Zen leben - Christ sein - Dr. Karlheinz Bartel - E-Book

Zen leben - Christ sein E-Book

Dr. Karlheinz Bartel

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Beschreibung

Was verleiht uns Halt in Zeiten, die aus den Fugen geraten scheinen? Auf welchem Weg gelangen wir heraus aus einem in Lethargie erstarrten Christentum? Karlheinz Bartel versucht eine Brücke zu schlagen zwischen Zen-Buddhismus und Christentum, um so einen Weg zu einer zeitgemäßen Spiritualität zu finden. Dabei bleibt er nicht in der Theorie stehen, sondern schlägt sehr konkrete Wege hin zu einem neuen Christentum vor.

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Karlheinz Bartel

Zen leben – Christ sein

Was die Kirche vom Buddhismus lernen kann

 

 

 

 

 

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal, Rosenheim

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN (E-Book) 978-3-451-81524-9

ISBN (Buch) 978-3-451-38610-7

allen,

die die wahrheit

erleben

wollen

 

Wir hegen die Saat,

die unsere Vorgänger säten,

nicht weniger zärtlich,

wenn wir sie von Zeit zu Zeit

in ein neues Erdreich pflanzen,

auf dass sie freier aufwachsen möge.

Sir Arthur Eddington

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Der Verfall von Kirche, Christentum und Glaube

2. Die Notwendigkeit grundlegender Neugestaltung

3. Aufbau und Vorgehensweise

Teil I Der lebendige Buddhismus – ein Weg

1. Überheblichkeit überwinden

2. Zen – der lebendige Buddhismus

3. Meister Harada und Meister Dogen

4. Der historische Gautama

5. Mystische Spiritualität

Teil II: Das lebendige Christentum – nicht Lehre, sondern Weg

1. Was die »moderne Theologie« zu leisten vermag

2. Wer Jesus wirklich war

3. Auf jeden Schritt achten

4. Jesus, die Brücke zwischen Judentum, Christentum und Islam

5. Jeder Liebende ein »Christus«

6. Mystik bei Paulus und bei Luther

7. Von »Gott« neu reden

8. Beten – eine Haltung

9. Eine etwas andere Trias statt Trinität

10. »Die drei großen Kränkungen«

11. Neues Denken in der Physik

12. Neues Denken in der Theologie

Teil III: Die Übungspraxis

1. Erneuerung des Gottesdienstes

2. Unio mystica in Abendmahl und Heiliger Messe

3. Meditation

4. Gesprächsgruppen

5. Der Alltag

6. Ansätze zur Reform des Theologiestudiums

7. Resümee

Danksagung

Literatur

Über den Autor

Vorwort

Seit ich aufgewacht bin – es waren die ersten Jahre auf dem Gymnasium –, habe ich nach dem »Archimedischen Punkt« gesucht, nach Einblicken in die Lebensrätsel, nach der »zentralen Ordnung«, nach dem »Dharma«, nach dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, sagen wir einfacher nach »Gott«.

Ich suchte mithilfe der Theologie, der Philosophie und der Psychologie. Wäre ich früher darauf gekommen, dass diese Suche das Thema der großen Epoche der Physik zu Beginn des 20. Jahrhunderts war, hätte ich bestimmt mithilfe der Physik gesucht. Max Planck, Niels Bohr, Albert Einstein, Werner Heisenberg, Stephen Hawking, Hans-Peter Dürr u.a. kann man lesen. Ob man sie allerdings versteht und ob sie die tiefen Zusammenhänge der Welt und deren Bedeutung verstanden haben, ist eine andere Sache. Und ob wir in unserem Erkenntnisdrang mit den Neuro- und Kognitionswissenschaften wirklich weiterkommen, durch die wir in jüngster Zeit erfahren, dass so etwas wie unser »Ich« lediglich von unserem Gehirn erzeugt wird und etwas wie das persönliche »Selbst« gar nicht existiert, das ist die Frage. Spät entdeckte ich, dass der Buddhismus eine Antwort hat. Welche, das gilt es zu explizieren.

