Yoginis - Regina Esser-Palm - E-Book

Yoginis E-Book

Regina Esser-Palm

0,0
8,90 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Figurenroman in 13 Asanas Das Yoga-Haus am frühen Montagabend – Zeit für einen besonderen Kurs der Yogalehrerin Dörte. Sie hat ihr Yogastudio gegründet, als sie ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes neu aufgestellt hat. Elf Frauen nehmen an ihrem Kurs teil – jede mit ihrem ganz persönlichen Schicksal. Der Roman erzählt von einem Vierteljahr des Yogakurses, immer an einem Montagabend mit einer Yogini und einer ausgewählten Asana im Mittelpunkt. Es sind ganz unterschiedliche Frauen, die in dieser Gruppe zusammenkommen. Alle stehen ihre Frau im Leben, kämpfen dennoch mit den Anforderungen des Alltags, des Berufs, des Älterwerdens, der Familie oder suchen nach der individuellen Gestaltung ihres Lebens. Zum Teil verbinden sie Freundschaften oder es knüpfen sich solche im Lauf der Zeit. Jede der Frauen kommt mit ihren Sorgen, ihren Belastungen oder ihren Gedanken zu dem Yogakurs, um dort eine kleine Auszeit aus dem Alltag zu erleben. Das Yoga ist nicht nur gut für ihren Körper, sondern hilft ihnen, Herz, Geist und Seele zu beruhigen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 372

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Regina Esser-Palm

Yoginis

Ein Figurenroman in 13 Asanas

Prinzengarten Verlag

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2022 by Prinzengarten Verlag

Dr. Hans Jacobs, Am Prinzengarten 1, 32756 Detmold

Bild Umschlag: Meeko Media from IStock

ISBN 978-3-89918-836-3

Il faut écrire pour soi, avant tout. C'est la seule chance de faire beau.

(Gustave Flaubert; à Jules Duplan, Oeuvres complètes)

1 Der Baum (Vrikshasana)

Dörte schaute sich im Raum um. Wie häufig in den vergangenen Wochen ergriff sie ein Erstaunen. Das eigene Yoga­studio, das gänzlich andere Leben, die veränderten Tagesstrukturen. All das war ihr noch fremd, die neuen Routinen hatten sich noch nicht verfestigt. In manchen Augenblicken erschien ihr dies wie ein Wunder, das sie noch nicht begriffen hatte und vielleicht auch nicht begreifen konnte. Mitnichten, dass ihr das nicht gefallen würde, was sie sah. Die Abendsonne des milden Oktobertages beleuchtete sanft den Holzboden in der Nähe der Fenster und erzeugte einzelne Lichtstreifen auf den in zartem Orange und hellem Grau gestrichenen Wänden. Die voluminöse Kerze im Windlicht aus Glas war angezündet. Im Laufe des Yogakurses würde das Licht abnehmen und der Kerzenschein bei der abschließenden Entspannungsübung für eine freundliche Atmosphäre sorgen. Dörte ging zu dem Regal aus hellem Naturholz, das an der rückwärtigen Wand stand und in dem Kissen und Matten zum Ausleihen bereitlagen, falls jemand seine Yoga-Utensilien vergessen hatte. Sie fuhr nachdenklich mit den Fingern darüber, wie um ein unsichtbares Stäubchen wegzuwischen, und verschob die darauf dekorierte Kerze und Lebensbaum-Statue so lange hin und her, bis ihr die Anordnung zusagte.

Sie schloss die Augen und atmete den Geruch ihres Studios ein. Ihre Nase registrierte neben dem Holzduft des frisch verlegten Bodens auch die Zirbelkiefer aus dem Aromadiffusor und das Mattenspray zur Reinigung der Yogamatte. Vertraut waren ihr die Gerüche noch nicht, indes gaben sie dem Raum eine eigene olfaktorische Prägung.

In wenigen Minuten würde sich der Kursraum mit Gesprächen, mit Gelächter, mit Leben füllen, sobald die Yoginis ihres frühabendlichen Montagskurses eintreffen würden. Da sie ihr Studio erst vor kurzer Zeit eröffnet hatte, waren alle ihre Kurse für sie neu und spannend, dieser war ihr jetzt schon ans Herz gewachsen. Mit diesem Kurs hatte alles begonnen. Mit einigen Frauen dieser Gruppe verband sie seit Jahren eine innige Freundschaft und sie hatten manch schwierige, aber auch schöne Zeiten miteinander geteilt. Erneut dachte sie an die Gründungszeit ihres Studios zurück und schickte ihrem verstorbenen Mann einen innigen Kuss dahin, wohin er gegangen war.

Ohne Vorwarnung hatte sie ihn eines Abends gefunden, als sie nach einem anstrengenden Tag aus ihrem Steuerbüro heimgekehrt war und sich auf ein gemeinsames Abendessen mit ihrem Mann gefreut hatte. Sie wollten besprechen, wie sie ihre Silberhochzeit feiern würden, und sie hatte mit einem Kopf voller Ideen die Haustür aufgeschlossen. Ihre Hochzeit war eher bescheiden gewesen, mit den Zwillingen in ihrem Bauch stand ihnen nicht der Sinn nach einer aufwendigen Feier. Nun sollte es festlich sein, hatten sie bei einem Glas Wein überlegt, voller Stolz auf das Erreichte, auf die inzwischen erwachsenen Kinder, das gemütliche Haus und auch auf sich selbst: Dörte mit ihrer kleinen Steuerkanzlei, Alexander inzwischen leitender Finanzbeamter. Da sein Wagen in der Einfahrt stand, wusste sie, dass er vor ihr nach Hause gekommen sein musste. Sie hatte sich gewundert, dass kein Licht im Haus brannte, obwohl der Märzabend frühe Dunkelheit gebracht hatte. Als sie auf ihr Rufen keine Antwort bekam, durchsuchte sie das Haus und fand Alexander schließlich, wie sie meinte – schlafend – auf der Couch im Wintergarten. Dass er nicht schlief, sondern sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, verstand sie erst, als sie ihn eine Weile betrachtet hatte, noch überlegend, ob sie ihn wecken oder schlafen lassen sollte. In den folgenden Minuten, Stunden und Tagen versuchte sie, das Unfassbare zu begreifen. Sie rief den Arzt herbei, der ihr bestätigte, was sie längst wusste, rief die Kinder an, weinte am Telefon, weinte immer noch, als sie hastig angereist kamen. Es dauerte nicht allzu lange, bis sie mit den Zwillingen Luisa und Lukas den Tag rekonstruieren konnte. Alexander hatte schon am Vormittag über ein generelles Unwohlsein geklagt, so erfuhr sie von seinen Kollegen, und war, nachdem er die nötigen Anweisungen erteilt hatte, schließlich nach Hause gefahren, um sich auszuruhen – sehr ungewöhnlich für ihren diszipliniert arbeitenden Mann. Warum hatte er ihr nicht Bescheid gegeben? Dörte wusste nicht, wie oft sie sich diese Frage inzwischen gestellt hatte, hadernd mit ihrem Mann und dem Schicksal, um sich dann zu trösten, dass er sie nicht beunruhigen wollte. Und unaufhörlich die daran anschließende zermürbende Frage, ob sie seinen Tod hätte verhindern können, wenn er sich gemeldet hätte.

