Zeitbrücke - Hans Blazejewski - E-Book

Zeitbrücke E-Book

Hans Blazejewski

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in eine Welt voller Erinnerungen und Träume - Kurzgeschichten, die das Herz berühren und den Geist beflügeln! Dieses Buch führt uns über die Zeitbrücke zur Spurensuche an Orte aus der Kindheit des Autors bis zur Jetztzeit, festgehalten in wunderbaren Erzählungen, Geschichten und Geschichtchen, unter anderem von * einem Heiden, der am Kreuz verbrannt wird, * einem Bahnhof und Pustekuchen, dem Vorsteher, * einem Familientreffen am Jenseitslagerfeuer * einer Geisterorgel, die eine Bachfuge spielt, * einem Badewannenmörder, der freigesprochen wird, * einem Totenhemd, das kratzt, * einem Dichter, den niemand kennt, * einem Liebespaar, das am »Standesunterschied« scheitert, * einer Ménage-à-trois, bestehend aus Adonis, Aphrodite und Persephone, * Ruth - einem Mehrfachbild über Opfer und Täter in der Nazizeit, * Maria, wie sie ihren Kopf verlor, * einem Deutschen und wie es ihm erging, als er in Paris ein Franzose sein wollte, * einer Fischjagd, * Männern in Zwangsjacken, * einem Tortenparadies, * einer bemehlten Großmutter, * Claire, die Sommersprossen, rote Haare und einen göttlichen Busen hatte.

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Es gibt eine Brücke, nennen wir sie Zeitbrücke. Sie ist nicht real. Man kann sie nicht anfassen, fotografieren oder betreten. Aber im Gedächtnis existiert sie als Erinnerung des einst Gesehenen oder Erlebten. Eine imaginäre Brücke, die das Jetzt, das Heute mit der Vergangenheit, dem Damals verbindet. Eine Zeitbrücke eben.

Man kann nicht hinüber auf die andere Seite gehen. Man kann sie allenfalls ein Stück weit betreten und rufen und träumen.

Die stummen Antworten kommen aus dem Unterbewusstsein. Dies ganze Rückwärtsgewandte ist ein Vorgang, der schmerzhaft für die Seele sein kann, denn man wird gewahr, dass man nicht mehr dazugehört oder vielleicht niemals dazugehört hat. Es wird einem bewusst, was nicht mehr ist oder hätte wachsen können, wenn …

Beschreiten Sie meine Zeitbrücke, meine Traumwelt. Ich wünsche Ihnen eine schöne Lesezeit.

Inhalt

Spurensuche

In der Nacht der Steinkauz rief

Der Bahnhof

Dörfliche Idylle

Eine ermländische Hochzeit

Nötigung während einer Begebenheit

Herkus Monte

In Bartelsdorf ist Holzauktion

Der Badewannenmörder

Geisterorgel

Bäumchen wechsel dich

Ruth

Standesunterschiede

Das Totenhemd

Eingemauert

Der Manndichter

Adonis

Claire

Immer das Gleiche

Alte Männer. Hommage an Jaques Brel

Lebensfalten

San Mateng

Männerskat

Die Wahrheit

Diese Maria

Zwangsjacken

Krankenhausbericht

Maria ohne Kopf

Maria aus Neu Mertinsdorf

Fischjagd

Wahre (Kurz)Geschichten

– Schnellimbiss, griechisch –

– Vor einem Ärztehaus –

– Bäckerei in L. –

– Fußgängerzone –

– Restaurant am Bodensee –

– Geräusche in einem Café –

– Bruchstücke –

– Bemehlte Großmutter –

Abschiebung

Tortenparadies

Brieffragment

Engelchen und Teufelchen

Mein liebes Entlein

Meine Frau sagt

Freund Hein

Ohne Abschied. Hommage an Wolfgang Borchert

Glossar

Ich in Stichworten

Veröffentlichtes

Spurensuche

Abfahrt 2. August 2002 – 02.00 Uhr

Später tanken auf der anderen Seite. Werde auf Polnisch angesprochen – natürlich, hier wird ja nun seit sechzig Jahren so geredet. Ich sage nichts, denn ich kann diese Sprache nicht, denke, so kann ich nichts verkehrt machen. Bin ich jetzt ein arroganter Deutscher? Gar mit dem Geruch eines Herrenmenschen? Zwischen Frankfurt und Posen viel Landschaft mit vielen unbewirtschafteten Feldern. Wenn man bedenkt, dass ich mich jetzt in einer Region befinde, die ganz früher ein Teil der Kornkammer des Deutschen Reiches war …

