Zen im 21. Jahrhundert - Willigis Jäger - E-Book

Zen im 21. Jahrhundert E-Book

Willigis Jäger

4,7

Beschreibung

Weg des Herzens. "Zen im 21. Jahrhundert" versteht sich als spiritueller Weg des Herzens, der den modernen Menschen der westlichen Kultur inmitten seiner komplexen Lebenssituation anspricht. Willigis Jäger gehörte lange Jahre als Schüler von Yamada Ko-un Roshi der japanischen Sanbô-Kyôdan-Schule an und wurde 1996 als Zen-Meister und 87. Nachfolger von Shakyamuni Buddha bestätigt. Um selbst Zen-LehrerInnen ernennen zu können, gründete er Anfang 2009 eine eigene Sangha. Gemeinsam mit Doris Zölls und Alexander Poraj, die ihre Zen-Ausbildung bei Willigis Jäger absolvierten, legt er in diesem Buch die Ausrichtung der neuen Zen-Linie dar. Sein Anliegen: Zen als transkonfessionelle spirituelle Praxis zu etablieren, die es Suchenden aller Religionen ermöglicht, ihr wahres Wesen zu erkennen, und die die persönliche Entfaltung mit einer Verantwortung für die Welt verbindet.

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Band 1 der Schriftenreihe„West-östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung“

Willigis Jäger, Doris Zölls,

Lektorat: Nadja Rosmann

Alexander Poraj:

Umschlaggestaltung,

Zen im 21. Jahrhundert

Typografie/Satz:

© J. Kamphausen Mediengruppe GmbH,

Wilfried Klei

Bielefeld 2009

E-Book Gesamtherstellung:

[email protected]

Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.

www.weltinnenraum.de

Covermotiv: CrazyCat - photocase / Seite 13: Philippe - Fotolia.comSeite 81: Sebastian Kaulitzki - Fotolia.com / Seite 123: Olga Lyubkina - Fotolia.com

E-Book Ausgabe 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Print 978-3-89901-197-5ISBN E-Book 978-3-95883-254-1

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

Willigis Jäger

Doris ZöllsAlexander Poraj

ZEN IM 21. JAHRHUNDERT

Vorbemerkung

Vorwort

Zen im 21. Jahrhundert

Willigis Jäger

Was ist Zen?

Der Zen-Weg

Zen und Alltag

Was ist Wirklichkeit? – Was ist Religion?

Zen im 21. Jahrhundert

Zen als Impuls für eine neue Kultur der Achtsamkeit

Doris Zölls

Die Kulturen und Religionen übergreifende Dimension des Zen

Zen und die Erfahrung der Wirklichkeit

Die Übung des Zen

Zen als Lebenshaltung

Zen und das alltägliche Leben

Alexander Poraj

Weshalb Zen?

Zen und Psychotherapie

Zen und die Frage: Wer bin ich?

Zen und Business

Zen in der Paarbeziehung

Nachwort

Vorbemerkung

Zen ist keine Philosophie. Zen ist keine Weltansicht. Zen ist auch keine Gebrauchsanweisung, wie wir das Leben besser oder anders leben könnten, als es schon ist. Was ist Zen dann? Zen ist der tiefste Vollzug des „Nichtwissens“; ein entspanntes seelisches Schulterzucken inmitten all der Theorien und Ansichten über uns selber, die anderen und die Welt.

Zen ist einfach nur ein anderes Wort für das, was ist, und so, wie es ist. Zen fügt den Dingen und Ereignissen nichts hinzu, nimmt ihnen auch nichts weg. Eigentlich ist Zen gänzlich überflüssig. Wir haben nur vergessen, dass wir schon zu Hause sind. Um das zu erkennen, ja vollständig zu verwirklichen, brauchen wir Zeit, viel Zeit. Es geht um Erfahrung.

Wenn Sie also, liebe Leserin und lieber Leser, die folgenden Texte lesen, dann tun Sie es bitte mit der gelassenen Haltung eines Menschen, der ahnt, dass er nichts weiß. Das entspräche nämlich der Haltung, die wir als Verfasser beim Schreiben hatten. So kommen wir uns auf jeden Fall näher, ganz gleich, was Sie und wir zwischendurch zu wissen glauben.

