Yeshi Style - Gabriela Kasperski - E-Book

Yeshi Style E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Yeshi ist adoptiert. Ihre «Bauch-Eltern» sind aus Äthiopien. Yeshis Schweizer «Herz-Eltern» sind geschieden, Yeshi lebt mit ihrer Mama in Zürich. Als ihr Papa aus London zu Besuch kommt, bringt er seine neue Freundin und deren Sohn mit. Kamil hat eine genauso dunkle Hautfarbe wie Yeshi und alle denken, dass er Yeshis bester Freund werden wird. Dabei ist Yeshi doch gerade an Felix interessiert, der auch kein Handy hat und mit dem sie so schön abhängen kann. Doch als sie in der Schule einen Stammbaum zeichnen müssen, wird Yeshi schmerzhaft mit ihren fehlenden Wurzeln konfrontiert. Und ausgerechnet Felix fragt: «Du bist doch adoptiert? Das ist doch eine Fake-Familie!» Yeshis Trost ist das Kinder-Spendenprojekt LIMONEN FÜR LIBANON. Was mit Limonendrinks beginnt, wächst sich zu einem Erfolg aus. Die Spenden wachsen. Aber: Wo Geld ist, da sind auch Konflikte nicht weit. Die Kinder bekommen Streit und auch die Erwachsenen wollen mitreden. Und immer wieder wird Yeshi mit ihren fehlenden Wurzeln konfrontiert. Ausgerechnet in Kamil findet sie jemanden, der sie versteht und weiß, was es heißt, anders zu sein. Wird er doch noch ihr bester Freund?

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Seitenzahl: 195

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Yeshi plant zusammen mit Doro und Lian das Spendenprojekt «Limonen für Libanon». Als Kamil dazukommt, der Sohn von Papas Freundin, ist Yeshi eifersüchtig. Außerdem sind da die fiesen Krokodilmädels und der Familienstammbaum, den sie für die Schule zeichnen soll. Aber: Yeshi ist adoptiert — wer ist ihre Familie?

Hätte sich Kamil nicht in einen Hundeflüsterer verwandelt und ein Hirngespinst nicht in einen Rapsong, hätte das Spendenprojekt niemals Fahrt aufgenommen. Da taucht plötzlich Travel-Chad auf, der Yeshi in ihr Heimatland Äthiopien bringen will.

Darf sie ganz allein eine solche Reise wagen?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mit freundlicher Unterstützung von

«Einfach Yeshi» (Band 1 der Yeshi-Reihe) wurde das KIMI-Siegel für Vielfalt in Kindern- und Jugendbüchern verliehen.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Umschlag und Satz: Lynn Grevenitz | www.kulturkonsulat.com

Coverillustration: Henning Tietz | www.kulturkonsulat.com

Lektorat: Red Pen Sprachdienstleistungen e.U.

Druck: CPI books GmbH | www.cpibooks.de

ISBN Print: 978-3-907238-20-2

E-Book: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book: 978-3-907238-22-6

Inhalt

Kamil Karamell

Die Krokodilmädels

Fasten & Französisch

Code Stefano

Mo und die Gen-Tiere

Der Familienstammbaum

Der rote Wutballon

Das Spendenprojekt

Das Alva-Team

Bauchfrei mit Lochjeans

Date im Park

Peacemakerin Lola-Mops

Hundeflüsterer Kamil

Spaltpilz Bianca

Fake-Yeshi

Augenblatt-Tränen

Yesherche

Der Plan

Limonendrinks für Libanon

Schluss mit lustig

Abgesagt ist angesagt

Pipe Dreams

Comfy Mood

Performance-Magie

Die Hammerüberraschung

Lola-Trotz-Mops

Black Lives Matter

Fahrt im Polizeiauto

Travel-Chad

1800-Dollar-Challenge

Holy Shit

Das Limonenfest

Illegal legal

Farewell, Kamil

Nachwort

Dank

Kamil Karamell

«Yeshi, wir fahren.»

«Nur noch schnell dieses Video. Bitte, Mama.»

«Du wolltest doch mitkommen.»