Der Verkehr nimmt zu. Baustellen und ihre Schilder zeugen davon, dass der sogenannte Fortschritt – auch aus EU-Mitteln finanziert – nicht mehr aufzuhalten ist. Hier wird gefahren, dass es nur so kracht – beinahe jedenfalls. Geschwindigkeitsbegrenzungen, Überholverbote, sogar im Baustellenbereich nur was für die Schwachen. Jeder Lenker ein potenzieller Henker. Mehr als 500 km fahre ich nun schon. Wo sind sie alle geblieben, die hier einst gewohnt haben und nach dem Tausendjährigen ungeschützt der Rache der Sieger zum Opfer fielen? Millionen auf dem Papier ist etwas anderes als durch diese einst deutschen Gebiete zu fahren mit einem riesigen Fragezeichen im Kopf. Flucht, Vertreibung und all das, was auf Millionen Seiten darüber zu Papier gebracht worden ist, erfährt jetzt eine reale Intensität, die ich kaum zu ertragen im Stande bin. Viel später dann:

Diese Stille!

Wenn ich denn wiedergeboren werde, so möchte ich gern rückwärts in eine Zeit hineinspringen, in der es weder Eisenbahn, Motor und all den Lärm der sogenannten Zivilisation gibt. Hier erhalte ich eine Ahnung, wie es sein würde. Keine Geräusche – nur der Wind. Sogar meine Fußtritte auf dem Sandweg würde ich gern vermeiden wollen. Sie sind so laut. Ja, schweben …

Höre ich einen Kranich oder einen Schreiadler? Was weiß ich Stadtgewächs schon von den Stimmen der Natur! Der Angler mit seinem Ruderboot auf dem See. Hineinkomponiert, als stamme er aus einem Wachsfigurenkabinett. Das Wasser glattgebügelt, makellos, faltenfrei. Ist er real? Hat er Spinngewebe vor den Augen?

Diese Straßen!

Straßen, die Wirtschaftsströme vereinen und teilen. Asphalthöllen. Ausgefahrene Spuren, so tief, dass unsere bundesrepublikanischen Gockel mit ihren tiefer gelegten PS-Gurken aufsitzen würden. Ich liebe sie. Ich meine diese kleinen abseits führenden, kopfsteingepflasterten Wege. Oft noch zweigeteilt: Der Sommerweg, bestehend aus Lehm und Sand. Er schonte im Sommer sowohl die Hufe der Zugtiere als auch die auf hölzernen Achsen laufenden Holzräder der damaligen Fuhrwerke. Später dann, als alles »besser« wurde, gab es auch eisenbereifte Räder, die, komfortabel, auf metallenen Achsen liefen. Dann der Winterweg, dessen Steine verhinderten, dass die Räder nebenan in den aufgeweichten Boden versacken. Heute museal, schief und krumm, voller Eindrücke, die Autos nicht mögen. Wer immer sich die Hölle auf Rädern bereiten will, bitte sehr: Gas geben und möglichst sportlich drüber weg. Aber gefüllte Eierpaletten sollten besser auf anderen Wegen transportiert werden.

Straßen, die so viel gesehen, gehört und im wahrsten Sinne des Wortes erfahren haben. Wenn sie denn reden könnten, was würden sie uns erzählen? Vielleicht von den Chausseewärtern, die ihre Abschnitte auf und ab gingen, hier einen Stein befestigten, dort trockene Äste der Schatten spendenden Alleebäume entfernten und nebenbei Pferdeäpfel sammelten, um mit diesen die Ernteerträge ihrer Gärten zu steigern. Vielleicht von den Jungen beiderlei Geschlechts, die sich entgegenliefen, in die Arme fielen und eng umschlungen an einen Baum gelehnt die Welt vergaßen. Vielleicht von fröhlichen Menschen auf Hochzeitswagen oder von Begräbniszügen, schwarze Pferde vorn, hinter dem Wagen das halbe oder gar das ganze Dorf. »Wir waren mit jedem um fünf Ecken herum verwandt«, sagt mir eine der letzten ehemaligen reichsdeutschen Frauen in »meinem Dorf«. Und: »Alle Kinder sagten zu den Erwachsenen Onkel oder Tante.«

