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Die letzten Jahre haben deutliche Spuren im gesellschaftlichen Zusammenhalt und Miteinander hinterlassen. Die Beziehungen untereinander wurden geschwächt, alte Konflikte und Spannungen weiter offengelegt und verstärkt: Die Gesellschaft spaltet sich in Arm und Reich, in Europaskeptiker und -befürworter, in Impfbefürworter und -gegner. Freundschaften zerbrechen und sogar Familien entzweien sich. Viele Menschen sagen, dass sie statt Solidarität mehr Feindseligkeit erleben. Auch in den Kirchen stehen sich liberale und konservative Gläubige gegenüber. Wollen wir diese Gräben akzeptieren? Wollen wir uns einbunkern in unseren Stellungen? Wenn nicht, dann führt nur ein Weg zurück zu mehr Zusammenhalt: Versöhnung. Nur: Die Grundvoraussetzung für Versöhnung ist der Versuch, einander zu verstehen. Doch das wechselseitige Verstehen fällt häufig schwer. Anselm Grün kennt diese Situation aus vielen Gesprächen und Vorträgen. In seinem neuen Buch fragt er daher: Wie schaffen wir es, wieder mehr Zusammenhalt zu leben? Wie kann Versöhnung gelingen? Heißt versöhnen vergessen? Gibt es Grenzen der Versöhnung? Und was tun, wenn Wunden trotz allem nicht heilen? Darüber schreibt Anselm Grün in diesem Buch und zeigt, dass Spaltung kein Schicksal ist, sondern Versöhnung möglich und nötig ist.
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Seitenzahl: 165
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Anselm Grün
Zeit für Versöhnung
Spaltung überwinden, Begegnung wagen
Die Bibelverse wurden folgender Übersetzung entnommen:
Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige deutsche Ausgabe
© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2023
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Sabine Hanel, Rohrdorf
Umschlagmotiv: Sarah Hornschuh, © Verlag Herder
E-Book-Konvertierung: ZeroSoft SRL
ISBN Print 978-3-451-39488-1
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82950-5
Nur wenn wir den Weg der inneren Aussöhnung gehen, finden wir zu echter zwischenmenschlicher Versöhnung. Doch ob Versöhnung gelingt oder nicht, bleibt immer auch ein Geschenk. Anselm Grün macht mit seinem Buch Mut, die Schritte hin zu einem versöhnten Leben zu gehen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, dass sie immer wieder das Glück erfahren dürfen, das in einem solchen Leben liegt.
(Melanie Wolfers, Seelsorgerin und Autorin)
Wenn wir in der Lage sind, bei allem Schrecklichen und Grausamen des anderen Menschen in ihm noch einen Funken Menschlichkeit zu sehen, vielleicht etwas Gutes oder Wahres oder Schönes, dann gibt es Hoffnung, dann ist Versöhnung möglich. Im letzten ist Versöhnung mit dem anderen nur dann möglich, wenn wir selbst in der Lage sind, unsere eigenen dunklen Seiten anzuschauen und diese anzunehmen. Erst die Versöhnung mit uns selbst eröffnet die Chance, uns mit dem anderen zu versöhnen. Das ist auch die Botschaft von Anselm Grün und darum halte ich es gerade in der jetzigen Zeit für absolut lesenswert.
(Bischof Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim)
Die Frage nach der Versöhnung mit sich selbst und anderen begleitet mich bereits seit langer Zeit. Wie für Anselm Grün ist auch für mich die Voraussetzung für die Versöhnung mit anderen die Versöhnung mit mir selbst. Sich mit seinen Wurzeln zu versöhnen kann ein langer Prozess sein. Wenn uns Unrecht oder sogar Gewalt geschehen ist, dann ist es sehr hart, sich mit dem eigenen Weg zu versöhnen. Zudem ist nichts schlimmer als eine falsche Versöhnlichkeit, in der sogar Gewalt verharmlost, verdrängt oder schöngeredet wird. Versöhnung aus tiefstem Herzen ist wie alles Wesentliche im Leben nicht machbar. Doch wir können daran arbeiten, indem wir uns Unterstützung suchen, um nicht bitter und hart zu werden. Eine wertvolle Unterstützung auf diesem Weg kann auch dieses Buch sein.