Das Loch war tief, in das sie gefallen war. Die fünf Phasen der Trauer durchlief sie lehrbuchmäßig, die Phase der Akzeptanz allerdings war längst noch nicht abgeschlossen. Lediglich der Gedanke an die Kinder und die Arbeit in ihrer kleinen Steuerkanzlei hielten sie aufrecht. Sie konnte sich mit den von ihr routiniert erledigten Aufgaben über die Tage retten, jedoch nicht über die Nächte oder Wochenenden. Die ersten Monate vergingen quälend langsam. Viel zu oft stand sie des Nachts mit einem Glas Tee auf der Terrasse, weil an Schlaf nicht zu denken war. Ihre Tochter Luisa war es schließlich, die sie mit großer Beharrlichkeit zu einem Trauerseminar gedrängt hatte. Das Gespräch mit den anderen Trauernden gab Dörte zwar hilfreiche Impulse, aber ihre Lebensenergie kehrte in homöopathischen Dosen spürbar zurück, wenn die Trauergruppe zu einfachen Meditationen oder Atemübungen angeleitet wurde. Recht bald verließ sie das Trauerseminar und begann stattdessen, Entspannungs- und Achtsamkeitskurse zu belegen. Was sie jedoch am meisten ins Leben zurückholte, das waren die Yogakurse, die sie zunächst an der Volkshochschule ihrer Stadt, dann in einem professionellen Studio besuchte. Ihr erster Urlaub nach über einem Jahr seit Alexanders Tod führte sie auf eine Ferieninsel, um dort ein zweiwöchiges Yoga-Intensivseminar zu belegen. Ihre Regale füllten sich mit Yogabüchern, sie sah sich unzählige Anleitungen auf YouTube an und legte sich sogar einen Account in den sozialen Netzwerken zu, um Yoginis, Yogis und Yogagruppen folgen zu können. Nach etlichen Monaten intensiven Yogatrainings fasste sie den kühnen Entschluss, eine Yogalehrerin-Ausbildung zu beginnen. Sie hoffte, auf diese Weise am meisten lernen zu können, nicht nur die Praxis, sondern auch den gedanklichen Hintergrund. Seit langer Zeit hatte sie endlich ein Ziel vor Augen, sie wollte die Ausbildung erfolgreich bestehen.

Sportlich war sie schon immer gewesen. Als die Zwillinge aus dem Gröbsten heraus waren, hatte sie diszipliniert wieder begonnen zu joggen und ein Fitnessstudio aufzusuchen; eher, um ihre Figur zu halten, als aus Freude an der Bewegung. Bei den Yogakursen war sie stets aufs Neue angenehm überrascht, wie anders sich der Blick auf Körper und Bewegung gestaltete: kein Quälen für straffe Haut und Muskeln, sondern ein vorsichtiges Kennenlernen der Möglichkeiten des eigenen Körpers, ein sanftes Herantasten an seine Bedürfnisse und Fähigkeiten, ein wohlwollendes Akzeptieren seiner Grenzen und die achtsamen Versuche, diese Grenzen behutsam zu verschieben.

Dörte schaute sich prüfend im Raum um: Die Hortensien auf der Konsole links neben der Tür waren fast verblüht und verbreiteten den Charme der Reife, aber spätestens am Wochenende müsste sie für frischen Ersatz sorgen. Sie schaltete die Soundbar ein und verband sie mit ihrem Smartphone. Sie entschied sich für Björnstads »Floating«, eines von Alexanders Lieblingsstücken. Er hatte gern Musik gehört, am liebsten mit Kopfhörern und geschlossenen Augen. Das war seine Art gewesen, sich nach der Arbeit im Finanzamt zu entspannen. Bach vor allem: die Brandenburgischen Konzerte, die H-Moll-Messe, das Wohltemperierte Klavier, die Goldberg-Variationen, gleichwohl auch Werke von Satie und Poulenc. Ihre Musik, die sie im Zuge der Yogapraxis entdeckt hatte, würde ihm gründlich missfallen. Ein winziges Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie versuchte sich vorzustellen, wie Alexander ihre Musik kommentieren würde. »Dörte-Schatz, diese Yoga-Übungen sind sicherlich großartig, aber musst du so schlechte Musik dabei laufen lassen?« Was würde er erst zu dem Yogastudio gesagt haben?

Sie musste die Augen schließen und sich konzentrieren, um das Bild ihres früheren Lebens hervorzurufen, als sie vor zwei Jahren still auf der Couch gesessen und erneut über ihr weiteres Leben nachgedacht hatte. Die Yogalehrerin-Ausbildung hatte sie äußerst erfreulich abgeschlossen. Sie hatte sich über den Erfolg gefreut. Trotzdem verspürte sie eine diffuse Leere, nachdem kein klar greifbares Ziel mehr in ihrem Leben gegeben war. Der Weg schien vorgezeichnet: Arbeiten bis zur Altersgrenze, die Kinder erwachsen und aus dem Haus, Witwendasein bis zum Ende. Grauenvoll war ihr diese Aussicht erschienen, öde und starr. Es waren ihre Freundinnen gewesen, die den richtigen Trigger gesetzt hatten: Warum machst du kein Yogastudio auf?

Dörte hatte verlegen gelächelt und energisch abgewinkt: Ich bin zu alt, zu unerfahren, zu ängstlich. Zugleich bemerkte sie, dass sie tief im Innern den Gedanken unglaublich reizvoll fand: andere Frauen und vielleicht auch Männer mit ihrer Freude für Yoga anzustecken und zu begeistern, zu zeigen, dass man mit Yoga das Leben ein wenig gelassener und bewusster gestalten kann.

Der Zeitgeist wäre auf ihrer Seite, hatte sie überlegt: Yoga, Achtsamkeit, Resilienz – die Menschen lechzten danach, mehr auf sich selbst zu hören und zu achten in dieser von Schnelllebigkeit, Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit gezeichneten Zeit. »Hättet ihr denn Interesse an einem Yogakurs mit mir?«, hatte sie vorsichtig nachgefragt. Und in der Tat: Iris, Emilia, Franzi und Christina signalisierten en­thu­siastisch ihre Bereitschaft.

Bis heute glaubte sie, dass ihre Freundinnen nur ihr zuliebe zugesagt hatten, um sie aus ihrer Einsamkeit und Verzweiflung herauszulotsen. Ihr Freundeskreis hatte sich nach Alexanders Tod stark verändert. Unversehens war sie eine Witwe im Kreis von Ehepaaren. Zwar wurde sie weiterhin eingeladen, aber Fremdheit machte sich zunehmend auf beiden Seiten breit. Die Gesprächsthemen waren nicht mehr dieselben, die Unbeschwertheit der langen Wein- oder Grillabende vergangen. Gelegentlich trat eine peinliche Stille ein, wenn eine Wochenend-Reise geplant und nach der Anzahl der Doppelzimmer gefragt wurde. Dörte zog sich mehr und mehr zurück, ohne den Kontakt vollständig abzubrechen, schließlich waren die Freunde Teil von Alexanders und ihrem Leben gewesen. Zum Glück gab es diese anderen, meist Freundinnen, mit denen man sich auch ohne Ehepartner treffen konnte. Bei ihnen durfte sie weinen, über ihr Schicksal klagen, stundenlang über Alexander sprechen und bisweilen schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen, wenn sie von seinen liebenswerten Marotten oder spontanen Ideen erzählte.