«Nur noch schnell diesen Move.»

«Ich gehe jetzt, Yeshi.»

Wenn Mama diese Stimme draufhatte, meinte sie es ernst. Mistmistmist. Meine pfefferminzgrünen Turnschuhe waren verschwunden, der Jackenärmel hatte sich verdreht und die Zahnbürste war auf der Flucht. Immer wenn sie mich sah, haute sie ab. Und dabei sollte ich besonders gut putzen, wegen meiner Zahnspange. Ich nahm mir einen zuckerlosen Bonbon und rannte in den Winterstiefeln die Treppe hinunter. Obwohl fast schon Sommer war.

Mama wartete auf mich, sie hatte extra ein Auto gemietet. Wir holten nämlich Papa am Flughafen ab. Meinen Papsipaps, den ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, wegen Corona, ihr wisst schon. Wir hatten nur videotelefoniert. Er würde für zwei ganze Wochen in die Schweiz kommen und Geschenke mitbringen für mich, so große, dass sie in keinen Zug hineinpassten. Das hatte er mir am Telefon gesagt und seither zitterten mein Flatterherz und mein Grummelbauch vor Aufregung.

«Yeshi, nicht träumen, einsteigen.»

Ich setzte mich neben Mama. Das darf ich, ich bin nämlich sozusagen fast schon bald irgendwie zwölf Jahre alt. Manchmal bin ich auch hundertfünfzig und manchmal dreieinhalb. Ich heiße übrigens Yeshi und Musik ist mein Leben. Ich habe auf Mamas Handy eine Playlist eingerichtet und die zog ich mir rein.

Übermütig ließ ich meinen Tanzfuß übers Armaturenbrett hüpfen. Ich hatte so gute Laune wie seit gestern Abend nicht mehr. Weil ich mir nämlich sicher war, dass Papa geschwindelt hatte, wegen der Riesengeschenke. Die Zeit, in der ich mir Plüschelefanten, Giraffen und Ponys gewünscht hatte, war vorbei. Wobei, so ein echtes kleines Shetlandpony würde ich sicher nehmen. Dass Papa mir eines mitbrachte, konnte ich mir jedoch echt nicht vorstellen.

Sein Geschenk, darauf könnte ich wetten, wäre ganz klein, mit einem glänzenden Display und einer Gravur auf der Rückseite: YESHIS HANDY. Hab ich euch das schon gesagt? Ich habe kein Handy und ich wünsch mir eines. Ganz, ganz megafest. Und sie hatten mir ein Handy versprochen, meine beiden Herzeltern. Papa wollte mich nur reinlegen, er mochte es spannend. Darum hatte er das mit dem großen Geschenk gesagt.

Mama ließ sich von meiner Vorfreude anstecken. Singend fuhren wir über die Autobahn und in die Flughafen-Garage mit den vielen Stockwerken. Ich packte die Willkommenszeichnung, ging voraus und sah mir die Anzeigetafel an. Da stand drauf, ob die Flugzeuge noch unterwegs, verspätet oder gelandet waren.

«Ich kapier es nicht, Mama, hilf mir.»

«Das schaffst du, Yeshi. Du bist schon groß.»

Na ja. Das mit dem Groß-Sein war kompliziert. Ich war gerne groß, wenn Mama mich klein machen wollte, und umgekehrt. Aber bitte, dann würde ich mir halt Mühe geben.

«Der Flug landet um halb zwei», sagte ich, nachdem ich die Anzeigen der An- und Abflüge studiert hatte. «Also jetzt.»

Wie auf Kommando liefen wir zusammen in die Ankunftshalle. Fast rannten wir einen Flugbegleiter um, fast eine Frau mit drei Rollkoffern, fast einen Putzmann. Alles, um rechtzeitig da zu sein. Beim Ausgang kamen uns viele Leute entgegen. Nur kein Papa.

«Mama, er hat es verpasst.»

«Geduld, Yeshi.»

Er kam nicht. Der Mann da war zu dick, der dort zu jung, der hier hatte zu viele Haare.

«Da ist kein Papa.»