Was fegte nicht alles über dieses Land. Ordensritter, Tataren, Napoleon und seine Armee, Polenkönige, Kurfürsten, Preußenkönige, Kosaken, Mongolen, Russen. Sieger und Besiegte, Getriebene und Vertriebene, Gejagte und Verjagte. Getreten von unzähligen Füßen, die, barfuß, in Lumpen gehüllt, Klotzkorken tragend, gestiefelt und gespornt, geschlurft, im Marschtritt vorwärts, bald darauf in Eilmärschen rückwärts, ihre Abdrücke hinterließen. Wie viel Leid und Grausamkeit, Flucht, Tod, Vertreibung, Tränen, Hoffnungslosigkeit sie mit ansehen mussten. Wie viele Schicksale sich an ihren Rändern vollendeten, wie viele Leiber – erst noch warm und binnen kurzem kalt – erstarrt in ihren Gräben namenlos zurückblieben. Gleichgültig in welche Himmelsrichtung ich mich bewege, immer kommen mir vollbepackte Flüchtlingswagen von Pferden gezogen und unzählige Menschen jedweden Alters zu Fuß, die Köpfe tief gesenkt, entgegen. Und wenn einer den Kopf hebt, so sehe ich in unendlich traurige Gesichter. Alles vollzieht sich lautlos vor meinem geistigen Auge. Immer nur entgegen, niemals ich mittendrin oder hintendran.

Ein ähnliches Erlebnis vor Jahren in Schweden an der Ostseeküste. Die unzählbaren, ertrunkenen Flüchtlinge. Es war, als riefen sie und streckten mir ihre um Hilfe flehenden Arme entgegen.

Diese Straßen!

Straßen, über die der Himmel so verschwenderisches Blau ergießt. Ein Himmel, so weit und so blau, betupft mit watteweißen Wolken. Beides in einer Klarheit, als habe der Schöpfer persönlich das Firmament geputzt und gewienert. Man kann schon verstehen, warum Kopernikus von hier aus die Welt verändern konnte, indem er dem Weltbild des Ptolemäus, das mehr als 1300 Jahre die Erde als den Mittelpunkt ansah, um die sich alles drehte, seine Auffassung entgegenhielt. Auf diesen Straßen langsame ich keinem Ziel entgegen. Hier gehe ich länger und weiter in und durch die Landschaft, als es meine Absicht war. Ich bin neugierig auf das, was hinter der vor mir liegenden Kuppe zu sehen ist.

Und was sehe ich? Rote Ziegeldächer, holzbeplankte Scheunen, weiß verputzte oder ziegelrot gemauerte Ställe und Wohnhäuser, hineingekuschelt zwischen Endmoränen, halb verborgen hinter Bäumen und Sträuchern. Dreiseithöfe auf sanften Hügeln, Leuchttürmen gleich. Heimwegweiser für Mensch und Vieh. Blau blinkende Seen, die man hier – in anderen Dimensionen denkend – Teiche nennt, plieren mir zu.

Diese Häuser!

Solche Anblicke werden mir wohl immer fremd bleiben. Zitzeritsch-grüne Hausfassaden, rosa, blaue oder grünleuchtende Dachpfannen auf gaubenüberladenen Dächern. Erkerchen hier, Türmchen da. Dazu Säulen an oder neben den Haustüren, alles umschlossen von überdimensionierten Protzeinfriedungen. Laute und bunte Fremdkörper, die sich nicht der Landschaft einfügen, sondern Beulen gleichen, zwar harmlos, aber in den Augen schmerzen.

Mir wird klar, dass diesem Zeitgeist nicht mehr Einhalt geboten werden kann. Die ermländisch-masurische Landschaft wird sich so nachhaltig verändern, dass man sich bald im Land seiner Väter und Mütter nicht mehr zurechtfinden wird. Und dies alles begleitet von stark wachsendem Straßenverkehr, dem die jetzigen Straßen und Alleen nicht mehr gewachsen sind. Die Folge wird sein: bessere und größere Straßen und Autobahnen und natürlich ohne Alleebäume. Wir kennen das alles aus unserem unmittelbaren heimischen Umfeld.

Diese Störche!

Störche. Dreißig, vierzig, fünfzig Jungstörche auf einem frisch gepflügten Acker. Kaum ein Hof ohne Storchennest. Das Geklapper der Altstörche, mein morgendlicher Wecker. Des Abends, wenn sie heimkehren, sich klappernd begrüßen, wohl auch Zärtlichkeiten austauschen, klingt mir dies wie ein Gebet aus fernen Kindertagen. Was schert den Storch die politische Lage! Dem ist es egal, unter welchem Regime er seine Frösche fängt. Storch müsste man sein, dann wüsste man nichts von Begriffen wie Nation, Grenzen und all dem Schnickschnack, den sich die Herrschenden ausdachten, um ihre Macht zu bewahren. Ein bisschen mehr »hier bin ich Storch, hier darf ich sein« würde auch uns menschlicher machen.

Diese Hunde!

