Zerfetzte Flaggen - Alexander Kent - E-Book

Zerfetzte Flaggen E-Book

Alexander Kent

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Beschreibung

1777 - Aus der Rebellion der amerikanischen Kolonien ist ein erbitterter Krieg gegen England geworden, der die Royal Navy vor eine harte Bewährungsprobe stellt. Als blutjunger Offizier nimmt Richard Bolitho an den gefährlichen Einsätzen des mit 80 Kanonen bestückten Linienschiffs Trojan und den dramatischen Seegefechten in den Gewässern der Bahamas teil. Nach der Eroberung einer Brigg erhält er das Kommando über diese Prise und damit die Gelegenheit, sich durch einen weiteren gewagten Handstreich ruhmreich auszuzeichnen ...

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Der Autor

Alexander Kent

Zerfetzte Flaggen

Leutnant Richard Bolitho in der Karibik

Historischer Roman

Aus dem Englischen

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Neuausgabe bei RefineryRefinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Mai 2018 (1)

© der deutschen Übersetzung Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2004© Bolitho Maritime Productions Ltd., 1977Titel der englischen Originalausgabe: In Galant CompanyCovergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin

ISBN 978-3-96048-138-6

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

I Demonstration der Stärke

II Ein verwegener Plan

III Die

Faithful

IV Rendezvous

V Viele Arten von Tapferkeit

VI Eines Leutnants Pflichten

VII Hoffnungen und Ängste

VIII Fort Exeter

IX Probyns Entscheidung

X Nachtgefecht

XI Die Nachhut

XII Rivalen

XIII Die Vorwände fallen

XIV Ein zu hoher Preis

XV Noch eine Chance

XVI Ein eigenes Kommando

XVII Die Besten von allen

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

I Demonstration der Stärke

Für Winifred

Unser Feind war keine Memme,das sage ich Euch ...Sein Mut war von rauher englischer Art,wie es ihn zäher und echter nie gabund nie geben wird.

Walt Whitman

I Demonstration der Stärke

Der steife, ablandige Wind, der während des Tages ein wenig rückgedreht hatte auf Nordwest, fegte über die Reede von New York. Er brachte kein Nachlassen der grimmigen Kälte, sondern alle Anzeichen weiteren Schneefalls.

Heftig an seiner Ankerkette zerrend, lag dort Seiner Britannischen Majestät Schiff Trojan, bestückt mit achtzig Kanonen. Dem ungeschulten Auge einer Landratte mochte es wohl so vorkommen, als sei sie völlig unempfindlich gegen Wind und Seegang. Den Männern jedoch, die ständig ihre Arbeit an Deck oder hoch oben in der Takelage und auf den schlüpfrigen Rahen verrichteten, schien dies keineswegs so, und sie empfanden die schlingernden Bewegungen sehr deutlich.

Es war März 1777, doch der Offizier der Nachmittagswache, Leutnant Richard Bolitho, hatte das Gefühl, als sei es noch mitten im Winter. Es wird früh dunkel werden, dachte er, die Beiboote müssen noch überprüft, ihre Vertäuung verstärkt werden, bevor die Nacht kommt. Er fröstelte, weniger infolge der Kälte als bei dem Gedanken, daß es auch nachher in den Räumen unter Deck kaum wärmer sein würde. Denn trotz ihrer stattlichen Größe und ihrer starken Bewaffnung hatte die Trojan – ein Zweidecker-Linienschiff – ihrer Besatzung von sechshundertfünfzig Offizieren, Seeleuten und Seesoldaten, die alle in ihrem umfangreichen Rumpf lebten, nicht mehr als das Herdfeuer in der Kombüse zu bieten, allenfalls noch die eigene Körperwärme der Leute – gleichgültig, wie die Elemente tobten.

Auf dem Achterdeck richtete Bolitho sein Fernglas auf die bereits verschwimmende Küstenlinie. Während sein Blick die anderen vor Anker liegenden Linienschiffe, Fregatten und das übliche Gewirr kleinerer Versorgungsfahrzeuge streifte, hatte er Zeit, sich über die Veränderung klarzuwerden, die seit dem letzten Sommer stattgefunden hatte. Damals war die Trojan zusammen mit einem großen Flottenverband von hundertdreißig Schiffen hier bei Staten Island vor Anker gegangen. Nach dem anfänglichen Schock, den der Aufstand der amerikanischen Kolonien ausgelöst hatte, war die Besetzung New Yorks und Philadelphias, verbunden mit einer derartigen Demonstration der Stärke, den Beteiligten wie der Beginn einer Rückentwicklung, eines Kompromisses, vorgekommen.