«Dann schau besser hin.» Mama legte mir den Arm um die Schulter und zeigte in Richtung einer kleinen Menschengruppe, wo ich tatsächlich jemanden erkannte. Es war aber nicht Papa. Es war ein Junge, lang wie ein Lauch, mit kurz geschnittenem Silberhaar, engen Hosen und einer Vintage-Trainerjacke.

«Lian!», schrie ich auf und rannte los.

Lian ist mein zweitbester Freund und geht in London auf eine Ballettschule. Ich vermisste ihn fast so sehr wie Papa.

«Hei, Yeshi.» Er steppte zur Seite. «Aufpassen, meine Schulter ist super heikel.»

Ich musste lachen. Das war mein Lian, immer in Sorge um seine Körperteile. «Stefano renkt sie dir wieder ein.»

Stefano ist mein bester Freund. Er hat einen Tattoo-Shop und Zauberhände. Außerdem hilft er mir, wenn ich ganz plötzlich nicht weiterweiß und meine Schmetterlinge mitten im Tanz aufhören. Wie jetzt gerade. Denn mein Blick fiel auf eine Frau. Sie war klein, trug einen Businessanzug, die Haare im Krause-Look und hatte sich bei ihrem Nachbarn eingehängt. Er hatte einen Bart und sah aus wie mein Papa. Er strahlte auch wie mein Papa. Es war mein Papa.

«Papsipaps!»

Mein Sprung war so gigantisch wie der einer Ballerina. Und dann umarmten wir uns. Er musste heulen. Mama auch. Ich fand es übertrieben. Ich meine, warum hatten sie sich scheiden lassen, wenn sie solche Sehnsucht nacheinander hatten? Trotzdem war es schön, von Papa und Mama gleichzeitig gehalten zu werden. So wie früher. Wenn jetzt noch meine Bauchmama und mein Bauchpapa da wären … Aber die lebten in Äthiopien und ich kenne sie nicht. Ich bin nämlich adoptiert. Oder abotiert, wie ich früher gesagt hätte. Jetzt habe ich es gelernt. Ich verdrehe keine Worte mehr. Fast.

Der Junge fiel mir auf, der neben Lian stand und ihm etwas zuflüsterte. Kannten die sich? Gerade als ich mich aus dem Eltern-Knuddel lösen wollte, erwischte mich Papa. «Hiergeblieben, Yeshi. Darf ich vorstellen, das ist Charlene.» Er legte seinen freien Arm um die Schulter der Frau mit dem Krause-Look. «Sie ist meine Freundin.»

«Deine Freundin? So wie Doro meine viertbeste Freundin ist?»

«Eher so wie Gian Mamas Freund ist.»

«Dann wäre sie ja ein Mann. Ist sie ein Mann?»

Das machte mich neugierig. Ich wusste, dass es Jungs gab, die lieber ein Mädchen wären, und umgekehrt. Oder beides. Manchmal fühlte ich mich neuerdings auch so. Als ob ich nicht wüsste, wer ich wirklich bin. Ein wenig unheimlich.

«Charlene ein Mann?» Papa lachte sein wärmstes Papalachen. «Nein, Yeshi, Charlene ist eine Frau. Es tut mir leid, dass wir dich so überfallen. Eigentlich wollte ich alleine kommen und dir von Charlene erzählen. Aber dann gab’s einen Notfall und sie und Kamil sind mit mir gereist.» Papa deutete auf den Jungen neben Lian. «Er ist Charlenes Sohn und freut sich schon auf dich. Ich habe ihm versprochen, dass er dich in der Schule besuchen darf. Was hältst du davon?»

Der Junge grinste dämlich. Er war größer als ich, mit breiten Schultern, die schwarzen Haare waren zu Cornrows geflochten, Zöpfchen, die dicht am Kopf liegen. Er trug dreiviertellange Jeans samt einem Handy in der Tasche, einen Hoodie mit einem Totenkopf und blaue Jordans mit gelben Streifen. Das waren die Turnschuhe, die ich mir fast so sehr wünschte wie ein neues Handy. Und der Junge hatte beides, so wie es aussah. Verwöhnter Typ, fand ich. Ich hätte Papa gerne gesagt, dass ich überhaupt keine Lust auf diese Charlene hatte und noch weniger auf diesen Kamil. Aber die sahen mich alle so blöd an, sogar Mama, dass ich mich nicht traute.

