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»Wir wissen, dass das Leben endlich ist. Warum also sollten wir glauben, dass der Tod ewig währt?« Dieser zutiefst poetische Roman beginnt nicht zufällig auf einem Weltkriegs-Schlachtfeld. Ein Verwundeter blickt in einer Winternacht in den Sternenhimmel und denkt an seine Liebe ... Von dort aus wandern seine Gedanken, und genauso wandert nun die Geschichte durch die Zeiten, bis zu seiner Ur-Enkelin, einer Ärztin ohne Grenzen in unseren Tagen; Linien entstehen zwischen früher Fotografie, Marie Curie und Lagranges Theorie der Mechanik ... Weil selbst kleinste Schaltpunkte nachwirken, reiben und entzünden sich Zusammenhänge im Laufe der Jahre immer wieder aneinander – es entsteht ein dicht gewobener Roman über Beziehungen und Erinnerung.
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Übersetzung aus dem Englischen von Monika Baark
© Anne Michaels, 2023 Titel der englischen Originalausgabe: »Held«, Bloomsbury Publishing, London 2023
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2024
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Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Jennifer Griffiths
Covermotiv: Suzanne Moxhay
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Cover & Impressum
Widmung
I
Am Escaut, Cambrai, Frankreich, 1917
1
II
Am Esk, North Yorkshire, 1920
2
III
Am Westbourne, London, 1951
3
IV
Am Orwell, Suffolk, 1984
4
V
Am Orwell, Suffolk, 1964
5
VI
Am Orwell, Suffolk, 1984
6
VII
Sceaux, Frankreich, 1910
7
VIII
Von Estland nach Brest-Litowsk, 1980
8
IX
Rue Gazan, Paris, 1908
9
X
Highcliffe, Dorset, 1912
10
XI
Captain’s Wood, Suffolk, 2010
11
XII
Finnischer Meerbusen, 2025
12
DANKSAGUNG
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für
John Berger
Simon McBurney
Liz Calder
Alexandra Pringle
Rebecca und Evan
Wir wissen, das Leben ist endlich. Warum sollten wir glauben, der Tod währe ewig?
*
Der Schatten eines Vogels streifte den Hügel; den Vogel konnte er nicht sehen.
*
Manche Gedanken trösteten ihn:
Alles ist durchdrungen von Verlangen; es ist vom Menschlichen nicht zu lösen.
Dem Unbekannten können wir uns nur im Rahmen des Bekannten nähern.
Lichtgeschwindigkeit ist kein Bezugspunkt für die Zeit.
Die Vergangenheit ist als Gegenwart erfahrbar.
Vielleicht ist das Wesentliche unseres Wissens nicht zu beweisen.
Er hielt das Geheimnis, das allem innewohnte, nicht für formlos oder vage oder für eine Unstimmigkeit, sondern für das, was in uns Raum ließ für etwas klar Umrissenes. Er war nicht der Meinung, dass man diesen Raum mit Religion oder Wissenschaft ausfüllen musste, denn er sollte ganz und gar unberührt bleiben; wie Stille oder Sprachlosigkeit oder die Dauer.
Vielleicht war der Tod eine Art Lagrange-Formalismus, vielleicht konnte er durch das Prinzip der stationären Wirkung definiert werden.
Asymptotisch.
Der Dunst glühte im Regen wie Einäscherungsfeuer.
*
Gut möglich, dass die Explosion ihm das Gehör geraubt hatte. Es waren keine Bäume vorhanden, um den Wind auszumachen, kein Wind, dachte er, nicht der geringste Hauch. Regnete es? John sah die Luft feucht glänzen, aber er spürte nichts auf seinem Gesicht.
*
Der Dunst löschte alles, womit er in Berührung kam.
*
Hinter dem Schleier seines Atems sah er etwas aufblitzen, einen Schrei aus Licht.
*
Es war bitterkalt.
Irgendwo da draußen waren seine kostbaren Stiefel, seine Füße. Er müsste aufstehen und nach ihnen suchen.
Wann hatte er das letzte Mal gegessen?
Er war nicht hungrig.
*
Durchsickernde Erinnerung.
*
Schnee fiel, bei Nacht und bei Tag, und wieder in die Nacht hinein. Stille Straßen, Fahren war unmöglich. Also würden sie die Stadt zu Fuß durchqueren und einander in der Mitte treffen.
Der Himmel war, selbst nachts um zehn, wie aus Porzellan, eine blasse, feste Masse, von der sich Schnee löste und herabfiel. Die Kälte war reinigend, ein Segen. Sie würden beide gleichzeitig aufbrechen und jeweils ihrer Route folgen, sie würden immer weitergehen, bis sie einander fanden.