Iris, Christina, Franzi und Emilia fanden ein mögliches Zeitfenster und so startete sie ihre erste Yogastunde im hinteren leer geräumten Büroraum, der bisher in ihrem Ein-Frau-Steuerbüro als Aufenthaltsraum gedient hatte. Wie aufgeregt sie gewesen war! Sie wusste zwar, dass ihre Freundinnen mit unbegrenztem Wohlwollen bei ihrem ersten Versuch mitmachen würden, dennoch wollte sie, dass es eine gute erste Yogastunde werden würde. Sie bereitete den Kurs das Wochenende lang vor, durchstöberte ihre Yogabücher und die zahlreichen Aufzeichnungen aus der Yogalehrerin-Ausbildung. Allein das bereitete ihr eine immense Freude, sie fühlte sich dabei lebendig und wach. Voller Elan und Begeisterung hielt sie ihre erste Yogastunde und war tatsächlich zufrieden mit sich selbst. Am Ende dieser Yogaklasse klatschten ihre Freundinnen und bedrängten sie, doch bloß mit dem Unterricht weiterzumachen. An diesem Abend verspürte sie seit langer Zeit ein zaghaftes Glücksgefühl, nicht sehr groß und nicht sehr stark, gleichwohl wahrnehmbar und sie schlief in dieser Nacht so gut wie schon lange nicht mehr. Mehrere Monate lang traf sich die Montagsgruppe in dem Steuerbüro, es wurden mehr Teilnehmerinnen und es gab weitere Anfragen. Der Raum wurde eindeutig zu klein und bot atmosphärisch trotz der liebevollen Dekoration mit farbenfrohen Tüchern, Kerzen und Entspannungsmusik nicht das, was sie sich unter einem Kursraum vorstellte. An einem der ersten richtigen Frühlingstage des neuen Jahres fasste sich Dörte ein Herz und den Entschluss, ihr Leben neu auszurichten. Es war ihr wie ein Wink des Schicksals erschienen, dass in direkter Nachbarschaft zu ihrem Wohnhaus ein Flachbau neu vermietet wurde, in dem sich bis dahin eine Kampfkunst-Schule befunden hatte. Sie hatte einen Besichtigungstermin wahrgenommen und nach einer schlaflosen Nacht des Überlegens zugesagt. Es passte perfekt: ein heller Eingangsbereich mit einem Empfangstresen, ein großer Übungsraum mit doppelflügeliger Glastür auf eine Terrasse und kleinen Garten hin, eine Umkleide, Toilette und sogar ein Büroraum und eine kleine Küche. Der Preis war in Ordnung, da einige Schönheitsreparaturen auszuführen waren. Das finanzielle Risiko, so hoffte sie, würde nicht allzu groß sein.

Mithilfe ihrer zahlreichen beruflichen Kontakte konnte sie die notwendigen Handwerksbetriebe gewinnen und die Renovierungsarbeiten fanden bis auf Kleinigkeiten in der vorgesehenen Zeit statt.

Sie nutzte die Zeit zudem für eine Typveränderung. Sie hörte auf, sich die Haare zu färben, und akzeptierte das Grau als ihre natürliche Haarfarbe. Vorsichtig wagte sie sich bei ihrer Kleidung an neue Farbtöne. Zwar trug sie weiterhin viel Schwarz, nicht nur der Trauer wegen, sondern sie hatte stets einen dezenten Stil mit weißer Bluse und schwarzem Blazer gepflegt. Ihr erstes korallenrotes Kleid ließ sie zunächst mehrere Wochen im Schrank hängen, bis sie sich traute, es anzuziehen, sanft angestoßen von ihrer Freundin Iris, die meinte, es sei an der Zeit, ein wenig Farbe in ihr Leben zu bringen.

Dörte kündigte das angemietete Steuerbüro, teilte den Mandanten ihren Schritt mit und behielt nur wenige, die sie nicht im Stich lassen durfte oder zu denen sich im Laufe der Jahre eine freundschaftliche Beziehung eingestellt hatte. Sie gestaltete den Kursraum nach ihren Vorstellungen; in dem Büro würde sie auch weiterhin ihre verbliebenen Mandanten betreuen und die Verwaltungsarbeiten für ihr Studio erledigen. Sie gab ihrem Yogastudio den eher prosaischen Namen »Dörtes Yoga-Haus« mit einem schlichten Logo im Sketchnotes-Stil. Der esoterischen Seite des Yogas hatte Dörte nichts abgewinnen können, der Name ihres Studios machte sie über jeden Verdacht diesbezüglich erhaben. Sie war dankbar, dass ihr die Yogalehrerin-Ausbildung geholfen hatte, eine Schneise in das Dickicht der unterschiedlichen Yogarichtungen und -traditionen zu schlagen. Sie staunte jedes Mal, wenn sie sich mit der Geschichte des Yoga beschäftigte, wie alt die ältesten Yoga-Sutren waren oder wie viele unterschiedliche Richtungen sich entwickelt hatten. Neben all diesem Wissen hatte ihre Ausbilderin ihr die wichtigste Botschaft mitgegeben: Yoga sei für den Menschen da und nicht umgekehrt. Daher hatte Dörte die Ausrichtung ihrer Kurse beim traditionellen Hatha-Yoga mit dem Dreiklang aus Atemübungen – Pranayama, Asanas und Meditation angesiedelt.

Ein Pluspunkt ihres Studios war zudem, dass bei schönem Wetter Garten und Terrasse für die Kurse genutzt werden konnten, zumindest ab dem nächsten Frühjahr. Momentan ließ der zwar milde Herbst ein Trainieren und Meditieren draußen nicht mehr zu. Sie freute sich auf diese Aussicht.

Die Umbau- und Anfangszeiten waren aufregend, anstrengend und von ständig wechselnden Phasen der Zuversicht und des Zweifels geprägt gewesen. Es gab Momente der Euphorie, in denen sie sich unbändig auf ihre neuen Aufgaben freute. Sie spürte sich selbst wieder, sah ein Ziel in ihrem Leben und einen Sinn in dem, was sie tat. Wesentlich häufiger waren die Stunden des Zweifelns, in denen sie sich fragte, welcher Teufel sie geritten habe, ihr gut situiertes Berufsleben gegen diese ungewisse Zukunft einzutauschen. Zig Male wollte ihre Hand zum Telefonhörer greifen, um dem Vermieter abzusagen. Zugleich wusste sie, dass es dafür zu spät war, sie musste da jetzt durch. Und die wiederkehrend aufkeimende Sorge: Würde sie den Sprung schaffen, von ihren Kursen leben zu können? Dörte wusste, dass ihre Kinder nicht minder verunsichert waren. Zwar sahen sie mit Erleichterung, dass die Lebensgeister ihrer Mutter zurückkehrten und sie sich nicht verpflichtet fühlen mussten, sich um sie zu kümmern. Diesen radikalen beruflichen Richtungswechsel dagegen konnten sie kaum nachvollziehen. Ihre Mutter war in ihren Augen nicht mehr die Jüngste, ohne Erfahrung und die Konkurrenz war groß. Zwar lebten beide seit Ausbildung und Studium nicht mehr daheim, befanden sich aber in inniger Verbundenheit mit ihr. Neugierig kamen sie zur Eröffnungsfeier angereist, bewunderten die geschmackvoll gestalteten Räumlichkeiten und freuten sich von Herzen mit ihrer und für ihre Mutter.

Die Eröffnungsfeier war gut besucht. Neben den Kindern waren etliche Freunde und Bekannte gekommen, zudem fremde Menschen, meistens Frauen, die die Werbung in der Zeitung und in den sozialen Netzwerken gelesen hatten. Dörte begrüßte die Besucherinnen und plauderte mit ihnen, verteilte eifrig Flyer, gestaltete eine kleine Yoga-Vorführstunde mit ihren vier Freundinnen und lud zu Sekt und Häppchen ein. Am Ende des Tages hatte sie manche Interessentin gewonnen, ein Anfang war gemacht.