Tags gesellige Spielgefährten, Begleiter und Hüter der Kinder, Wächter und Aufpasser auf den einsam gelegenen Gehöften. Keine Chance für finstere Gesellen. Auch der Fuchs muss aufpassen. Und wenn nichts zu verbellen ist, dann unterhält man sich in der Nacht von Hof zu Hof. Das muss man gehört haben, denn beschreiben lässt sich diese Wirklichkeit nicht. Wir können nur staunend lauschen und registrieren, dass auch diese Wesen miteinander kommunizieren. Ob sie sich kennen, »unser« Hofhund und die, die im weiten Rund Laut geben? Was werden sie sich zu erzählen haben? Ob unserer davon berichtet, dass heute Morgen zwei Ziegen eingegangen sind? Zu viel Kohl und aus. Oder davon, dass er den frechen Fuchs fast am Zagel hatte?

Dieser Wind!

Ein freier und ungebundener Geselle, der weht, wie er will und wann er will. Er schiebt die Wolken so schnell, dass sie fast atemlos werden. Er peitscht den Regen waagrecht durch das Land, schüttelt und rüttelt Baum und Strauch, greift zuweilen den Mädchen frech unter die Röcke, dass sie im Gesicht ganz rot und vor Aufregung recht dammlich werden. Zu anderen Zeiten gleitet er sanft streichelnd und liebkosend über saftige Wiesen, goldgelbe Felder und blauende Seenlandschaften. Den Menschen zaubert er lachende Gesichter und freut sich mit ihnen, wenn an lauen Sommerabenden sich die Herzen öffnen und zueinander finden wollen. Es ist, als würde er sich seiner Geliebten offenbaren. Er verwandelt ährenschwere Kornfelder in sanft wogende Meere, trägt Greifvögel darüber hoch hinaus, dass mir vom Zuschauen bald schwindlig wird. Ostpreußischer Sommer – hautnah.

Dieser Regen!

Er trommelt seit Tagen gegen die Scheiben, ergießt sich in Sturzbächen von den Sandwegen zu den Asphaltstraßen und hinterlässt dort Sandlandschaften, die unter anderen Umständen bestimmt schön anzusehen sind. Trommelt gegen Urlaubernerven, lässt Zeltbewohner von trockenen Schuhen und warmen Stuben träumen. Selbst die Störche scheinen missmutig zu sein.

Meine Strichliste sagt mir, dass auf der Karte »Südöstliches Ostpreußen« neunundachtzig Soldatenfriedhöfe eingezeichnet sind. Wahrscheinlich habe ich einige übersehen. Neunundachtzig sogenannte Heldenfriedhöfe, auf denen die liegen, denen angeblich der Dank des Vaterlandes gewiss ist. »Ich hatt’ einen Kameraden«, fällt mir ein. Ist es der Regen, oder warum habe ich jetzt so nahe am Wasser gebaut?

Dieser Schmerz!

Wer bin ich? Ich, ein gefühlter Ostpreuße, bin fremd in diesem Land, obwohl es die gleiche Natur ist, in der auch ich mich einst in Kleinkinderjahren geborgen fühlte. Die gleiche Natur, in der auch meine Ahnen sich bewegt haben. Aufgebrochen, meine Wurzeln zu suchen, ahne ich, dass ich vielleicht solche finden kann, aber was mach ich damit, habe ich doch längst – weil nicht geerdet – Luftwurzeln gebildet, die mich kaum an einem Ort halten. Zu spät die Suche. Die, die Zeugnis hätten ablegen können, haben längst ihr Erdenleben beendet. Die Friedhöfe bewahren ihr Wissen um die letzten Ruhestätten meiner Ahnen. Die Kirchenbücher verschweigen, zu welcher gleichnamigen Linie ich gehöre. Wozu auch Klarheit? Die Traditionen und Überlieferungen sind tot. Allenfalls historisch in vergilbten Akten und Folianten fristen sie ein statistisches Dasein. Was brächte es mir zu wissen, dass einer meiner Ahnen, z. B. Bogislav der Breitschultrige, 1693 seine chałupka verlassen hat und seitdem als verschollen gilt? Mehr bin ich daran interessiert, über das Leben und seine Umstände von den letzten Zeit- und Augenzeugen zu erfahren. Den ostpreußischen Singsang, der sich in Resten bei den Alten noch erhalten hat, zu hören, ist mir mehr Freude als eine tote Wurzel auszugraben. Und wenn es dann noch zum immer üppigen Abendbrot (ich habe Halbpension gebucht) Keilchen, Flinsen oder Beetenbartsch gibt, dann fühl ich mich so richtig rund.

