10,99 €
Kontemplation ist ein Weg der Stille und der Heilung. Die großen spirituellen Meister des Abendlands sind diesen Weg gegangen: Loslassen, sich einlassen auf die Wirklichkeit des Göttlichen, Eintauchen in einen Raum der Stille, die neue Kraft gibt. Willigis Jäger bringt diese Tradition im christlichen Bereich auf faszinierende Weise nah. Immer hat er Kontemplation auch im Zusammenhang der Tradition anderer Religionen gesehen. Dies ist nicht nur etwas für spirituelle Spezialisten. Die Botschaft des kontemplativen Lebens ist auch bedeutsam für die Zukunft der Menschheit. Praxisanleitungen zur Kontemplation machen dieses Buch zu einem wichtigen Arbeitsinstrument für alle, die sich heute auf den spirituellen Weg begeben und Kontemplation üben möchten.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Willigis Jäger
Kontemplation –Ein spiritueller Weg
Mit Beiträgen vonFranz Nikolaus Müller und Beatrice Grimm
KREUZ
Band 3 der Schriftenreihe
»West-Östliche Weisheit Willigis Jäger Stiftung«
© KREUZ VERLAG in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-7831-8188-3
ISBN (Buch) 978-3-7831-8012-1
Wenn der Mensch in der Übung der inneren Einkehr steht,hat das menschliche Ich für sich selbst nichts.Das Ich hätte gerne etwasund es wüsste gerne etwasund es wollte gerne etwas.
Bis dieses dreifache »Etwas« in ihm stirbt,kommt es den Menschen gar sauer an.Das geht nicht an einem Tagund auch nicht in kurzer Zeit.Man muss dabei aushalten,dann wird es zuletzt leicht und lustvoll.
Johannes Tauler
Aus meinen zahlreichen Gesprächen und auch aus dem Interesse der Medien, die ihrer Leserschaft aktuelle Themen bieten möchten, weiß ich, dass viele Menschen Orientierung und Sinn in ihrem Leben suchen. Manche fühlen sich in ihrem angestammten christlichen Umfeld nicht mehr zu Hause und wenden sich anderen Angeboten zu. Die Naturwissenschaften liefern uns Erkenntnisse, die unser Verständnis von unserer Existenz und dem Kosmos, in dem wir leben, auf den Kopf stellen. Der Weg der christlichen Kontemplation kann uns Antworten auf unsere drängenden Fragen geben.
Dieses Buch ist eine Einführung in die christliche Kontemplation. Darunter versteht die traditionelle Lehre ein »Schauen«, ein Erleben, das über die rationale Erkenntnis hinausgeht. Kontemplation führt den Menschen in eine Erfahrungsebene, die nicht ein Sehen mit den leiblichen Augen bedeutet, sondern eine Bewusstheit, jenseits unserer Ratio. In der kontemplativen Übung begreifen wir nicht mit unserem Verstand, meditieren nicht über einem Text oder einem Bild. Das Schauen ermöglicht uns eine reine Bewusstheit, die unsere Person überschreitet.
Die Evolutionsforscher können uns nicht sagen, warum sich in unserer Spezies Bewusstheit entwickelt hat. Die Neurobiologen untersuchen die Funktionsweise unseres Gehirns und finden mehr und mehr, wie es uns mit Hilfe unseres Verstandes gelingt, eine eigene Wirklichkeit zu schaffen, die nur ein winziger, individuell geprägter Ausschnitt unseres Universums ist. Es ist richtig: Unser Verstand macht uns zu Menschen. Aber wir müssen aufhören, uns mit ihm zu identifizieren. Er ist nur das Werkzeug, ein Instrument, auf dem unser wahres Wesen spielt. Intellektuelles Wissen ist begrenzt und wird uns allein keine Deutung unseres Lebens geben.