Die folgenden Texte geben einige Erfahrungen, Ein- und Aussichten von uns wieder, die wir im Laufe der Jahre gemacht haben. Sie sind persönlich, subjektiv und doch richtungsweisend für alle, die in der „Zen-Linie Willigis Jäger“ ihre Weg- und Übungsgemeinschaft suchen oder bereits gefunden haben.

Willigis Jäger, Doris Zölls, Alexander PorajHolzkirchen, Frühjahr 2009

Vorwort

Jemand fragte Zhaozhou (jap. Jôshu):

„Was ist die Zhaozhou-Brücke?“

Zhaozhou antwortete:

„Komm herüber, komm herüber!“

Die Zhaozhou-Brücke ist die älteste steinerne Brücke in China. Sie spannt sich über den Fluss Xiao und liegt in der Nähe des Bailin-Tempels*. Jeden Tag gehen viele Menschen über sie, vom einen Ufer zum anderen Ufer. Chan-Meister Zhaozhou benutzte die Brücke als eine Metapher für den Geist derjenigen, die Chan praktizieren: Sie scheuen keine Mühe und sind bereit, sogar ihr Leben hinzugeben, um anderen Menschen dabei zu helfen, jenes Ufer der Wahrheit zu erreichen. Ich glaube, Meister Willigis ist eine solche Brücke, eine Brücke zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen der Tradition und der Gegenwart.

Durch einen seiner Schüler, Bernd Groschupp, konnte ich Willigis Jäger vor acht Jahren im Bailin-Tempel als einen tief in sich ruhenden, wahrhaftigen und ehrlichen Menschen kennenlernen. Er hatte bereits seit über 30 Jahren Chan praktiziert. Seit wir uns das erste Mal begegnet sind, bewundere ich seinen Mut, die Grenzen zwischen den Religionen zu überschreiten, um die Wahrheit zu finden. Im Chan sagen wir: Die Buddha-Natur kennt keine Grenzen. Die Weisheit des Chan entfaltet sich im Osten wie im Westen, im Süden wie im Norden. Die tiefe Chan-Erfahrung von Willigis Jäger und sein profundes Verständnis der Chan-Praxis sind ein Beleg dafür.

Willigis Jäger ist eine Brücke. Von ganzem Herzen wünsche ich ihm, dass sich durch sein Wirken immer mehr Menschen im Westen der östlichen Weisheit des Chan öffnen. Ich bin überzeugt, dass die Zeit nahe ist, in der die Menschen ihre kulturell bedingten Differenzen überwinden und die universale Weisheit miteinander teilen werden.

Ming Hai, Abt des Bailin-Tempels,Zhaoxian, Hebei, China

* Der Bailin-Tempel ist heute einer der größten Chan-Tempel Chinas. Er befindet sich im Norden in der Provinz Hubei in der Stadt Zhao Zhou nahe der Provinzhauptstadt Shijiazhuang, etwa 350 Kilometer südlich von Peking. Die Pagode des Bailin-Chan-Tempels war und ist auch heute wieder eine wichtige buddhistische Pilgerstätte. Sie enthält die sterblichen Überreste des berühmten Chan-Meisters Zhao Zhou Zheng Ji (jap. Jôshu Jushin, 778-897), der den Tempel in den Jahren von 858 bis 897 leitete. Der Bailin-Chan-Tempel wurde in der Kulturrevolution – wie viele andere Tempelanlagen – fast vollständig zerstört. Die Pagode blieb als einziges Gebäude der Tempelanlage weitestgehend erhalten und Teile der alten Brücke, die im Koan angesprochen wird, ebenfalls.

Im Jahr 1988 übernahm Meister Jinghui den Bailin-Chan-Tempel und begann mit einigen Mönchen mit dem Wiederaufbau des Tempels. Meister Jinghui wurde 1998 als erster Abt des wiedergegründeten Bailin-Chan-Tempels eingesetzt. Im Jahr 2004 wurde sein Dharma-Nachfolger, Abt Minghai, zum Abt des Bailin-Chan-Tempels gewählt. Es ist sein Anliegen, die Tradition des Chan im Geiste des berühmten Chan-Meisters Zhao Zhou Zheng Ji fortzusetzen. Seit sein Dharma-Nachfolger den Tempel leitet, widmet sich Meister Jinghui verstärkt dem Wiederaufbau und der Wiederbelebung anderer bedeutender Chan-Tempel in China, die während der Kulturrevolution zerstört wurden.