«Er soll mich in der Schule besuchen? Geht leider nicht.» Ich überlegte mir ganz schnell ein Hammerargument. «Unser Lehrer Herr Bernasconi sagt, wir dürfen keine Besucher haben und die Klassen nicht mischen.»

Papa lachte schon wieder so dämlich. «Das war auch in London so, aber es gilt nicht mehr.»

Lian hatte sich neben Kamil gestellt. Er tat so, als ob er gar nicht merkte, dass ich stinksauer war. Hab ich das schon gesagt? In meinem Bauch steckt ein roter Ballon, der zuckt, wenn ich wütend werde. Jetzt gerade zuckte er heftig.

«Deine Mama hat schon alles organisiert», sagte Lian. «Wir kommen beide für einige Tage. Und Herr Bernasconi ist einverstanden. Wir freuen uns riesig.»

Ich sah zu Mama und machte den Funkelstarrblick. Darin bin ich voll die Profifrau. Wie kannst du so was organisieren, ohne mich zu fragen? Aber sie ignorierte mich. Das ist typisch, sie macht Regeln für uns beide, aber nur ich soll mich dran halten.

«Herr Bernasconi findet es eine so tolle Idee, dass er Lian und Kamil gleich für ein Projekt einspannen will. Etwas Länderübergreifendes.»

Das konnte ich mir vorstellen. Unser Lehrer hat immer Ideen im Kopf, fast so viele wie ich. Nach dem Weihnachtsmusical mit Prinzessin Cococelle hatten wir eine Wander-Challenge gemacht und das Klassenzimmer umgebaut.

Trotzdem durfte er nicht diesen Kamil einladen, ohne mich vorher zu fragen. Das war voll asozial.

«Kamil spricht nur Englisch, vielleicht kannst du ihm helfen, du bist doch so gut darin», flüsterte Mama mir zu.

Darauf fiel ich sicher nicht herein. «Wozu?», flüsterte ich zurück. «Lian kann es viel besser als ich. Ich habe keine Zeit.»

Da nahm mich Mama an der Hand. «Du hast dir doch immer einen großen Bruder gewünscht.»

«Und was ist mit meinem Handy?» Ich schüttelte Mamas Hand ab.

In der sechsten Klasse musste ich eines haben, das war sozusagen Vorschrift, sonst hätte ich ja weder TikTok noch Instagram noch Snapchat.

«Papa. Du hast mir doch eines mitgebracht?»

Papa trat zu uns. «Was? Du willst lieber ein Handy als einen Bruder?» Auch er flüsterte.

«Bekomme ich ein Handy oder nicht?»

«Vor den Sommerferien, Yeshi, wie wir es ausgemacht haben.»

«Nice boots.» Eine Stimme unterbrach unseren Flüster-Streit. Kamil. Bislang hatte er nur zugehört. Er sah auf meine Winterstiefel. Die anderen auch.

«Yeshi-Style», sagte Lian. «Winterstiefel im Sommer, das passt zu unserer Überraschung für dich.»

«Ich habe meine Turnschuhe nicht gefunden», sagte ich. «Was für eine Überraschung?»

Als Kamil einen Tanzmove machte, staunte ich. Der hatte es ja wirklich drauf.

«Lian and me, we have a surprise for you and your Tanzfuß. A welcome dance.»

Einen Willkommenstanz als Überraschung? Auf seinem Handy ertönte ein Beat. Kamil machte eine Handbewegung, den Zeigefinger nach unten, und fing an, zu rappen:

«We come from London. Peace for Zurich. Heeeello, sis Yeshi, hello to you and your friends.»

Lian – mein Ballett-Lian (!) – ließ seine Hüfte kreisen und lud alle zum Tanzen ein. Papa und Charlene machten mit, sogar Mama probierte es. Es war so voll peinlich, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen.