Ihr war bewusst, dass sie sich aus der Masse der Konkurrenzstudios abheben musste, von denen es zwar nur wenige in ihrer kleinen Provinzgemeinde gab, aber umso mehr in der großen Nachbarstadt. Sie benötigte Alleinstellungsmerkmale und hatte sich dazu ihre Gedanken gemacht. Eine Idee war deshalb, jede Interessentin zunächst zu einem persönlichen Vorgespräch zu bitten. Dazu beraumte sie eine gute Stunde an und führte ein zwangloses Gespräch. Sie fragte nicht nur nach Vorerfahrungen oder gesundheitlichen Einschränkungen, sondern vor allem danach, welche Wünsche, Erwartungen oder auch Ängste im Raum standen. Auf diese Weise konnte sie herausfinden, ob Yoga zur jeweiligen Interessentin passen und welcher Kurs geeignet sein könnte. Sie erzählte auch ein wenig von sich, von ihrem Werdegang und lud zum Rundgang durch das Studio ein. Zum Abschluss machte sie mit der Interessentin einige ausgesuchte Übungen, die man in Alltagskleidung ausführen konnte. Auf diese Weise schuf sie direkt zu Beginn eine intensive Bindung zu ihren Teilnehmerinnen, man hatte sich vertraut gemacht. Selten waren die Absagen nach der Probestunde und meist wurde der Vertrag mit Freude unterschrieben. Die Kursgebühren waren moderat, die Vertragsbindung war ihr wichtig. Immerhin war sie auch Geschäftsfrau und wusste, dass sie ihren Lebensunterhalt mit den Kursen bestreiten musste.

Dörte sah sich ein letztes Mal prüfend im Kursraum um. Die rechteckige Kreidetafel, die über der Konsole hing, hatte sie schon beschriftet; heute stand Iris‘ Name darauf. Diese Idee war eine weitere der ausgesuchten Eigenheiten, die ihre Kurse so besonders machten. Im rollierenden Verfahren wurde der Name einer Teilnehmerin auf die Tafel geschrieben. Diese durfte sich im Verlauf der Yogastunde eine Asana oder auch eine andere Übung wünschen. Anfangs waren die Wünsche recht konventionell, die vereinfachte Meerjungfrau oder eine Übung für Nacken oder Schulter. Inzwischen suchten die Yoginis, wenn sie nicht vergessen hatten, dass sie an der Reihe waren, in Yogabüchern oder auf Yogasites eine ausgefallenere Asana aus, und stellten damit Dörte auf die Probe.

»Na, Liebes, kennst du auch das Walross?«, und es wurde schallend gelacht, entweder weil es die genannte Position nicht gab oder wenn Dörte, selten genug, passen musste. Bisweilen bat Dörte die Wunschgeberin, die Asana vorzumachen. Dies wurde meist unter kicherndem Protest abgelehnt. Also nahm Dörte ihr Tablet, suchte fix die Asana und sie erarbeiteten die Position gemeinsam, falls sie nicht zu herausfordernd war. Nicht nur die Teilnehmerinnen hatten Spaß dabei, auch Dörte amüsierte sich, wenn sie sah, wie viel Freude ihre Yoginis hatten. Gefiel ihnen die Position, wurde sie in den Folgestunden erneut praktiziert.

Auf der Konsole stand zudem ein Holzkästchen, das in drei Fächer aufgeteilt war. Darin befanden sich in Reihen geordnet weiße, lila und braune Holzkarten. Jede Teilnehmerin nahm beim Hereinkommen eine Karte und legte sie vor die Yogamatte. Braun stand für: Heute geht es mir nicht gut, ich benötige hauptsächlich Entspannung. Weiß bedeutete ‚alles O. K.‘. Lila signalisierte einen hohen Grad an Wohlbefinden und Energie. Diese Karten ersparten Dörte die bemühte Frage »Wie seid ihr heute hier?« und dennoch hatte sie einen guten Überblick über die Tagesverfassung der Yogafrauen. So konnte sie, je nachdem welche Farbe überwog, ihr Kursprogramm den Bedürfnissen der Teilnehmerinnen anpassen. Diese kleinen Rituale waren ihr wichtig, um in gutem Kontakt mit den Yoginis zu bleiben; sie sah die Frauen ja nur für anderthalb Stunden in der Woche.

Erst nach einigen Wochen wurde ihr bei der Vorbereitung und Planung ihrer Kurse, als sich erste Routinen und Sicherheiten entwickelt hatten, allmählich bewusst, welche Freude es bedeutete, Menschen unterrichten zu dürfen. Sie achtete darauf, ihre Stunden abwechslungsreich zu gestalten und legte Wert darauf, einen beständigen Rhythmus aus Bekanntem und Neuem, von Spannung und Entspannung zu schaffen, um nicht nur den Körper, sondern auch den Geist zu erfreuen und zu fordern. Dazu gehörten feste Blöcke innerhalb der Stunden. Sie begann meist mit einer Phase des Ankommens, in der die Teilnehmerinnen zunächst all das hinter sich lassen sollten, was bisher am Tag geschehen war. Sie sollten sich selbst erspüren, unterstützt durch Atembeobachtung und -übungen. Dann begann die erste Runde der Asanas, die sich in ihrem Schwierigkeitsgrad, sei es von Kraft, Kondition oder Beweglichkeit her, behutsam steigerten. So manches Mal ergriff Dörte während einer Trinkpause die Gelegenheit, den Yoginis zu erläutern, wie sie sich selbst etwas Gutes tun könnten. Das waren die »Fünf Tibeter« als mögliche tägliche Übungsabfolge für zu Hause oder ein Einblick in »Gesichts-Yoga«, was gerade die etwas älteren Yoginis erheiterte – »Okay, so krieg ich also meine Falten weg, oder wie?« -, das bewusste Essen einer Nuss oder Rosine, wie es in Achtsamkeitskursen geübt wird, oder sie stellte eine brauchbare App vor, für Meditation, Power Napping oder Entspannung. Auf diese Weise erfrischt, oft auch erheitert, folgte für die Yoginis ein weiterer Block Übungen, die dazu dienten, Verspannungen zu lösen. Die End-Entspannung bildete den Abschluss, in Stille in Shavasana oder mit einer Meditation oder Fantasiereise. Der Ausstieg diente dazu, um in sich hineinzuspüren, welche Veränderungen feststellbar waren, und sich allmählich wieder auf die Welt außerhalb des Yogaraums vorzubereiten. Zur Verabschiedung durfte das Namaste nicht fehlen.

