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Das Tagebuch der berühmten chinesischen Schriftstellerin Fang Fang aus einer abgeriegelten Stadt ist ein einzigartiges, ergreifendes Zeitdokument über den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind, den die Menschen in Wuhan weltweit als erste führten. Wuhan: Am 25. Januar, zwei Tage nachdem erstmals in der Geschichte eine 9-Millionen-Einwohner-Stadt komplett von der Außenwelt abgeriegelt wurde, beginnt Fang Fang, online Tagebuch zu schreiben. Eingeschlossen in ihrer Wohnung berichtet sie vom Hereinbrechen und dem Verlauf einer Katastrophe, von der Panik während der ersten Tage der Covid-19-Epidemie bis zu ihrer erfolgreichen Eindämmung. Sie erzählt von der Einsamkeit, dem heroischen Kampf des Personals in den Krankenhäusern, vom Leid der Erkrankten, dem Schmerz der Angehörigen von Verstorbenen und der Solidarität unter Nachbarn. Millionen Chinesen folgen ihren Gedanken und ihren Geschichten aus dem unmöglichen Alltag – vom Zorn über die Untätigkeit und Vertuschungsmanöver der Behörden während der Anfangsphase der Epidemie und der Unterdrückung warnender Stimmen, bis zur Anerkennung der wirkungsvollen Maßnahmen der Regierung in den Wochen danach. Fang Fang liefert einen unverstellten Blick auf die Katastrophe "von unten", ganz nah an den Menschen, ihren Ängsten und Nöten, aber auch ihren kleinen Freuden und dem speziellen Wuhaner Humor selbst in dunkelsten Stunden. Zugleich wurde ihr Wuhan Diary in China zum Gegenstand erbitterter Auseinandersetzung über den Umgang mit kritischen Stimmen und Verantwortung – und somit über Chinas künftigen Weg. "Als Zeugen, die wir die tragischen Tage von Wuhan miterlebt haben, sind wir verpflichtet, für diejenigen Gerechtigkeit einzufordern, die gestorben sind." - Fang Fang
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Seitenzahl: 500
Fang Fang
Wuhan Diary
Tagebuch aus einer gesperrten Stadt
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann
Hoffmann und Campe
Als ich meinen Blog auf sina.com erstellt habe, um die ersten Zeichen niederzuschreiben, habe ich im Traum nicht daran gedacht, dass weitere 59 Einträge folgen würden, und ebenso wenig, dass mehrere zig Millionen Leser Tag für Tag bis Mitternacht wach bleiben würden, um den neuesten Eintrag meines Tagebuchs zu lesen. Viele, sehr viele haben mir berichtet, dass sie erst nach der Lektüre beruhigt einschlafen konnten. Am allerwenigsten habe ich daran gedacht, dass diese Aufzeichnungen in einem Buch versammelt sein würden, das innerhalb so kurzer Zeit im Ausland erscheint.
Der Zufall wollte es, dass am gleichen Tag, an dem ich meinen letzten Eintrag schrieb, die Regierung bekannt gab, dass die Abriegelung Wuhans am 8. April enden würde.
Wuhan war 76 Tage von der Außenwelt abgeriegelt. Der Tag der Öffnung der Stadt war auch der Tag, an dem mich die Nachricht erreichte, dass mein Tagebuch auf Englisch als Buch erscheinen wird. Auch Ausgaben in mehreren anderen Sprachen sind in Vorbereitung.
Das alles ist wie in einem Traum, als habe es der Himmel selbst arrangiert.
Nachdem der chinesische Facharzt Zhong Nanshan1 am 20. Januar bekannt gab, dass die durch ein neuartiges Virus verursachte Lungenentzündung in Wuhan von Mensch zu Mensch übertragbar sei und sich bereits 14 Mitarbeiter des medizinischen Personals der Stadt infiziert hätten, war ich zuerst wie vor den Kopf geschlagen und anschließend wütend. Die Bekanntmachung widersprach allem, was zuvor gesagt und getan worden war. Die offiziellen Medien hatten uns informiert, dass das Virus »nicht von Mensch zu Mensch übertragbar« und »kontrollierbar und eindämmbar« sei. In der Bevölkerung kursierten allerlei Gerüchte, man sprach von SARS.
Als ich erfuhr, dass die Krankheit eine Inkubationszeit von ungefähr 14 Tagen hat, begann ich sehr kühl zu rekapitulieren, mit welchen Personen ich in dieser Zeit Kontakt gehabt hatte, und zu überlegen, ob die Möglichkeit bestand, dass ich mich angesteckt haben könnte. Ich hatte in dieser Zeit dreimal Bekannte im Krankenhaus besucht und die ersten beiden Male keine Schutzmaske getragen. Ich hatte sieben Tage zuvor an einem Treffen im Haus einer Freundin teilgenommen und mit Familienangehörigen in einem Restaurant gegessen. Am 16. Januar hatten Handwerker in meiner Wohnung einen neuen Heizkessel für die Zentralheizung installiert und getestet. Am 19. Januar war meine Nichte mit ihrem Sohn in die Stadt gekommen, um ihre Eltern zu besuchen, und mein ältester Bruder und seine Frau hatten mich, meinen drittältesten Bruder und dessen Frau zu sich zum Essen eingeladen. Zum Glück kursierte da bereits das Gerücht von einem neuen SARS-Ausbruch, deswegen trugen wir auf der Straße Schutzmasken.
Ich hatte in dieser kurzen Zeit häufiger das Haus verlassen, als es meine Gepflogenheit ist. Vermutlich hing dieser Umstand mit dem bevorstehenden chinesischen Neujahrsfest zusammen, das als Anlass vieler geselliger Veranstaltungen dient. Ich war nicht in der Lage zu beurteilen, ob ich mich angesteckt haben könnte, und musste deshalb 14 Tage warten, bis ich ganz sicher sein konnte. Jeden Tag verringerte sich die Möglichkeit einer Infizierung. Während dieser Zeit befand ich mich in einer der Verzweiflung nahen Gemütsverfassung.
Am 22. Januar, dem Vorabend der Absperrung der Stadt, kehrte meine Tochter aus Japan nach Wuhan zurück. Ich holte sie um zehn Uhr abends vom Flughafen ab. Auf den Straßen waren kaum noch Autos und Passanten zu sehen. Die Leute an den Ausgängen des Flughafens trugen zum größten Teil Schutzmasken, die Atmosphäre war angespannt, die Menschen wirkten bedrückt, keine der üblichen lautstarken und von Gelächter begleiteten Begrüßungen waren zu hören.
In diesen Tagen waren die Wuhaner von nervöser und panischer Anspannung erfasst. Bevor ich auf dem Weg zum Flughafen das Haus verließ, schrieb ich einer Bekannten, ich hätte ein Gefühl, als begebe ich mich »in schneidenden Wind und eisiges Wasser«, wie es in einem Gedicht heißt. Da das Flugzeug Verspätung hatte, war es bereits nach elf, als ich meine Tochter in Empfang nahm.
Mein Exmann hatte in der Woche zuvor mit meiner Tochter gegessen. Ein paar Tage später erzählte er mir, dass mit seiner Lunge etwas nicht in Ordnung sei. Ich bekam sofort heftiges Herzklopfen. Wenn er sich mit dem neuen Virus infiziert hatte, konnte er auch meine Tochter angesteckt haben. Nachdem ich sie über diese Möglichkeit informiert hatte, beschlossen wir, dass ich sie in ihre Wohnung bringen und sie dort wenigstens eine Woche in Quarantäne bleiben würde. Das Neujahr würden wir getrennt zubringen, jeder für sich. Ich würde ihr Essen vorbeibringen, da sie, gerade zurückgekehrt, keinerlei Vorräte in der Wohnung hatte. Im Wagen trugen wir beide Schutzmaske. Anders als sonst berichtete sie nicht begeistert von ihrer Reise. Wir sprachen nahezu kein Wort miteinander. Die bedrückende und angespannte Stimmung, die ganz Wuhan erfasst hatte, machte sich auch in unserem Auto breit.
Nachdem ich meine Tochter vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte, tankte ich den Wagen voll. Es war ein Uhr, als ich nach Hause kam. Ich startete auf der Stelle meinen Computer und erfuhr auf diesem Weg von der am nächsten Tag beginnenden Abriegelung der Stadt. Obwohl manche Leute bereits früher davon gesprochen hatten, überstieg es meine Vorstellungskraft, wie man eine derart riesige Stadt von der Außenwelt abriegeln könnte. Aber nun sah ich den Befehl zur Absperrung vor mir, und ich begriff, dass die Ansteckungsgefahr in Wuhan ein extrem ernsthaftes Stadium erreicht haben musste.
Am nächsten Tag ging ich raus, um Schutzmasken und Lebensmittel zu kaufen. Es herrschte eine Eiseskälte. Noch nie hatte Wuhan einen so leergefegten Eindruck gemacht. Angesichts dieser Eiseskälte überkam mich eine tiefe Trauer, die Leere der Straßen kroch in mein Innerstes. Es war ein Gefühl, wie ich es bisher nicht gekannt hatte. Die Ungewissheit über das Schicksal der Stadt, die Ungewissheit, ob meine Familienangehörigen und ich uns infiziert hatten, und die ungewisse Zukunft erfüllten mich mit schwer zu beschreibenden Gefühlen von Angst und Anspannung.
In den folgenden Tagen unternahm ich mehrfach Versuche, Schutzmasken zu kaufen, und erblickte dabei überall einsame Straßenkehrer, die den Boden fegten. Weil es kaum Passanten gab, gab es auch kaum etwas zu kehren, aber sie verrichteten ihre Arbeit weiterhin mit äußerster Sorgfalt. Dieser Anblick spendete mir großen Trost und verschaffte mir innere Ruhe.