Diese Menschen!

Deutsche Polen, polnische Deutsche, ermländische Polen, ermländische Deutsche und, nicht zu vergessen, die Masuren. Alle haben ihre Stempel, sind etikettiert oder in geistige Schubladen eingeordnet. Die Deutschen sagen: Ein Pole in Deutschland klaut oder er arbeitet schwarz. Oder: Die Deutschen können ruhig nach Polen fliegen, ihre Autos sind schon da. Oder: Polnische Wirtschaft. Deutsche Polen wiederum behaupten, dass die Polen von oben nach unten bauen. Meint: Sie nehmen Gebäude auseinander, wenn diese verlassen oder vorübergehend leer stehen – vornehmlich solche der ehemaligen Reichsdeutschen. Was Polen über Deutsche sagen, ist mir nicht zu Ohren gekommen. Vielleicht ist ihnen solch Kästchendenken fremd oder sie sind einfach nur zu höflich, um mir Derartiges zu übersetzen. Natürlich gibt es auch diese, wie z.B. den Tankwart, der auf meine deutsch gestellte Frage, ob ich mit einer Kreditkarte bezahlen könne, auf Polnisch antwortete und sich wortlos umdrehte.

Anruf bei Irmgard: »Wollen wir nicht mal Agnes im Altersheim in Jonkendorf besuchen?« »Ja! Wann?« Ich sage, dass ich in dreißig Minuten bei ihr sein kann. »Ja gut!« Und dann sind wir zusammen hingefahren. Unglaublich. Sogar bei meiner Tochter muss ich mich wenigstens vier Wochen vorher anmelden, möchte ich ihr Auge in Auge begegnen. Hier scheint jeder Zeit zu haben für jeden zufällig vorbeikommenden Frager. Kaffee, türkisch gebrüht, sowieso, und alles mit einer Herzlichkeit, die keine Gegenleistung erheischt. Plachandern. Hier wird dieses schön ostpreußische Wort zum Klingen gebracht, dass mir sein Nachhall noch jetzt Musik ist. Und wo es weder mit Deutsch noch Englisch geht, da hilft eine fantasievolle Zeichensprache oder beiderseitiges Lachen, weil niemand niemanden versteht und es ja eigentlich auch egal ist.

Leben auf dem Land bedeutet hier auch, Leben auf den Straßen. Viele Kinder, die Bowkes mit dem praktischen Stoppelhaarschnitt, die Marjellen manchmal noch in Kittelkleidchen, zuweilen auch noch nach alter Sitte bezopft, spielen auf den Straßen. Ganze Familien spazieren auf und ab oder schieben Kinderwagen von dort nach Weiß-ich-nicht-wohin. Frauen, die vor der Tür sitzen und Gemüse putzen. Ich weiß jetzt schon, dass ich Elżbieta – so es ihr gut geht – im nächsten Jahr am gleichen Platz antreffen werde. Und auch dies ist mir sicher: Sehe ich dann Menschen auf Landstraßen, die weiße Eimer in der Hand oder am Fahrradlenker tragen, so sind es gewiss Angler oder Pilzsammler.

Einer der letzten Urlaubstage. Auf die Frage eines polnischen Bekannten, wer ich denn nun sei, fand ich nur diese Antwort: Weder Deutscher noch Pole, sondern Ermländer – mit Sympathie für das Masurische, aufgrund der mir von meinen ermländisch-masurischen Ahnen vererbten Gene. Gene, die weder deutsch noch polnisch sind, die sich vollgesogen haben mit der Essenz dieser unbeschreiblichen Landschaft.

Erbarmung!

So viele verletzte Seelen leben dort (und anderswo), dass einer meecht immerzu Erbarmung rufen. Daran hat auch das Ende der kommunistischen Herrschaft nichts geändert. Es wird Zeit, dass sowohl die polnische als auch die russische Regierung diesen Menschen ihr ehrliches Mitgefühl zum Ausdruck bringt über das, was jenen in ihrer jeweiligen Heimat an Unmenschlichkeit widerfahren ist. Im Namen der Menschlichkeit, wo doch jetzt sogar die polnischen Soldaten NATO-Kameraden geworden sind.

Ankunft 7 Uhr am 17. August 2002.

Zwischen 2 Uhr und 7 Uhr lagen vierzehn intensive Urlaubstage, um die ich mich beneiden würde, hätte ich sie nicht selbst erlebt und erfahren.

In der Nacht der Steinkauz rief

Manchmal, wenn mich der Blues hat, dann überschreite ich die unsichtbaren Grenzen und lege mich in meiner Verlassenheit zu den Altvorderen.