(Pierre Stutz, spiritueller Begleiter und Autor)
„Ob in einer Gesellschaft die Versöhnung wächst oder die Spaltung, liegt nicht nur an den verschiedenen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen, sondern auch an jedem Einzelnen. Wir sind nicht machtlos den spaltenden Tendenzen der Gesellschaft ausgeliefert“, schreibt Anselm Grün in diesem Buch. Wie Anselm Grün bin auch ich davon überzeugt, dass wir alle einen Beitrag leisten können und leisten sollten: indem wir das Gespräch suchen, uns persönlich einbringen und unsere Gesellschaft aktiv mitgestalten. Eine entscheidende Gelingensvoraussetzung aller Versöhnung liegt dabei in der Bereitschaft zum Zuhören. Anselm Grüns starkes Plädoyer wird viele Menschen dazu ermutigen, gegen die Empörungslust und für Zusammenhalt und Versöhnung mit Herz und Verstand einzustehen.
(Ulrich Lilie, Pfarrer und Präsident der Diakonie Deutschland)
Stimmen zum Buch
Vorwort
Versöhnen statt spalten – Einführung
Warum Versöhnung schwerfällt
Die Angst vor Kontrollverlust
Die Angst vor Ablehnung
Die Angst vor dem Scheitern
I. Brücken der Versöhnung bauen
Brückenbauer werden
Hindernisse überwinden
Grenzen akzeptieren
II. Dimensionen der Versöhnung
Versöhnung mit sich selbst
Die fünf Schritte der Versöhnung mit sich selbst
Wege zur Selbstliebe
Die Basis für die Versöhnung mit anderen
Versöhnung mit anderen
Versöhnung in der Familie
Versöhnung unter Freunden
Versöhnung am Arbeitsplatz
Versöhnung unter Glaubensgeschwistern
Versöhnung zwischen den Generationen
Die Versöhnung in der Gesellschaft
Versöhnung zwischen Völkern
Versöhnung mit der Natur
Versöhnung mit Gott
III. Vorbilder der Versöhnung
Jakob und Esau
Josef und seine Brüder
Die Gemeinde in Antiochien
Saul und David – gescheiterte Versöhnung
Vorbilder unserer Zeit
IV. Die Früchte der Versöhnung
Was bewirkt Versöhnung?
Frieden
Freiheit
Vertrauen
Verbundenheit
Kreativität
Gerechtigkeit
Harmonie
Mut
Hoffnung
V. Jede Versöhnung ist ein Neuanfang Schluss
Anmerkungen
Über den Autor
Anselm Grün greift in seinem Buch „Zeit für Versöhnung“ eine zentrale Herausforderung unserer Tage auf – die Fähigkeit trotz verschiedener Meinungen und alter Verletzungen neu und friedlich, also versöhnt, zueinander zu finden. Versöhnung baut Brücken zwischen Opfern und Tätern, hilft alte Streitigkeiten zu befrieden, Wunden zu heilen und wird somit zu einer wichtigen Form von Friedensarbeit.
Diese heilende und verbindende Kraft der Versöhnung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, sei es auf gesellschaftlicher Ebene oder im privaten Bereich. Europas Frieden nach dem Horror des Zweiten Weltkrieges von 1945 bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wäre ohne die deutsch-französische Versöhnung und damit dem Aufbau einer westeuropäischen Friedensordnung nicht möglich gewesen.
Versöhnung wirkt auch im privaten Bereich. Ein Beispiel: Jeder, der eine Ehescheidung erleben musste, weiß um die heilende Kraft der Versöhnung. Wenn ehemals liebende Ehepartner – aus welchen Gründen auch immer – getrennte Wege gehen, dann belasten Schmerz, Schuld, Unausgesprochenes und manchmal sogar Hass den weiteren Lebensweg. Ganz besonders wichtig ist die Versöhnung der Eltern für die von der Scheidung betroffenen Kinder, denn erst durch den neuen „Frieden in Trennung“ der Eltern können Kinder auch Frieden mit sich, mit ihrem trennungsbedingten Schmerzen und Ängsten finden und somit neu aufblühen.