«Hört auf», schrie ich. «Ich will ein Handy und keinen Bruder.» Und schon gar nicht so einen wie diesen Kamil Karamell. Das dachte ich nur, das sagte ich nicht laut.

Die Krokodilmädels

Am nächsten Tag war ich auf dem Weg zur Schule und mein Wutballon zuckte immer noch. Ein Riesengezucke in meinem Bauch.

Papa, Kamil und Charlene waren gestern zu uns zum Abendessen gekommen, es hatte Pizza gegeben, meine Lieblingspizza. Ich hatte nichts gegessen. Ich war nämlich im Hungerstreik. Aus Protest, weil sie alle aus mir und Kamil beste Freunde machen wollten, ohne mich zu fragen. Und weil Papa und Charlene seit drei Monaten ein Paar waren, ohne mir etwas zu sagen. Zum Umwerfen fies, fand ich. Worauf Papa nichts Besseres zu tun hatte, als mich zu korrigieren.

«Umwerfend heißt das, Yeshi.»

Die pfefferminzgrünen Jordans, die er mir als zweite Überraschung mitgebracht hatte, ließ ich in der Schachtel. Obwohl meine eigenen, die ich übrigens wiedergefunden habe – sie hatten sich im Wäschekorb versteckt –, ein riesiges Loch hatten und total abgelatscht waren. Aber ich ließ mich nicht erpressen, ich nicht. Das Frühstück eben hatte ich auch ausgelassen, und dabei hat Mama mir ein übrig gebliebenes Stück Pizza angeboten. Pizza zum Frühstück? Das darf ich sonst nie. Mein Hungerstreik-Tier hatte ziemlich gesabbert. Aber ich war standhaft geblieben und wollte ein Zeichen setzen, für meinen Protest gegen Kamil und Charlene. Nun hatte ich ein riesiges Loch im Bauch.

Als ich Felix auf seinem Rollbrett sah, rannte ich auf ihn zu. Er geht in meine Klasse, hat welliges Haar, trägt immer sein Skater-Outfit, macht gerne Witze und liebt Games wie Fortnite oder Brawl Stars. Und er hat auch kein Handy.

Die anderen Mädchen fanden ihn süß. Ich finde, er ist umwerfend cute. «Hei, Yeshi, was geht ab?» Er machte einen Handklatscher.

«Hei Felix, ganz okay. Hast du was zum Essen?»

«Einen Proteinriegel.»

«Uh, seit wann isst du so gesund?»

«Mein Hirn braucht Nahrung.» Er grinste und rieb seinen Bauch. «Und mein Bauch auch.»

Einen Moment überlegte ich, ihm von Charlene und Kamil zu erzählen. Aber es war zu privat.

«Wie spät ist es?», fragte ich stattdessen.

«Schau auf deine Schuhschachteluhr.»

«Die ist stehen geblieben, ich gehe in Stefanos Tattoo-Shop vorbei.» Die Schuhschachteluhr hatte ich von Stefano bekommen, um die Zeit zu lernen. «Am Mittwochnachmittag. Wenn wir frei haben.»

Ich weiß, dass Felix Stefanos Shop mega findet. Da gibt’s auch viel zu sehen. Die Tattoo-Werkzeuge, die Farben, Milliarden von Bildern mit Drachen und Elfen und Schwertern, mit Schlangen, Ponys und Elefanten, mit Herzen, Rosen und Schiffsankern. Alles, was sich Leute tätowieren lassen wollen. Felix hätte auch gerne ein Tattoo, aber er war noch zu jung. Stefano war da strikt, erst ab sechzehn und nur mit Einverständniserklärung der Eltern. Und Felix’ Mam war voll streng, die würde ihn auch mit hundert noch nicht lassen.

«Magst du mitkommen?», fragte ich.

«Am Mittwoch? Okay.»

OMG! Meine Schmetterlinge tanzten wie blöd. «Sollen wir uns nach der Schule treffen?»

Da schlug sich Felix mit der Hand an die Stirn. «Es geht nicht. Ich muss in den Gymi-Klub.»

«Kannst du den nicht einmal sausen lassen?»