Das eigene Lernen hatte einen hohen Stellenwert in ihrem Leben eingenommen. Zwar hatte sie in ihrer aktiven Zeit im Steuerbüro regelmäßig Fortbildungen besucht, um steuertechnisch auf dem neusten Stand zu bleiben, und tat das auch weiterhin, wenn auch mit weniger Engagement als für die Fortbildungen für ihr neues berufliches Standbein. Sie tastete sich näher an Meditation und Achtsamkeit heran, beschäftigte sich mit Waldbaden oder Resilienz – alldem, was bezüglich Entspannung en vogue war. Sie hoffte inständig, dass sich dieser Trend um das eigene Wohlbefinden, dieser empathische Blick auf den Menschen lange halten würde, das wäre auch gut für ihr Studio. Inzwischen bot sie selbst zwei Meditationskurse an, in denen die unterschiedlichsten Formen praktiziert wurden, Yoga Nidra, Sitz-, Liege- oder Bewegungsmeditationen, mit Klangschalen oder inspirierenden Texten oder auch in Stille. Zu ihrer Überraschung waren diese ausnehmend gut besucht. Eventuell müsste sie bald eine Warteliste anlegen. Die Sehnsucht der Menschen, zur Ruhe zu kommen, dem Alltagstrott und dem Stress zu entkommen, muss riesig sein, dachte sie, vor einigen Jahren hätte es mir auch gutgetan, hier als Teilnehmerin zu liegen.

Jeden ersten Sonntag im Monat richtete sie ein Yoga-Frühstück in ihrem Studio aus. Anmeldungen gab es bisher genügend, auch dank ihrer Freundinnen, die kaum einen Termin verpassten. Mit ihrem Sinn fürs Praktische gestaltete sie das Frühstücken auf unkomplizierte Art. Jede brachte ihr eigenes Gedeck mit. Sie sorgte für Kaffee, Tee und Wasser. Eine Bäckerei aus der Nachbarschaft lieferte nach Festpreis pro gemeldete Teilnehmerin ein Frühstückskörbchen mit Brot, Butter, Marmelade, Käse-Aufschnitt und je nach Jahreszeit Obst und Gemüse. Auf Yogakissen und -matte sitzend wurden zunächst einige einfache Übungen ausgeführt, danach gefrühstückt und zum Abschluss las sie oder eine Teilnehmerin einen ausgesuchten inspirierenden, bisweilen literarischen Text vor, über den anschließend gesprochen wurde oder den man einfach auf sich wirken ließ.

Ihr gingen auch noch weitere Seminarideen durch den Kopf, »ein Wochenende für mich« stand weit oben auf ihrer Liste. Sie hatte vorbereitend überlegt, wie solch ein Wochenende in einer Kombination aus Yoga, Meditation, Entspannungssequenzen und möglicherweise einem Angebot zum kreativen Schreiben aussehen könnte. Des Weiteren hatte die Seniorenresidenz im Ort mit ihr Kontakt aufgenommen, um zu erfragen, ob sie einen »Sitz-Yoga«- Kurs anbieten könne, und sie war geneigt, dies auszuprobieren. Sie wusste zugleich, dass sie sich selbst nicht überfordern durfte. Die Zeit der tiefsten Trauer, die berufliche Neuorientierung, der Aufbau des Studios – all das hatte sie enorme Kraft gekostet. Zudem musste sie ihre finanzielle Situation im Auge halten. Zwar warf das Studio schon Einnahmen ab und sie lebte bescheidener als zuvor. Shoppingtouren gab es kaum mehr, die Autos hatte sie verkauft – als Anfang hatte sie Alexanders geliebten Oldtimer weggegeben und gegen einen sportlichen Kleinwagen eingetauscht. Urlaube gönnte sie sich noch nicht, lediglich einmal im Jahr eine Auszeit in einem Yogahotel, das sie als persönliche Fortbildung verbuchte. Die vorherigen Einnahmen ihres Mannes und ihrer Steuerkanzlei fielen ja weg und sie musste lernen neu zu rechnen. Glücklicherweise standen die Kinder inzwischen auf eigenen Füßen. Ihnen dennoch gelegentlich etwas zuzustecken, darauf wollte sie nicht verzichten.

Sie tröstete sich damit, dass es wunderbar sei, stets weitere Pläne auszuarbeiten und damit nicht mehr die Routine aufkommen zu lassen, die die Arbeit ihres Steuerbüros gekennzeichnet hatte. Ihr neues Leben füllte zumindest das tiefe Loch, aus dem sie mühsam herausgekommen war. Fast vorbei war die Zeit der langen einsamen Abende und Wochenenden, weil einige ihrer Kurse bis in den Abend reichten und sie gelegentlich Wochenend-Aktivitäten anbot. Die Tage waren gut gefüllt mit ihrem Unterricht, der Vorbereitung der Kurse, der Einarbeitung in neue Asanas oder Yoga-Ausrichtungen und nicht zuletzt mit den Verwaltungsarbeiten und den verbliebenen Mandanten ihres früheren Steuerbüros.

Allerdings hatte sie sich einen freien Tag gegönnt. Mittwochs blieb das Yogastudio geschlossen und Dörte nutzte diesen Tag, um liegengebliebene Arbeit zu erledigen, einzukaufen, die Kinder zu besuchen oder einfach nichts zu tun, außer zu lesen, eine Ausstellung zu besuchen oder Freunde zu treffen.

Nun war wieder Wochenanfang. Ihren Lieblingskurs auf den Montag zu legen, war eine kluge Entscheidung gewesen, so fiel ihr der Start in die Woche leicht. Heute wollte sie es wagen, mit dieser Gruppe den Baum – Vrikshasana – in Angriff zu nehmen, eine anspruchsvolle Position, bei der Balance und Konzentration gefragt waren. Sie hatte selbst üben müssen, bis sie so fokussiert stehen konnte, dass sie den Fuß weit nach oben entlang des Standbeins schieben konnte, ohne zu wanken. Es funktionierte erst, als sie den Eindruck hatte, wieder Wurzeln gefasst zu haben. Die geistige Wirkung, die man dieser Asana zuschrieb, man stehe stabil inmitten der Stürme des Lebens, konnte sie bestätigen. Sie war gespannt, wie ihre Yogafrauen zurechtkommen würden. Wie gewöhnlich würde sie die Position behutsam anleiten. Wenn der Fuß nur am Knöchel angelehnt wäre und die Arme vor dem Körper in Gebetshaltung verblieben, wäre das ein guter Anfang und vollkommen ausreichend.

Dörte wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie die Eingangstür auf- und zugehen hörte. Die ersten Yoginis trafen ein. Sie stoppte die Musik, schloss noch einmal kurz die Augen, fokussierte ihren Geist auf die bald beginnende Yoga­stunde und öffnete nach drei tiefen Atemzügen ihre Augen. Sie wandte ihr Gesicht der Studiotür zu, um ihre Teilnehmerinnen mit einem Lächeln begrüßen zu können. Sie hörte immer mehr Stimmen, einzelne konnte sie heraushören und identifizieren. Es würde voll werden heute Abend.

In der Tat waren alle gekommen, was eher selten vorkam: Ein krankes Kind, Überstunden oder sonstige Verpflichtungen standen häufig einer Teilnahme im Wege. In Grüppchen betraten die Yoginis den Übungsraum, grüßten einander und richteten ihren Yogaplatz her. Nur zwei Teilnehmerinnen hatten eine braune Karte gezogen, der Rest verteilte sich gleichmäßig auf Weiß und Lila. Ihre Freundin Iris hatte Braun gewählt. Dörte nahm sich vor, sich behutsam um sie kümmern und ihr einen Plausch nach dem Kurs anzubieten. Wie gut, dass Iris‘ Name auf der Kreidetafel steht, dachte Dörte, sie kann sich eine Position wünschen, die ihr guttun würde.

Inzwischen hatten alle ihre Matten ausgerollt und sich auf Yogakissen, Bolster oder Zafu niedergelassen und plauderten mit ihren Sitznachbarinnen. Dörte ließ ihren Blick in die Runde schweifen: Es waren alle da: Iris, Emilia, Franzi, Fabienne, Klara, Aniela, Helene, Dilara, Aniqa und Christina. Das würde heute Abend ein ansehnlicher Wald aus wunderbaren Bäumen werden.

