beschlossen abzuliefern. Mir war klar, dass mein Management wirtschaftlich denken musste und De(x)posed mehr Klicks und Geld einbrachte. Doch der Grund, wieso ich mich für Media Lion, mein Management, entschieden hatte, war, dass sie die Einzigen waren, die mir auch Unterstützung für Edge of The Universe in Aussicht gestellt hatten. Sie ließen mir Freiraum bei meinen Ideen, und bis heute hatte ich die Entscheidung nicht bereut – wenngleich die zugesicherte Unterstützung bislang auf sich hatte warten lassen.

»Ja, lass uns das morgen besprechen«, sagte Liam schließlich.

»Okay, cool.« Ich versuchte, mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Anstatt einer Zusage hatte ich mit einer weiteren Ausrede gerechnet, wieso noch nicht der ideale Zeitpunkt war, aber anscheinend hatte das Video wirklich größere Wellen geschlagen, als ich zum aktuellen Zeitpunkt ahnte. Zum ersten Mal seit Langem wuchs eine gewisse Neugier in mir, und ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und mir die Zahlen in Ruhe anzusehen.

4. KAPITEL

Fiona

»Ich war das nicht.«

Ich hatte den Satz bei Boots gesagt, im Taxi auf dem Weg hierher und nun ein weiteres Mal, sobald die Tür hinter uns ins Schloss gefallen war. Endlich entlockte er Anita eine Reaktion. Ihr Seufzen war zwar nicht die Antwort, die ich mir erhofft hatte, aber sie war definitiv besser als gar keine.

»Ich war es wirklich nicht«, wiederholte ich mit Nachdruck und wedelte dabei mit dem Handy in der Luft, das zum gefühlt hundertsten Mal Demians Video abspielte.

Anita legte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab und massierte sich die Schläfen. »Interessant, denn ich erinnere mich, dich auf dem Festival gesehen zu haben. Ich erinnere mich auch daran, wie du das Ganze auf all deinen Socials geteilt hast …«

»Ja, aber ich wusste nicht, dass sie die Spenden einbehalten würden!«

Ich machte einen Schritt auf Anita zu, die die Arme nun vor der Brust verschränkt hatte. Sie musste mir einfach glauben.

»Es hieß von Anfang an, dass wir als Entschädigung für den Zeitaufwand und für das Bewerben des Events und alles 5000 Pfund bekommen. Der Rest sollte gespendet werden.«

»Wurde er offensichtlich aber nicht.«