Zeige deine Klasse - Daniela Dröscher - E-Book
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Daniela Dröscher

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Beschreibung

Daniela Dröscher verfasst ein einzigartiges Porträt über soziale Herkunft, das überraschende Antworten gibt: auf Grundprobleme politischen Engagements, das Auseinanderdriften verschiedener Milieus, öffentliche Wahrnehmung und auf die Frage, warum Klasse mit so viel Scham besetzt ist (das gilt für die ganz oben und die ganz unten). Zeige deine Klasse beschwört ein Stück deutscher Geschichte herauf, das die politischen Verhältnisse aus einer radikal subjektiven Perspektive beleuchtet. Als Instrument dient Dröscher dabei ein längst ausgedienter Begriff, der der Klasse. War es für die Autorin lange selbstverständlich, alles durch die Brille von Gender und Rasse wahrzunehmen, hilft ihr Klasse die Unterschiede herauszuarbeiten, die Herkunft letztlich bedeutet und warum das Wir-Gefühl sich verloren hat. Identität und Schicht sind ihr zu wage. Von ihrer frühen Kindheit bis jetzt erlebt sie immer wieder Macht- und Ohnmachtsverhältnisse, die kein Wohlstand aufzulösen vermag. Hellsichtig in dem Blick ins Innere unseres sozialen Umgangs miteinander. Wütend über die Politikverdrossenheit unserer Gegenwart, entwaffend in der Offenheit, Unangenehmes zu benennen und berührend in dem Versuch, zu seiner Herkunft zu stehen und die damit einhergehende Scham nicht zu verheimlichen. Ein Buch, wie wir es seit Didier Eribons Rückkehr nach Reims über Deutschland ersehnt haben.

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Seitenzahl: 248

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Daniela Dröscher

Zeige deine Klasse

Die Geschichte meiner sozialen Herkunft

Hoffmann und Campe

»Sie hat die Seiten gewechselt, ohne zu wissen, welche,

und wenn sie auf ihr bisheriges Leben zurückblickt,

sieht sie nur zusammenhanglose Bilder.

Sie spürt sich nirgends.

Außer wenn sie schreibt oder liest. (…)

Sie ist sicher, dass sie keine ›Persönlichkeit‹ hat.«

Annie Ernaux

»Jeder muss sich jetzt wirklich entscheiden.

Ist Geld nun Geld oder ist Geld nicht Geld?

Jeder der es verdient und es

jeden Tag zum Leben ausgibt

weiß daß Geld Geld ist.

Jeder der darüber abstimmt

wie viel Steuern eingetrieben werden sollen

weiß daß Geld nicht Geld ist.

Das ist es was alle verrückt macht.«

Gertrude Stein

»Your life is a sham /

Till you can shout out /

I am what I am«

Gloria Gaynor

Ein Buch wie dieses schreibt man zumeist erst dann, wenn man entweder sehr alt oder sehr berühmt ist oder wenn die eigenen Eltern nicht mehr am Leben sind.

Meine Eltern leben. Diese Geschichte ist auch ihre Geschichte. Sie sehen manche Dinge anders als ich sie sehe. Umso mehr danke ich ihnen, dass sie mir erlauben, mir diese Geschichte zu erzählen.

Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind kein Zufall. Einige der Orts- und Personennamen aber sind im Folgenden geändert.

Prolog

Teil IHerkunft

Warst Du nicht fett und rosig?

Warst Du nicht glücklich?

Bis auf die Beschwerlichkeiten,

Mit den anderen Kindern streiten,

mit Papa und Mama

Wo fing es an und wann?

Was hat Dich irritiert?

Was hat Dich bloß so ruiniert?

(…)

Wo fing es an?

Was ist passiert?

Hast Du denn niemals richtig rebelliert?

Kannst Du nicht richtig laufen?

Oder was lief schief?

Und sitzt die Wunde tief in Deinem Innern?

Kannst Du Dich nicht erinnern?

Bist Du nicht immer noch, Gott weiß wie, privilegiert?

Was hat Dich bloß so ruiniert? (…)

Die Sterne

Heimat ist, was man nicht ertragen kann, wenn man dort ist, und nicht loslassen kann, wenn man weg ist.

Herta Müller

Das Küchenfenster, aus dem man als Kind blickt – ein bis vier Jahre

Ich erinnere mich an einen Moment des Innehaltens während der Pina-Bausch-Retrospektive, die 2016 im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigt wurde. Ich war ernsthaft erstaunt, zu erfahren, dass die Meisterin des tänzerischen Humors aus einer Solinger Gastwirtfamilie stammte. Was von dieser einfachen Herkunft, fragte ich mich, ist wohl eingeflossen in ihre federleichte Pantomime?