Seit jeher spricht man im Gebetsleben von Oratio, Meditatio und Contemplatio, also vom mündlichen Gebet, von der Betrachtung und von einer dritten Erfahrungsebene, vom Schauen. Die Erfahrungsebene des Schauens birgt die Erfüllung unserer Sehnsucht, ob uns das bewusst ist oder nicht. Sie ist grenzenlos und übersteigt alles Rationale. Sie ist unser wahres Wesen, frei von Alter und von Tod. Von dieser Erfahrungsebene und vom Weg, der dorthin führt, handelt dieses Buch.
Johannes Tauler, geboren um 1300, Theologe und Mystiker, verweist in seinen bekannten Predigten immer wieder auf diesen zuweilen steinigen Weg in die Kontemplation. Wie Meister Eckhart ist er davon überzeugt, dass Gott im »Grund« der menschlichen Seele anwesend ist, wenn auch verborgen und dort auch erreicht werden kann, wenn sich der Mensch nach innen wendet und von Zerstreuungen fernhält.
Tauler verweist auf diesen Urgrund des Seins, der dem Menschen sagt, dass er nicht das ist, für das er sich hält. Der Urgrund des Seins, Leerheit, Gottheit, Grund, wie man ihn auch nennen mag, manifestiert sich als diese menschliche Form. Die Form wird vergehen. Das Leben aber, das diese Form kreierte, geht weiter, so wie das Wasser, wenn die individuelle Welle in den Ozean zurückfällt.
Wir sind als menschliche Spezies nur ein Wimpernschlag in diesem zeitlosen Universum, eine kurze Episode in diesem gewaltigen, evolutionären, kosmischen Geschehen. Aber dieser Wimpernschlag ist ein einzigartiger Ausdruck des Urgrundes, so dass Meister Eckhart sagen kann: »Wenn ich nicht wäre, wäre Gott nicht.« Aus diesem zeitlosen Universum kann nichts herausfallen. Darum hat diese meine Existenz eine unverzichtbare Bedeutung. Darum ist jede Existenz einzigartig. »Gott will gelebt, nicht verehrt werden!«
Unser Hiersein in diesem Leib gleicht einem großen Rätsel. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass in diesem gewaltigen zeitlosen Universum plötzlich so etwas wie ein geistbegabtes Wesen entstanden ist. Für unseren Verstand ist die Evolution nicht begreifbar. Was wir erforschen, lässt uns nur einen Ausschnitt aus der Fülle unseres Universums erhaschen, vergleichbar mit dem Blick durch ein Schilfrohr, mit dem wir die unendlichen Weiten des Himmels ergründen wollen.
Dabei wohnt in uns allen die unstillbare Sehnsucht, zu verstehen, was unsere Existenz auf unserem Planeten für einen Sinn hat. Aber wo sollen wir suchen?
Es gibt keine wirkliche Deutung unseres Menschseins im rein intellektuellen Bereich. Unser »Normalbewusstsein« kann den Hintergrund unserer Existenz nicht erfassen. Wir haben uns ein Koordinatensystem aus Genen, Familie, Schule, Religion und Gesellschaft aufgebaut, das wir für wirklich halten und mit dem wir unserem Leben eine Deutung geben möchten. Unser Koordinatensystem verschafft uns so etwas wie ein Zuhause, obwohl es nur ein Modell ist, das uns in diesem ungeheueren Weltraum einen Platz geben soll. Auch die Religion gehört zu diesem Koordinatensystem. Sie ist ein Deutungsversuch unserer Existenz. Leider verabsolutieren wir dieses Koordinatensystem und halten es für die eigentliche Wirklichkeit.
Es ist mein Wunsch, Ihnen mit diesem Buch den christlich-mystischen Weg der Kontemplation zu zeigen. Dieser Weg führt in eine Erfahrungsebene jenseits unserer Ratio. Wenn ich dabei von Gott spreche, so meine ich nicht ein personales Wesen, sondern den transpersonalen Urgrund des Seins, zu dem uns der Weg der Kontemplation Zugang schenkt.