Auf dem Heimweg fragte ich mich, warum ich, obwohl ich bereits am 31. Dezember erstmals von der Sache gehört hatte, die letzten 20 Tage eine derart gravierende Angelegenheit so gedankenlos und nachlässig behandelt hatte. Hatte uns die SARS-Epidemie im Jahr 2003 nicht eine Lektion erteilt? Ich bin nicht die Einzige, die sich das fragt. Warum?
Wenn ich ehrlich bin, spielen dabei sowohl die eigene Unaufmerksamkeit als auch objektive Lebensumstände eine Rolle. Aber entscheidend war, dass wir der Regierung allzu sehr vertraut haben. Wir hätten nie geglaubt, dass es die Führung der Provinzregierung von Hubei wagen würde, sich in einer so schicksalhaften Angelegenheit derart achtlos und verantwortungslos zu verhalten. Wir konnten nicht glauben, dass sie sich in einer Angelegenheit, die Einfluss auf Schicksal und Leben von mehreren zehn Millionen Menschen nehmen würde, derart an ihre politischen Rituale, an ihre »politische Korrektheit« und ihre Routinen klammern würde. Und wir konnten nicht glauben, dass es ihr so sehr an gesundem Menschenverstand und Urteilsvermögen mangeln würde. Dieses Vertrauen fand seinen Niederschlag im Internet, wo ich selbst in einer Nachricht an eine Chatgruppe mit Überzeugung versicherte, dass die Behörden nie so weit gehen würden, eine derart gravierende Angelegenheit zu vertuschen. Aber heute sehen wir, nach allem, was geschehen ist, wie groß der Anteil der handelnden Personen an dieser Katastrophe ist.
Nur erfreuliche Nachrichten zuzulassen und unerfreuliche zu vertuschen, andere daran zu hindern, die Wahrheit zu sagen, der Masse der Bevölkerung die Wahrheit vorzuenthalten, das Leben einzelner Personen zu missachten – dergleichen eingeübtes, gewohnheitsmäßiges Verhalten rächt sich für die Gesellschaft, beschert der Bevölkerung immenses Leid, und es rächt sich auch für die Beamten selbst. (Einige Spitzenfunktionäre der Provinzregierung von Hubei wurden bereits ihrer Posten enthoben, aber andere, die ebenso Verantwortung tragen, sind noch in Amt und Würden.)
Das alles hat zur 76 Tage dauernden Abriegelung der Stadt Wuhan geführt, deren Auswirkungen auf die Menschen und die Region sich nicht in Worte fassen lassen. Wir müssen die Verantwortlichen ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen.
Nachdem sie im Anschluss an den 20. Januar drei Tage in Furcht und Nervosität verbracht hatten, ereilte die Wuhaner also plötzlich der Befehl zur Abriegelung ihrer Stadt. Die Abriegelung einer Stadt mit mehreren Millionen Einwohnern (etwa neun Millionen befanden sich zum Zeitpunkt der Abriegelung in der Stadt) wegen eines Epidemieausbruchs ist ein historisch einzigartiges Ereignis. In so kurzer Zeit eine derart einschneidende Entscheidung zu treffen ist nicht einfach, schließlich nimmt eine solche Abriegelung unmittelbaren Einfluss auf das Leben jedes einzelnen Bewohners.
Aber um die Ausbreitung der Epidemie einzudämmen, musste die Stadtregierung mit zusammengebissenen Zähnen diese Entscheidung treffen. So etwas war auch in der mehrere tausend Jahre zurückreichenden Geschichte von Wuhan ohne Beispiel. Doch angesichts der Entwicklung der Epidemie war sie offensichtlich richtig, kam allerdings einige Tage zu spät.
Während der drei Tage vor und den beiden Tagen nach Verkündung der Abriegelung standen die meisten Wuhaner unter Schock. Es waren fünf endlose und extrem angespannte Tage, die Epidemie breitete sich in der Stadt rasend schnell aus, und die Regierung erschien in den Augen der Bevölkerung hilf- und ratlos.
Ab dem ersten Tag des Neujahrsfestes, also dem 25. Januar, begann man sich etwas zu beruhigen, weil die offiziellen Medien berichteten, dass die Ausbreitung des Virus an der Spitze des Staates mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt wurde und aus Shanghai das erste medizinische Hilfsteam in Wuhan eintraf. Diese Nachrichten sorgten für eine allmähliche Beruhigung der Gemüter, da jedermann weiß, dass in China sämtliche Kräfte mobilisiert werden, wenn der Staat auf nationaler Ebene die Sache in die Hand nimmt. Die verängstigten und hilflosen Wuhaner hörten ab diesem Tag auf, panisch zu reagieren. Mein Tagebuch setzt genau an diesem Tag ein.
Die leidvollste Periode stand uns allerdings erst bevor: In den Tagen um das Neujahrsfest nahm die Gruppe der Infizierten explosionsartig zu, das Gesundheitssystem der Stadt war diesem Ansturm von Patienten nicht gewachsen und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Das Neujahrsfest ist die Zeit, wo sich die Familien versammeln und allgemeine Feierstimmung herrscht. Doch nun irrten unzählige Erkrankte in eisiger Kälte durch Sturm und Regen in der Stadt herum, auf der vergeblichen Suche nach medizinischer Behandlung. Nach der Abriegelung der Stadt war der gesamte öffentliche Verkehr eingestellt worden, und die Mehrzahl der Wuhaner besitzt kein Privatauto. Also liefen die Menschen zu Fuß von einem Krankenhaus zum anderen. Die Schwierigkeiten, die sie dabei zu überwinden hatten, sind mit Worten kaum zu beschreiben. Im Netz tauchten zahlreiche Videos auf, die verzweifelte Hilferufe zeigen, die langen Schlangen vor den Krankenhäusern, Menschen, die dort die ganze Nacht hindurch anstehen, und Krankenhauspersonal, das vor Überanstrengung kurz vor dem Kollaps steht.
Wir konnten für die um Hilfe rufenden, verzweifelten Kranken nicht das Geringste tun. Das waren auch für mich die schmerzvollsten und traurigsten Tage. Ich konnte nur jeden Tag schreiben, schreiben, schreiben … Das Schreiben war das einzige Mittel, meinen Gefühlen und meinem seelischen Zustand Luft zu verschaffen.
Das Ende dieser Leidensperiode kam mit der Amtsenthebung der Regierungsspitzen der Provinz Hubei und der Stadt Wuhan, der Entsendung medizinischer Hilfsteams aus 19 Provinzen nach Hubei und der Einrichtung der Behelfs- und Notkrankenhäuser. Die neuen Quarantänemaßnahmen änderten die chaotische und jammervolle Situation Wuhans grundlegend. Sämtliche Patienten wurden in vier Gruppen aufgeteilt: erstens die Schwerkranken, zweitens alle anderen Infizierten, drittens die Verdachtsfälle, viertens Personen, die in engem Kontakt mit Personen der anderen drei Gruppen standen. Die Schwerkranken wurden in die eigens dafür bestimmten Krankenhäuser verlegt, die Infizierten mit leichten Symptomen in die Behelfskrankenhäuser, die Verdachtsfälle in die als Quarantänestationen genutzten Hotels, Wohnheime von Schulen und Universitäten etc. einquartiert, die Kontaktpersonen wurden anderweitig isoliert. Der Erfolg zeigte sich rasch. Die Erkrankten mit leichten Symptomen erholten sich nach Aufnahme in die Krankenhäuser relativ rasch. Wir konnten mit eigenen Augen sehen, wie sich die Situation in Wuhan Tag für Tag verbesserte. Den gesamten Prozess kann man in meinem Tagebuch Punkt für Punkt nachverfolgen.
Die Probleme des alltäglichen Lebens von neun Millionen in ihren Wohnungen eingesperrten Wuhanern wurden anfangs durch spontane Selbstorganisation der Bewohner angegangen. Mit Hilfe von Bestellungen über das Internet und kollektiven Einkaufsgruppen konnten sich die Eingesperrten mit lebensnotwendigen Waren versorgen. Später entsandte die Regierung sämtliche Beamte in die Stadtviertel, um dort die Bewohner mit Dienstleistungen zu unterstützen. Die neun Millionen Wuhaner reagierten kooperativ und mit vereinten Kräften auf die jeweiligen Forderungen der Behörden. Ihre Selbstdisziplin und Geduld waren der mächtigste Garant der erfolgreichen Eindämmung der Epidemie. 76 Tage in Quarantäne zu verbringen war keine leichte Angelegenheit. Die Durchschlagskraft der Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, die Organisation der Quarantäne und andere Vorkehrungen in der späteren Phase waren tatsächlich äußerst effektiv.
Als mein Tagebuch 60 Einträge umfasste, hatte sich die Lage in Wuhan vollständig verändert. Seit dem 8. April, 76 Tage nach der Absperrung, ist Wuhan wieder eine vollkommen offene Stadt. Es waren Tage, die wir nicht vergessen werden. Am Tag der Öffnung hatten nahezu alle Wuhaner Tränen in den Augen.
Völlig unerwartet kam für uns, dass sich in dem Moment, als sich die Situation in Wuhan allmählich entspannte, die Seuche in den Staaten Europas und Amerikas ausbreitete. Ein Virus, so winzig, dass ihn das bloße Auge nicht sehen kann, bewirkt weltweite Zerstörung. Wir alle, gleichgültig ob im Osten oder Westen, werden von ihm gleichermaßen gepeinigt.
Doch die Politiker auf beiden Seiten weisen sich gegenseitig die Schuld zu, ohne an die eigenen Versäumnisse zu denken. China trägt Verantwortung für die Zögerlichkeit und Verschleppung in der Anfangsphase und der Westen für die Weigerung, Chinas Erfahrungen bei der Eindämmung der Epidemie Vertrauen zu schenken. Beides hat unzählige Opfer in der Bevölkerung gefordert und unzählige Familien auseinandergerissen. Der gesamten menschlichen Gesellschaft wurde ein schwerer Schlag versetzt.