2 Die Katze (Majariasana)

Iris sah ihren Namen auf der Kreidetafel und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Es war schön, sich eine Position aussuchen zu dürfen. Sie hatte jedoch vergessen, dass sie heute an der Reihe war, und sich nichts überlegt. Ihre Mit-Yoginis hatten manch ausgefallene Idee, die für den gesamten Kurs anregend war. Sie seufzte verhalten. Was würde Dörte ihr jetzt raten? Spür in dich hinein, was brauchst du jetzt, würde ihre Freundin und Kursleiterin raten. Da war Iris klar, sie würde die Katze nehmen. Nichts Besonderes, aber eine Hauptasana, die ihrem schmerzenden Rücken wohltun würde. Sie malte mit wenigen Strichen eine Katze auf die Tafel, zog eine braune Holzkarte und ging zu ihrem Lieblingsplatz im Raum, nah neben Dörte und mit Blick in den Garten. Sie spürte Dörtes freundlich-forschenden Blick auf ihrem Gesicht ruhen und versuchte zurückzulächeln.

Links von ihr ließ sich Franzi nieder.

»Hallo du Goldstück, ich danke dem lieben Herrgott, dass du dir mal etwas Vernünftiges ausgesucht hast, kein Walross oder Affe, sondern die wunderbare Katze. Hast du bestimmt wegen deiner zwei Stubentiger ausgesucht?«

Iris lächelte ihrer Freundin zu. Direkt war ihr warm ums Herz geworden, weil Franzi anscheinend instinktiv erkannt hatte, dass ihr nicht der Sinn danach stand, sich eine exotische Übung zu wünschen.

»Nein, Liebes, die Katze ist tatsächlich meinem geschundenen Rücken geschuldet. Zwar hatte ich heute meinen freien Montag, aber ich musste mich wieder mal ausgiebig um meine Mutter kümmern. Sie ist nicht glücklich mit dem Pflegedienst und sie hatte eine lange Liste für mich, was ich für sie erledigen sollte. Außerdem hat Jonas die nächste Fünf nach Hause gebracht. Also zwei Hauptfächer im Defizit, das wird schwierig. Und es scheint ihm vollkommen egal zu sein, das ist das Schlimmste. Ich habe keine Idee, was ich tun kann.

»Vielleicht nix?«, fragte Franzi in ihrer gewohnt trockenen Art zurück, »lass ihn laufen, er ist ein prima Junge, das gibt sich wieder.« Iris gefiel zwar Franzis Einschätzung ihres Sohnes, ihren Optimismus konnte sie nicht recht teilen.

Dörtes Begrüßung zur Yogastunde unterbrach das Gespräch und entband sie einer Antwort. Alle saßen erwartungsvoll auf ihrer Matte und lauschten Dörtes Anweisungen zum Beginn des Kurses.

Auch Iris versuchte, sich zu konzentrieren. Sie befand sich als Endvierzigerin in der typischen Sandwich-Konstellation: die Eltern alt und pflegebedürftig, die Kinder noch jung und erziehungsbedürftig. Zwar hatte sie ihre Arbeitszeit in der Physiotherapie-Praxis reduzieren können, gleichwohl waren die Tage meist zu kurz für die Erfüllung ihrer To-do-Listen. Sie liebte ihre verwitwete Mutter von ganzem Herzen, aber deren Gebrechlichkeit erwies sich für die Familie als enorme Herausforderung. Insbesondere für die Mutter selbst, dessen war sich Iris bewusst. Es tat ihr unendlich leid zu sehen, wie die Mutter schwächer, ängstlicher und auch ein Stück selbstbezogener wurde. Hatte sie bis ins letzte Jahr ihr Leben als Witwe selbstständig und couragiert gestaltet, hatten einige Erkrankungen sie zuletzt in ihren Bewegungsmöglichkeiten stark eingeschränkt. Ihre Mutter vermisste die Kontakte, die Treffen mit Freundinnen, ihre Volkshochschulkurse und Theaterbesuche und war deshalb manches Mal unleidlich. Hatte sie Iris früher mit Rat und Tat zur Seite gestanden, so hasste die Mutter es nun, selbst auf Hilfe angewiesen zu sein. Häufig waren Iris‘ Besuche bei ihr von Misstönen gekennzeichnet, obwohl beide zutiefst aneinander hingen.

Zudem machten ihr Jonas‘ schulische Leistungen Sorgen. Sein großer Bruder war vollkommen problemlos durch die Schulzeit gegangen, weit davon entfernt, brillant zu sein, aber solide und stressfrei. Mit seinem Selbstbewusstsein und Charme hatte Paul den Schulweg recht entspannt beschritten und absolvierte jetzt eine duale Ausbildung. Jonas dagegen war stets unsicher gewesen. Man musste ihn ständig ermutigen und unterstützen. Seit dem Einsetzen der Hormonstürme hatte er versucht, so cool wie sein Bruder zu sein – was ihm gründlich misslang. Er hatte nicht verstanden, dass er seine eigenen Strategien entwickeln musste und es nicht half, die von Paul zu kopieren. Sie liebte ihre beiden Söhne gleichermaßen, fand es indes zutiefst ungerecht, dass die Talente so ungleichmäßig aufgeteilt waren. Zumindest sah es im Moment danach aus. Ihr Jüngster tat ihr manches Mal unendlich leid. Nur auf dem Handball-Feld wurde Jonas zu einem anderen Wesen: Da gab er sein Bestes, war ein absoluter Teamplayer und kämpfte um jeden Ball. Dann erkannte sie den ungelenkigen und linkischen Sohn nicht wieder. Iris seufzte. Sie musste mit ihrem Mann über Jonas reden. Er war, was die Jungs anging, deutlich gelassener als sie. Vielleicht gelang ihm, in Jonas‘ Gefühlslabyrinth einzutreten und einen Weg mit ihm herauszusuchen.

Als Iris ihren Namen hörte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Dörte hatte begonnen, die Katzen-Asana, ihre Wunschübung anzuleiten. Iris bemühte sich um ein Lächeln, nicht nur, weil sie wusste, dass alle Kursteilnehmerinnen kurz zu ihr herüberschauen würden, sondern auch um Dörte ihre Dankbarkeit zu zeigen. Sie hörte Dörtes Anweisung aufmerksam zu, obwohl sie und sicherlich die anderen Yoginis ebenfalls die Katze gut kannten.