Heute nun kommt ein weiterer Umstand hinzu, der dieser Suche eine gewisse Dringlichkeit verleiht. Wir wissen, dass wir in den wenigen letzten Jahrzehnten damit begonnen haben, unseren wunderschönen Planeten Erde und damit unsere Lebensgrundlage und uns selbst auf allerschlimmste Weise zu gefährden. Die bereits empfindlich geschädigte Umwelt unseres viereinhalb Milliarden Jahre alten Planeten spiegelt uns diese Tatsache täglich. Auf eine Katastrophe folgt die nächst schlimmere. Dennis Meadows, der wissenschaftliche Analytiker und Prophet der »Grenzen des Wachstums«1 samt dem »Club of Rome« mit dessen »Bericht zur Lage der Menschheit« weisen uns seit den 1970er-Jahren auf das Desaster hin. Zuletzt wiederholte Dennis Meadows am 24. Oktober 2011 in der Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität«2 des Deutschen Bundestages, dass sich die Aussichten für die Menschheit in 40 Jahren leider nicht geändert hätten, im Gegenteil. Und er äußerte die Meinung, dass es für ihn darum auch jetzt keinen Grund gebe, anzunehmen, dass die Menschheit das Problem fortdauernder Zerstörung in den Griff bekommen werde.

Darüber hinaus beschäftigen uns seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 die IS-Terroristen aus dem Nahen Osten, die ohne Respekt vor dem Leben ständig und unberechenbar irgendwo in der Welt zuschlagen. Sie verunsichern und ängstigen die Menschen und sorgen auf ihre krankhafte Weise dafür, dass Krieg, Elend und Chaos in der Welt nicht weniger werden. Wir im Westen müssen allerdings auch darüber nachdenken, was unser Anteil an dieser Misere ist.

Damit haben wir noch nicht gesprochen über das Problem der Klimaflüchtlinge, die sich aus verzweifelter Lage, in der Hoffnung auf ein besseres Leben, weiter übers Mittelmeer von Afrika nach Europa auf den Weg machen. Und wir haben nicht gesprochen über China, das als Global Player dabei ist, sich im Ranking mit den USA und Russland welt- und wirtschaftspolitisch an die Spitze zu setzen. Geschweige denn, dass wir den Blick auf das Silicon Valley gerichtet hätten, von dem ausgehend Digitalisierung und Künstliche Intelligenz unser Leben künftig verändern werden.

Während die Welt aus den Fugen gerät – oder müssen wir sagen: in Flammen steht –, verhalten sich die meisten Menschen immer noch wie Schlafwandler, die nicht sehen (wollen), was ist, und wenn sie sehen, was ist, nicht wissen wollen, was sie tun sollen.

Wenige sind aufgewacht. Aber das reicht nicht. Wenn wahr bleibt, dass alle Menschen künftig in einer intakten Umwelt und in Frieden leben wollen, dann ist es allerhöchste Zeit, dass alle aufwachen, aufstehen, umdenken, umkehren und aktiv werden, allen voraus die Sehenden und Wissenden. Was wir brauchen, ist ein kollektives –, ein Menschheitserwachen. Anders werden wir als Spezies »homo sapiens« unserem Namen nicht gerecht, und das »Projekt Mensch«, fürchte ich, wird scheitern.

Aus den immer zahlreicher werdenden Beiträgen zur gefährlicher werdenden Situation der Menschheit geht hervor, dass eine grundlegende Umformung angesagt ist, eine Umformung, wie sie Gautama, der Buddha, wie sie die Propheten Israels und wie sie Jesus, der Christus, zu ihrer Zeit gefordert haben, eine Wende des Denkens, mehr noch unseres Verhaltens gegenüber der Erde und den Mitmenschen, eine innere Umkehr und neue Hinkehr zu unseren Werten und Zielen, ja zu unserem Selbstverständnis als »homo sapiens«. Heute, da der »Untergang des Abendlandes«,3 der »Clash of Civilizations«,4 »The End of History and the last Man«,5 das »Ende der Welt«6 bevorzustehen droht, duldet die Situation kein Verdrängen, kein Aufschieben, schon gar kein Weglaufen mehr.