*
In der Ferne, durch den heftig fallenden Schnee, erblickte John Teile von ihr – elliptisch, stroboskopisch –, Helenas dunkle Mütze, ihre Handschuhe. Schwer zu sagen, wie weit sie noch entfernt war. Er schüttelte den Schnee von seiner Mütze, damit sie ihn vielleicht auch sah. Tatsächlich, sie hob beide Arme hoch und winkte. Einzig ihre Mütze, ihre Handschuhe und der pudrig-gelbe, verschwommene Lichtschein der Straßenlaternen hoben sich vom Weiß ab, das Himmel und Erde umschloss. Seine Füße oder Finger spürte er kaum, ansonsten war ihm warm, fast heiß vom Gehen. Er pulsierte bei ihrem Anblick, bei der kleinsten Spur von ihr. Sie war sein Ein und Alles. Nichts konnte seine Zuversicht erschüttern. Jetzt trennten sie nur noch wenige Schritte, aber sie konnten kein bisschen schneller gehen. Irgendwo zwischen Bank und Bibliothek klammerten sie sich aneinander, als wären sie die letzten zwei Menschen auf Erden.
*
Nur er wusste um ihre kleinen Eigenheiten. Dass Helena ihre Strümpfe passend zum Schal aussuchte, obwohl niemand sie in ihren Stiefeln sehen konnte. Dass der Roman, den sie damals im Park gelesen hatte, als ihnen klar wurde, sie würden für immer zusammenbleiben, stets auf ihrem Nachttisch lag, aus Aberglaube unausgelesen. Um diese papierdünnen Lederhandschuhe, die sie in der Tasche eines auf dem Flohmarkt erstandenen Herrentweedmantels gefunden hatte. Um den Ring ihrer Mutter, den sie ausschließlich zu einer bestimmten Bluse trug. Dass sie die Handtasche zu Hause ließ und einen Fünf-Shilling-Schein in ihr Buch steckte, wenn sie zum Lesen in den Park ging. Um die Bonbondose, in der sie ihr ausländisches Kleingeld verwahrte.
*
Helena trug die Handtasche, die er ihr in der Hill Road gekauft hatte, weiches braunes Leder mit einem Verschluss in Blumenform. Außerdem den Seidenschal, den sie auf dem Markt gefunden hatte und der nun mit ihrem Duft versehen war, herbstfarben mit dunkelgrünem Rand, und ihren Tweedmantel mit einem Innenkragen aus Samt. Wie viele Male er diesen Samt gefühlt hatte, wenn er ihr aus dem Mantel half. Eine begrenzte Anzahl. Sämtliche Freuden eines Tages, eines Lebens waren gezählt. Freude war zugleich unermesslich, sie reichte über sich hinaus – weil sie einem blieb, und sei es nur in der Erinnerung; und im Körper, selbst wenn sie vergessen wurde. Sogar ihre dunkle Seite, ihr spöttisches Spiel: riss eine Lücke. Das Endliche so wenig beherrschbar wie das Unendliche.
*
Sie gingen zu seiner Wohnung und ließen die nassen Kleider an der Tür zurück. Sie brauchten das Licht nicht anzumachen. Die Jalousien waren hochgezogen, Schnee beleuchtete das Zimmer. Weiße Dämmerung, eine unwirkliche Helligkeit. John staunte, wie immer, über das bisschen, aus dem sie bestand, sie war winzig, schien ihm, und so sanft und so wild, dass es ihm den Atem verschlug. Er hatte das parfümierte Badesalz gekauft, das sie mochte, und ließ Wasser in die Wanne. Er nahm zu viel von dem Salz, Schaum quoll über den dampfenden Rand. »Eine Schneewehe«, sagte sie.
*
Der junge Soldat lag nur ein paar Meter entfernt. Wie lange hatte der Junge herübergestarrt? John wollte ihm etwas zurufen, es ins Scherzhafte wenden, fand aber seine Stimme nicht.
*
An den Boden gedrückt, ohne dass irgendetwas auf ihm lastete.
Wer hätte gedacht, dass Licht einen Menschen niederstrecken kann?