Auf die Frage einer deutschen Journalistin, welche Lehren China aus der Epidemie ziehen sollte, habe ich geantwortet, die Epidemie breite sich nicht nur in China, sondern weltweit aus. Sie erteile nicht nur China, sondern der ganzen Welt, der gesamten Menschheit eine Lektion. Und die laute: Ihr Menschen, seid weniger arrogant, nehmt euch weniger wichtig, glaubt nicht, dass ihr unbesiegbar seid, unterschätzt nicht die Zerstörungsgewalt auch winziger Dinge wie die eines Virus.
Das Virus ist der gemeinsame Feind der Menschheit, es hat der gesamten Menschheit eine Lektion erteilt. Nur wenn die Menschheit zusammensteht, kann sie das Virus besiegen.
Auch die deutsche Ausgabe des Buches wird demnächst erscheinen. Während ich das schreibe, ist die Epidemie in Wuhan beendet, aber viele Deutsche kämpfen noch mit dem Virus. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Buch ihnen ein paar nützliche Dinge vermittelt. Zum Beispiel unsere Erfahrungen: möglichst das Haus nicht zu verlassen; sich möglichst wenig mit anderen Leuten zu treffen; wenn man ausgehen muss, unbedingt eine Schutzmaske zu tragen; wenn man zurückkehrt, sich sofort die Hände zu waschen. Diese Verhaltensweisen haben sich außerordentlich bewährt. Ich wünsche dem deutschen Volk einen raschen Sieg über das Virus und die Rückkehr zu einem glücklichen, erfüllten Leben.
Mein innigster Dank gilt den vier Ärzten und Ärztinnen, mit denen ich befreundet bin. Sie haben mich für dieses Tagebuch mit Informationen über den Zustand der Epidemie und etwas medizinischem Wissen versorgt.
Ich danke meinen drei älteren Brüdern für ihre Hilfe und Fürsorge und allen Familienangehörigen und Verwandten für ihre außerordentliche Unterstützung. Als einer meiner Cousins bemerkte, dass ich angegriffen werde, sagte er: »Mach dir nichts draus, alle Mitglieder der Familie stehen eisern hinter dir!« Meine Cousine hat mich ständig mit allen möglichen Informationen versorgt. Jeder Satz der Aufmunterung und Unterstützung meiner Lieben gibt mir einen Schub Wärme.
Ich danke meinen ehemaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der Universitäts- und meinen ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern aus der Schulzeit. Sie haben mir den Rücken gestärkt. Sie haben alle möglichen Nachrichten und Informationen an mich weitergeleitet und mich ermutigt, als ich vor den Schwierigkeiten zurückweichen wollte. Und ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn, die mir während des Schreibens aus vielen Alltagsnöten geholfen haben.
Ich möchte dem amerikanischen Übersetzer Michael Berry danken. Ohne seine Anregung wäre ich nie auf die Idee gekommen, dieses Tagebuch im Ausland zu veröffentlichen, und vor allem nicht innerhalb so kurzer Zeit.
Und ich danke von Herzen Michael Kahn-Ackermann, dem Übersetzer der deutschen Ausgabe. Ich bin gegenwärtig den Angriffen chinesischer Linksextremisten ausgesetzt. Dass er mich häufig anruft, um sich nach meinem Befinden und meiner Sicherheit zu erkundigen, rührt mich sehr.
Dieses Buch ist den Menschen in Wuhan gewidmet. Und insbesondere den Menschen, die den Wuhanern in der Zeit der größten Schwierigkeiten zu Hilfe gekommen sind.
Die Honorare für dieses Buch werden ausschließlich zu Spendenzwecken verwendet. Sie sollen denjenigen zugutekommen, die Hilfe benötigen.
Fang Fang, 13. April 2020
Ich habe keine Ahnung, ob dieser Eintrag die Leser erreichen wird. Vor kurzem führte meine Kritik am ungehobelten Auftreten einiger junger Leute auf der Straße dazu, dass mein Blog gesperrt wurde. (Ich halte an meiner Meinung fest, dass auch die Berufung auf den Patriotismus kollektive beleidigende Beschimpfungen in der Öffentlichkeit nicht rechtfertigt, das ist eine Frage zivilisierten Benehmens!)2 Es gibt keine Möglichkeit, sich gegen eine solche Sperrung zu wehren oder gar Anzeige zu erstatten. Ich bin von sina.com3 restlos enttäuscht und werde die Plattform nie wieder für meinen Blog benutzen.
Niemand hat die schreckliche Katastrophe, die Wuhan jetzt getroffen hat, vorausgeahnt. Sie hat zur Folge, dass sich das Augenmerk des ganzen Landes auf Wuhan richtet, dass die Stadt abgeriegelt ist und dass Menschen aus Wuhan überall auf Zurückweisung stoßen. Es hat zur Folge, dass auch ich in der Stadt eingesperrt bin. Heute hat die Regierung verfügt, dass ab null Uhr jeglicher KFZ-Verkehr im Stadtzentrum untersagt ist. Genau dort wohne ich.
Es gibt viele Nachfragen (auch über Sixin4), mit denen die Menschen ihrer Anteilnahme und Sorge um uns, die wir nun in unseren Wohnungen eingesperrt sind, Ausdruck geben und ihre Sympathie bekunden. Eben gerade schickt mir Cheng Yongxin von der Literaturzeitschrift Shouhuo eine Nachricht und meint, es wäre der rechte Moment, ein Tagebuch aus einer abgeriegelten Stadt zu schreiben. Das gibt mir den Anstoß, aufzuschreiben, was ich hier erlebe. Vorausgesetzt, mein Blog kann gelesen werden. Alle sollen erfahren, was sich in Wuhan gerade tatsächlich abspielt.
Ich bin allerdings nicht sicher, ob dieser Eintrag durchgeht. Falls Freunde und Bekannte ihn lesen können, bitte ich um Nachricht, damit ich darüber im Bilde bin, was Sache ist. Blogs wie dieser auf Weibo verfügen über ein technisches Verfahren, das dich glauben macht, dein Text sei rausgegangen, aber tatsächlich bekommt ihn niemand zu Gesicht. Seitdem ich von dieser Technik weiß, habe ich begriffen, dass Hightech ebenso bösartig sein kann wie eine Epidemie.
Also, ich schicke das hier ab und probier’s.
Ich bedanke mich bei allen für die Aufmerksamkeit und Fürsorge. Nach wie vor befinden sich die Bürger Wuhans in einer kritischen Phase. Auch wenn die anfängliche Panik, die Hilflosigkeit, die Ängste und die Anspannung gewichen sind und die Atmosphäre nun weit ruhiger und gefasster ist, benötigen sie nach wie vor Trost und allgemeine Ermunterung. Aber zumindest befindet sich der Großteil der Wuhaner nicht mehr im Zustand niederschmetternder Ratlosigkeit.
Ich hatte vor, meine Aufzeichnung mit dem 31. Dezember zu beginnen, um meinen eigenen Übergang von gespannter Wachsamkeit zu entspannter Gleichgültigkeit zu rekapitulieren, aber das würde zu viel Platz einnehmen. Ich ziehe es deshalb vor, zunächst in Echtzeit etwas über meine aktuellen Empfindungen und ohne Hast ein Tagebuch aus Wuhan zu schreiben.
Heute ist der zweite Tag des Neujahrsfestes,5 nach wie vor kaltes Wetter, Regen und Wind. Es gibt Gutes und Schlechtes zu berichten: Die gute Nachricht ist, dass die Hilfe des Staates ständig an Umfang und Wirkung zunimmt, immer mehr medizinisches Personal nach Wuhan kommt usw. usw. Das sorgt für Beruhigung unter den Wuhaner Bürgern. Das alles ist bereits allgemein bekannt.
Die für uns persönlich gute Nachricht ist, dass es gegenwärtig unter den Angehörigen meiner Familie keine Ansteckungsfälle gibt. Mein drittältester Bruder wohnt zwar mitten im Zentrum der Epidemie, in nächster Nähe zum »Südchinesischen Markt für Meeresprodukte«6 und dem Zentralkrankenhaus Hankou. Hinzu kommt, dass sein gesundheitlicher Zustand nicht allzu gut ist und er sich bis vor kurzem in genau diesem Krankenhaus regelmäßig behandeln lassen musste. Gott sei Dank ist bei ihm und der Schwägerin alles in Ordnung. Er hat mir mitgeteilt, dass er sich für zehn Tage mit Lebensmitteln eingedeckt hat und deshalb keinen Fuß mehr vor die Tür setzen muss.
Meine Tochter wohnt wie ich und die Familie meines ältesten Bruders in Wuchang. Von Hankou, wo die Gefahr, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, relativ gesehen am höchsten ist, sind wir durch den Yangtze getrennt, es ist also vergleichsweise sicher. Auch wenn wir die Wohnung nicht verlassen dürfen, ist uns nicht langweilig. Wir gehören vermutlich zur Spezies der häuslichen Menschen. Sorgen machen wir uns nur um meine Nichte und ihren Sohn, die zum Besuch der Eltern nach Wuhan gekommen sind. Ursprünglich sollte sie mit dem Kind am 23. Januar von Wuhan mit dem Hochgeschwindigkeitszug nach Kanton reisen, um sich dort mit ihrem Mann und den Schwiegereltern zu treffen. (Selbst wenn sie das geschafft hätte, wäre der Aufenthalt dort kaum angenehmer gewesen. Seufz!)7 Aber genau an diesem Tag wurde die Stadt abgeriegelt, sie hatten keine Chance, fortzukommen. Keiner kann sagen, wie lange die Abriegelung dauert. Damit wären die Rückkehr an den Arbeitsplatz und der Schulbesuch des Kindes momentan unmöglich. Da Mutter und Sohn die Staatsbürgerschaft von Singapur besitzen, wurden sie gestern von der dortigen Regierung benachrichtigt, dass man in den nächsten Tagen eigens ein Flugzeug schicken werde, um sie abzuholen. (Vermutlich halten sich zahlreiche Auslandschinesen aus Singapur in Wuhan auf.) Nach ihrer Rückkehr müssen sie sich 14 Tage in Quarantäne begeben. Diese Nachricht löst bei uns allen Stoßseufzer der Erleichterung aus.