In einer Dokumentation stellte sich ein Kritiker genau diese Frage und beantwortete sie sich selbst wie folgt: Pina Bausch habe dem klassischen Ballett »die Ferse zurückgegeben«. Der Beitrag stammte aus den 80er-Jahren, ich merkte dem Mann seine Begeisterung an. Auch deshalb hat sich mir der Satz so eingeprägt. Ich liebe die Vermischung von Ernst und Unterhaltung.

Ein Kind ist mit dem Inventar und den Insignien von sozialen Räumen umgeben: Gestik, Mimik, Sprachduktus etc. Die vier Wände, in denen es aufwächst, sind der Schoß des Wirklichen (Mircea Eliade). In diesem Fall war das kindliche Zuhause das Wirtshaus der Eltern. Wie bewusst Pina Bausch dieser Einfluss gewesen sein mag, kann ich nicht einschätzen. Im Zentrum ihrer Ästhetik aber steht die alltägliche Geste. In ihren Choreographien wimmelt es vor Akrobatik und Clownerie, also niedrigeren kulturellen Formen. Ihr Ensemble setzte sich aus Menschen verschiedenster Nationalitäten zusammen, darunter viele Laien, die sich MIT HÄNDEN UND FÜSSEN verständigten. Ausgangspunkt der Arbeiten waren oft Gesten und Mimiken, die nach dem sprichwörtlich Bodenständigen im Menschen suchten. Dem, was sie jenseits von Sprache an geteilter Körperlichkeit miteinander verbindet: die zu einem U verzogenen Lippen, das königlich erhobene Haupt, das Naserümpfen, das Sich-auf-dem-Absatz-Umdrehen, das Ärmelhochkrempeln, der verschmierte Lippenstift.

Lange Zeit hatte ich diesen Boden, diese Ferse nicht, hatte ich doch meine Herkunft samt Nabelschnur gekappt. Wie ein Geist schwebte ich zwischen schwarzer Schrift und weißem Papier über den Dingen.

Aus den ersten vier Lebensjahren erinnert ein Kind kaum etwas. Ich fand es empörend, dass ich aus dieser Zeit nichts wusste. Stattdessen musste ich mit Fotografien sowie Erzählungen anderer vorliebnehmen.21 Symptomatisch ist, was sich zur ersten Erinnerung stilisiert. In meinem Fall ist es die Erinnerung an mein Überleben.

Als ich vier Jahre alt war, rettete mein Vater mich vor dem Ertrinken. Während eines Adria-Urlaubs nahm meine ältere Großcousine mich an die Hand und lief mit mir ins Meer. Ich konnte noch nicht schwimmen. Unvermittelt löste meine Cousine den Griff, und die Wellen schwappten umgehend über mir zusammen. Mein Vater, der vom Strand aus mit Argusaugen über mich wachte, stürzte augenblicklich los. – Das ist meine erste visuelle Erinnerung, und sie ist zur Hälfte fiktiv, aus den Erzählungen meines Vaters nachkoloriert: Ich treibe strampelnd und mit von Salzwasser gefüllten Lungen am Meeresgrund und starre stumm und panisch in den wässrig blauen Himmel, bis mein Vater mich aus den Tiefen des Wassers hebt.22

Mein Vater erzählte mir später oft von meiner Rettung. Es passte zu der Rhetorik vom »harten Leben«, zu der meine Großeltern und partiell auch meine Eltern neigten.

Versuch, die Ferse zurückzugewinnen: Der buntscheckige Boden meiner Kindheit

der braune weiche Teppich, in den meine kleinen Füße einsinken – mein Kinderzimmer

der »Speicher«, immer leicht sandig – der Dachboden direkt gegenüber vom Kinderzimmer, dort trocknete die Wäsche

die alte leberbraune knarzende Holztreppe

beigefarbenes Linoleum – die Küche

der Parkettboden des Wohnzimmers: spiegelglatt, darauf ein rubinroter Perserteppich

karamellfarbene 70er-Jahre-Fliesen – das Bad

die hellgrau gefleckte Marmortreppe hinunter zu meinen Großeltern väterlicherseits

bunte winzige alte Mosaik-Steinfliesen – der Hausflur

graue, große Pflastersteine – der Hof unseres Hauses

der eiskalte, immer leicht feuchte Lehmboden, den meine nackten Füße durch die dünnen Sandalen beim Kartoffelholen spüren – der Keller

die mit Blumen bewachsene Wiese – in unserem Garten23 und um das Dorf

die frisch asphaltierten Straßen – die Hauptstraßen

Lehm und Erde – der Feldweg zum Gemüsegarten meiner deutschen Oma

Das Küchenfenster, aus dem man als Kind blickt (Knut Elstermann) ist prägend für die Welterschließung, dasselbe gilt für die Landschaft der Kindheit – das Urbild (Goethe) für alle weiteren Bilder. Wie also sah sie aus, die soziale Wirklichkeit, die sich von meinem Küchenfenster aus zu einem Urbild fügte? Was war mein Schoß des Wirklichen?