Unser Dasein und Tun von Augenblick zu Augenblick als Manifestation dieses Urgrundes zu erfahren, sollte unser Ziel sein. Tun und Nichttun in jedem Augenblick als die Wirklichkeit zu begreifen ist also das Ziel. Wer wirklich seine wahre Natur kennenlernen möchte, muss sich bedingungslos dem reinen Sein stellen. Das ist nicht einfach. Die Begleitung eines wirklichen Meisters ist wichtig. Nicht eines Lehrers, der Meditation und Kontemplation für ein und dasselbe hält. Es muss jemand sein, der die Konfessionen überschritten hat und selbst in eine Erfahrung des Einen gelangt ist. Deswegen muss ich meine Konfession nicht verlassen, aber ich interpretiere sie anders.
Konfessionen haben eine institutionelle Ebene, sie haben Kirchen, Gemeinschaften und Glaubensbekenntnisse. Sie haben auch eine intellektuelle Ebene, eine Theologie, Theodizee, Metaphysik und Philosophie. Ihre eigentliche Aufgabe sollte es aber sein, uns in die dritte Ebene, in die Ebene der transrationalen und transpersonalen Erfahrung zu führen. Diese übersteigt zwar alle unsere Vorstellungen von Wirklichkeit, aber wir alle haben eine Grundbegabung für diese Ebene.
Die Ursache von allem hat keinen Namen.Sie kann nicht erklärt werden.Aber sie ist die einzigartige Ursache aller Dinge.
Wüstenväter
Wir sind nur eine Episode in diesem gewaltigen, evolutionären, zeitlosen Geschehen. Der Kosmologe Martin Rees bezeichnet uns als Sternenstaub. Wie alles auf der Erde bestehen wir aus den Resten längst verloschener Himmelskörper. Dank neuer Teleskope und der Rechenleistung von Supercomputern können wir heute die Entwicklung des Universums über Milliarden von Jahren zurückverfolgen. Damit erfassen wir, wie die ersten Sterne und Galaxien entstanden sind und wie sich diese bis in die Gegenwart entwickelt haben. Unser Weltall ist nicht das einzige. Unablässig entfalten sich neue Universen wie Dampfblasen in einem Topf kochenden Wassers. In solchen parallelen Welten könnten völlig andere Naturgesetze gelten, mit anderer Chemie und skurrilen Lebewesen. Das Weltraumteleskop Hubble stellte fest, dass sich in der unfassbaren Entfernung von 60 Millionen Lichtjahren zwei vorher isolierte Sternhaufen zu einer neuen Galaxie vereinigen und dass durch diesen Crash Milliarden neuer Sterne entstehen. Galaxien kommen und gehen. Wir entdecken einen Planeten nach dem anderen außerhalb unseres Sonnensystems, auf dem es auch Leben geben könnte.
Vor fast 14 Milliarden Jahren soll dieses unser Universum entstanden sein. Fast 14 Milliarden Jahre lang gab es uns nicht und es wird uns eines Tages auch nicht mehr geben. Niemand hat uns vermisst und niemand wird uns einmal vermissen. Wir haben uns, wie alles in diesem Kosmos, aus der Leerheit, aus dem Nichts entwickelt, aus dem Quantenvakuum sagt die Quantenphysik.
Unsere Erde ist etwa 4 Milliarden Jahre alt. Eindeutige Hinweise auf Leben gibt es seit etwa drei Milliarden Jahre. Vor 650 Millionen Jahren existierte ein Wurm namens »Picaia«, das erste Wesen mit einer Wirbelsäule auf unserem Planeten. Aus ihm entwickelte sich anscheinend alles, was eine Wirbelsäule besitzt. Es entstanden vielfältige Lebewesen, von denen nur ein Bruchteil überlebte. Vor etwa 65 Millionen Jahren starben die Dinosaurier wahrscheinlich infolge eines Kometeneinschlags aus. Langsam entwickelte sich vor etwa 3 Millionen Jahren der Mensch. Doch seit wann sprechen wir vom Menschen im heutigen Sinn? Was zeichnet das Menschsein aus?