Noch erfreulicher ist die Nachricht, dass dem Vater meiner Tochter, bei dem bei einer Röntgenuntersuchung in einer Shanghaier Klinik ein Schatten in der Lunge festgestellt wurde, gestern Entwarnung gegeben wurde. Es handelt sich um eine gewöhnliche Grippe und keine Coronainfektion. Er kann heute die Klinik verlassen. Unsere Tochter, die vor kurzem mit ihm gegessen hat, muss nun nicht unter strenger Quarantäne in ihrer eigenen Wohnung bleiben. (Noch am Vorabend des Neujahrsfestes bin ich mit dem Auto in strömendem Regen zu ihr gefahren, um ihr Essen zu bringen.) Wie sehr sehnen wir uns nach solchen guten Nachrichten, wenigsten eine am Tag, die uns trotz Abriegelung, trotz Eingesperrtseins in der Wohnung ein bisschen innere Erleichterung verschaffen.
Schlechte Nachrichten bleiben nach wie vor jedoch nicht aus. Meine Tochter erzählt mir, dass der Vater einer Bekannten (der bereits Leberkrebs hatte) wegen Verdachts auf Ansteckung in die Klinik gebracht wurde, wo sich niemand um ihn kümmerte, bis er drei Stunden später starb. Passiert ist das offenbar vor zwei Tagen. Sie klingt am Telefon untröstlich.
Gestern Nacht erhielt ich einen Anruf vom jungen Li aus dem Künstlerverband, der mir mitteilte, dass in unserer Wohnanlage zwei Ansteckungsfälle festgestellt wurden. Ein Ehepaar, beide etwas über 30. Ich solle auf meine Sicherheit achten. Ihre Wohnung liegt etwa 300 Meter von der meinen entfernt. Meine Wohnung ist jedoch in einem anderen Block, der einen eigenen Eingang besitzt, allzu große Sorgen müssen wir uns nicht machen. Aber ihre Hausnachbarn, die denselben Eingang benutzen, dürften nervös geworden sein. Heute erfahre ich von einem Kollegen, dass sie zu den leichteren Fällen gehören, die unter Quarantäne in der eigenen Wohnung behandelt werden. Junge Leute in körperlich guter Verfassung ohne schwerwiegende Symptome, sie sollten es bald überstehen. Beten wir, dass sie sich rasch erholen.
Die gestrige Pressekonferenz der Provinzregierung von Hubei verbreitet sich im Netz rasend schnell und hat viele Menschen verärgert.8 Der Ausdruck von Niedergeschlagenheit und Erschöpfung auf den Gesichtern der drei Beamten und ihre ständigen Versprecher machten ihre Verstörung deutlich sichtbar. In gewisser Weise sind sie bemitleidenswert. Auch sie dürften Familienangehörige in Wuhan haben, ihre Selbstbezichtigungen halte ich für glaubwürdig. Wie sich das Ganze soweit entwickeln konnte, muss nachträglich aufgearbeitet und natürlich der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden.
Die Achtlosigkeit und Untätigkeit der Wuhaner Behörden in der Frühphase der Epidemie und die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Funktionäre vor und nach der Verhängung der Abriegelung, haben in der Bevölkerung eine gewaltige Panik ausgelöst und allen Wuhaner Bürgern Schaden zugefügt. Damit werde ich mich noch ausführlich befassen. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass das Verhalten der Wuhaner Beamten dem Verhalten des durchschnittlichen chinesischen Funktionärs entspricht. Sie sind in keiner Weise schlechter als andere Beamte, sie haben einfach nur mehr Pech gehabt. Beamte halten sich seit jeher an schriftliche Anweisungen; sobald die ausbleiben, wissen sie nicht, was sie tun sollen. Hätte sich das Gleiche zur selben Zeit in irgendeiner anderen Provinz ereignet, hätten sich die dortigen Funktionäre auch nicht besser verhalten. Es sind die üblen Folgen der Negativauslese in der Beamtenschaft, des leeren, politisch korrekten Geschwätzes und der Missachtung von Tatsachen, die üblen Folgen des Verbots, die Wahrheit auszusprechen, die Verhinderung der Medien, den wahren Sachverhalt zu berichten, die wir jetzt auszubaden haben. Hubei hat sich lediglich vorgedrängt und bekommt jetzt eben als Erstes einen großen Bissen zu kosten.
Erneut möchte ich allen für ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge gegenüber Wuhan und den Wuhanern danken. Ich setze gern meine Aufzeichnungen fort.
Um die großen Fragen kümmert man sich im Moment kaum, es brächte ja auch wenig Nutzen. Solange man sich nicht infiziert hat, bleibt man optimistisch.
Die größte Sorge bereitet den Bürgern gegenwärtig der Mangel an Schutzmasken. Ich habe heute das Video eines Shanghaiers gesehen, der Schutzmasken einkaufen geht. In der Apotheke kosten sie 30 Yuan9 das Stück, statt wie bisher fünf. Der Shanghaier erregt sich fürchterlich, filmt mit seinem Smartphone den Vorgang, und beschimpft lauthals die Apotheker. Er hat keine Wahl, muss sie kaufen, aber er verlangt eine schriftliche Quittung. Er ist tatsächlich weit cleverer und mutiger als ich! Hut ab!
Schutzmasken sind Verbrauchsartikel, sie werden daher in großen Mengen benötigt. Nach Auskunft der Experten bietet nur die Schutzmaske N95 wirksamen Schutz vor dem Virus. Aber Tatsache ist, dass man sie nirgends kriegt. Bestellt man sie im Internet, werden sie erst nach Ablauf der Neujahrsfestfeiertage geliefert. Mein zweitältester Bruder hatte einigermaßen Glück, ein Mitbewohner seiner Wohnanlage erhielt von einem Verwandten tausend Stück N95-Schutzmasken geschickt. (Was für ein Musterexemplar eines Verwandten!) Zehn Stück davon wurden meinem Bruder zugeteilt. Gerührt erklärte er, es gebe doch noch gutherzige Menschen.
Mein ältester Bruder dagegen hat weniger Glück. Er besitzt keine einzige N95-Schutzmaske, nur die gewöhnlichen Einwegmasken, die meine Nichte gekauft hat. Da der Vorrat begrenzt ist, bleibt nur der Ausweg, sie zu waschen und mit Hilfe des Bügeleisens zu sterilisieren, um sie anschließend erneut zu nutzen. Einigermaßen bitter. (Apropos, meine Nichte teilt mir mit, dass in der Angelegenheit des Rücktransportes nach Singapur noch keine endgültige Entscheidung gefallen ist, ich solle das im Blog weitergeben.)
Mir selbst geht es ähnlich. Als ich am 18. Januar im Krankenhaus einen Patienten besuchen wollte, brauchte ich unbedingt eine Schutzmaske. Aber in der Wohnung fand sich keine einzige. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Mitte Dezember nach Chengdu gefahren war. Mein Kommilitone Xu Min hatte mir damals, mit Verweis auf die schlechte Luft dort, einen Schutzmaske gegeben. In Wahrheit ist es mit der Luft in Wuhan auch nicht viel besser bestellt. Ich bin schlechte Luft also gewöhnt, deshalb habe ich die Maske nie verwendet. An diesem 18. Januar rettete sie mich jedoch aus höchster Not. Und glücklicherweise handelte es sich noch dazu tatsächlich um eine N95-Schutzmaske! Ich setzte sie auf, um ins Krankenhaus zu gehen, zum Flughafen und um weitere Schutzmasken einzukaufen. Ich trug sie hintereinander mehrere Tage, was blieb mir sonst übrig?
Ich teile meine Wohnung mit einem 16 Jahre alten Hund. Am 22. Januar entdecke ich plötzlich, dass kein Hundefutter mehr im Haus ist. Ich begebe mich eilig ins Geschäft für Tierbedarf, um Nachschub zu besorgen, und habe vor, die Gelegenheit zu nutzen, unterwegs ein paar Schutzmasken zu kaufen. Ich betrete also eine Apotheke in der nahegelegenen Dongting-Straße (ihren Namen möchte ich nicht nennen). Zufälligerweise gibt es dort N95-Schutzmasken zu kaufen, allerdings das Stück für 35 Yuan. Für ein Paket mit 25 Stück wären das 875 Yuan. Ich frage die Verkäufer, wie man sich in der gegenwärtigen Situation derart unverfroren und unmoralisch verhalten könne, und erhalte zur Antwort, der Lieferant habe die Preise erhöht, man habe keine andere Wahl, als das Gleiche zu tun. Bei derartig hoher Nachfrage müsse man eben auch hohe Preise in Kauf nehmen. Ich beschließe, zunächst nur vier Stück zu kaufen, aber zu meinem Erstaunen ist keine der Schutzmasken einzeln verpackt, die Verkäuferin fasst sie mit bloßen Händen an. Angesichts derartiger hygienischer Verhältnisse verzichte ich auf den Kauf und ziehe es vor, keine Maske zu tragen.
Am Neujahrsabend unternehme ich einen weiteren Versuch. Sämtliche Apotheken sind geschlossen. Nur ein paar privat betriebene Minimärkte haben geöffnet, und in einem davon finde ich N95-Schutzmasken der Marke Yimenshan, grau, einzeln verpackt, das Stück für zehn Yuan. Ich kaufe vier davon und fühle mich innerlich etwas gefestigter. Als ich von der Mangelsituation im Hause meines ältesten Bruder erfahre, vereinbare ich mit ihm, zwei davon abzugeben und sie am nächsten Tag vorbeizubringen. Aber tags darauf bittet er mich, das Haus nicht zu verlassen, von ihnen setze sowieso keiner einen Fuß vor die Tür, die Masken würden deshalb nicht benötigt.