ZEN IM 21. JAHRHUNDERT

Willigis Jäger

Zen ist dabei, im Westen zu einer Aufbruchsbewegung zu werden, und holt gleichzeitig auch die Mystik der theistischen Religionen ins Gedächtnis und in die Praxis zurück. Die traditionellen Religionsformen bedürfen einer zeitnahen Ergänzung und einer Transformation, die dem 21. Jahrhundert gerecht wird. Die Globalisierung bringt auch die Konfessionen einander näher. Es geht dabei nicht um Synkretismus, also einen Mischmasch, sondern um die Erfahrungsebene, die das Rationale und Personale aller Konfession übersteigt. Dort ist die wirkliche Einheit der Religionen. Wer dorthin durchbricht, erfährt eine Ebene, die unabhängig ist von Glauben oder Konfession und unabhängig von jeder Nationalität. Es ist die gleiche spirituelle Quelle, aus der alle Religionen schöpften.

Offensichtlich breitete sich diese Spiritualität vom heutigen nördlichen Indien über den Himalaya nach China und Ostasien aus. Sie fand den Weg nach Süden bis nach Sri Lanka und Indonesien und gelangte schließlich über die Seidenstraße in den Westen. Alexandrien war in den Jahrhunderten vor Christus ein Schmelztiegel für Ost und West. Von hier aus gelangte der Weg, der über die rationale Eingrenzung hinausführt, in den Islam und wurde zum Sufismus. Und er kam zu den Wüstenvätern, wo sich die christliche Mystik entwickelte. Durch Cassian und Dionysius erreichte der Weg auch die westliche Kirche und die Ostkirche, wo er zum Herzensgebet wurde.

Die Grundstruktur all dieser Wege ist die gleiche. Es geht immer um eine Zurücknahme der dominierenden Ich-Aktivität, damit das auftauchen kann, was unser wahres Wesen ist. Diese Erfahrungsebene übersteigt die Konfessionen und es spielt keine Rolle, welcher Nationalität der Mensch angehört oder welcher Glaubensrichtung er folgt. „Sogar Shakyamuni und Maitrey dienen jenem Einen. Sagt mir: Wer ist jener Eine?“ Dieser Eine ist nichts anderes als der Urgrund aller Formen. Leerheit ist Form und Form ist Leerheit. Der Vers zu diesem Koan aus dem Mumonkan versucht es noch einmal zu beschreiben: „Des anderen Bogen spanne nicht. Des anderen Pferd besteige nicht. Des anderen Fehler betratsche nicht.“ Alle spannen wir den einen Bogen, d. h. unsere wahre Natur. Alle Wesen reiten das gleiche eine Pferd, unsere wahre Natur, die hinter dem Ich verborgen liegt. Und wenn wir über den anderen tratschen, tratschen wir über uns selber. Das aber gilt es zu erfahren und nicht nur zu wissen.

Was ist Zen?

Kakua, der erste Japaner, der in einem Zen-Kloster in China war, wurde nach seiner Rückkehr vom Kaiser in Japan eingeladen, alles vorzutragen, was er in China erlebt hatte. Kakua zog eine Flöte aus seinem Ärmel, blies eine kurze Note, verbeugte sich höflich und ging. Er hat den Kern des Zen gezeigt. Dieser Augenblick ist die Manifestation eines Urgrundes, zu dem unser Verstand keinen Zutritt hat. Und es gibt nichts, was ihn nicht manifestieren würde.

Zen ist die Abkürzung des Wortes Zenna. Es ist die japanische Lesart des chinesischen Cha’an, das wiederum die Übertragung des Sanskrit-Wortes Dhyana ist und Sammlung des Geistes oder Versunkenheit bedeutet. Zen entwickelte sich in China im 6. und 7. Jahrhundert in der Begegnung mit dem Taoismus. Schriften und religiöse Übungen sind zur Erlangung dieser Erfahrung der Nondualität nutzlos. Der Weg zum Erwachen ist das Zazen, das Sitzen in der Versunkenheit. Alle dualistischen Unterscheidungen von Ich und Du, Subjekt und Objekt, wahr oder falsch sind in einer tiefen Erfahrung aufgehoben.