Mein Elternhaus war das Elternhaus meines Vaters, ein Eckhaus mitten im Dorf. Gegenüber unserer Wohnung, die im ersten Stock lag, blickte ich auf einen Teil der alten Scheune, davor der Innenhof, eine etwa 50 Quadratmeter große asphaltierte Fläche. Dort spielte ich im Sandkasten, schaukelte und fuhr Dreirad. Ein schwarzes, filigranes schmiedeeisernes Tor trennte den Hof von der Straße, die den oberen Teil des Dorfes mit dem unteren verbindet. Den ganzen Tag über herrschte ein reges Kommen und Gehen, Menschen, Fahrräder, Autos, Traktoren, sogar amerikanische Panzer rollten ab und an noch, aus dem nahen Baumholder kommend, dort hindurch.

Die Wohnung reichte vom ersten Stock bis in das ausgebaute Dachgeschoss, war hell und GERÄUMIG, insgesamt fünf Zimmer, Küche und Bad. Zu meinem Kinderzimmer – 12 Quadratmeter groß, Blick auf den Kirchturm direkt gegenüber – führte eine alte, braune, glatt gewienerte Holztreppe mit ausgetretenen Stufen. Sie knarrte bei jedem Schritt und war ein magischer Spielort, wie ein lebendiges Wesen erschien sie mir.

Im Erdgeschoss lebten meine deutschen Großeltern. Neben den benutzten Räumen gab es unbenutzte oder umfunktionierte Areale, die mit Staub und Spinnweben an eine längst vergangene Zeit erinnerten:

der Hühnerstall; heute – überdachter Freisitz

das Backhaus; heute – Abstellraum

der Schweinestall; heute – Werkstatt

der Kuhstall; heute – Abstellraum

die Scheune – verbotenes Terrain, voll mit alten Möbeln, das Dach hatte Löcher

Das also war mein Ort, das Gehäuse meines Küchenfensters. Das Wohnzimmer prägte ein unaufgeregter, bilderloser Minimalismus: Perserteppiche, Parkettböden, Ledermöbel, Setzkästen, Zimmerpflanzen, 70er-Jahre-Tapeten.

Mindestens so entscheidend für ein Kleinkind wie das, was sich vor dem Fenster zuträgt, ist natürlich das familiäre Kammerspiel selbst.

Foto Mutter

Augen: groß, grün

Haar: hellbraun, lockig

Gesicht: rund, hohe Wangenknochen

Besonderheiten: »übergewichtig«

Typ: Schauspielerin Marianne Sägebrecht

Foto Vater

Augen: schwarz

Haar: blond, glatt, Seitenscheitel

Gesicht: feminin

Besonderheiten: Brille

Typ/Familienähnlichkeit:

Schauspieler Helmut Fischer/Monaco Franze

Meine Mutter liebte:

blauen Lidschatten, die Sonne, Einkaufen, Kochen, Rote Bete, Lederhandtaschen, das Spiel, bei dem wir im Bett lagen und uns gegenseitig unsichtbare Buchstaben auf den Rücken schrieben, bunte Röcke mit kleinem Blumenmuster, frisches Brot, Cher, Liv Taylor, Muhammad Ali, ihren orangefarbenen VW-Käfer, hochhackige Schuhe, unsere Katze, ihre Schreibmaschine, Kleider mit Animal Print, Tom & Jerry, die Golden Girls

Meine Mutter liebte nicht:

Erbsen pulen, Lavendelduft, Auto waschen, Landfrauenvereine, die Lindenstraße, Dorftratsch, wenn man mit Essen »spielte«, altes Bratfett, McDonald’s, Schiffsfahrten, Zigaretten, Alkohol, zu starken Wind, Gartenarbeit, die Struwwelliese, den Zappelphilipp, Muttertag, das Wort FREMDENZIMMER24

Mein Vater liebte:

seine rote Vespa,Waldspaziergänge, REVAL-Zigaretten25