Wenn ich mich mit Kollegen per WeChat unterhalte, schallt mir von allen Seiten entgegen, dass der Mangel an Schutzmasken gegenwärtig das größte Problem sei. Man müsse schließlich gelegentlich das Haus verlassen, um ein paar Dinge einzukaufen. Von Freunden geschickte Schutzmasken erreichten oft ihre Empfänger nicht. Außerdem gäbe es oft minderwertige Ware, und im Internet finde man Nachrichten über gebrauchte Schutzmasken, die recycelt und weiterverkauft würden. Sie zu verwenden, sei sehr gefährlich. Die meisten Kollegen verfügen gerade noch über ein bis zwei Stück. Uns bleibt nur die mahnende Aufforderung, sie möglichst wenig zu benutzen. Ein gegenwärtig umlaufender Witz sagt die Wahrheit: Die Schutzmaske ersetzt in der Tat das Schweinefleisch als gefragtester Konsumartikel zur Feier des Neujahrsfestes.
Ich gehe davon aus, dass sich der Mangel an Schutzmasken nicht auf meinen Bruder und meine Kollegen beschränkt. Darunter leiden mit Sicherheit unzählige normale Wuhaner Bürger. Und ich gehe davon aus, dass es keinen generellen Mangel an Schutzmasken gibt, sondern zu wenige in die Hände der Bürger gelangen. Ich hoffe nur darauf, dass die Expresslieferdienste bald wieder ihren Betrieb aufnehmen und sich die Versorgung Wuhans etwas verbessert, um uns über diese Malaise hinweg zu helfen.
Von gestern auf heute hat sich das Wetter gebessert. Es hat aufgehört zu regnen. Heute Nachmittag hat sich sogar für einen kurzen Moment die Sonne blicken lassen.
Ein klarer Himmel hebt die Stimmung. Bei den in ihren Wohnungen eingesperrten Personen dürften sich allerdings eher die Missstimmungen mehren. Fünf Tage verbringen sie nun schon in Quarantäne, seit die Stadt abgeriegelt wurde. Das schafft nicht nur mehr Gelegenheiten, sich auszusprechen, sondern auch mehr Gelegenheiten, sich zu streiten. Schließlich ist es für die Familien eine völlig neue Erfahrung, dass alle, Alte wie Junge, auf diese Weise Tag um Tag aufeinanderhocken, vor allem für Familien in beengten Wohnverhältnissen. Für die Erwachsenen mag die Unmöglichkeit, die Wohnung zu verlassen, noch angehen, für die Kinder aber ist sie vermutlich schwer auszuhalten. Keine Ahnung, ob Psychologen über Mittel verfügen, den Wuhanern Trost und Beruhigung zu spenden. Wie auch immer, wir müssen noch weitere 14 Tage durchhalten. Es heißt, dass in den nächsten beiden Tagen die Epidemie in ihre Hochphase eintritt. Daher die nachdrücklichen Ermahnungen von Ärzten: Solange ihr noch Reis im Haus habt, esst lieber nackten Reis, auf keinen Fall die Wohnung verlassen! Na gut, hören wir auf sie.
Auch am heutigen Tag mischen sich Freude und Kummer. Gestern hat mich der Chefredakteur der China News Agency, mein Studienkollege Xia Chunping, per WeChat interviewt. Heute kommt er in Begleitung vorbei, um ein paar Fotos zu machen, und bringt mir als Überraschung 20N95-Schutzmasken mit. Die kommen wirklich zur rechten Zeit und machen mich überglücklich.
Als wir gerade am Eingang des Verwaltungsgebäudes des Künstlerverbandes stehen, um Fotos zu schießen, kommt mein Kommilitone Geng vom Reiseinkauf zurück und wirft uns äußerst misstrauische Blicke zu. Ich habe den Eindruck, er ist kurz davor, uns mit der sprichwörtlichen Gewissenhaftigkeit eines Bewohners der Provinz Henan, aus der er stammt, anzuschnauzen: »Wer seid ihr denn? Was habt ihr hier an unserem Eingang zu suchen!« Angesichts seiner drohenden Miene rufe ich ihn hastig beim Namen. Sein Blick ändert sich auf der Stelle, er wird herzlich, geradezu enthusiastisch, als hätten wir uns eine Ewigkeit nicht mehr gesehen, obwohl wir täglich in der Chatgruppe unserer Kommilitonen miteinander kommunizieren.
Xia Chunping hat an unserer Universität Geschichte studiert, die Studenten der Geschichtsfakultät und der Fakultät für chinesische Literatur und Sprache waren damals im selben Wohnheim untergebracht. Deshalb verfallen beide sofort in freudig erregtes Erstaunen, als ich sie einander vorstelle. Geng wohnt abwechselnd in Wuhan und in Hainan,10 hier wie dort befinden sich unsere Wohnungen in derselben Anlage. Er hat es dieses Jahr nicht geschafft, rechtzeitig nach Hainan überzusiedeln, wir teilen das gleiche Schicksal, sind beide in der Wohnanlage unseres Verbandes eingesperrt. Er teilt mir mit, die beiden Coronapatienten aus dem Gebäude Nr. 8 seien inzwischen ins Krankenhaus geschafft worden, was bei den Nachbarn große Erleichterung hervorgerufen habe. Ich gehe davon aus, dass die Behandlung in einer Klinik wirkungsvoller ist als die häusliche Quarantäne. Dennoch bete ich, dass sie sich bald erholen.
Der Verlagslektor Yuan, der meinem Blog folgt, schickt mir ebenfalls drei Packungen Schutzmasken. Mein Gott, bin ich gerührt! Es geht doch nichts über alte Freunde. Auf einen Schlag bin ich ein Großmundschutzbesitzer. Umgehend teile ich sie mit den Kollegen, mit denen ich gestern über den Mangel an Schutzmasken gejammert habe. Die Kollegin Shi Cai bringt mir im Gegenzug einige Kohlköpfe. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass die Not uns zusammenschweißt, sage ich ihr. In ihrer Familie leben drei Generationen unter einem Dach, darunter einige Kranke. Sie muss jeden zweiten Tag aus dem Haus, um einzukaufen. Die Generation der in den Achtzigern Geborenen hat es weiß Gott nicht leicht. Daneben kümmert sie sich noch um ihre Arbeit. Ich habe im Netz gelesen, wie sie darüber diskutierten, dass die Manuskripte der anstehenden Ausgabe ihrer Zeitschrift unbedingt rausgeschickt werden müssen. Denkt man daran, dass es in Wuhan solche Leute gibt, kommt einem keine Schwierigkeit mehr unüberwindlich vor.
Natürlich schwirren auch schlechte Nachrichten durch die Luft. Als ich vor ein paar Tagen die Nachricht vom Festmahl für 40000 Familien im Viertel Baibuting11 hörte, habe ich sie sofort an die Freunde weitergegeben und Kritik geübt. Ich habe mich ziemlich scharf geäußert und gesagt, dass die Durchführung einer derartigen Großveranstaltung zu einem Zeitpunkt wie diesem »alles in allem als kriminelle Aktion zu betrachten« sei. Das war am 20. Januar. Wer hätte gedacht, dass die Provinzregierung noch am 21. eine gewaltige Tanz- und Gesangsgala veranstalten würde? Hat man jeden gesunden Menschenverstand verloren? Wie viel hartnäckige Dummheit, wie viel Unflexibilität, wie viel Realitätsverlust muss man besitzen, um so etwas zu machen? Ihr unterschätzt mich aber gewaltig, muss sich das Virus gedacht haben.
Zu dergleichen Angelegenheiten möchte ich mich nicht weiter äußern. Die schlechte Nachricht heute kommt nun genau aus dem Viertel Baibuting. Unter den Festmahlteilnehmern gibt es einige bestätigte Fälle einer Infektion mit dem neuen Coronavirus. Ich habe diese Information zwar nicht nachgeprüft, aber mein intuitives Urteilsvermögen sagt mir, dass die Quelle, von der ich sie habe, die Wahrheit sagt. Bei einem Festmahl dieser Größenordnung muss es unvermeidlich zu Infektionen kommen. Manche Experten erklären, die Sterberate der derzeit in Wuhan an Lungenentzündung Erkrankten sei nicht ungewöhnlich hoch. Wir würden ihnen gern glauben, auch ich möchte es. Allerdings gibt es auch andere Informationen, die uns nachträglich in Angst und Schrecken versetzen. All die Personen, die zwischen dem 10. und 20. Januar an einer der zahllosen Versammlungen und Treffen teilgenommen haben, sollten höchste Vorsicht walten lassen. Das Virus macht keinen Unterschied zwischen gewöhnlichen Bürgern und leitenden Funktionären.
Zum Schluss ein paar Worte zur Mütze von Bürgermeister Zhou.12 Seit gestern machen Leute im Netz ihrem Unmut über den Vorfall Luft. In normalen Zeiten hätte auch ich mich darüber mokiert. Aber nun ist er als Chef der Stadtregierung im Kampf gegen die Epidemie ständig unterwegs, Erschöpfung und Besorgnis stehen ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Ich schätze, nachdem sich die Aufregung gelegt hat, wird er selbst darüber nachdenken, welches Bild er abgegeben hat. Ein Mensch wird in einem solchen Moment unvermeidlich Scham, Gewissensbisse, Reue und innere Unruhe empfinden. Aber er ist schließlich Leiter einer Stadtregierung, er muss sich, wie auch immer, mit voller Energie auf die vor ihm liegende riesige Aufgabe konzentrieren. Er ist schließlich auch ein Mensch wie wir.