Was die meisten bei uns seit wenigen Jahrzehnten tun, ist, dass sie verdrängen, aufschieben und weglaufen. Was das Schlimme daran ist? Sie verteidigen »ihren« Wohlstand als Recht. Und sie tun das mit Zähnen und mit Klauen, meist ohne zu merken, dass sie einem krankhaften Egoismus verfallen sind. Dieser Egoismus folgt nicht nur der ihm innewohnenden Steigerungslogik, sondern er folgt dem Gesetz der Steigerung um jeden Preis, d.h. er geschieht ohne die geringste Rücksicht auf andere. Und was nicht minder verantwortungslos ist: Er geschieht eigentlich ohne die geringste Rücksicht auf sich selbst. Was wirklich weiterbringen würde, das wäre aber, bewusst weniger und das Weniger anders zu machen, statt gedankenlos und mit schlechtem oder sich selbst eingeredetem gutem Gewissen immer mehr zu tun.

Da in der Menschheit bei Gefahren das Wissen »um das Rettende auch« (Hölderlin) bewahrt ist, wird viel davon abhängen, dass diejenigen, die erkannt haben, mit ihrer ganzen Person am Rettenden arbeiten, denn wir können viel bewirken, wenn wir nicht einfach so weitermachen, sondern aufstehen, umkehren und anders machen.

Und weil die Religionen, namentlich die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, mindestens Teil des Problems sind, wenn sie das Problem durch die Betonung des Menschen als »Krone der Schöpfung«7 nicht gar mit ausgelöst haben, möchte ich, nicht zuletzt weil ich selbst Christ bin, den Blick kritisch genug – auch aus östlicher Perspektive – auf das Christentum richten, um aus seinem Ursprung und seiner Mitte heraus Wege aus der Gefahr, und das heißt heute: die Mitte, bzw. das verloren gegangene menschliche Maß, zu suchen. Ich kann nicht glauben, dass wir damit zu spät dran sein sollen.

Karlheinz Bartel

Stuttgart, im Februar 2019

1 Dennis Meadows, Die Grenzen des Wachstums – Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972

2 Deutscher Bundestag – Dennis Meadows plädiert für einen Kurswechsel www.bundestag.de/dokumente/.../2011/36131899_kw42_pa_wachstums­enquete/ 24.10.2011

3 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Gekürzte Ausgabe, München 1959

4 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen – Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996

5 Francis Fukuyama, The End of History and the last Man – Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir? München 1992

6 Naomi Oreskes/Erik M.Conway, Vom Ende der Welt – Chronik eines angekündigten Untergangs, München 2015

7 Redensart, die den Menschen nach Gen 1,26–31 als die am höchsten stehende Lebensform einstuft, was heute von dem italienischen Biologen Stefano Mancuso durch seine Forschungen auf dem Feld der Pflanzen­neurobiologie heftig und berechtigt kritisiert wird.

Einleitung

1. Der Verfall von Kirche, Christentum und Glaube

Die Kirchenbänke in beiden großen Kirchen werden leerer und leerer. In den letzten zwanzig Jahren ist das Interesse an der Kirche in Deutschland kontinuierlich gesunken. Entkirchlichung schreitet in einem Maße voran, wie es für Menschen, denen an Kirche gelegen ist, nicht erschreckender sein kann. Mitglieder der evangelischen Kirche in Deutschland 2003: 25,8 Millionen, 2015: 22,3 Millionen.

Ich hätte es kaum geglaubt, hätte ich es im Sommer 2018 in zwei norddeutschen Großstädten, in zwei protestantisch-­lutherischen Hauptkirchen, nicht selbst erlebt: Freitagabend, 21 Uhr. In der Andacht bei Kerzenschein, Spiel eines Saxophonisten, 16 ältere Damen sind anwesend in der mindestens 600 Besucher fassenden Kirche. An einem Bistrotisch, während des Spiels, drei – ich vermute dem Stadtpfarrer bekannte – Besucherinnen bei einem Alsterwasser, schäkernd im Gespräch über mutmaßlich Alltägliches. Ist das von Kirche übrig geblieben? In der anderen Hauptkirche, am anderen Ort: Alles ausgeräumt, keine Bänke, keine Orgel, über dem nackten Altarstein ein Gekreuzigter in üblem Zustand, auf dem Fußboden zwischen den weiß überkalkten Backstein­wänden eine in Kreuzform gelegte Ausstellung eines afrikanischen Künstlers mit Texten, die den Kolonialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts anprangern.

Alles recht und gut, aber ist das alles, was von eintausendsiebenhundert Jahren Christentum und Kirche übrig geblieben ist?