Ob im politischen Raum oder im privaten: Versöhnungsbereitschaft wird zu einem wichtigen Kriterium von gelingendem, neu ausgerichtetem menschlichen Zusammenleben. Durch Versöhnung schöpfen wir neue Kraft und Mut unsere Leben zu gestalten und das Richtige zu tun. Ich bin überzeugt: Versöhnungsbereitschaft und Versöhnungskompetenz werden zukünftig noch wichtiger, vielleicht sogar zu einem überlebenswichtigen Thema. Warum?
Wir leben in bewegten, aufregenden und häufig auch aufgeregten Zeiten, in einer Epoche der Umbrüche und Veränderungen. Technische Innovationen wie Digitalisierung, künstliche Intelligenz mit der einhergehenden Informationsflut, aber auch Themen wie Verschuldung, die Spannungen zwischen Arm und Reich, politische Krisen, Kriege und Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch Artensterben und die sich verschärfende Klimakrise fordern uns gesellschaftlich und persönlich heraus. Nicht ohne Grund wurde der Begriff der Zeitenwende zum Wort des Jahres 2022. Neue Begrifflichkeiten sind in unser Leben eingezogen. Wer kannte noch vor 15 Jahren Konzepte wie Fake News oder alternative Fakten? Information ist zu einer noch schärferen, weil leichter zugänglicheren Waffe geworden – in der politischen Auseinandersetzung und im privaten Bereich. Gerade bestimmte, oft mehr als abstruse Verschwörungstheorien in der Coronakrise haben gezeigt, wie viel Sprengstoff hier liegt. Freundschaften zerbrachen, Familien wurden gespalten.
Die Intensität und das Volumen von Information, das auf uns täglich einströmt, haben sich allein in den letzten drei Jahrzehnten vervielfacht. Auch hier bewahrheitet sich, dass ein mehr an Quantität nicht unbedingt in besserer Qualität resultiert. Gerade der noch immer weitgehend rechtsfreie und damit auch verantwortungsfreie Raum der sozialen Medien mit seinen Möglichkeiten zu Propaganda, Verunglimpfung und Hetze ist ein trauriges Beispiel.
Diese heutige Vielzahl von Herausforderungen und Problemen scheint manchmal übermächtig, viele Menschen fühlen sich förmlich erdrückt davon. Die Erfahrung warnt uns: Überforderung mündet oft in Sprachlosigkeit, oder schlimmer noch, verleitet zum gedankenlosen Nachplappern dumpfer, populistischer Parolen. Hier ist gerade die deutsche Geschichte voller trauriger Beispiele. Doch die Hoffnung auf einfache Antworten trügt: Sie bewahren uns nur scheinbar davor, uns mit den anstehenden Themen tiefgründiger und sachlicher auseinandersetzen zu müssen. Die Lebenserfahrung lehrt, dass alle Probleme, die wir nicht umgehend anpacken, uns morgen oder übermorgen mit mehrfacher Wucht auf die Füße fallen werden. Es ist wie einer Verletzung; wenn wir uns nicht direkt um sie kümmern, sie desinfizieren und versorgen, dann wird sie sich entzünden und sich im schlimmsten Fall zu einer lebensbedrohlichen Sepsis entwickeln.