Wenn die Saurier nicht ausgestorben wären, hätte der Mensch wohl keine Chance gehabt zu erscheinen. Wenn der Ostafrikanische Graben durch eine Verschiebung der Erdkruste nicht eingebrochen und Ostafrika dadurch versteppt wäre, hätten unsere prähominiden Vorfahren nicht von den Bäumen herunterkommen müssen und sich langsam zu dem entfalten können, was wir heute sind: zu Menschen des 21. Jahrhunderts. Sind wir Zufallsprodukte? Leben wir nur, weil der ostafrikanische Graben eingebrochen ist? Wo ist unser Platz im Kosmos? Was ist der Sinn unserer Existenz auf diesem bedeutungslosen Staubkorn am Rande dieses unvorstellbaren Universums?
Den Zeitpunkt, an dem unser personales Bewusstsein aus einem prähominiden Vorbewusstsein auftauchte, nennt die Tradition den »Sündenfall«. In Wirklichkeit war es das Auftauchen des rational-personalen Bewusstseins. Der »Sündenfall« war ein Fortschritt in der Entwicklung des Menschen. Er verschloss ein Paradies, aus dem wir als Menschen herausmussten, wenn wir wirklich Mensch werden wollten. »Die Vertreibung aus dem Paradies« war also ein entscheidender Entwicklungsschritt. Es war eine Entbindung aus dem Stadium eines tierischen Bewusstseins. Das Wort Entbindung ist mir dabei sehr wichtig. Es gleicht einer Entbindung aus dem Mutterleib. Plötzlich waren wir eigenständige, unabhängige Wesen. Wir erkannten, dass wir »nackt« waren, dass wir Individuen waren, dass wir »allein« waren. Es ging eine Entwicklungsstufe zu Ende. Der Mensch wurde nicht aus dem Paradies vertrieben, er ist erwachsen geworden und trat aus dem »symbiotischen, tierischen Mutterleib« heraus. Ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess, wie jede Geburt.
Dieses personale Bewusstsein, das wir entwickelt haben, macht uns zu Menschen. Gleichzeitig führte es zu einer Abgrenzung von der wirklichen Wirklichkeit. Es führte, wie wir heute erkennen müssen, zu einem starken Egozentrismus und Narzissmus. Dieser Narzissmus ist die stetige Ursache für all die verhängnisvollen Auseinandersetzungen in der Menschheitsgeschichte: Kriege, Rassismus, Fundamentalismus der Religionen, Kampf um die Ressourcen, Kampf um die Vorherrschaft in der Welt.
Mehr als 100 Millionen Menschen brachten sich im 20. Jahrhundert gegenseitig ums Leben. Unsere menschliche Geschichte ist eine Geschichte von Gewalt, Vertreibung und Krieg. Die Ägypter kämpften gegen die Syrer, die Syrer gegen die Ägypter, die Perser gegen die Griechen, die Griechen gegen die Perser. Wir lesen von den Feldzügen der Römer, von Dschingis Khan, den Sarazenen, den Kreuzrittern, vom Dreißigjährigen Krieg, der Kolonisierung vieler Erdteile durch die Europäer, den Eroberungen der Spanier und Portugiesen in Südamerika, dem Kampf der Europäer gegen die Indianer in Nordamerika, von Napoleons Feldzügen. Die Menschheitskatastrophen mit Millionen von Toten, verursacht durch Stalin, Hitler, Pol Pot, Mao, die jüngeren Ereignisse in Afrika und Asien sind Teil unserer bedrückenden Menschheitsgeschichte.