Freunde fragten mich, was ich als Pfarrer und christlicher Theologe dazu zu sagen habe. Was ich dazu sage, steht im vorliegenden Buch, es ist der ausschlaggebende Grund dafür, dass ich dieses Buch schreibe.

Der Vertrauensverlust in Bezug auf die Religion, besonders in Bezug auf deren institutionelle Vertreter, ist allenthalben spürbar. Aufmerksame Menschen empfinden, dass das Abendland mit seinem System Christentum am Ende ist.

Ist das Christentum wirklich tot? Ist Gott endgültig gestorben? Bin ich, der immer noch überzeugte Christ, zum Anhänger einer Loser-Religion geworden?

Mit der Entkirchlichung einher geht ein massiver Glaubensverlust. In der Tat: Man kann heute nicht mehr so glauben, wie man früher glaubte, zum Teil glauben musste, weil man religiös zum Für-wahr-Halten von Lehrsätzen erzogen wurde. »Und – so ist mein Gedanke, o Erhabener – keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre«1, sagt Hermann Hesse in »Siddharta«. Ein so kluger und vernünftiger, auch der Religion gegenüber so aufgeschlossener Politiker wie Helmut Schmidt distanzierte sich mehr und mehr vom Christentum und vom Glauben an Gott, wie er ihm in Konfirmandenzeiten abverlangt wurde. Helmut Schmidt steht für viele, die mit dem Glauben, wie man ihnen denselben traditionell vermittelt, heute nichts mehr anzufangen wissen.

Der Verlust hat viele äußere Ursachen, ganz besonders aber zwei tiefer liegende, theologische Gründe, wie ich meine. Der eine ist, dass an Vorstellungen von Gott geglaubt wird, statt an den wirklichen Gott. Der andere ist das falsche Verständnis des Religionsstifters Jesus.

Obwohl man, durch die »Moderne Theologie« gelehrt, heute aufgrund des größeren geschichtlichen Abstandes genauer als Paulus und die frühe Kirche wissen kann, dass zwischen dem »historischen Jesus« und der Konstruktion des »verkündeten Christus« unbedingt unterschieden werden muss, wird diese Unterscheidung in den Kirchen leider immer noch nicht, jedenfalls nicht sorgfältig genug, getroffen und entsprechend nicht vermittelt. Mit anderen Worten: Statt einen »Jesus« weiterzugeben, der ansprechend lehrte und beispielhaft vorlebte, wie man das macht, das alltäg­liche Leben »vor Gott« zu führen, jubelte man ihn – in blindem Glauben – bald schon zu einem »Gott« hoch. So blieb das damals kultisch erstarrte Judentum in der Form jüdischer Orthodoxie als Mainstream im Grunde bis heute unreformiert bestehen. Und so entstand ein Christentum, das durch eine geschickte Verbindung mit der griechischen Philosophie kulturell zwar Erstaunliches hervorgebracht hat, mit seiner Dogmen- und Schulstubenmentalität allerdings »verdunsten« muss. Statt zur Verlebendigung des Glaubens war es erneut zu kultischer Erstarrung und zu einem Traditionalismus bzw. Fundamentalismus gekommen, den zum Leben aufzubrechen, Jesus angetreten war, den zum Leben zu bringen unsere dauernde Aufgabe ist.

Man wird sagen müssen, dass sich traditionelle ­Religion und Metaphysik, mindestens seit der Aufklärung, im beschriebenen Sinkflug befinden. Diesen Zustand zeigte kaum einer deutlicher auf als der kritische Geist und Prophet der Moderne Friedrich Nietzsche. Er schrieb vor etwas über einhundert Jahren:

»Das Christentum zerbricht an sich selber, weil es nämlich von seinem Beginn an sich vom unmittelbaren Leben abgekehrt hat und eben darin vom Grunde her nihilistisch geworden ist.«2

Die dem Christentum zwangsläufig innewohnende Konsequenz zum Zusammenbruch sehend, konnte der begabte Pfarrerssohn geduldig darauf warten, dass das Christentum durch den Zusammenbruch hindurch zu seinem Wesent­lichen zurückfinden wird:

»Doch wiederum: Der Zusammenbruch des Christentums kommt aus ihm selber, aus dem in ihm gezüchteten Instinkt der Wahrhaftigkeit heraus. Daher ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, wo die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit sich als Lüge im Glauben an Gott verbietet.«3

Dass es mit der Wende nicht so schnell ging, wie er es zu Lebzeiten wohl noch erwartet hatte, musste Friedrich Nietzsche dann allerdings auch merken. Wie anders hätte er den Laternenanzünder in der »Fröhlichen Wissenschaft« die Laterne auf dem Marktplatz hinschmeißen lassen, dass sie »in Stücke sprang«, weil die Herumstehenden noch nicht gemerkt hatten, dass der »Gott der Tradition« tot sei und die Kirchen allenfalls noch die »Grüfte und Grabmäler Gottes« verwalteten. Als Grüfte- und Grabmalverwalter wäre ich mir letzten Sommer vorgekommen, hätte ich nicht längst einen Weg gefunden gehabt, den Glauben neu und tiefer zu verstehen.

Nicht weniger deutlich hatte Kierkegaard formuliert, dass eine Christenheit, die »in ihrer Kunstauffassung den erhabenen Menschen Jesus ästhetisierend als ehrwürdige, historische Figur« verherrliche, »der ihr inhärenten Verpflichtung nicht gerecht werde, Nachfolger und nicht Bewunderer des Herrn«4 zu gewinnen.

2. Die Notwendigkeit grundlegender Neugestaltung

In Zeiten wie den heutigen, die manche als mit Blick auf neueste Entwicklungen als »postfaktisch« beschreiben, Zeiten, die durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche immer noch nobler, schneller und damit zwangsläufig oberfläch­licher werden, Zeiten, in denen das Christentum erodiert, die Kirche verkommt, der Glaube, wo er sich nicht ins fundamentalistische Schneckenhaus verkriecht, versiegt und, ganz schlimm: Wir dabei sind, die Grundlagen des Lebens zu zerstören, gibt es für diejenigen, für die der Glaube ebenso bedeutungsvoll ist wie das Leben, keine wichtigere Aufgabe, keinen besseren Weg aus der Gefahr als einen »Reset«. Sich die Erneuerung des Christentums vorzunehmen, d.h. den Glauben und das Leben neu und zeitgemäß zu denken, verständlich zu formulieren, aktiv zu praktizieren und attraktiv zu kommunizieren, ist die Aufgabe.

Mit der Forderung nach einer heute anstehenden, gründlichen, neuen »Reformation des Christentums« bin ich weder der Erste noch der Einzige. Viele Kolleginnen und Kollegen, die sich in täglicher und wöchentlicher Berufsarbeit der Interpretation biblischer Texte stellen, teilen mein Anliegen. Theologisch sind mit dem Anliegen in letzter Zeit u.a. hervorgetreten: Klaus-Peter Jörns5, Friedrich Wilhelm Graf6 und Hubertus Halbfas.7 Klaus-Peter Jörns, indem er acht »Notwendige Abschiede« von überlieferten Glaubensvorstellungen formuliert; darunter von der Vorstellung der Absolutheit des Christentums und der Lehre vom Sühnopfer Jesu. Friedrich Wilhelm Graf, indem er »Sieben Untugenden der Kirche heute« anprangert; darunter ihre Sprachlosigkeit, Bildungsferne und ihren Moralismus, neben dem oftmals selbstherrlichen Auftreten ihrer Repräsentanten und generell ihrer Zukunftsverweigerung. Hubertus Halbfas, indem er die Wahrheit Jesu von der Wahrheit der Glaubenslehre deutlich unterscheidet und zur »Neuerfindung des Christentums« aufruft. Vor diesen, die beispielhaft für den notwendigen Wandel in Theologie, Kirche und Gesellschaft stehen, hatte kein Geringerer als der renommierte Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker das Anliegen einer anstehenden »neuen Theologie« formuliert. Georg Picht erinnert in seiner Laudatio anlässlich des an von Weizsäcker verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1963 daran, dass von Weizsäcker bedauert habe: »So vollzieht Weizsäcker den Überschritt zur Theologie und stellt zugleich fest, dass es die Theologie, nach der er fragt, bis zur gegenwärtigen Stunde nicht gibt.«8