An dieser Stelle wird der enorme Wert der Versöhnung sichtbar. Versöhnung hat Ausgleich und neuen Frieden als Ziel, sie ist Teil der Lösung und nicht Teil des Problems. Sie baut Brücken über zuvor als unüberwindbar geltende Gräben und schafft neue Verbindungen. Versöhnungskompetenz und Versöhnungsbereitschaft zwingen uns aufmerksam zuzuhören, andere Meinungen anzuerkennen, auch wenn wir sie so nicht teilen. Versöhnung verlangt von allen Beteiligten Selbstreflektion, das Verlassen der eigenen Komfortzone und damit Selbstüberwindung. Dadurch wird ein neues, gemeinsames Verständnis der Situation, der Probleme und Vergangenheiten aller Beteiligten erreicht. Versöhnung schafft Raum für Verständnis und Anerkennung aller Beteiligten. Dazu muss der Täter Verantwortung für seine Taten übernehmen und das Opfer neue Bereitschaft zur Vergebung zeigen.
Der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen, Erfahrungen und Weltanschauungen ist eine Herausforderung für uns alle. Versöhnungsarbeit kann einen wichtigen Beitrag leisten, denn sie hilft uns aus dem Teufelskreis von Recht haben wollen und Recht haben müssen auszubrechen.
Wie schon gesagt: Wir leben in bewegten, aufregenden und häufig auch aufgeregten Zeiten, in einer Epoche der Umbrüche und Veränderungen. Diese Herausforderungen sind eine Realität, vor der wir uns nicht verstecken können. Doch sie sind nicht nur ein Problem, sondern auch eine Chance. Denn jede Krise trägt auch die Freiheit zu neuen Lösungen, Antworten, Wegen in sich. Aber ohne Frieden mit der Vergangenheit, mit dem Trennenden, ohne Versöhnung werden wir diese Lösungen weder finden noch umsetzten können.
Wie heißt es so schön: Wir leben alle unter der gleichen Sonne und atmen die gleiche Luft. Dieser Umstand zwingt uns in privaten und gesellschaftlichen Themen zu gemeinsamen Lösungen. Versöhnung – richtig verstanden – wird dann zu einem wichtigen Mittel um belastete, schmerzhafte Vergangenheiten zu befrieden und um dann aus diesem Frieden neue Kraft und Möglichkeiten für zukunftsfähige, gemeinsame Lösungen zu schöpfen.
Anselm Grün zeigt uns praktische Wege für gelingende Versöhnung auf. Es mahnt uns aktiv zu werden, neue Brücken zu bauen, alten Schmerz zu heilen, Versöhnung aktiv und bewusst zu gestalten. So werden seine wertvollen Gedanken Inspiration und Aufruf für gelingendes Leben.
Viel Spaß beim Lesen wünscht
Ihr Walter Kohl
Die Feindseligkeit in unserer Gesellschaft nimmt immer weiter zu – dieses Bild vermitteln uns die Schlagzeilen in den letzten Jahren immer häufiger. Forscher der Universität Münster haben die Spaltung unserer Gesellschaft untersucht und über 5000 Menschen in Deutschland, Frankreich, Polen und Schweden befragt. Ihr Ergebnis haben sie im Sommer 2021 veröffentlicht.[1] Die Studienmacher fanden heraus, dass sich in unserer Gesellschaft tatsächlich zwei Gruppen feindselig gegenüberstehen: Auf der einen Seite steht die Gruppe der Verteidiger. Sie fühlt sich von den Veränderungen unserer Zeit bedroht, macht sich Sorgen um ihre Sicherheit und die Stabilität im Land. Auf der anderen Seite steht die Gruppe der Entdecker. Sie fordert maximale Offenheit und Vielfalt. Die Veränderung kann ihnen nicht schnell genug gehen. Diese beiden Gruppen gibt es schon lange. Jetzt haben Migration, die Finanzkrise, die Klimakrise und die Pandemie die Konflikte verschärft. Für diese beiden Gruppen gibt es nur ein Für und Wider. Egal, ob es um die Einwanderung, den Klimaschutz oder Pandemiemaßnahmen geht: Beide Seiten hören nicht mehr auf die Argumente des andern. Sie wollen nur recht haben. Aggressive Meinungsmacher heizen den Konflikt an. Verschwörungstheoretiker sammeln Anhänger, die ihnen blindlings folgen. Da wird das Verhalten der andern mit einer oft abstrusen Theorie erklärt. Da wird behauptet, dass der Ukraine-Krieg nur der Ablenkung von der Corona-Pandemie dient. Da wurde behauptet, dass Angela Merkel von Hitler abstammt und seine Politik mit anderen Mitteln fortsetzt. Da wurde erklärt, dass Bill Gates das Impfen nur deshalb propagiert, um mehr Geld zu verdienen. Wer sich von solchen Theorien blenden lässt, der ist nicht bereit, darüber zu diskutieren. Wenn ein anderer etwas gegen diese Theorie einwendet, dann ist das nur ein Zeichen, dass er selbst die „Machenschaften von Bill Gates oder von Frau Merkel“ unterstützt.