Oder am Abend, wenn mir kalt ist, wenn meine Einsamkeitstemperatur mich nicht schlafen lässt, mach ich rüber und besuche die Ahnen. Die sitzen am Feuer. Grüßen mich mit »Johannes, da bist du ja. Wir haben dich schon vermisst. Was bringst Neues?« Ich entschuldige mich mit Sätzen wie: »Tut mir leid, aber ich hatte keine Zeit. Ihr wisst doch, wie es in der Ernte ist.« Dann reden wir über das Gewesene, also die vergangene Zukunft.

Nicolaus nimmt das Wort und sagt:

»Wir hatten mal einen Pfarrer. Der war außen stark wie ein Kujel und groß wie eine Germaneneiche, aber innen sanft wie das Lamm Gottes. Im Krug konnte ihn keiner unter den Tisch trinken. Und unsere Weiber, nicht nur die Frommen, waren rein dammlich, wenn er sie ansah. Der hat das nicht mehr ausgehalten, das mit den Mädchen und auch das mit einigen Knaben nicht.

In der Nacht hatte der Steinkauz gerufen. Der wohnt im Glockenstuhl. Hoch über der Gemeinde. Das Schulgebäude, die Priesterwohnung gleich gegenüber der Kirche, dahinter auf einer Anhöhe der Friedhof, in der Ferne silberdunkel der See am Gutshof.

Und als der Steinkauz am Fenster saß und den Pfarrer rief und dann noch einmal hoch vom Glockenturm, da ist der Stellvertreter Gottes in der Nacht hochgestiegen, nahm einen Strick. Band ein Endchen an den Glockenschwengel, band sich das andere Ende um seinen Hals, dann ist er gesprungen. Der Wind hat ihn bewegt und die Glocke hat die lange, lange Nacht hindurch den Abschiedsgruß ihres Priesters bis hinter das Moor getragen. Die Weiber zündeten Kerzen an, traten vor die Tore und schauten erst über das nahe Moor, aus dem der Nebel sie kalt ansprang und dann zum Glockenturm. Die Klageweiber banden ihre Kopftücher fester und hakten sich unter, als die Glocke nicht schweigen wollte.«

»Und?«, sag ich.

»Der Bischof hat verkünden lassen, ein Unglück sei geschehen. Gestolpert sei er und dass er heimgegangen ist zu Gott. Wir haben ihn abgeschnitten. Aber die hohen Herren haben ihre eigene Sicht der Dinge. Sollen sie.«

Jetzt sag ich, was sie nicht wissen können, weil das lange nach »ihrer Zeit« passiert ist. »Da gab es zwei Mädchen«, sage ich. »Zwillingsschwestern, wie ich vermute. Jung und hübsch, denk ich mir. Die eine, die Ella, blond, keck bis unterm Kopftuch. Lebenshungrig. Tanzte gern und ausgiebig auf Garnisonsbällen und überall dort, wo es was zu feiern gab. Die andere, Frieda, etwas rundlich, auch blond, aber mit Zöpfen und eher so ein Mauerblümchentyp. Kann vorkommen, so was, auch bei Schwestern.«

Und dann stand es im Dezember 1915 in der Tilsiter Zeitung. Sie hätten sich mit Leuchtgas vergiftet, aber ohne Explosion. Die sind gemeinsam aus dem Leben geschieden, schrieb so ein Schreibstubenhengst, übrigens aus Schlesien, vom Pferdedepot der Tilsiter Garnison, an seine Mutter:

Denk bloß, Ella und Frieda und mit Leuchtgas. Und er wusste nicht mal warum, hatte sie ihm doch Wochen vorher noch so lustige Briefe geschrieben und so komische Fotos beigefügt.

Vielleicht, denke ich, waren sie unglücklich verliebt, dann macht man vielleicht so was. Oder man hat über sie geredet. Man weiß ja, wie das so zugeht, wenn sie hinter deinem Rücken tuscheln, oder die Straßenseite wechseln, wenn sie dir entgegenkommen. Und du kannst dich nicht wehren. Nicht als junges Mädchen, womöglich in der Fremde. Vielleicht waren sie in Stellung, als Dienstmädchen und der Herr hat mehr getan als ihnen nur unter den Rock gefasst, mit Folgen, die nicht mehr zu kaschieren waren. Traurige Geschichte das. Und grade fällt mir ein, es kann auch ganz anders gewesen sein: Undichte Gasleitung und keiner hat es in der Nacht gemerkt.