«Nein. Dann verpasse ich etwas. Ich muss für die Übertrittsprüfung lernen.»

Die war erst in ungefähr hundert Monaten. «Warum lernst du jetzt schon dafür?»

«Weil halt. Meine Mama sagt, es ist wichtig.»

«Aber bis nächstes Frühjahr hast du alles wieder vergessen.»

«Mein Dad sagt, jetzt ist besser.»

Es klang nicht besonders überzeugt. Ich konnte Felix gut verstehen. Der Kurs fraß nämlich die ganze Freizeit auf. Er besuchte ihn zusammen mit Paul und den Krokodilmädels. Ich nenne sie so, weil sie mir mal einen Streich mit einem Plastikkrokodil gespielt haben. Sie üben alle für die Gymi-Prüfung. Machen dauernd Hausaufgaben. Und kommen nie zu spät. Absolutgarniemalsnie.

Plötzlich bemerkte ich, dass Felix nicht nur einen Rucksack, sondern auch eine pralle Schultasche trug.

«Musst du so viel Krempel mitschleppen?»

Felix druckste herum. «Sie gehört Bianca. Da sind ihre Sachen für den Gymi-Klub drin, darum ist sie so schwer.»

«Der ist doch am Mittwoch.»

«Sie übt in den Pausen.»

«Das ist ihr Problem. Wieso trägst du ihr Zeug?»

Ohne eine Antwort zu geben, setzte er sich in Bewegung. Ich folgte ihm. Eine Weile gingen wir stumm vor uns hin.

«Ist dein Papa gestern gekommen?», fragte Felix schließlich. «Hast du jetzt endlich ein Handy?» Felix und ich haben ein Spiel miteinander. Die Wer-bekommt-zuerst-ein-Handy-Challenge.

«Ich hab’s zu Hause gelassen. Ist mir zu schade für die Schule.»

«Schwindelst du?»

Ich machte meinen Funkelstarrblick. Bis Felix zwinkerte.

«Okay, du hast gewonnen. Aber du hast trotzdem geschwindelt.»

«Leider. Dafür habe ich Turnschuhe bekommen.»

«Jordans?», fragte Felix.

«Jep. Jordans», sagte ich. Sonst hab ich’s nicht so mit Schuhmarken. Aber Jordans waren ziemlich cool. Michael Jordan ist ein Basketballspieler und voll mein Vorbild.

«Geil», sagte Felix. «Die stehen dir bestimmt.»

Meine Schmetterlinge machten einen Überschlag.

«Wobei …» Er sah auf meine Füße, auf meine Turnschuhe, die ich jeden Tag trage und heiß und innig liebe. «Das Loch in deinen abgelatschten Dingern ist legendär.»

Wir gaben uns fünf. Und gleich noch mal. Gerade erhob ich meine Hand zum dritten Mal. Da kamen Anil und Paul angerannt, sie gehen mit uns in die Klasse und sind Felix’ beste Freunde. Als sie uns entdeckten, blieben sie stehen und machten große Augen. Stießen sich an.

Felix stürmte auf die beiden zu.

«Hei, ihr Blütschis, was geht ab?»

«Was machst denn du mit Yeshi?», hörte ich Paul sagen.

«Mit wem? Ach so, keine Ahnung. Ich habe auf euch gewartet.»

War es ihm peinlich mit mir? Ein bisschen tat es weh, gleichzeitig verstand ich Felix gut. Ich meine, Jungs und Mädchen sind bei uns ziemlich getrennt. Und wenn, spielen die Jungs mit Doro. Sie ist wie gesagt meine viertbeste Freundin und leidenschaftliche Fußballerin. Dass sie und ihre Gruppe letztes Jahr bei der Jugend-Weltmeisterschaft zweitletzte geworden sind, spornt sie nur noch mehr an.

«Doro!», rief ich, als ich sie sah. Ihr Markenzeichen waren ihre Trainingshose, der Ringelpulli und ihre Mütze, sie besitzt sie in so vielen Farben, wie es Wochentage gibt. Heute trugt sie Violett. Sie dribbelte den Ball und hörte mich auch beim dritten Mal Rufen nicht. Unter dem Mützenrand bemerkte ich die kleinen Kopfhörerstöpsel in ihren Ohren und staunte. «Hast du Earbuds bekommen?»