Es heißt, Bürgermeister Zhou sei pflichtbewusst und tatkräftig, sein Ruf ist untadelig, er hat sich aus einem ländlichen Kreis in den Exi-Bergen Schritt für Schritt durch praktische Arbeit emporgearbeitet. Vermutlich war er nie zuvor mit solch einer Riesenaufgabe konfrontiert. Ich schlage also vor, die Mützenangelegenheit unter einem etwas freundlicheren Blickwinkel zu betrachten. Könnte es nicht so gewesen sein, dass ihm erst in jenem Moment auffiel, dass der Ministerpräsident in dieser Eiseskälte keine Mütze trug? Er ist jünger als der Ministerpräsident; dass er im Gegensatz zu ihm eine Mütze trägt, könnte in dieser Situation extrem unhöflich wirken, deshalb nimmt er sie ab und übergibt sie seinem Assistenten. Wäre es nicht besser, die Sache so zu betrachten?
Auf einen Rutsch bis zwölf Uhr mittags durchgeschlafen. (Ehrlich gesagt ist das meine normale Zeit, zu der ich aufstehe, nur habe ich zu normalen Zeiten Gewissensbisse.) Aber jetzt halte ich mich an einen Spruch der Wuhaner: »Die Mittagssonne brennt auf den Spaten, wie schwer ist’s, auf den Schlaf zu warten.« Verschläfst du den Vormittag, bleibt dir immer noch der Nachmittag. (Schluchz!) So gesehen, fühlt man sich gleich wohler!
Auf dem Bett liegend durchforste ich die Eingänge auf dem Smartphone und finde die Nachricht des befreundeten Arztes: »Pass gut auf dich auf! Nicht aus dem Haus gehen! Nicht aus dem Haus gehen! Nicht aus dem Haus gehen!« Die dreifache Wiederholung verursacht mir Herzklopfen. Wir steuern wohl tatsächlich auf die akute Ausbruchsphase der Epidemie zu, denke ich bei mir. Eilig rufe ich meine Tochter an, und als ich von ihr höre, dass sie sich gerade zum Supermarkt ihrer Wohnanlage aufmacht, um ein paar Fertiggerichte zu kaufen, fordere ich sie dringend auf, das zu unterlassen. Selbst wenn man nichts als nackten Reis zu essen hat, sollte man dieser Tage nicht vor die Tür gehen. Als ich am ersten Neujahrstag die Nachricht erhielt, dass das gesamte Stadtzentrum für den privaten KFZ-Verkehr gesperrt ist, habe ich ihr umgehend genug Vorräte für zehn Tage vorbeigebracht, weil ich ahnte, dass sie es vorziehen würde, außerhalb zu essen, anstatt sich selbst zu versorgen. Zum Glück hat auch sie Angst vor dem Sterben und willigt widerspruchslos ein, die Wohnung nicht zu verlassen.
Kurz darauf ruft sie an, um sich von mir Rat zu holen, wie man Chinakohl zubereitet. (Sie hat den von mir gelieferten Chinakohl tatsächlich ins Gefrierfach gestopft.) Meine Tochter hat noch nie am Herd gestanden. Entweder lädt sie sich bei Bekannten ein, oder sie lässt sich Essen liefern. Dass sie jetzt ihre Küche in Betrieb setzt, muss als Fortschritt gelten, man könnte das als einen unerwarteten Ertrag der Situation verbuchen. Ich habe es besser als sie, die Nachbarin bringt mir einen Teller frisch gedämpfter Baozi13 vorbei. Obwohl wir beide bei der Übergabe Schutzmasken tragen, schlinge ich sie todesmutig hinunter.
Heute ist strahlender Sonnenschein, die Art von Wintersonne, die wir Wuhaner am meisten genießen. Warm und schmeichelnd. Ohne die Epidemie wären die Straßen in der Nähe meiner Wohnung sicherlich hoffnungslos verstopft. Sie liegt in der Nähe des Grüngürtels um den Ostsee, und dieser Ort gehört zu den beliebtesten Ausflugszielen der Wuhaner. Aber jetzt ist er menschenleer. Vor zwei Tagen ist mein Kommilitone Dao um den See gejoggt und hat anschließend erzählt, er sei unterwegs mutterseelenallein gewesen. Der Ostsee-Grüngürtel gehöre momentan zu den mit Abstand sichersten Orten Wuhans.
Abgesehen von der Angst vor Ansteckung sind die in ihren Wohnungen eingesperrten Wuhaner im Großen und Ganzen in einer stabilen Gemütsverfassung. Bemitleidenswert sind vor allem die Erkrankten und ihre Familienangehörigen. Aufgrund der Schwierigkeit, ein Bett in einer Klinik zu bekommen, befinden sie sich nach wie vor im Limbo. Die Arbeiten auf der Baustelle des in Fertigbauweise errichteten Krankenhauses Huoshenshan14 gehen zwar fieberhaft voran, aber fernes Wasser löscht keinen nahen Brand. Diese Leute sind die am schwersten Betroffenen, weiß der Himmel, wie viele Familien daran zerbrechen. Ein paar Medien dokumentieren solche Fälle, aber es sind vor allem die »Self-Media«, die sie seit längerem heimlich dokumentieren. Dokumentieren ist das Einzige, was wir tun können.
Am Morgen lese ich den Bericht über eine Mutter, die bereits zu Beginn der Epidemie gestorben ist, ihr Mann und sein Bruder haben sich ebenfalls angesteckt. Mich überkommt ein flaues Gefühl im Magen. Hier handelt es sich um Personen aus einer Mittelstandsfamilie. Was geschieht mit den Kranken aus ärmlicheren Verhältnissen? Keine Ahnung, wie es bei denen aussieht. Nie im Leben habe ich so überwältigende Gefühle von Trauer und Hilflosigkeit verspürt wie beim Betrachten der Videoaufnahmen von restlos erschöpften Ärzten und Schwestern und völlig am Boden zerstörten Patienten. Professor Chuan E von der Hubei-Universität gesteht mir, dass er jeden Tag einmal laut heulen möchte. Er spricht für uns alle. Im Gespräch mit Freunden weise ich deshalb ständig darauf hin, dass wir, an diesem Punkt angelangt, in aller Deutlichkeit die Wucht einer von Menschen verursachten Katastrophe erleben können. Bei der nachträglichen Aufarbeitung darf niemand ungeschoren davonkommen, der seine Pflichten vernachlässigt hat. Aber im Moment müssen wir erst einmal alle unsere Kräfte mobilisieren, um über diese Notsituation hinwegzukommen.
Was mich selbst betrifft, so hat sich, von meiner Gemütsverfassung abgesehen, an meiner Lebensweise nicht allzu viel verändert. Auch früher habe ich das Neujahrsfest mehr oder weniger auf diese Weise verbracht. Ich bin kaum ausgegangen, lediglich am dritten Neujahrstag habe ich der Familie meines Großonkels Yang Shuzi meine Neujahrsglückwünsche überbracht und mit ihnen gegessen. (Dieses Jahr ist der Besuch ausgefallen, mein Großonkel ist vorgerückten Alters und gebrechlich.)
Ich selbst neige mit Eintritt des Winters zu Halsentzündungen und habe drei Jahre hintereinander die Zeit um das Neujahrsfest im Krankenhaus verbracht. Deshalb achte ich in diesen Tagen ständig darauf, nicht krank zu werden. Vor ein paar Tagen hatte ich etwas Kopfschmerzen, gestern leichten Husten, heute geht es mir wieder gut … Jiang Zidan,15 die eine Menge von traditioneller chinesischer Medizin versteht, hat mich angesichts meiner häufigen Erkältungen zu einem typischen Fall von »außen kalt – innen heiß«16 erklärt. Seither braue ich mir bei Eintritt des Winters täglich eine Medizin bestehend aus Tragantwurzel, Geißblatt, Chrysantemenblüten, Chinesischen Wolfsbeeren (Gouqi), Amerikanischem Ginseng, roten Datteln und Maulbeerblättern zusammen. Ich habe auch einen Namen dafür erfunden: »Mischbrühe«. Davon trinke ich täglich ein paar Becher. Seitdem die Epidemie um sich greift, nehme ich morgens und abends Vitamin C zu mir, einmal in Tablettenform und einmal in Wasser aufgelöst, anschließend trinke ich große Mengen abgekochtes heißes Wasser. Beim abendlichen Duschen lasse ich mir lange ziemlich heißes Wasser über Brust und Rücken laufen und schlucke die restlichen mir verbliebenen Lianhua-Qingwen-Kapseln.
Ein Kommilitone hat uns zusätzlich eine Methode beigebracht, die er »das Schließen sämtlicher Pforten« nennt. Sie besteht darin, still vor sich herzusagen: »Alle Kapillaren des Körpers schließen sich! Kälte dringt nicht ein, die hundert Übel haben keinen Zugang, die positiven Abwehrkräfte sammeln sich im Inneren, das Übel ist machtlos!« Allen Ernstes versichert er, das sei eine über die Jahrhunderte tradierte Geheimformel, absolut kein Aberglauben. Na ja, wir haben darüber gelacht, keine Ahnung, ob es irgendjemand ausprobiert hat. Kurz und gut, ich bin sämtlichen Anweisungen von Freunden unterschiedlichster Couleur gefolgt und habe sämtliche Rezepte angewendet – ausgenommen das »Schließen sämtlicher Pforten«. Und sie wirken tatsächlich. Im Moment ist mein Befinden recht gut. Schützt euch selbst, damit helft ihr allen.
Ach ja, übrigens wurde gestern einer meiner Blog-Einträge gesperrt, er hatte eine längere Lebensdauer, als ich erwartet hätte. Wider Erwarten wurde er von vielen Menschen geteilt. Mir gefällt das direkte Schreiben im engen Rahmen eines Blogs, dort kann ich ungeniert drauflos tippen (genau dieses Gefühl von Unbekümmertheit ist es, was ich anstrebe), schreiben, was und wie es mir gerade einfällt. Ich gebe mir keine sonderliche Mühe mit Korrekturen, es wimmelt deshalb von Rechtschreibfehlern. (Ich schäme mich dafür, und entschuldige mich bei der Abteilung für chinesische Sprache und Literatur der Wuhan-Universität.)