Klimaaktivisten unternehmen immer radikalere Protestaktionen wie Hungerstreiks und Straßenblockaden. Auch die Aktivisten sind nicht bereit, über ihre Klimaschutzforderungen zu diskutieren: Sie sagen, wir haben keine Zeit mehr für Diskussionen. Mit ihren Aktionen möchten sie die Regierung zur Umsetzung ihrer Ziele zwingen.
Diese beiden Gruppen sind nicht mehr zum Dialog bereit. Jede Meinung ist sofort mit der Machtfrage verbunden. Wer hat Macht über die Menschen? So weigern sie sich, ein wirkliches Gespräch zu führen.
Die Verschwörungstheorien und die radikalen Klimaproteste sind eine Realität in unserer Gesellschaft. Sie entzweien Familien und lassen Freundschaften zerbrechen. Auch die Shitstorms in den neuen sozialen Medien, mit denen Politiker oder auch Wissenschaftler, Schriftsteller und andere Prominente überschüttet werden, wenn sie eine umstrittene Meinung äußern, sind Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Wenn man all diese Phänomene betrachtet, könnte man von einer tief gespaltenen Gesellschaft sprechen. Und das wird uns auch durch die Medien oft so suggeriert. Doch die Wissenschaftler, die sich mit unserer Gesellschaft beschäftigen, haben in ihren empirischen Studien ein anderes Ergebnis ermittelt. So kamen die Forscher aus Münster zu dem Ergebnis, dass in Deutschland nur eine Minderheit zu den Gruppen der Verteidiger und der Entdecker gehört. Die Mehrheit der Menschen ist zu Gesprächen bereit.[2]
Auch der Sozialpsychologe Tom Postmes aus Groningen hat verschiedene Krisenszenarien untersucht und festgestellt, dass die Krisen die Gesellschaft nicht entzweien, sondern die Mehrheit der Menschen zu einem solidarischen Verhalten drängen.[3]
Manche Medien prognostizieren eine Spaltung der Gesellschaft durch die Energiekrise. Martin Voss, Leiter der Abteilung Katastrophenforschung an der FU Berlin, meint, das sei gefährlich. Wir würden mit unserem Reden von einer Spaltung der Gesellschaft zu einer sich selbst erfüllenden Prophetie beitragen. Die Fehleinschätzung der Gesellschaft habe Rückwirkungen auf die Realität.[4] Ähnlich sieht es der Soziologe Simon Teune von der FU Berlin: „Wer Volksaufstände an die Wand malt“, sagt Teune, „erweitert damit vor allem den Spielraum von Rechten und Verschwörungsgläubigen.“[5] Dann sieht man alles durch die Brille einer drohenden Spaltung.
Martin Voss ist da zuversichtlich: „Ich glaube nicht, dass wir als Gesellschaft auseinanderbrechen.“[6] Es gebe in unserer Gesellschaft viele Bürger und Bürgerinnen, die an die Demokratie glauben und sich auch demokratisch und solidarisch verhalten.
Auch der Soziologe Steffen Mau verneint, dass wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben. „Wir leben in einer emotional aufgewühlten Gesellschaft mit vielen neuen Konflikten. Wir haben radikale Ränder. Aber deshalb ist unsere Gesellschaft noch nicht gespalten.“[7] Er warnt vor vorschnellen Behauptungen über den Zustand der Gesellschaft. Der Wissenschaftler glaubt an die empirische Forschung und die sagt oft etwas anderes als die Schlagzeilen mancher Medien. Daher hält er die Spaltung der Gesellschaft für ein „Angstszenario“.