Dasselbe konstatiert der nicht weniger renommierte Soziologe Niklas Luhmann, wenn er in seiner Religionssoziologie als einem zentralen Teil der modernen Gesellschaftstheorie, einen gewissen Kees W. Bolle aufnehmend, schreibt: »Man könnte der Vermutung folgen, daß die moderne Gesellschaft ihre Religion, daß sie eine für sie passende Religion noch nicht gefunden habe und folglich experimentiere – teils mit gepflegten Absonderlichkeiten, teils mit Religionskritik (im Sinne der Lehre vom Tod Gottes), teils mit einem aggiornamento ihrer Dogmen, teils mit der Verschreibung geriatrischer Medizin für ihre Organisationen. Oder mit Textfundamentalismus oder mit pluralistischen Angeboten, aus denen jeder sich das für ihn Passende aussuchen kann. Oder mit Zusatzlegitimationen wissenschaftlicher Art im Stile des New Age oder mit neurophysiologischen Forschungen, die Meditation und Mescalin, Derwischtanzen und mexikanischen Pilzkult als Varianten möglicher psychoanalytischer Therapien zur Disposition stellen. Oder mit rasch wechselnden, immer aber oppositionellen Ausdrucksmethoden wie flower power oder Besorgnis um das Schicksal künftiger Generationen oder jetzt schon an Hunger Sterbender. Säkularisierung könnte man dann auch als Aufräumaktion, als Planierung des Terrains verstehen, auf dem sich danach zeitangepasste religiöse Formen entwickeln könnten.«9

Es ist wahrlich an der Zeit, eine solche Theologie in Ansätzen wenigstens zu skizzieren.

Wer die Forderung des Neudenkens, der Neuformulierung, damit die Forderung der notwendigen, radikalen »Reformation des Christentums« – nach der »kirchlichen Reformation« Martin Luthers – als einer Reformation, die »alle Dinge in die Wiedergeburt zum Leben«10 führen soll, erhebt, ist sich dessen bewusst, dass das nicht ohne schmerzliche, aber notwendige Abschiede von althergebrachten Glaubenslehren und Schulweisheiten geht. Dies sind: die Lehre von der Trinität, die Zweinaturenlehre, das Sühnopferkonzept, die Erlösungslehre, die Prädestinations- und Präexistenzlehre, die Erbsündenlehre, die Verbalinspirationslehre, das Absolutheitsverständnis etc. Als 21-Jähriger schon nahm der Theologiestudent Rudolf Bultmann, der später für die Erneuerung des Christentums noch wichtig werden wird, Anstoß daran, dass die Dogmatiker in der Theologie an überkommenen Lehrsätzen festhielten und nicht fähig waren, die in den historischen Fächern der Theologie erzielten Erkenntnisse fruchtbar zu machen, wenn er am 5. Juni 1905 an seinen Freund Walther Fischer schrieb: »Augenblicklich ist mein größter Ärger die Dogmatik. Da brauchen wir wirklich eine Reform. Was wird da doch für ein Unsinn beibehalten von ›Offenbarung‹, ›Trinität‹, ›Wunder‹, ›göttliche Eigenschaften‹, es ist fürchterlich. Und alles geschieht nur zur Liebe der Tradition. Ich habe ja leider im eigenen Hause und in der weiteren Familie Gelegenheit genug zu sehen, mit welcher unglaublichen Zähigkeit die alten Traditionen festgehalten werden, und welches traurige Unheil oft dadurch entsteht.«11

Auf der anderen Seite bringt die Bemühung, das Christentum als Religion im Zeitalter der Digitalisierung neu entstehen zu lassen, einen nicht zu unterschätzenden Gewinn an Rationalität, Authentizität und Glaubwürdigkeit, damit aber an Realität, Relevanz und Effizienz.