Zen lässt sich mit den folgenden vier Aussagen zusammenfassen:

1. Zen ist eine besondere Überlieferung außerhalb der orthodoxen Lehre.

2. Es ist unabhängig von den heiligen Schriften.

3. Es deutet unmittelbar auf des Menschen Herzen.

4. Zen ist die Schau des eigenen Wesens.

Die erste Übertragung dieser wortlosen Lehre finden wir in der legendären Geschichte von Buddha auf dem Geierberg. Buddha hielt schweigend eine Blüte in die Höhe. Kashyapa, sein Schüler, begriff und hatte die Essenz der wortlosen Lehre Buddhas erfasst. Zen führt in eine Erfahrung, es ist keine Konfession, auch keine buddhistische. Es kennt weder Vergangenheit noch Zukunft. Es vollzieht sich von Augenblick zu Augenblick.

Die ältesten schriftlichen Zen-Texte wie das Shinjin-meiund das Shodoka werden nicht müde, dies zu betonen. „Der höchste Weg ist nicht schwer, wenn du nur aufhörst zu wählen … Die kleinste Unterscheidung bringt eine Distanz wie zwischen Himmel und Erde … Je mehr Worte und Gedanken, desto weiter entfernt von der Wirklichkeit“ (Shinjin-mei). Oder der Text von Daio Kokushi: „O, meine lieben und ehrenwerten Freunde, die ihr hier versammelt seid: Wenn ihr euch danach sehnt, die donnernde Stimme des Dharma zu hören, gebt eure Worte auf, entleert eure Gedanken.“

Entleert eure Gedanken. Die Leerheit ist es, die mit allem kommuniziert. Nicht die Formen kommunizieren miteinander, sondern der nichtsubstanzielle Urgrund allen Seins. Alle Zähler haben den einen und gleichen Nenner. Dieser bringt die alles einbindende Erfahrung der Einheit hervor, aus der universales Wohlwollen und Liebe erwachen. Liebe ist die Grundstruktur der Wirklichkeit. Doch auch diese Aussage ist noch Bild und Gleichnis. Auch sie ist noch Analogie für das, was wirklich ist, und letztlich der Wirklichkeit unähnlicher als ähnlich. Der Bereich der Leere ist unser und aller Dinge tiefstes Wesen. Diese zeitlose Potenz offenbart sich als die vielen Dinge in der Zeitlichkeit. Wer dahin durchbricht, erfährt das, was Zen Kensho nennt.

Kensho ist ein erster Ausbruch aus der personalen Eingrenzung, der in die Erfahrung der Einheit führt. Wer auf dieser Ebene ankommt, sagt erschüttert: Ich könnte die ganze Welt umarmen. Der Mörder und Terrorist ist nicht ausgeschlossen. Es ist kein „Ich liebe dich“ oder „Du liebst mich“, sondern eine existenzielle Erfahrung der Einheit, die in ein absolutes Mitgefühl und eine grenzenlose Liebe führt.

Satori ist die zweite und eigentliche Erfahrung im Zen; eine Erfahrung der „Leere“, ein erschütternder Ausbruch aus der rationalen und personalen Eingrenzung, oft als „horror vacui“, als Horror der Leere erfahren. Die Reaktion ist manchmal auch schallendes Gelächter. Aber es ist kein Lachen über etwas, sondern ein irritierendes Überschreiten des normalen Weltverständnisses. Wirklichkeit wird als etwas ganz anderes erfahren, als das Ich uns ständig vormacht.

Der Zen-Weg

Ein Mönch fragte Meister Kempo in allem Ernst: „In einem Sutra heißt es: ‚Die Bhagavats der zehn Richtungen – ein Weg zum Tor des Nirvana‘. Ich möchte gern wissen: Wo ist dieser Weg?“ Kempo hob seinen Stab, zog eine Linie und sagte: „Hier ist der Weg“ (Mumonkan 48).