Sie zog den Rotz hoch. «Von Gian.»

Seit Neuestem nennt sie ihren Papa Gian. Sie findet das erwachsen. Ich nenne ihn Zahnfletsch-Gian, aber nur heimlich und nur noch ganz selten. Mehr als ein Jahr schon ist er der Freund meiner Mama. Sie haben es gut und streiten nie. Außer wenn es um Doros Handy geht. Doro hat nämlich eines. Mama findet, Gian verwöhne Doro zu sehr. Fand ich nicht. Ich finde, seine Kinder kann man nicht genug verwöhnen.

«Ist dein Papa angekommen?», fragte sie.

Da Gian und meine Mam ein Paar sind, erfährt Doro alles Mögliche, was bei uns so läuft. Einen Moment überlegte ich, ihr von Kamil und Charlene zu erzählen. Aber meine Schmetterlinge begannen zu rotieren, mein Wutballon zuckte und außerdem kam Javier, der Problemelefant, angewackelt. Javier ist ein Kollege der Argumentmädels und wohnt manchmal in meinem Kopf, manchmal in meinem Bauch. Wenn er auftaucht, wird’s brenzlig.

«Du siehst ganz komisch aus.» Doro sah mich aus ihren hellgrünen Augen an. «Hast du Hunger?»

«Ich bin im Hungerstreik.»

«Wieso das denn? Gestern ist doch dein Papsipaps angekommen?»

Das ist ja das Problem, trompetete Javier laut.

Sollte ich es Doro erzählen?

«Was ist, machen wir ein Lauftraining?», fragte ich stattdessen. Diejenigen von euch, die mich kennen, wissen, dass ich nicht nur einen Tanzfuß, sondern auch einen Lauffuß habe. Also eigentlich zwei. Mit denen laufe ich mit dem Wind um die Wette und gewinne meistens. Das will Doro auch, als Stürmerin würde sie am liebsten ein Tor nach dem anderen schießen. Seit einiger Zeit trainieren wir heimlich. Sie bringt mir die Zahlen bei (mit Zahlen habe ich es nicht so) und ich ihr das Laufen. Wir werden beide immer besser.

«Komm, Doro, gleich klingelt es. Einmal zur Betontreppe und zurück.»

Aber Doro wollte nicht. Sie schniefte. «Bin nicht fit heute.»

«Erkältet?», fragte ich.

Doro zuckte die Achseln. «Leih mir mal ein Taschentuch?»

«Doro, du kannst nicht krank in die Schule kommen.»

«Halt die Klappe, K-Girl.»

Bis auf Doro darf mich niemand K-Girl nennen. Es stammt aus einem noch schlimmeren Schimpfwort, das rassistisch, verletzend und gemein ist. Doro und ich wissen das.

«Was ist los, G-Qualle?», fragte ich. Wenn mich Doro K-Girl nennt, antworte ich mit G-Qualle. Es ist ein Ritual zwischen uns.

Sie schniefte erneut. «Ich kann nicht krank werden. Ich habe ein Spiel am Samstag. Es ist megawichtig.»

Doros Spiele waren immer wichtig.

«Was ist daran wichtiger als bei den anderen?»

«Eine Talentscout-Frau kommt vorbei. Vom ZFC.»

Der Zürifußballclub? Das war der beste Fußballverein unserer Stadt.

«Boah, die haben dich angefragt?»

«Voll.» Noch ein Schniefer.

«Dann müssen wir einfach deine Erkältung wegbringen. Was hat Gian gesagt?»

Doro bekam einen Schreck. «Nichts, und das bleibt auch so. Wenn er es hört, muss ich gleich ins Spital.»

Seit Doros Krebs-Krankheit waren ein paar Jahre vergangen. Erst kürzlich war das letzte ihrer Armbändchen, ein Zeichen für Mut und Durchhaltewillen, abgefallen. Auch die Mützen hätte sie nicht mehr gebraucht, ihr Haar war längst nachgewachsen. Und trotzdem hatte Gian immer Angst. Doro nervte das.