»Wir arbeiten nun für einen gesunden Rücken. Dazu geht ihr in den Vierfüßlerstand, mit den Handgelenken unter den Schultern und den Knien auf Hüfthöhe. Atmet bewusst tief ein und wölbt den Rücken mit der Ausatmung nach oben, dabei geht das Kinn zur Brust. Haltet den Katzenbuckel bewusst, bevor ihr einatmend zurück in die Grundstellung geht. Wer möchte, kann mit der Einatmung in die Gegenposition, die Kuh, gehen, den Rücken also ins Hohlkreuz sinken lassen, der Blick geht nach oben. Führt nun diese Bewegung aus, in eurem Tempo und mit eurem eigenen Atemfluss, solange bis die Klangschale ertönt. Wer fertig ist, begibt sich in die Stellung des Kindes, um kurz zu entspannen.«

Iris begann mit der Ausführung der Übung und genoss die Dehnung ihres Rückens. Sie hielt es für klug, dass Dörte meist keine Anzahl vorgab, wie oft eine Übung zu wiederholen sei, sondern eine Zeitspanne zur Verfügung stellte, die mit dem weichen Ton der Klangschale beendet wurde. Wer früher aufhören wollte, konnte dies selbstverständlich tun und eine Entspannungshaltung einnehmen. Auf diese Art kamen weder Druck noch Konkurrenzdenken auf, sondern jede hörte bewusst auf ihren Körper und arbeitete nach ihren eigenen Möglichkeiten. Mit Gruseln erinnerte sich Iris an einen früheren Yogakurs, den sie besucht hatte, bevor Dörte ihr Studio eröffnet hatte. Dort hatten die Frauen nicht nur ihre stylishen Yoga-Outfits ebenso verstohlen wie argwöhnisch verglichen, sondern auch, wer wie tief in die Vorbeuge gehen konnte, wer die meisten Sonnengrüße schaffte oder im Drehsitz am weitesten kam. Selten hatte sie die vorgegebene Anzahl geschafft, war sich dick, hässlich und völlig ungeeignet vorgekommen. Sie schätzte ungemein, dass es kein Hochleistungsyoga bei Dörte gab. Ihre Kurse zielten darauf ab, den eigenen Körper kennen und schätzen zu lernen, sich zu fokussieren und zu entspannen. Es hatte sie deshalb nicht überrascht, dass Dörte mit der Ausrichtung ihres Studios einen Nerv getroffen hatte, und dies nicht nur bei nicht mehr ganz jungen Frauen. Denn Dörte erklärte die Positionen immer wieder geduldig und verständlich, machte sie vor und stand auch dazu, dass sie selbst nicht die tiefste Dehnung oder größte Drehung erzielte. Während die Frauen die jeweilige Übung ausführten, beobachtete Dörte sie genau, lobte eine gelungene, korrigierte behutsam eine weniger gelungene Ausführung, unterstützte mit Yoga­block, Kissen oder Band, wenn eine Teilnehmerin sich vergeblich abmühte, und spornte sanft an oder bot eine Alternative an. Daher fühlten Iris und die anderen Yoginis sich wohl in den Yogastunden, lachten häufig, wenn beispielsweise Positionen eher ungelenkig anstatt, wie Dörte zu sagen pflegte, mit innerer Schönheit, ausgeführt wurden, und freuten sich, wenn eine Asana richtig gut gelang.

Achtsam ließ sich Iris in die Stellung des Kindes gleiten und spürte in den Rücken hinein. Erstaunt stellte sie fest, dass ihr Wunsch anscheinend noch nicht vollständig erfüllt war, denn Dörte leitete zur nächsten Katzen-Asana über und bat sie, erneut in den Vierfüßlerstand zu gehen. Sie erklärte, dass die Katze eine wundervolle Übung sei, wie sehr sie sich gefreut habe, dass sie von Iris gewünscht worden sei und sie die Katze noch ein wenig erweitern wolle. In der ersten Variation bringe man das rechte Bein mit der Einatmung ausgestreckt nach hinten und mit der Ausatmung ziehe man das rechte Knie zur Stirn, dabei wölbe sich der Rücken; das gleiche mit dem linken Bein im Wechsel. Bei der zweiten Variation würden gleichzeitig rechtes Bein und linker Arm in die Waagerechte gehoben und kurz gehalten, dann die Seite gewechselt.

»Das habe ich mir nicht gewünscht, jetzt müssen wir ja richtig ran«, protestierte Iris halbherzig in die Runde.

»Das stimmt, Liebes, aber du wirst sehen, Bauch- und Rückenmuskulatur werden es dir danken. Es bereitet euch zudem auf den Baum vor, den werden wir gleich ausführen. Macht die Übungen in Ruhe, bis die Klangschale ertönt, oder hört früher auf, nehmt dann die Stellung des Kindes oder das Päckchen ein.«

Iris konzentrierte sich und führte die Anweisungen gewissenhaft aus, während Dörte ihre Kontrollrunde in der Gruppe drehte und auch bei ihr Halt machte.

»Das sieht gut aus, deinen beiden Katzen wirst du eines Tages Konkurrenz in puncto Geschmeidigkeit machen«, lobte Dörte sie und fuhr ernster fort: »Ist alles gut bei dir? Braune Karte, müde Gesichtszüge, muss ich mir Sorgen machen? Möchtest du gleich noch auf ein Kaltgetränk bleiben?«

»Das waren viele Fragen auf einmal. Kaltgetränk klingt gut, eine halbe Stunde kann ich abzwacken, bevor ich mich wieder meinem kleinen Familienunternehmen widmen muss«, erwiderte Iris dankbar. Lächelnd bewegte sich Dörte weiter zur nächsten Teilnehmerin.

Anschließend leitete Dörte die liegende Katze an, als Entschädigung, wie sie schmunzelnd meinte, für die anstrengenderen Katzen, auch wenn die liegende Katze ihre Herausforderung beinhalte. Sie sollten sich auf den Rücken legen und dann auf die rechte Seite drehen mit dem Kopf auf dem rechten Arm abgelegt. Das untere Bein wurde nach hinten angewinkelt; wem es gelang, sollte den rechten Fuß vorsichtig mit der linken Hand fassen. Das linke Bein wurde gebeugt vor dem Körper abgelegt. Dies massiere, erklärte Dörte, die Bauchorgane und öffne Schultern, Brust und Oberschenkel. Nachdem sie die Position kurz gehalten halten, bauten sie die andere Seite auf. Iris fühlte sich mit ihrem Wunsch voll rehabilitiert. Die Katze war mehr, als sie zu sein schien.

Zu schnell für Iris‘ Empfinden ging die Yogastunde dem Ende zu. Es war ihre Auszeit, mühsam erkämpft an ihrem freien Tag. Sie lag gerade in der »Happy-Baby-Pose«. Diese Übung war eine Wohltat für ihre häufig geschwollenen Beine. Das lange Stehen an den Massageliegen, die Wechseljahre, das ein oder andere Kilo zu viel – dass sich mitunter Wasser in Beinen und Füßen sammelte, verwunderte sie nicht. Diese Übung machte sie gern in der Mittagspause, im Gymnastikraum des Physiotherapie-Studios, in dem sie arbeitete. Sie wusste als Physiotherapeutin, wie sie sich bewegen, welche Übungen sie für Nacken und Rücken machen sollte und wie man sich rückenfreundlich verhält. Trotzdem hatte es des sanften Schubs von Dörte bedurft, bis Iris gelernt und in Ansätzen umgesetzt hatte, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, an sich denken durfte und ihre eigenen Bedürfnisse genauso wichtig waren wie die ihrer Familienmitglieder und Freunde. Die Verhältnisse waren vor einiger Zeit noch umgekehrt gewesen; da hatte sie Dörte gestützt, als Alexander so plötzlich verstorben war. Täglich hatte Iris die Freundin angerufen. Wenn sie allzu verzweifelt klang, packte Iris nach der Arbeit die transportable Massageliege in ihr Auto und fuhr zum Haus der Freundin. Das Reden war mühsam, aber die körperlichen Berührungen ihrer Rückenmassage, bisweilen auch Fußreflexzonen-Massage entspannten die von Trauer, Leid und Sorgen gezeichneten Gesichtszüge und den verkrampften Körper ihrer Freundin. Im Anschluss an die Massagen saßen die beiden Frauen mit einem Glas Wein, im Winter in dicke Decken gehüllt, auf der Terrasse, schwiegen laut oder redeten leise. Bevor Iris sich verabschiedete und ihre Massageliege einpackte, nahm Dörte sie in den Arm, drückte sie feste und sagte wiederholt: »Ich bin froh, dich als Freundin zu haben. Bitte lass mich wissen, wenn ich etwas für dich tun kann.«

Iris hatte die anschließende Entwicklung ihrer Freundin mit Bewunderung, bisweilen mit ein wenig Neid verfolgt, den sie schnell beiseite wischte, und schalt sich eine dumme Kuh, wenn sie sich im Kreis ihrer Familie umblickte. Dörte war allein, sehr allein und Iris gönnte ihr, dass sie wieder einen Halt in ihrem Leben gefunden hatte.