Michael, der Potenzriese, noch im Alter von 65 Jahren hatte der Drillinge mit seinem vierten Eheweib. Wenn wir die drei Nachschrapsel mitzählen, dann kommen wir auf 16 Kinder, alle selbstgemacht, wie es sein soll.

Michael also erzählt vom Andreas, dem Altenteiler, der zu unruhig war, um sein Altenteilerdasein genießen zu können. Also ist er in der Kartoffelernte aufs Pferd gestiegen. Da war er schon über neunzig. Aber nicht wie früher, also mit Fuß in den Steigbügel und dann mit kräftigem Hochziehschwung in den Sattel.

Der Andreas hatte sich eine Trittleiter zusammenschlagen lassen. Drei Stufen und dann wie üblich erst linken Fuß in den Bügel und dann den rechten über den Pferderücken. Dann ist er aufs Feld geritten. Vielleicht wollte er die vollen Körbe zählen, oder den Weibern unter die Wäsche gehen, der alte Bock. Meecht einer nicht wissen. Jedenfalls ist er auf dem Rückweg vom Pferd gestürzt und hängen geblieben im Steigbügel.

Ich denke, er wollte auf dem Heimweg noch schnell bei seinem Bruder auf Besuch gehen. Wie ihr wisst, der wohnte im Schlangennest. Möglich, sein Pferd wird vor einer Kreuzotter gescheut haben. Dort hat es schon immer die größten Exemplare gegeben. Wie es war, wird keiner wissen, und Pferde reden bekanntlich nicht mit uns.

Sein Pferd hat ihn dann über Stock und Stein auf den Hof geschleift. Sah nicht mehr aus wie neu, das kann man ruhig sagen. Wär besser für ihn gewesen, er hätte auf seiner Bank am Hühnerstall gehuckt und Striche mit dem Stock in den Sand gezeichnet, immer dann, wenn eine Henne ein Ei gelegt hatte. Der Andreas konnte das hören. Am Abend hat er dann die Striche zusammengezählt und wusste gleich, wie viele Deputateier wir im vorsetzen mussten.

Erich, der Jüngste der Zukunftslosen unter uns. Hatte ein kurzes Leben. Mit dreißig in Korotoyak a. Don: Bumm. Volltreffer. Ganz unerwartet ein Held.

Bevor er zu Worte kommt, will ich mit seiner Erlaubnis seinen letzten Brief an seine Eltern vorlesen:

Liebe Eltern u. Geschw.

Mein liebes Mütterlein, ich danke dir von ganzem Herzen für Deinen Brief und Zigaretten. Ich kann jetzt aber nur nicht mehr schreiben, weil ich weder Papier noch Umschläge habe. Diese Karte habe ich mir schon geliehen. Wenn ihr was habt, dann bitte schickt mir welches. Dass Du, meine gute Mutter, alles für mich tust, weiß ich, genau wie Ihr Euch mit Vati auf meine Hilfe verlassen könnt. Auch ich tue für Euch alles. Habt Ihr die 110 Mark schon erhalten, ich schickte einmal 40 und das andere Mal 70 M. ab. Wenn es angekommen ist, dann schreibt mir. Am 21.9. schicke ich Euch wieder 70 M. Das so lange jeden Monat, wie ich im Osten bin. Es ist ja nicht viel, aber freuen werdet Ihr Euch doch. Es ist doch eine Hilfe. Und nun habe ich eine große Bitte. Schickt mir aber bitte, bitte sogleich, wenn Ihr die Karte erhaltet, Rasierklingen, Zahnpaste, irgendwelche Messer (ich habe keins zum Brotschneiden) Umschläge. Dann noch etwas. Wenn Ihr könnt, dann bitte ein paar Päckchen mit Zucker und ein bisschen Pudding. Das könnt Ihr im kleinen Päckchen à 100 Gramm eintüten.

Tut es bitte sogleich, sonst vergesst Ihr es. Mir geht es sonst gut, bin gesund u munter. Vergesst auch nicht, mir viel und oft zu schreiben. Erfüllt mir die Bitte, ich hätte eine große Freude. Was zum Lesen fehlt auch.

Und nun wünsche ich Euch alles, alles Gute.

Es grüßt Euch alle herzlich Euer Erich.

Als seine Karte die Eltern erreichte, da war er schon ein totgestorbener Held der Großdeutschen Wehrmacht.

So, Erich, erzähl uns, wie das war mit der Polina.

»Also das war so, sagt er. War im November 41. Der Iwan hatte uns kräftig eingeheizt in der Gegend um Rostow. Überall Schlamm. Der zog dir die Knobelbecher von den Füßen. Aber wir haben uns trotzdem gut gewehrt. Väterchen Frost und eine Brigade der Leibstandarte SS Adolf Hitler haben geholfen, dass der Iwan den Sack nicht zumachen konnte.