Alle genannten Soziologen sind sich einig, dass die heutige Situation angespannt und ein Stresstest für unsere Gesellschaft ist. Natürlich wissen sie, dass es viele Konflikte in unserer Gesellschaft gibt und dass die Krise auch radikale Kräfte stärken kann. Doch sie glauben, dass Dialog möglich ist. Gerade in dieser angespannten und aufgewühlten Situation, in der sich unsere Gesellschaft befindet, ist es gut, der empirischen Forschung zu trauen. Und es ist hilfreich, sich bewusst Gedanken zu machen, wie Versöhnung dazu beitragen kann, dass die Gesellschaft nicht auseinanderbricht, sondern solidarisch wird. Die Versöhnung verbindet die Menschen, anstatt sie zu spalten.
Ich möchte in diesem Buch darüber nachdenken, wie Versöhnung gelingen kann, und Wege zum Gelingen aufzeigen. Dabei möchte ich die verschiedenen Bereiche beschreiben, in denen wir Versöhnung brauchen. Doch es geht mir auch um die zentrale Voraussetzung für die Versöhnung mit andern: Das ist die Versöhnung mit sich selbst und mit Gott. Denn wer in sich gespalten ist, wird auch andere Menschen spalten. Außerdem sollten einige Fragen behandelt werden, die jeden beim Thema der Versöhnung beschäftigen: Wo sind die Grenzen für die Versöhnung? Gibt es auch Gründe, unversöhnt zu bleiben? Und was sind die Bedingungen in uns, damit Versöhnung möglich wird? Zuletzt geht es um die Frage, was die Versöhnung uns denn bringt, was die Früchte der Versöhnung sind. Es geht eben nicht um ein moralisierendes Predigen über Versöhnung, sondern um eine Beschreibung, wie Versöhnung möglich wird und was sie uns persönlich und der Gesellschaft bringt. Die Frage nach dem Nutzen soll zwar nicht zentral sein. Aber viele lassen sich auf so ein schwieriges Thema wie Versöhnung nicht ein, wenn sie nicht auch ihren praktischen Nutzen für ein gelingendes Leben erkennen.
Wenn ich in diesem Buch über Versöhnung schreibe, dann immer in der Hoffnung, dass die Menschen sich im Tiefsten nach Versöhnung sehnen. Daher halte ich es gerade in dieser manchmal angespannten Atmosphäre für notwendig, über Versöhnung zu sprechen. Indem wir uns über Versöhnung Gedanken machen, berühren wir die Sehnsucht der Menschen nach Versöhnung. Ich vertraue darauf, dass dann die Sehnsucht nach Versöhnung auch in der Wirklichkeit unserer Gesellschaft und in der Wirklichkeit von Familie, Freundschaft, Firma und Kommune Verbundenheit statt Spaltung schaffen kann und wird. Daher möchte ich nicht moralisierend über Versöhnung schreiben, sondern Möglichkeiten und Wege aufzeigen, damit die Menschen in ihrem versöhnenden Verhalten gestärkt werden und den Mut haben, der heilenden und verbindenden Kraft der Versöhnung zu trauen.
Die Angst vor Kontrollverlust
Die Angst vor Ablehnung
Die Angst vor dem Scheitern
Wir erleben sowohl im persönlichen Bereich als auch in unserem öffentlichen Leben, dass Menschen sich mit der Versöhnung schwertun. Es gibt viele Gründe, warum Versöhnung schwerfällt. Ich möchte nur einige nennen.