Sein oder Nichtsein: Lautet so die Frage, die wir uns angesichts unserer Entwicklung stellen müssen? – In unserer Welt herrscht eine zunehmende Unsicherheit, die Terrorund Gewaltbereitschaft wächst. Religiöser Fundamentalismus breitet sich aus. Jeder dritte Stadtbewohner lebt in einem Slum, gerade in den ärmsten Ländern unter oft menschenunwürdigen Bedingungen. Die Kluft zwischen Mächtigen und Ohnmächtigen, zwischen Arm und Reich wird immer größer: Ein Sechstel der Erdbevölkerung verfügt über 80 Prozent des erwirtschafteten Inlandsproduktes. Aufgrund des Klimawandels besteht die Gefahr, dass große Flächen der Erde unbewohnbar werden und nicht mehr ausreichend Nahrung zur Verfügung stellen können. Die nutzbaren Süßwasserreserven nehmen rapide ab. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung hat zu wenig Wasser. Täglich sterben Tausende Kinder an Durchfallerkrankungen aufgrund von verunreinigtem Wasser. Wir verfehlen uns durch unsere Egozentrik, mit unserem Handeln wie auch mit unserem Nicht-Handeln, gegen die Grundstruktur des Universums, die Einheit und Liebe ist.
Pflicht ohne Liebe macht verdrießlich.Verantwortung ohne Liebe macht rücksichtslos.Gerechtigkeit ohne Liebe macht hart.Wahrheit ohne Liebe macht kritiksüchtig.Erziehung ohne Liebe macht widerspruchsvoll.Klugheit ohne Liebe macht gerissen.Freundlichkeit ohne Liebe macht heuchlerisch.Ordnung ohne Liebe macht kleinlich.Sachkenntnis ohne Liebe macht rechthaberisch.Macht ohne Liebe macht gewalttätig.Ehre ohne Liebe macht hochmütig.Besitz ohne Liebe macht geizig.Glaube ohne Liebe macht fanatisch.
Lao-tse
Die Sprache der Liebe ist die einzige Sprache, die alle Menschen verstehen und die uns aus der Misere helfen kann, in die wir als Spezies hineingeraten sind. Liebe ist »was die Welt im Innersten zusammenhält«, sagt uns der Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther in seinem Buch über die Evolution der Liebe. Es gab und gibt in der Menschheitsgeschichte immer wieder Menschen, die diese Liebe verkörperten. Ihre Taten sind leider kaum aufgezeichnet worden. Liebende Menschen sind Halt und Trost für viele. Aber das eigentliche Ziel unseres Daseins besteht nicht darin, zu lieben, auch nicht darin, sich lieben zu lassen. Es besteht einzig und allein drin, Liebe zu werden, sagt Rabbi Moshe ben Israel. Ich möchte diese Worte ergänzen und hinzufügen: Wir haben zu begreifen, dass wir Liebe sind und die Grundstruktur des gesamten Universums Verbundenheit und Liebe ist. Die nächste Stufe unserer menschlichen Evolution wird sein, dies zu erfahren.
Über die Liebe ist viel geschrieben worden und wird noch viel geschrieben werden. Die Liebe, von der ich spreche, meint eine Ebene der Verbundenheit, auf der es kein »Ich liebe dich« und »Du liebst mich« mehr gibt. Es ist die Ebene der Einheit mit allem und jedem. Sie überschreitet die anthropozentrische Sicht der Welt und auch der Religionen. Sie verlässt die Egozentrik und rückt das hintergründige Eine in den Blickpunkt. In dieser Ebene wird das Ich nicht mehr als getrennt erlebt, sondern gleicht einer Welle des »göttlichen Ozeans«, untrennbar verbunden mit dem Ozean und mit allen Wellen. Niemand und nichts kann aus dieser Einheit herausfallen, auch nicht irgendein »Feind«. In dieser Ebene der mystischen Einheit, auf die alle Religionen verweisen, gestaltet sich unser Leben als Liebesgeschichte mit diesem »Urgrund Gott«. Dort erfahren wir: Liebe ist die einzige Sprache, die alle Menschen verstehen.
Unser Egozentrismus hat uns an den Rand der Vernichtung geführt. Was uns bevorsteht, ist die Entbindung aus dieser Ichzentrierung. Wenn wir diese nicht schaffen, haben wir keine Chance zu überleben. Unser Egoismus und Narzissmus sind die Grundübel, die uns zunichte machen können. Noch einmal: Wir verfehlen uns damit nicht gegen ein Gebot, wir verfehlen uns gegen die Grundstruktur der Evolution, die Verbundenheit und Liebe ist. Unser Verhalten ist das einer Krebszelle. Ihr egoistisches Wachstum richtet das Ganze, damit aber auch sich selbst zugrunde.