«Versprich, dass du die Klappe hältst, Yeshi.»

Ich zögerte. Mit der Gesundheit soll man nicht spaßen, sagen Mama, Papa, Gian und sogar Mo, Tattoo-Stefanos Freundin. Sie kann kaputte Tassen reparieren und zerbrochene Herzen kleben, einfach alles.

«Ich frage Mo», sagte ich. «Vielleicht hat sie ein geheimes Zaubermittel. Am Mittwochnachmittag gehe ich sowieso bei ihnen im Laden vorbei.»

Doro wollte mir einige Dinkelcracker abgeben.

«Magst du? Trotz Hungerstreik.»

In dem Moment kam Lumi zu uns. Lumi ist die Gescheiteste unserer Klasse, wir nennen sie unser Klassenbrain, außerdem zeichnet sie die besten Mangas der Welt. Sie ist winzig, trägt immer schwarze Sachen, sogar der Rand ihrer riesigen Brille ist schwarz. Ein Viertel ihrer Familie ist aus Korea, ein Viertel aus Japan und die Hälfte aus der Schweiz.

«Hei Doro, hei Yeshi. Mögt ihr einen neuen Song hören?»

Sie ist Fan von Ariana Grande, so wie ich. Sie holte ihr Handy raus und ging auf TikTok. Sie versorgt mich mit allen wichtigen Neuigkeiten. Ohne Lumi hätte ich keine Ahnung.

«Die Ariana-Grande-Fans. Voll lame. Ihr tut uns echt leid.»

Vor uns standen die Krokodilmädels, Bianca, Merle und Antoinette. Sie haben alle langes Haar, tragen Leoparden-Outfits und haben Umhängetaschen anstatt Rucksäcken. Bianca ist ihre Anführerin und sie hasst Ariana Grande.

«Lumi, willst du nicht lieber mit uns abhängen? Im Gymi-Klub. Da kommst du nur auf Einladung rein.» Sie grinste. «Ich schick’s dir über Snapchat zu.»

Als Lumi die Nachricht las, machte sie große Augen. «Das kostet zwanzig Franken pro Mal. Wozu?»

«A: Wer bei uns mitmacht, kommt save ins Gymnasium. B: Wir kaufen uns gesunde Snacks und Nüsse für die Pause.»

Ach so, darum hatte Felix einen Riegel dabei.

«Brainfood. Das müsste dir doch gefallen.»

Lumi wehrte ab. «Viel zu teuer.»

«Geizhals», sagte Bianca.

Doro machte einen verächtlichen Laut. Zum Glück klingelte es und wir gingen hinein.

Fasten & Französisch

Herr Bernasconi, unser Lehrer, ist groß mit einem Bart, ein Tessiner, ein Teil seiner Familie stammt aus Italien. Er hat viele Ideen und mag Projekte.

«So lernt ihr fürs Leben, Kinder.»

Aber immer können wir nicht fürs Leben lernen. Ab und zu ist auch die Schule dran. Herr Bernasconi macht das sehr schlau, er sagt uns nie im Voraus, ob heute die Schule angesagt ist oder das Leben. So bleibt es spannend, finde ich.

Mein Bauch grummelte. So laut, dass Herr Bernasconi sich umsah.

«Nanu, knurrt hier ein Hund? Yeshi, hast du Lola-Mops reingeschmuggelt?»

Lola-Mops ist der Hund meiner Oma. Also, nicht meiner richtigen. Aber fast. Lola ist im ganzen Schulhaus berühmt, seit sie bei meinem Musical mitgebellt hat. Noch ein Grummeln.

Doro zwinkerte mir zu. «Willst du den Hungerstreik nicht aufgeben?»

Sie hatte ganz leise geflüstert. Das Doro-Wispern, das nur ich verstand. Am liebsten hätte ich ihr endlich von dem missglückten Pizzaabend und von Kamil erzählt. Aber da klatschte Herr Bernasconi in die Hände.