*
Johns Kinderhand in der Hand seiner Mutter. Die Tüte Maroni vom Straßenhändler mit seinem Grill vor den Geschäften, so heiß, dass man sie ohne Fäustlinge nicht halten kann. Er lehnt sich an den schweren Wollmantel seiner Mutter. Spürt ihre glatte Handtasche an seiner Wange. Schält die braune Papierhaut der Maroni, bis das dampfende Fruchtfleisch zum Vorschein kommt. Hört die Tram auf den Gleisen quietschen. Sieht einen Zipfel von Mutters Schürze unter ihrem Mantelsaum hervorlugen, die Schürze, die sie abzulegen vergessen hatte, die Schürze, die sie immer trug. Trams, Menschenschlangen, der Geruch nach Fisch und Benzin. Sie so weich und seine Kindheit so hart. Ihr Duft, bevor er sich vom Schlaf übermannen ließ, die polierte Wärme ihrer Halskette, wenn sie sich über ihn beugte. Die Lampe, die sie brennen ließen.
*
Das Gasthaus war an den Bahngleisen errichtet worden, neben dem Dorfbahnhof, in einem Flusstal. Einst waren Gasthaus und Tal eine touristische Attraktion gewesen, die Eisenbahngesellschaft hatte das Bergpanorama beworben, die Wildblumenwiesen, die wohlriechenden Kiefern und die Roten Betonien. Die Bahngleise wurden vom trägen Fluss beschattet, wie eine Mutter mühsam ihrem Kind nachläuft, silbrige Linien, die sich durch das Tal zogen.
Helena war auf dem Weg in die nächste, größere Stadt gewesen, nickte unterwegs jedoch ein. Sie kam nicht gegen ihre Schläfrigkeit an, erlag ihr, wie betäubt vom Ruckeln des Zuges. Und als der Zug am letzten Bahnhof vor dieser Stadt hielt, hatte sie im Halbschlaf den Schaffner missverstanden, der bereits den nächsten Halt ausrief, schnappte sich ihren Ranzen und stieg eine Haltestelle zu früh aus.
Hinter der trüben Laterne am Ausgang war es dunkel – tiefste ländliche Dunkelheit. Sie kam sich albern vor und verspürte dabei eine gewisse Angst: der menschenleere Bahnsteig, der verschlossene Wartesaal. Sie wollte sich gerade auf die einsame kalte Bank setzen und warten, bis es Tag wurde, als sie in der Ferne Gelächter hörte. Später würde sie ihm erzählen, sie hätte Gesang gehört, obwohl John sich an keinerlei Musik erinnern konnte. Sie blieb am Ausgang stehen, weil sie den kläglichen Schutz dieser einen staubigen Bahnhofsglühbirne nicht aufgeben wollte. Doch als sie ins Dunkle hinausspähte, erblickte sie in einiger Entfernung den einladenden Lichtschein des Gasthauses.
Später würde sie diesem kurzen Gang durch die Dunkelheit zum Lichtkreis – während um sie herum die endlosen Felder voll unsichtbarer Gräser raschelten – die Eigenschaften eines Traums zuschreiben, die Zwangsläufigkeit, die Vorwegnahme.
Beim Blick durch das vordere Fenster sah Helena einen Raum, der in einer eigenen Zeitkapsel steckte. Ein Gasthaus wie in Volkssagen und Legenden, erfüllt von Wärme und Holzrauch. Ausgeblichene Polstersessel, Tische und Bänke aus zerkratztem Holz, Steinböden, ein wuchtiger Kamin und genug Scheite, um den kältesten Winter zu überstehen, bis zur Decke gestapelt, ein nie versiegender Märchenvorrat, sie malte sich aus, wie er sich im Lauf der Jahrhunderte auf magische Weise immer wieder selbst ersetzte. John schaute Helena an, als sie in seiner Nähe Platz nahm. Für ihn war es eine unerwartet intime Begegnung an diesem öffentlichen Ort, die Neigung ihres Kopfes, ihre Haltung, ihre Hände. Er schaute zu, als ein Mann sich – besoffen, torkelnd, wobei jeder zögerliche Schritt der sich drehenden Erde und ihrer Achsenneigung Tribut zollte – auf den leeren Stuhl ihr gegenüber sinken ließ und Helena mit einem langen, vernebelten Blick bedachte, bevor sein Kopf schwer wie ein Curlingstein auf den Tisch fiel und nach vorne glitt. John und ein anderer Gast sprangen gleichzeitig auf, um einzugreifen, und schleiften den Mann gemeinsam in den hinteren Teil des Schankraums, damit er dort seinen Rausch ausschlief. Als John an seinen Tisch zurückkehrte, war dieser von einem bereits völlig weltvergessenen Pärchen besetzt, das nicht einmal hochblickte.