In Wahrheit habe ich keinerlei Absicht, in diesem Moment irgendjemanden zu kritisieren. (Lautet nicht ein ehrwürdiger chinesischer Spruch: »Abgerechnet wird nach der Ernte«?) Schließlich ist gegenwärtig die Epidemie unser Hauptfeind. Ich will Schulter an Schulter mit der Regierung und den Bürgern von Wuhan mit aller Kraft gegen sie kämpfen. Ich werde alle Forderungen der Regierung an die Bevölkerung mittragen. Nur hatte ich, als ich diesen Blogeintrag schrieb, das Gefühl, Reflexion sei ebenfalls notwendig. Also habe ich ein bisschen reflektiert.
Ein schöner klarer Tag. Es herrscht die angenehmste Winteratmosphäre, es sind die Wintertage, die wir am meisten genießen. Nur verdirbt die Epidemie den Leuten gründlich die Stimmung. Die herrlichste Aussicht, und keiner, der sie genießt.
Was sich vor unseren Augen ausbreitet, ist die unbarmherzige Realität. Nach dem Aufstehen gilt der erste Blick den Nachrichten: Ein Bauer wird um drei Uhr morgens an den provisorischen Absperrungen vor der Stadt gestoppt und festgehalten. Wie sehr er auch fleht, die Straßenposten lassen ihn nicht durch. Mich beunruhigt vor allem die Frage, wo der Bauer in der nächtlichen Eiseskälte Zuflucht finden wird. Maßnahmen zur Verhinderung der Epidemieausbreitung schön und gut, aber müssen sie auf Kosten einfachster Menschlichkeit durchgeführt werden? Woher stammt die Neigung unserer Funktionäre, aus schriftlichen Direktiven unmenschliche Dogmen zu machen? Ist es unmöglich, dem Bauern, solange er eine Schutzmaske trägt, einen Raum zuzuweisen, wo er unter Quarantänebedingungen die Nacht verbringen kann? Oder nehmen wir den Fall eines gehirngeschädigten Kindes, das, weil man seinen Vater in Quarantäne gesteckt hat, fünf Tage allein und unversorgt zu Hause ausharren musste und schließlich verhungert ist.
Der Ausbruch einer Epidemie zeigt uns das wahre Gesicht der Menge, er führt uns das moralische und professionelle Niveau von Funktionären überall im Land vor Augen, und noch deutlicher enthüllt er die Krankheiten unserer Gesellschaft. Krankheiten, die bösartiger und langwieriger sind als das Coronavirus. Und nirgends ist Heilung in Sicht, dafür fehlen sowohl die Ärzte wie der Wille, Therapien zu entwickeln. Mich erfüllt das mit tiefer Bitterkeit.
Vor ein paar Minuten informierte mich ein Bekannter, dass in unserer Einheit17 ein junger Mann seit zwei Tagen erkrankt ist, er hat Atembeschwerden, es besteht Verdacht auf eine Infektion mit dem neuen Virus, aber da es noch nicht diagnostiziert wurde, kann er nicht in eine Klinik gebracht werden. Ein anständiger und gutherziger junger Bursche, seine Familie kenne ich gut. Hoffen wir, dass es sich nur um eine banale Erkältung handelt, man darf nicht immer gleich das Schlimmste annehmen.
Ich erhalte zahlreiche Rückmeldungen auf mein Interview mit der China News Agency, die begrüßen, was ich dort gesagt habe. Natürlich wurde das Interview nicht in vollem Wortlaut gesendet, dafür habe ich Verständnis. Einige Streichungen allerdings waren meiner Meinung nach unnötig. Zum Thema der Selbstheilung habe ich etwa gesagt: »Am wichtigsten sind die infizierten Patienten und die Familienangehörigen der an der Epidemie Verstorbenen, ihnen spielt das Schicksal sicherlich am härtesten mit, ihre Wunden sind so tief, dass manche bis ans Lebensende nicht darüber hinwegkommen werden. Sie vor allem brauchen den Trost und die Fürsorge des Staates …«
Denke ich an den in tiefer Nacht zurückgewiesenen Bauern, an das allein in seinem Haus verhungerte Kind, an die vielen vergebens nach ärztlicher Hilfe rufenden einfachen Leute und an die wie herrenlose Hunde herumstreunenden und überall abgewiesenen Wuhaner in der Fremde (einschließlich zahlreicher Kinder), dann weiß ich nicht, wann solche Wunden sich wieder schließen werden. Vom Schaden, der für das ganze Land entstanden ist, ganz zu schweigen.
Im Netz wird wie wild über das Verhalten der nach Wuhan entsandten Experten diskutiert. Keine Frage, diese wohlsituierten, unbekümmerten Herrschaften haben mit ihren leichtfertig verkündeten Schlussfolgerungen, dass »eine Ansteckung von Mensch zu Mensch auszuschließen« sei, und »Eindämmung und Kontrolle kein Problem« seien, ein himmelschreiendes Verbrechen begangen. Falls sie noch einen Rest von Gewissen haben und fähig sind, dem Zustand der geplagten Bevölkerung einen Blick zu gönnen, müssten sich auch bei ihnen Schuldgefühle einstellen. Die Hauptlast der Verantwortung für die Unversehrtheit von Land und Leuten tragen natürlich die leitenden Funktionäre der Provinz Hubei. Wer, wenn nicht sie, ist verantwortlich für den gegenwärtigen Zustand von Bedrohung und Verunsicherung? Die jetzige Situation der Epidemie ist dem Zusammenwirken mehrerer Seiten geschuldet. Sie können die Verantwortung auf niemanden und nirgendwohin abwälzen. Im Moment hoffen wir, dass sie sich aufraffen und mit dem Bewusstsein, eine Schuld abtragen zu müssen, vor allem aber mit Verantwortungsbewusstsein die Bevölkerung von Hubei aus diesen schweren Zeiten herausführen. Auf diese Weise können sie sich Nachsicht und Vergebung der Bevölkerung erwerben. Das ganze Land hält durch, wenn Wuhan durchhält.
Fast alle meine Verwandten leben in Wuhan. Gott sei Dank sind bis jetzt alle gesund. Mein ältester Bruder und meine Schwägerin sind beide über 70, mein drittältester Bruder geht ebenfalls auf die 70 zu. Wir sind gesund, damit helfen wir dem Land. Wie gut, dass auch meine Nichte und ihr Sohn heute Morgen sicher und wohlbehalten in Singapur gelandet sind. Sie werden nun in einer Ferienanlage isoliert. Ich muss an dieser Stelle der Verkehrspolizei des Bezirks Hongshan meinen tief empfundenen Dank aussprechen. Gestern erhielt meine Nichte die Benachrichtigung, sie solle sich am Abend auf dem Flughafen einfinden, das Flugzeug nach Singapur starte früh morgens um drei Uhr. Doch in der Stadt fahren weder U-Bahnen noch Busse, und mein Bruder hat keinen Führerschein, meiner Nichte und ihrem Sohn standen also keinerlei Verkehrsmittel zur Verfügung, um zum Flughafen zu gelangen.
Die Aufgabe, das Problem zu lösen, wurde mir übertragen. Die Zentralchinesische Hochschule für Wissenschaft und Technik, auf deren Gelände mein Bruder wohnt, gehört zum Bezirk Hongshan, also fragte ich bei der dortigen Verkehrspolizei nach, ob ich eine Sondergenehmigung bekommen könne. Unter den dortigen Polizisten befindet sich eine größere Anzahl meiner Leser. Ich solle die Angelegenheit ihnen überlassen, wurde mir erklärt, und brav zu Hause meinen Blog schreiben. Am Abend holte der Verkehrspolizist Xiao meine Nichte ab und brachte sie zum Flughafen. Unsere ganze Familie bedankt sich aus tiefsten Herzen für die Hilfe. In brenzligen Situationen ruf die Verkehrspolizei, auf die ist Verlass. Dass die Nichte und ihr Sohn in Sicherheit sind, ist meine einzige Freude am heutigen Tag.
Heute ist bereits der sechste Tag des Neujahrsfestes, wir gehen in den achten Tag der Abriegelung. Die Wuhaner Bürger sind zwar von Natur aus Optimisten, und die Aktivitäten der städtischen Behörden geraten zunehmend in geordnete Bahnen, aber die Situation der Stadt ist nach wie vor grimmig.
Am Abend schlürfe ich einen Hirsebrei. Ein kurzes Pensum auf dem Laufband, ein paar Schweißtropfen, dies für das Protokoll.
Heute ist der siebte Tag des Neujahrsfestes. Der Himmel strahlt, ist das ein gutes Omen? Diese Woche ist entscheidend für den Verlauf der Epidemiebekämpfung. Laut Meinung der Experten wird bis zum Ende der Feiertage bei nahezu allen Infizierten die Krankheit ausgebrochen sein. Das wäre der Wendepunkt. Das bedeutet, wir müssen noch eine Woche durchhalten. Dann sind nahezu alle Infizierten isoliert und die Gesunden dürfen wieder vor die Tür. Bedeutet das, dass wir unsere Freiheit wiederbekommen? Seit der Abriegelung der Stadt vor neun Tagen leben wir nun schon eingesperrt, aber das Gröbste haben wir hinter uns.
Der erste Blick nach dem Aufwachen geht zum Smartphone. Eine erfreuliche Nachricht: Der junge Mann aus unserer Einheit hat sich nicht infiziert. Nachdem er gestern Tabletten gegen Durchfall genommen hat, ist heute wieder alles in Ordnung. So ein Vollidiot! Er hat uns allen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Wenn alles vorbei ist, wird er uns als Wiedergutmachung zum Essen einladen müssen.