Indem wir, wie immer nötig, wenn man Vergangenes erhalten und für die Gegenwart nutzbar machen möchte, erneut nach dem Wesentlichen des Christentums fragen, stellen wir zugleich die Frage danach, was zu erfülltem Leben führt; denn nicht um Religion im Sinne des spezifischen Gottesglaubens einer Gemeinschaft, wie wir das Wort Religion gewöhnlich verstehen, geht es letztlich, sondern um das Leben der Menschen, dem sie dient und auf das sie sich bezieht, um unser Leben. Religion ist dazu da, unser Leben anders, tiefer und schöner werden zu lassen. Und wir sind dazu da, uns am Leben zu freuen. Ganz wie der palästinensische Philosoph und Politiker Sari Nusseibeh einmal formulierte: »Man muss den Leuten ermöglichen, dass sie sich der Religion ihrer Schönheit wegen und nicht aus falschen Gründen zuwenden.«12

Nach dem Sinn des Lebens, nach Glück, Zufriedenheit, Freude und Erfüllung zu fragen, ist nun wahrlich kein neues Unterfangen. Es beschäftigt die Menschen von Anbeginn und immer. Es ist die Urfrage der Menschheit, seit es sie gibt. Und sie findet ihren literarischen Niederschlag außer in den heiligen Schriften der Religionen selbstverständlich in den philosophischen Schriften aller Zeiten. Die Frage nach dem glücklichen Leben stellten Aristoteles13 und Seneca14. In unserer Zeit bearbeitet sie Wilhelm Schmid.15 Sie findet sich bei Richard David Precht16 wie bei Hartmut Rosa17 und nicht zuletzt beim Dalai Lama,18 um sehr eklektisch nur diese Namen zu nennen. Die Menschen mit dem Wesentlichen des Christentums in Bezug auf das Leben vertraut zu machen, bleibt die dauernde Aufgabe, zuerst die aller Pfarrerinnen und Pfarrer.

3. Aufbau und Vorgehensweise

Da für den Neuaufbruch die Kenntnis von innerhalb der Religion ebenso notwendig ist wie die Annahme eines Standpunktes außerhalb, beginne ich mit der Skizzierung des für mich wichtigsten Außerhalb. (Teil I) In unserem Fall ist das der lebendige Buddhismus, wie er sich heute vor allem im japanischen Zen äußert.

Ich beschreibe dann das Christentum als Weg der »Gottes­erfahrung«, in der alle Religion »aufgehoben« wird. (Teil II)

Schließlich werde ich eine Praxis vorschlagen, die durch Übung in diese Aufhebung hinein und durch sie hindurch führt, hin zu einer neuen, religiösen und zugleich religionsübergreifenden, zeitgemäßen, mystischen Spiritualität. (Teil III)

1 Hermann Hesse, Siddhartha, 32

2 Friedrich Nietzsche, zitiert bei Wilhelm Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, München 1975 262

3 Ebenda

4 Søren Kierkegaard

5 Klaus-Peter Jörns, Notwendige Abschiede – Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum, Gütersloh 2004

6 Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung – Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011

7 Hubertus Halbfas, Glaubensverlust – Warum sich das Christentum neu erfinden muss, Ostfildern 2011

8 Carl-Friedrich von Weizsäcker, Bedingungen des Friedens – Mit einer Laudatio von Georg Picht, Göttingen 1964,3

9 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2015, 307

10 Jürgen Moltmann, Geleitwort zu: Karlheinz Bartel, Gustav Werner, Eine Biographie, Stuttgart 1990, 13

11 Rudolf Bultmann, Brief an Walther Fischer vom 5.6.1905, Mn 2-2198, Nachlass Rudolf Bultmann, Universitätsbibliothek Tübingen; zitiert bei: Werner Zager, Rudolf Bultmann, Mensch und Theologe, Vortrag, gehalten am 20. August 2009 in der St. Lamberti-Kirche in Oldenburg, 11

12 Sari Nusseibeh, in: Die Zeit vom 3.3.2011

13 Aristoteles, Nikomachische Ethik

14 Seneca, Vom glückseligen Leben

15 Wilhelm Schmid, Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist

16 Richard David Precht, Die Kunst, kein Egoist zu sein, München 2010

17 Hartmut Rosa, Resonanz – Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016

18 Dalai Lama, So einfach ist das Glück, Freiburg 2015

Teil I Der lebendige Buddhismus – ein Weg

»Sollte in 1000 Jahren ein Historiker die Geschichte unserer Tage schreiben, so wird er sich weniger mit dem Vietnamkrieg, dem Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder dem Rassismus befassen, als vielmehr mit dem, was sich ereignete, als Christentum und Buddhismus sich tief zu beeinflussen begannen.«1

Arnold Josef Toynbee