Die Moral, das »Du sollst« und »Du musst«, hat uns keinen Schritt weiter gebracht, wie wir heute erkennen müssen. Seit wir Ich und Du sagen können, haben wir uns gegenseitig bekämpft. Der Mythos von Kain und Abel hat sich in entsetzlicher Weise bewahrheitet. Der Brudermord ist immer noch an der Tagesordnung. Die norwegische Akademie der Wissenschaft hat errechnet, dass seit dem Jahr 3600 vor Christus insgesamt 15 513 Kriege stattfanden. Dabei gab es drei Milliarden und 500 Millionen Tote. Nur 292 dieser rund 5600 Jahre waren ohne Krieg.
Die Konfessionen, die uns beistehen sollten, sind selbst in einer schwierigen Situation. Es fällt ihnen schwer, sich von ihren fundamentalistischen Ansichten zu befreien. Sie entlassen ihre Anhänger nicht in die »Freiheit der Kinder Gottes«. Fjodor Dostojewski setzt sich damit in seinem Roman »Die Brüder Karamasow« auseinander. Darin, in der Erzählung vom Großinquisitor, taucht Christus plötzlich im Spanien des 16. Jahrhunderts auf. Dort ist die Inquisition gerade auf ihrem Höhepunkt. Er wandelt durch die Straßen und vollbringt Wunder. Als er ein totes Mädchen zum Leben erweckt, entdeckt ihn der Großinquisitor, und er wird eingekerkert. Der sich entwickelnde Disput dreht sich um die von Christus geschenkte individuelle Freiheit des Menschen. Der Großinquisitor argumentiert mit kalter Logik, dass der Mensch infolge seiner schwachen Natur der Freiheit nicht gewachsen sei, deshalb habe die Institution Kirche Abhilfe schaffen müssen. »Die Freiheit, die du, Jesus, gebracht hast, ist für die Menschen eine Qual.« »Hast du nicht damals oft gesagt: Ich will euch frei machen? Jahrhunderte lang haben wir uns mit dieser Freiheit abgequält, aber jetzt ist es mit ihr zu Ende, gründlich zu Ende. Gerade jetzt glauben die Menschen völlig frei zu sein, dabei haben sie doch selber ihre Freiheit zu uns gebracht und sie uns gehorsam zu Füßen gelegt.« »Ich (der Großinquisitor) opfere mich und lege ihnen eine Ordnung auf, an die sie sich halten müssen. Die Menschen werden mir dankbar sein, sie werden mich verehren.« »Sie werden mit Bewunderung auf uns schauen. … Alle werden glücklich sein, alle die Millionen von Wesen. Nur wir, die Hüter des Geheimnisses, nur wir werden unglücklich sein.« – In Wirklichkeit beschneidet der Großinquisitor die Menschen, wie es auch viele religiöse Vorstellungen tun, und entlässt sie nicht aus ihrer Icheingrenzung. Er schreibt ihnen vor, was sie zu glauben haben. Jesus redet in dieser Begegnung mit dem Großinquisitor kein Wort. Er nähert sich schweigend dem Greis und »küsst ihn still auf die blutlosen neunzigjährigen Lippen«. Aus dem Kerker entlassen, kehrt Jesus in die Dunkelheit der Straße zurück.
Eine Befreiung tut uns Menschen Not. Es geht dabei nicht um Willensfreiheit, sondern um die Freiheit von Konditionierungen, Ängsten und Zwängen auch religiöser Art. Egozentrik ist und bleibt das eigentliche Hindernis für die Entwicklung unserer Spezies. Die Zukunft der Religion liegt allein auf der mystischen Ebene, die uns Einheit und gegenseitiges Verstehen beschert. Nicht nur der Christ der Zukunft, der Mensch der Zukunft wird ein Erwachter sein, oder er wird nicht mehr sein, wie Karl Rahner, einer der einflussreichsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, einmal sagte.