Doch meine Freude hält nur kurz an. Aus der nächsten Nachricht erfahre ich, dass ein Bekannter aus unserem Freundeskreis, ein Mitglied der regionalen Tanz- und Musiktruppe, gestorben ist, nachdem er tagelang darauf gewartet hat, ins Krankenhaus eingeliefert zu werden. Kurz nachdem ihn die Nachricht erreicht hat, dass ein Platz für ihn freigeworden ist. Es sollen sich auch eine Reihe von Funktionären der Provinz Hubei infiziert haben, einige von ihnen sollen sogar bereits gestorben sein. Mein Gott, wie viele Menschen haben hier in Wuhan bereits Familienmitglieder verloren? Und bisher gibt es niemanden, der sich entschuldigt oder die Verantwortung übernimmt. Überall nur Formulierungen und Artikel, worin die Schuld auf andere beziehungsweise die Umstände abgewälzt wird.
Wem sollen die Überlebenden überhaupt die Schuld geben? Dass ein Schriftsteller in einem Interview von einem »vollständigen Sieg« über das Virus spricht, macht mich sprachlos. Wie kann man angesichts der Verhältnisse in Wuhan, ja des ganzen Landes, angesichts von Millionen angsterfüllter Menschen, von Abertausenden in Lebensgefahr schwebenden Kranken und unzähligen zerrissenen Familien von einem »Sieg« sprechen? Welcher »Sieg«? Und gar »vollständig«? Es tut mir leid, dass ich gegenüber Kollegen ausfallend werden muss. Davon auszugehen, dass manche Leute nicht nachdenken, bevor sie den Mund aufmachen, wäre noch hinzunehmen. Doch so ist es nicht. Diese Leute wägen jedes Wort gründlich ab, wenn es darum geht, den Oberen zu gefallen.
Zum Glück lese ich gleich darauf einen kritischen Artikel eines anderen Schriftstellers. Er stellt präzise Fragen und wählt seine Worte mit Ernst und Gewicht. Es beruhigt mich zu wissen, dass es noch Autoren mit Gewissen gibt. Ich bin zwar nicht mehr Vorsitzende des Schriftstellerverbands der Provinz Hubei, aber ich bin noch immer Schriftstellerin. Liebe Kollegen aus Hubei, bestimmt werdet ihr, wenn alles vorüber ist, dazu aufgefordert, lobpreisende Essays und Gedichte zu verfassen. Doch ich bitte euch, nehmt euch Zeit, bevor ihr mit dem Schreiben beginnt, um euch darüber klar zu werden, wen ihr preisen wollt. Auch beim Schmeicheln darf man nicht übertreiben. Ich bin alt geworden, doch mein kritischer Geist ist um keine Sekunde gealtert.
Den ganzen Nachmittag verbringe ich hektisch damit, Essen zu kochen, das ich am Abend meiner Tochter vorbeibringen will. Sie ist am 22. Januar gegen Mitternacht von ihrer Japanreise zurückgekehrt und wurde prompt von der Abriegelung der Stadt überrascht. Sie war total unvorbereitet und hatte nichts Essbares in der Wohnung. Ich habe ihr am Neujahrsabend und am ersten Feiertag Essen vorbeigebracht. Ein paar Tage später erklärte sie, sie hielte es nicht mehr aus und wolle sich Essen liefern lassen. Ich war absolut dagegen, ihr Vater ebenso, deshalb entschied ich mich, für sie Koch- und Lieferdienste zu übernehmen. Meine Tochter wohnt nicht weit entfernt, mit dem Auto etwa zehn bis 20 Minuten. Ich erkundige mich bei der Polizei und erhalte die Auskunft, Autofahren sei kein Problem. Ich mache mich also ans Werk, bereite mich darauf vor, ihr die fertigen Gerichte bis vor die Tür zu liefern, und komme mir dabei vor wie bei der »Getreidelieferung an die Soldaten der Roten Armee«.18 Die Wohnanlage meiner Tochter ist für Außenstehende geschlossen, also übergebe ich ihr das Essen am Eingangstor. Meine Tochter ist die Einzige aus der jungen Generation meiner Familie, die in Wuhan geblieben ist, und ich muss sie gut beschützen.
Das Eingangstor ihrer Wohnanlage führt auf die Zweite Ringstraße. Normalerweise ist hier die Hölle los. Auto an Auto und vorbeiziehende Menschenströme. Jetzt sind kaum Autos und noch weniger Menschen zu sehen. Überall hängen bunte, glänzende Neujahrsfestdekorationen, doch die Läden sind geschlossen. Die Stimmung ist gespenstisch. Zu den Militärweltspielen im vorigen Jahr hat man an den Häuserfassaden Lichterketten angebracht. Mir gehen diese blinkenden Dinger gewöhnlich auf die Nerven, aber heute, als ich im Auto die verlassene Straße entlangfahre, empfinde ich beim Anblick der fröhlich blinkenden Lichter ein Gefühl innerer Ruhe. Wir sind wirklich in eine andere Zeit geraten.
Unerwarteterweise sehe ich Minimärkte, die noch geöffnet haben, und am Bürgersteig stehen Menschen, die Gemüse verkaufen. Ich kaufe ihnen etwas Pak Choi ab. Im Minimarkt besorge ich Eier und Milch (Eier finde ich erst im dritten Supermarkt). Ich frage die Verkäufer, ob sie keine Angst vor Ansteckung haben. Auch wir müssen leben, genau wie ihr, so ist es nun mal, bekomme ich zur Antwort. Sie haben ja so recht. Ich bewundere diese Vertreterinnen der arbeitenden Bevölkerung. Wenn ich mich ab und zu mit ihnen unterhalte, fühle ich mich auf eine merkwürdige Weise beruhigt und gestärkt. In den ersten Tagen der Panik sah man auf den verlassenen Straßen im kalten Regen und Wind die Straßenreiniger pflichtbewusst und sorgfältig den Boden fegen. Bei ihrem Anblick schämte ich mich, und meine Angst und Nervosität waren von einem Moment auf den anderen verschwunden.
Das Wetter bleibt klar und sonnig. Heute ist der achte Tag des Neujahrsfestes. Zu meiner Überraschung merke ich, dass ich den Lärm und das lebhafte Treiben vermisse, die normalerweise in diesen Tagen unseren Hof erfüllen. Wie gewohnt greife ich nach dem Aufwachen zuerst zum Smartphone und betrachte eine Statistik vom 31. Januar, laut der die Zahl der Infizierten und Verdachtsfälle in Wuhan weiterhin zunimmt, doch seit drei Tagen erkennbar langsamer. Die Zahl der Patienten in kritischem Zustand nimmt ab, die Sterberate bleibt konstant bei etwa zwei Prozent. Die Zahl der Geheilten und der aus der Quarantäne entlassenen Verdachtsfälle steigt. Endlich gute Nachrichten, die zeigen, dass die ergriffenen Maßnahmen Wirkung zeigen. Diese Statistik hat mein ältester Bruder in die Familiengruppe gepostet, ich kann sie nicht nachprüfen, hoffe aber sehr, dass die Zahlen stimmen. Ich halte daran fest: Schafft es Wuhan, dann schafft es ganz China.
Mir fällt ein, dass mein ältester Bruder uns als erster von dem neuen Virus berichtetet hat. Wir haben eine Familiengruppe, die nur aus uns vier Geschwistern, also meinen drei Brüdern und mir, besteht, ohne Ehepartner und Kinder. Zwei meiner älteren Brüder lehren an Wuhaner Universitäten und verfügen durch Kommilitonen und Kollegen über gute Informationsquellen. Vor allem mein ältester Bruder, der Absolvent der Tsinghua-Universität ist und als Professor an der Zentralchinesischen Hochschule für Wissenschaft und Technik in Wuhan lehrte, hat meist direkten Zugang zu aktuellen Informationen. Am 31. Dezember leitete er uns um zehn Uhr morgens einen Artikel weiter, der den folgenden Titel trug: »Neuartige Form von Lungenentzündung mit bisher ungeklärter Ursache in Wuhan«. Dahinter stand in Klammern »SARS«. Er fügte hinzu, dass er nicht wisse, ob die Information korrekt sei.
Mein zweitältester Bruder, der in Shenyang19 lebt und arbeitet, warnte uns auf der Stelle, keiner von uns solle mehr vor die Tür gehen. Er schlug uns vor, zu ihm in den Norden zu kommen. Bei minus 20 Grad würde kein Virus überleben. Woraufhin mein ältester Bruder entgegnete, dass Coronaviren keine Hitze vertrügen, das sei doch seit der SARS-Pandemie 2003 bekannt. Kurz darauf bestätigte er, dass die Nachricht der Wahrheit entspreche und Experten der Nationalen Gesundheitskommission bereits in Wuhan eingetroffen seien.
Mein jüngster Bruder war ziemlich erschrocken, als er erfuhr, dass sich das Epizentrum dieser neuen Krankheit auf dem Südchinesischen Markt für Meeresprodukte, also in seiner unmittelbaren Umgebung, befand. Als ich ein paar Stunden später die Nachricht las, schrieb ich ihm sofort, er solle in nächster Zeit besser nicht ins Krankenhaus gehen. Mein Bruder hat gesundheitliche Probleme und wird regelmäßig im Zentralkrankenhaus des Stadtbezirks Hankou behandelt, wo sich die Fälle mit der neuartigen Lungenentzündung in Wuhan konzentrierten. Er antwortete umgehend, er sei vor die Haustür gegangen und habe sich überzeugt, dass um das Zentralkrankenhaus alles ruhig sei. Anders als er erwartet habe, seien dort keine Reporter versammelt.
In meiner Kommilitonen-Chatgruppe tauchten rasch Videos mit aktuellen Aufnahmen des Zentralkrankenhauses und des Südchinesischen Marktes für Meeresprodukte auf. Ich ermahnte meinen Bruder, beim Verlassen des Hauses eine Schutzmaske zu tragen, und schlug ihm vor, nach dem Neujahrstag erst einmal bei mir unterzukommen. Ich hielt mich damals in meiner Wohnung im relativ weit von Hankou entfernten Vorort Jiangxia auf. Er antwortete, er