»Es tut mir leid«, sagte Helena und raffte Mantel und Ranzen zusammen. »Bitte nehmen Sie diesen Tisch.«
Er bestand darauf, dass sie blieb. Sie rang ihre Schüchternheit nieder und fragte, ob er sich zu ihr setzen wolle. Später würde sie ihm erzählen, was sie dabei empfunden hatte, es war so flüchtig, unerklärlich, nicht einmal ein Gedanke: Wenn er sich setzte, würde sie für den Rest ihres Lebens einen Tisch mit ihm teilen.
*
Durch das Fensterchen im Flur konnten sie aus der Hitze ihres Bads den Schnee fallen sehen.
*
Die schwarzen Umrisse der Bäume erinnerten ihn an ein Feld im Winter, das er einmal aus dem Zugfenster erblickt hatte. Und an die schwarze Abendsee und an die tiefschwarze Haube und Schürze seiner Großmutter, wie sie vom Hafen heraufkam und unaufhörlich strickend den uralten, mit Körben voller Krabben beladenen Familienesel führte. Alle Frauen im Dorf trugen ihren Strickgürtel und hatten stets ihr Strickzeug dabei, unterm Arm oder in der Schürzentasche, Ärmel und Pullover-Vorderteile, Filigranarbeit, die im Lauf des Tages beständig vorankam. Jedem Dorf sein Muster; den Heimathafen eines Matrosen konnte man anhand des Musters seines Troyers benennen, das noch ein Merkmal aufwies – einen absichtlichen Fehler, der es jeder Strickerin ermöglichte, ihr Werk wiederzuerkennen. Ob solch ein Fehler überhaupt ein Fehler war? An den Küsten setzten Strickerinnen ihre Maschen als Schutzzauber ein, damit ihre Männer es sicher, warm und trocken hatten, das Wollfett wies Regen und Gischt ab, eine Rüstung, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Die Ärmel strickten sie kürzer, so musste man sie bei der Arbeit nicht zurückschieben. Dichtes Kammgarn, vom salzigen Wind ausgeblichen. Das gefurchte Patentmuster, wie die Felder im März, wenn man Kartoffeln setzte. Das Moosmuster, das Reepmuster, die Honigwabe, die Dreifachwoge, der Anker; das Hagelkornmuster, der Blitz, Rauten, Leitern, Ketten, Kabel, Quadrate, Netze, Pfeile, Flaggen, Tauwerk. Das Brombeermuster von Noordwijk. Die schwarz-weißen Strümpfe aus Terschelling (zwei weiße Fäden, ein schwarzer Faden). Das Zickzackmuster von Goedereede. Der Lebensbaum. Das Auge Gottes über dem Herzen des Pulloverträgers.
Starb ein Matrose auf See, zog man ihm, bevor sein Leichnam der Tiefe überantwortet wurde, den Troyer aus und brachte ihn seiner Witwe zurück. Wurde ein Fischer an Land gespült, trug man ihn in sein Heimatdorf, das Muster seines Pullovers wies den Weg so zuverlässig wie eine Karte. Und war jemand so zum Heimathafen zurückgeführt worden, konnte seine Witwe anhand eines ganz bestimmten Talismans ihr Recht am geliebten Leichnam geltend machen – des absichtsvollen Fehlers in einem Ärmel oder Taillenbund oder Bündchen oder einer Schulterpartie, wobei das unterbrochene Muster so eindeutig war wie die Unterschrift bei einem Dokument. Der Fehler war eine Botschaft, ins Dunkle hinausgeschickt, die Masche des Unheils und Schreckens, ein Wink in die Zukunft, von Ehefrau zu Witwe. Das Gebet darum, dass der Mann, wo immer er aufgefunden würde, nach Hause geschickt und von seiner Familie zur ewigen Ruhe gebettet werden möge. Dass die Toten nicht einsam blieben. Ein Fehler, aus Liebe begangen, der ihre Vollkommenheit bezeugte.
*
Manche Regeln galten auf See wie an Land, und jeder Matrose, der das wechselhafte Antlitz der Tiefe kannte, wäre ein Narr, wenn er die Vorzeichen nicht ernst nähme. Begegnete ein Fischer am frühen Morgen auf seinem Weg zum Hafen einem Hasen oder Priester oder blickte er einer Frau ins Gesicht – und sei sie seine Frau, Tochter, Schwester oder Mutter –, wagte er sich an diesem Tag nicht hinaus. Auf sämtlichen Straßen, die zu den Häfen entlang der Nordsee führten, drehten Frauen bei Sonnenaufgang Männern vorsorglich den Rücken zu. Und selbst nach dem Tod galten für den Übergang strenge Regeln. In den Dörfern wurden die Särge folgendermaßen transportiert: Fischer trugen Fischer, Frauen trugen Frauen, Landratten trugen Landratten.