Versöhnung verlangt, dass ich auf den andern zugehe und mit ihm versuche, den Konflikt zu klären und ein neues Miteinander zu wagen. Ich muss aus mir herausgehen. Das erzeugt Unsicherheit. Viele Menschen stehen unter dem Druck, sich ständig kontrollieren zu müssen. Solange sie sich und ihren Standpunkt behaupten, fühlen sie sich sicher. Doch das Kontrollbedürfnis macht sie beziehungsunfähig. Sie können sich nicht auf den andern einlassen. Denn dann geben sie die Kontrolle aus der Hand. Wer von seiner frühen Kindheit an als Lebensmuster von seinen Eltern gelernt hat, sich zu kontrollieren, der tut sich schwer, seine Gefühle zu zeigen. Er hat Angst, dass er seine Gefühle nicht kontrollieren kann. Doch wenn ich mich auf den andern einlasse, dann geht es nie nur um rein rationale Argumente. Es geht immer auch um die Gefühle, die ich dem andern gegenüber spüre und die der andere mir gegenüber hat.
Das Kontrollbedürfnis hat oft die Ursache in einem mangelnden Selbstwertgefühl. Weil man sich unsicher fühlt, muss man sich kontrollieren, damit die andern die eigene Schwäche nicht sehen. Und Menschen, die sich ständig kontrollieren, haben letztlich eine negative Sicht von sich selbst. Eine Frau erzählte mir: „Ich kann nicht in die Stille gehen, da geht ein Vulkan in mir hoch.“ So musste sie sich ständig kontrollieren. Das führte dazu, dass sie nicht zur Ruhe kam und ständig mit der Angst lebte, der Vulkan könne doch einmal hochgehen. Versöhnung verlangt, dass ich auf den andern zugehe und dass ich mich so zeige, wie ich bin. In einem Versöhnungsgespräch kommt immer auch die eigene Wahrheit ans Licht. Wenn ich mich jedoch weigere, meine innere Wahrheit zu zeigen, dann ist keine Versöhnung möglich.
Menschen, die von früh auf gelernt haben, alles zu kontrollieren und optimieren, haben damit beruflich oft Erfolg. Die Kontrolle hat ihnen geholfen, auf der Karriereleiter höher zu klettern. Dieses Lebensmuster war eine Zeit lang durchaus hilfreich. Nach außen wirken sie besonders geradlinig und standfest. Es scheint, als könnte ihnen keine Krise etwas anhaben. Doch wenn das Lebensmuster zum Zwang wird, dann hindert es uns an der Begegnung und es hindert uns an der Versöhnung. Viele Menschen, die sich immer kontrollieren wollen, haben letztlich Angst vor sich selbst. Sie haben eine negative Sicht auf sich selbst. Sie haben das Gefühl, dass in ihrem Innern viele negative Gedanken und Emotionen sind, die sie unter Verschluss halten müssen. Diese Menschen leben ständig in der Angst, die Kontrolle zu verlieren und keinen festen Boden mehr unter den Füßen zu spüren. Doch Versöhnung verlangt, dass ich meinen starren Standpunkt verlasse, mich zeige und auf den andern zugehe.
Es gibt das Sprichwort: „Wer alles kontrollieren will, dem gerät alles außer Kontrolle.“ Wer seine Gefühle immer kontrollieren will, der wird irgendwann einmal ausflippen, wenn jemand seine Achillesferse trifft. Wer alles kontrollieren will, der ist unfähig zur Versöhnung. Doch ständig unversöhnt zu leben, führt dazu, dass man sein Leben nicht mehr unter Kontrolle hat. Denn dann hat er ständig Angst, von andern bekämpft zu werden. Versöhnung schafft ein Klima des Vertrauens. In einem unversöhnten Klima lebe ich ständig in der Angst vor Menschen, die meine Ängste und Fehler aufdecken könnten oder die mir schaden wollen. Und je mehr ich um mich herum lauter Gefahren wittere, umso mehr muss ich mich kontrollieren. So entsteht ein Teufelskreis: Wer sich kontrollieren will, ist unfähig zur Versöhnung. Und eine Atmosphäre von Unversöhntheit und Spaltung führt dazu, dass ich mich immer noch mehr kontrollieren muss.
Im Lateinischen heißt Versöhnung reconciliatio