Nun war Iris diejenige, die auf schwankendem Grund stand, das hatte Dörte sofort gespürt. Die Freundin war fahriger geworden, lachte seltener und Sorgenfalten hatten sich in das fein gezeichnete Gesicht geschlichen.

Bewusst langsam rollte Iris ihre Yogamatte zusammen und verstaute Kissen, Block, Decke und Socken in ihrer Tasche. Sie verabschiedete sich von den Mit-Yoginis, drückte ihre Freundin Franzi zum Abschied – »du bleibst bestimmt noch ein wenig bei Dörte«, hatte diese feinsinnig erkannt – und zog ihre warme Fleece-Jacke an. Sie half Dörte, den Raum aufzuräumen. Danach holte Dörte zwei alkoholfreie Radler aus dem Kühlschrank und sie setzten sich auf die Terrasse. Beide genossen den ersten kühlen Schluck und blickten still in den leicht bewölkten Abendhimmel.

»Deine Mama?«, fragte Dörte schließlich.

Und Iris begann zu erzählen, von Liebe und Sorge, von Verständnis und Misstönen, von den Schwankungen zwischen Zuversicht und Verzweiflung hinsichtlich ihrer Mutter.

»Dann ist da noch Jonas. Er kackt in der Schule ab und es ist ihm schnurzegal. Glaub mir, es gibt Momente, da möchte ich am liebsten Jonas und meine Mutter in einen Raum sperren und den Schlüssel wegwerfen.«

Dörte hörte geduldig zu, nippte bisweilen an ihrem Radler und versuchte, Iris zu trösten.

»Du hast viel um die Ohren, Liebes, das tut mir unendlich leid. Es geht um Menschen, die du liebst, da ist nichts einfach. Und mach dir bloß keine Vorwürfe, du tust schon eine Menge. Ich kann mich gut daran erinnern, als Lukas seine rebellische Phase hatte, das war schwer auszuhalten. Ich hatte das Glück, dass Luisa mich unterstützt hat. Die Zwillinge waren ja immer sehr aufeinander bezogen. Da sie in dieselbe Klasse gingen, mussten sie auch dieselben Dinge lernen. Ich habe Luisa eines Tages gefragt, als Alexander und ich uns keinen Rat mehr wussten, ob sie Lukas nicht um Hilfe bei schwierigen Fächern bitten könnte. Ich glaube, wenn Luisa ihrem Bruder Hilfe angeboten hätte, dann hätte er sie erschlagen. Aber so war er derjenige, der um Unterstützung gebeten wurde, das hat ihm gutgetan. Erst danach hat sie Lukas gefragt, ob sie auch etwas für ihn tun kann. Da konnte er die Hilfe als Gegenleistung annehmen. Alexander war damals sehr beeindruckt, wie die Zwillinge das hinbekommen haben.«

Dörte schwieg für einen Moment und Iris schien, als sei die Freundin in ihre Erinnerungen abgetaucht. Dörtes Mundwinkel zuckten verräterisch. Dann nahm sie den Faden wieder auf.

»Wenn ich so überlege: Hast du nicht erzählt, dass Jonas eine besondere Beziehung zu seiner Oma hat, er sich häufig zur ihr geflüchtet hat, wenn irgendwas im Busch war? Ist das immer noch so?«

»Ja, das stimmt. Es fällt ihm zwar auch schwer mitzuerleben, dass seine Oma immer mehr abbaut, aber sie ist weiterhin seine Lieblingsoma«, bestätigte Iris.

»Du hast eben scherzhaft gesagt, dass du die beiden am liebsten in einen Raum einsperren würdest. Vielleicht ist das der Schlüssel zur Lösung deines Problems«, fuhr Dörte fort, »vielleicht nicht gerade einsperren, aber zusammenbringen« und ihr spitzbübischer Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass sie sich nicht über Iris lustig machte, sondern eine ernsthafte Idee verfolgte.

»Wie meinst du das jetzt? Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.« Iris schaute Dörte einen Moment ratlos an, dann fiel der Groschen.

»Du meinst also«, spann Iris die Idee weiter, »ich erkläre Jonas, dass er sich um seine Oma kümmern müsse, ich würde das allein nicht mehr schaffen. Unter dem Vorwand, bei ihr in Ruhe lernen zu können, ohne dass seine anstrengende Mutter immer hinter ihm stehe, um ihn anzutreiben. Und meine Mutter bitte ich, sich ein wenig um Jonas zu kümmern, sie habe doch immer einen guten Draht zu ihm gehabt, ich hätte im Moment nicht den Nerv dazu und käme nicht an ihn ran. Ungefähr so?«

Dörte nickte und ergänzte: »Und frag mal Christina wegen Französisch, vielleicht hat sie eine gute Idee, wie Jonas sich verbessern könnte.«

Iris schluckte. Die Idee erschien ihr klug, getrickst war es trotzdem. Das passte nicht in ihre Vorstellung von ehrlichem und vertrauensvollem Umgang miteinander. Was hätte sie zu verlieren? Mit dem schlechten Gewissen, keinem mehr gerecht zu werden, lief sie ohnehin seit Monaten herum. Ihr Mann beschwerte sich inzwischen häufig über ihre Gereiztheit. Es war überhaupt nicht sicher, ob der Plan funktionieren würde, aller Wahrscheinlichkeit eher nicht. Dörtes Vorschlag rührte sie, die Gedanken, die sich die Freundin machte, um ihr zu helfen. Insbesondere wäre es eine Möglichkeit, ihrer Mutter trotz ihrer Gebrechlichkeit das Gefühl zu vermitteln, dass sie gebraucht wurde, dass ihre Hilfe und ihr Rat weiterhin gefragt waren. Dieser Gedanke gefiel ihr ausnehmend gut, ihr wurde ein wenig leichter ums Herz. Sie würde direkt morgen ihre Mutter um ihre Unterstützung bitten.

»Du bist ein Schatz, ich danke dir.« Iris machte eine kurze Pause. »Und auch für die schönen Katzen-Asanas. Das hat gutgetan«, sagte sie und umarmte ihre Freundin.

»Die Katze ist ein Krafttier. Sie steht für Freiheit und Selbstbestimmtheit, ist eine sanftmütige Kämpferin, so wie du!«, erwiderte Dörte lächelnd.

»Ist ja klar, dass du wieder etwas Mythisches rauskramen musst. Ich bin da prosaischer, ich sollte langsam heimgehen. Du weißt ja: Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.«

Beide Frauen grinsten sich an, prosteten sich zu und nach einem letzten Schluck schauten sie gemeinsam in den weiten Himmel, wo an diesem klaren Oktoberabend neben einigen Wolken auch allerlei Sterne zu sehen waren.

3 Der Schmetterling (Bhadrasana)