Der Mönch war irritiert: „Zehn Richtungen, zehn Wege? Welchen Weg soll ich denn jetzt gehen. Ich möchte gern wissen: Wo ist dieser Weg?“ – Hier, dieser Augenblick, diese Bewegung. Selbst dein Suchen ist es. Der Weg ist nicht nur dort, wo Kempo die Linie zog, sondern überall in allen zehn Richtungen. Es ist der nächste Schritt, gleichgültig in welche Richtung. Immer wieder werden im Zen-Sesshin die „Vier Großen Gelübde“ rezitiert. Darin heißt es: „Die Dharma-Tore sind unzählbar, ich werde sie alle durchschreiten.“ Unzählbare Dharma-Tore? Alle soll ich durchschreiten? Damit werde ich doch nie fertig! – Wo ist das nächste Dharma-Tor? Wenn wir aufstehen, ist es da. Wenn wir uns setzen, ist es da. Wenn wir essen, ist es da. Ganz gleich, wie lange wir danach suchen oder wo immer wir suchen, niemals werdet ihr ein Etwas finden, das nicht der Weg genannt werden könnte. Aber es ist ein weg-loser Weg! Er ist in jedem Moment die Manifestation einer hintergründigen Potenz, die alles Rationale übersteigt. Die Quelle, die in uns ständig sprudelt.

Zen führt in unsere wahre Identität. Was wir für unser Ich halten, ist nur die Summe psychischer Aktivitäten, die uns eine Person vorspiegelt. Es hat keine Permanenz. Unsere wahre Identität liegt tiefer. Wir Menschen sind ein offenes System, aber wir tendieren zum Festhalten. Wir möchten alles Schmerzhafte umgehen, aber oft ist es das Scheitern, das uns das Neue bringt. Daher gehört Leid zum evolutionären Prozess. Leibniz meint, diese Welt sei die beste Welt, die möglich ist. Man kann dem widersprechen. Aber in diesem System, in das unsere Welt sich hineinentwickelt hat, gibt es keine andere Möglichkeit. Diese Welt ist auf Polarität angelegt. Hell und dunkel, plus – minus. Erziehung, Religion, Schule haben uns ganz bestimmte Meinungen vermittelt, die aufeinanderprallen. Dahinter steht eine Unreife, unter der der Mensch leidet. In Wirklichkeit vollzieht sich dieses Eine, dem wir viele Namen gegeben haben, das aber kein Name wirklich treffen kann.

Es ist die Quelle, die es in uns zu finden gilt. Nur aus diesem Grunde sollten wir einen Lehrer oder Meister aufsuchen. Der Mensch ist geneigt, sein Heil von einem anderen, einer anderen zu erwarten. Der wirkliche Meister führt uns an die eigene Quelle. Die Menschen aber vertrauen lieber auf einen anderen. Vielleicht ist da doch noch jemand, der es für mich macht. So verehrt man Buddha und Jesus lieber und hängt sich an ihre Rockzipfel, statt dass man ihrem Weg folgt, um ihre Erfahrung zu machen. Wir finden alles in unserer eigenen Tiefe. Ein spiritueller Lehrer, der dem Schüler nicht den Weg zu sich selbst weist, ist ein Scharlatan.

Da ist das Koan vom weißen Hasen. Der Meister ging mit seinem Schüler spazieren. Ein weißer Hase huschte über den Weg. „Wie flink!“, sagte der Schüler. „Wie ist das“, fragte der Meister. „Als wenn ein Durchschnittsbürger zum Premierminister ernannt wird“, gab der Schüler zur Antwort. „Du redest immer noch so dumm daher, obwohl du alt und bedeutend bist“, sagte der Meister. „Was würdest du sagen?“, fragte der Schüler. „Der Prinz eines großen alten Geschlechts steigt für eine gewisse Zeit die gesellschaftliche Stufenleiter herab“, antwortete der Meister (Shoyo-Roku 56).

Das Koan zeigt deutlich, dass man auf dem Zen-Weg nicht etwas wird oder erreicht, wenn man sich anstrengt. Man kann nichts werden, sondern nur einbrechen in die zeitlose Wirklichkeit, die als dieser Mensch lebt. Nur dieses Eine kann Ich sagen. Dieses Eine kennt weder Geburt noch Tod. Diese personale Struktur ist wie eine Welle, einmalig, unverwechselbar, voller Bedeutung. Aber was ist sie wirklich? Ozean!