Wenn es an der Front ruhig war, so machte die SS Jagd auf Partisanen, die in umliegenden Sümpfen hausten und unsere Nachschublinien bekämpften. Ich war gerade im Gefechtsstand unserer Armee, als ein Stoßtrupp der SS mit einer gefangenen Partisanin ankam. Sie haben sie verhört. Sie sagte, ihr Name sei Polina und sie stamme aus Kasachstan. In den Rayon Rostow sei sie gekommen, um ihren Großeltern auf deren Bauernhof zu helfen. Die SS-Männer haben nur gelacht und sie als Iwans Hure und Flintenweib beschimpft. Sie haben ihr die Kleider vom Leib gerissen und ihr die Haare abgeschnitten. Dann wurde sie, mit den Füßen zuerst, an einen dicken Ast einer Eiche aufgehängt. Zuletzt wurde sie immer wieder mit Wasser übergossen. An dem Tag hatten wir ungefähr minus 40 Grad bei eisigem Ostwind. Sie hat das nicht lange überlebt. Zuletzt sah sie aus wie ein unförmiger Eisklotz. Ein Schild hatte ihr die SS umgehängt, auf dem sie geschrieben hatten: Mit Flintenweibern machen wir kurzen Prozess.«

Jetzt spricht der Ältervater vom Tatareneinfall.

»Ach, mein Lenchen«, flüstert er vor sich hin. Er schaut lange ins Feuer. Dann erzählt er: »Das war, als der Teufel über die Erde ging. Magdalena, meine schöne Tochter. Lenchen, meine Augenweide. Wir waren arm wie die tauben Ähren auf unseren steinigen Feldern. Aber immer hatte sie ein Lachen für uns und ihre neun Geschwister. War fleißig und kannte sich aus mit den Kräutern.«

»Wir hatten eine kranke Koza. Eine Ziege. Magdalena ging mit einer Lischke und ihrer Sichel runter zum See, um Kräuter für die Ziege und Kalmus für die Stube zu schneiden. Ihren Sohn, den Petrus, hatte sie sich auf den Rücken gebunden. Hat sich im Gehen noch einmal umgedreht und uns lächelnd zugewunken und das Lied von der Meeresjungfrau und der Jungfrau im Lilienkranz gesungen. Gesungen hat sie mit ihrer glockenhellen Stimme so lieblich, dass man immer mehr meecht so was hören wollen. Sie kannte all die alten Lieder, die lustigen und auch die frommen.

Als sie am Abend nicht zurückkam, haben wir am nächsten Tag das Seeufer abgesucht. Wir fanden sie auf der Halbinsel am Dadaj. Mein Lenchen und ihren Sohn. Und zwei Tataren. Unschwer konnten wir feststellen, was vor sich gegangen war. Die Tataren hatten sie überwältig, ihr die Zöpfe abgeschnitten. Und damit sie nicht schreien konnte, so haben sie ihr die abgeschnittenen Zöpfe in den Mund gestopft, dann das Kleid über ihren Kopf gezogen, bevor sie sich an ihr vergangen haben. Die Teufel.

Den Petrus hatten sie kreuzweise mit ihren Lanzen aufgespießt und gegen eine Erle gelehnt. Dann müssen die betrunkenen Tataren wohl eingeschlafen sein. Magdalena hat die Sichel genommen und ihnen die Kehlen durchtrennt. Hat dann noch die Kraft gehabt den Teufeln ihre Männlichkeiten abzuschneiden und die in ihre Mäuler gesteckt. Dann ist auch sie verblutet. So war das.«

»Leute, da verlerne ich das Lachen bei euren Erzählungen«, sage ich, wässrigen Auges.

Der Bahnhof

Man stelle sich in Stara Twarzyczka, was ist Alt Gesichtchen, mit dem Rücken zur Kirchhofsmauer. Genauer, mit dem Rücken zum Langschiff der hinter der besagten Mauer befindlichen Kirche aus rotem Backstein. Dann geht man etwa eintausendzweihundert Meterchen immer geradeaus. Querbeet, da ist es etwa dreihundert Meter näher. Geht sich aber nicht so gut. Mit Schrankkoffer oder Eierlischken geht man besser geradeaus, wenn man sich vorher, wie schon erwähnt, mit dem Rücken zur Kirche … Man kommt aber auch zum Bahnhof, wenn man nicht mit der Kirche im Rücken beginnt. Das wollen wir nur für die ungläubigen Leser unter uns erwähnen.