*
Sein Vater hatte die See gegen die Felder getauscht. Matrose oder Bauer, welche Freiheit hatte sein Vater erfahren, sein Großvater? Die Freiheit eines Mannes, der sich abrackert, um selbst ernten zu können.
Wenn John sich seinen Vater ins Gedächtnis rief, konnte er sich offenbar nur an Fragmente erinnern – tief empfunden, aber nichts als Bruchstücke, gemeinsame Momente, nicht einmal Tage. Jahre, ein ganzes Leben – jetzt nur noch diese Handvoll, dieses Herzvoll.
*
Geschichten, die auf einem Schlachtfeld erzählt werden, auf einem Rettungsfloß, nachts in einer Krankenstation. In einem Café, das vor dem Morgengrauen verschwinden wird. Jemand hört zufällig mit. Jemand hört besonders aufmerksam zu. Niemand hört zu. Die Geschichte, die jemandem erzählt wird, der in den Schlaf gleitet oder in die Bewusstlosigkeit und nie wieder aufwacht. Die Geschichte, die jemandem erzählt wird, der überlebt, der diese Geschichte einem Kind erzählt, das sie in einem Buch niederschreibt, das von einer Frau in einem anderen Land oder zu einer anderen Zeit gelesen wird. Die Geschichte, die man sich selbst erzählt. Das glühende Bekenntnis. Die mäandernde, immer wieder aufgenommene Suche nach der Bedeutung einer Geste, eines Moments, die sich ein Leben lang dem Verständnis des Sprechenden entzogen hat. Geschichten, die für den Zuhörer unbegreiflich sind und dennoch aufgenommen werden – von der Dunkelheit, dem Wind, einem Ort, von einem Mitleid, das nichts bemerkt oder nicht bemerkt wird, sogar von einer Gleichgültigkeit.
Was wir geben, kann uns nicht genommen werden.
*
Es war spät geworden. Draußen gab es nur den schwachen Lichtschein vom Bahnhof und dahinter die Sterne.
John konnte nicht erklären, was er fühlte – als wären Helena und er schon einmal hier gewesen, als würden sie etwas aufführen, als wäre jedes Wort, das sie sagten, auf irgendeine Weise vorherbestimmt. Ihm war, als würde das Gasthaus, wenn er am nächsten Tag zurückkehrte, nicht mehr existieren, als würde sie nicht existieren.
Er sagte, er werde mit ihr zusammen auf den Zug warten. Er fragte sich, warum sie keine Angst vor ihm hatte, einem Fremden an diesem abgeschiedenen Ort. Er hatte ein wenig Angst vor ihr.
Im heimeligen Gasthaus hatten sie über zweite Chancen geredet. Draußen, in der kühlen Nacht, wirkte es so, als hätten sie sich schon immer gekannt. Fast hätte er ihre Hand ergriffen.
*
Später sollte er begreifen, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem man sich sein Leben zu eigen machen muss; man muss es aus all den anderen Geschichten einfordern, die einem mitgegeben, überliefert oder aufgedrängt wurden oder mit denen man zurückbleibt, während andere ihr Leben einfordern. Er wusste bereits, dass das Leben, das man verschmäht, das man aus Feigheit oder Scham hinter sich lässt, keineswegs dahinwelkt. Sondern im Gegenteil immer weiterwächst und den Weg überwuchert, der vor einem liegt.
*
Es wäre, als würde man aus seinen Kleidern schlüpfen, dachte er. Als würde man ins Meer eintauchen, wo die Grenzen zur eigenen Haut verschwimmen.
Früher hatte er den Tod durch Ertrinken nie für sanft gehalten. Aber vielleicht wäre das Meer doch der beste Ort zum Sterben. Das Meer, wo, der Erinnerung gleich – wie er einmal notiert hatte –, die Flüchtigkeit der Form die Form selbst ist. Früher hätte er in dieser Art von geistiger Losgelöstheit eine gewisse Disziplin erkannt. Nun dachte er, wenn etwas losgelöst ist, dann ist es kaputt.
*
Unmöglich, den genauen Zeitpunkt zu benennen, an dem die Nacht anbricht, so flüchtig wie der Moment, an dem wir vom Schlaf übermannt werden.
*