Wir gleichen aus Gold geprägten Münzen, einmalig in ihrer Bedeutung und unverwechselbar. Aber in Wirklichkeit sind wir Gold. Wer sich als Gold erfährt, für den hat das Dasein als Münze eine ganz andere Bedeutung. Er weiß, dass er das Gold in dieser Gestalt repräsentiert. Wir sind Dünen aus Wüstensand. Nicht die Düne wandert, sondern der Sand. Wer sich als Sand erfährt, hat keine Angst, dass die Düne wandert. Die Düne vergeht, der Sand zieht weiter. Wirklichkeit ist immer voll und zeitlos da. Wir können nur unsere Empfänglichkeitsanlage erweitern. Genau das vermittelt uns Zen. Was wir zutiefst sind, ist ungeboren und kann daher auch nicht sterben.

Was ist der Weg? Jôshû fragte Nansen in allem Ernst: „Was ist der WEG?“ Nansen antwortete: „Der alltägliche Geist ist der Weg.“ Jôshû fragte: „Soll ich mich selbst darauf ausrichten oder nicht?“ Nansen sagte: „Wenn du versuchst, dich ihm zuzuwenden, wendest du dich von ihm ab.“ Jôshû fragte: „Wenn ich nicht versuche, mich ihm zuzuwenden, wie kann ich wissen, dass es der WEG ist?“ Nansen antwortete: „Der WEG hat nichts zu tun mit Wissen oder Nichtwissen. Wissen ist Illusion. Nichtwissen ist ohne Bewusstsein. Wenn du den zweifelsfreien, wahren WEG wirklich erreicht hast, wirst du ihn erfahren als grenzenlos und leer wie den Weltraum. Wie kann man darüber sprechen auf einer Ebene von Richtig oder Falsch?“ Bei diesen Worten war Jôshû plötzlich erleuchtet (Mumonkan 19). Zen führt ins ganz konkrete Leben. Der Marktplatz ist das Ziel. Als dieser Augenblick vollzieht sich die Wirklichkeit und zeigt sich als das Wesen des Zen. Der Vers verdeutlicht das noch einmal:

„Die Blumen im Frühling – der Mond im Herbst.

Im Sommer die kühle Brise – im Winter der Schnee!

Wenn unnütze Sachen den Geist nicht vernebeln,

ist dies des Menschen glücklichste Jahreszeit.“

Es gibt nur diesen Augenblick. Jede mögliche Form ist Ausdruck dieses Einen. Wir werden von Kindheit an getäuscht. Wir sagen: Ich bin geboren. Eigentlich müssten wir sagen: Es ist als ich geboren.

Mitgefühl und Liebe. Aus einer solchen Erfahrung kommt das Mitgefühl, die Liebe zu allen Wesen. Es ist keine Liebe mehr zu einem Du. Es ist die Liebe, die aus dieser existenziellen Verbundenheit kommt. Die zwar die schlechte Tat verurteilt, aber den Täter, den Mörder und Betrüger aus der allumfassenden Liebe nicht ausschließen kann. Zen hat zwei Säulen, die in Wirklichkeit eins sind: Erkenntnis und Mitgefühl. Im Westen sind uns die Worte „Weisheit und Liebe“ geläufiger. Es gibt keine wirkliche Liebe ohne diese Erfahrung der Einheit und kein wirkliches Kensho ohne Liebe. Sie können nur zusammen auftreten. Manche wundern sich, weil ich immer wieder auch die Erfahrungen der anderen Religionen zitiere. Diese Erfahrungsebene übersteigt die Konfession und führt in den einen strukturlosen Urgrund, aus dem alles kommt.

Rumi drückt diese Ebene wie folgt aus: „Der Selbstlose (wer sich selbst vergessen hat) ist ein Spiegel geworden: Nichts ist mehr da als das Spiegelbild des Gesichtes eines anderen. Wenn du darauf spuckst, so spuckst du in dein Gesicht; und wenn du den Spiegel schlägst, schlägst du dich selbst; und wenn du ein hässliches Gesicht im Spiegel siehst, bist es du; und wenn du Jesus und Maria siehst, bist es du.“ Wir werden lebensuntüchtig werden, wenn wir unseren Egozentrismus und unsere Spezialisierung weiter auf die Spitze treiben. Eingebettet ins Ganze ist unser Intellekt eine wichtige Stufe in der Entwicklung der Spezies Mensch. Isoliert ist er nicht mehr als eine sich vermehrende Krebszelle, die den ganzen Organismus ruiniert.