Es war alles so einfach gewesen. General Howe hatte seine eingeschifften Truppen vor der gesamten Küste von Staten Island Posten beziehen lassen, war dann mit einer kleinen Infanterieeinheit gelandet und hatte alles in Besitz genommen. Die Verteidigungs-Vorbereitungen der örtlichen und der Festlandsmilizen waren buchstäblich ins Wasser gefallen, und selbst die vierhundert Mann starke Besatzung der Befestigungswerke von Staten Island, die unter General Washingtons Befehl stand und das Fort unter allen Umständen und ohne Rücksicht auf Verluste halten sollte, hatte brav das Kommando »Gewehr ab« befolgt und den Treueid auf die Krone geleistet.

Bolitho senkte das Fernglas, da eine Schneebö ihm die Sicht nahm. Es fiel ihm schwer, sich die damals grüne Insel und die bunte Zuschauermenge ins Gedächtnis zurückzurufen, die jubelnden Loyalisten, den schweigend und grimmig dreinblickenden Rest. Alle Farben waren jetzt einem tristen Grau gewichen. Das Land, das bewegte Wasser, selbst die Schiffe schienen ihren Glanz verloren zu haben in diesem zähen und hartnäckigen Winter.

Er ging ein paar Schritte auf und ab; an seinen nassen Kleidern zerrte der Wind. Er war jetzt zwei Jahre an Bord der Trojan, aber es kam ihm vor wie ein ganzes Leben. Wie viele andere in der Marine, so hatte auch er zuerst gemischte Empfindungen gehabt, als die Neuigkeit von der Revolution bekannt wurde: Überraschung, Schock, Sympathie und dann Zorn, vor allem aber das Gefühl der Hilflosigkeit.

Die Revolution, die angefangen hatte als ein Konglomerat individualistischer Ideale, hatte sich bald in eine durchaus reale Herausforderung entwickelt. Dieser Krieg war anders als alles, was sie vorher gekannt hatten. Große Linienschiffe wie die Trojan bewegten sich schwerfällig von einem Brennpunkt zum anderen und waren durchaus imstande, mit allem fertig zu werden, was leichtsinnig in den Bereich ihrer massiven Breitseite geriet. Aber der wirkliche Krieg war eine Sache der Nachrichtenverbindungen und Versorgungswege, eine Angelegenheit der kleinen schnellen Fahrzeuge wie Korvetten, Briggs und Schoner. Während der langen Wintermonate, als die überbeanspruchten Schiffe des Küstengeschwaders mehr als fünfzehnhundert Meilen Küste zu überwachen hatten, war die Stärke der Kontinentalarmee, unterstützt von Britanniens altem Feind Frankreich, ständig gewachsen. Bisher hatte Frankreich zwar nicht offen eingegriffen, aber vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis die vielen französischen Kaperschiffe, deren Jagdgebiet sich von der kanadischen Küste bis ins Karibische Meer erstreckte, ihre wahre Flagge zeigten. Danach war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Spanien, obwohl vielleicht ungern, dem feindlichen Bündnis beitrat. Die Handelswege zum spanischen Mutterland waren die längsten von allen, und angesichts der Spannungen zwischen Spanien und England würde es wohl dem Druck der anderen beiden Mächte nachgeben und den Weg des geringsten Widerstandes gehen.

All dies und noch mehr hatte Bolitho gehört und diskutiert, immer wieder, bis zum Überdruß. Ob gute oder schlechte Neuigkeiten eintrafen, die Rolle der Trojan wurde immer unbedeutender. Wie ein Felsblock lag sie nun schon seit Wochen hier im Hafen, mit gereizter Besatzung und Offizieren, die nur auf eine Gelegenheit hofften, von Bord gehen und ihr Glück auf kleineren, schnelleren und unabhängigeren Schiffen versuchen zu können.

Bolitho dachte an sein letztes Kommando, die mit achtundzwanzig Geschützen bestückte Fregatte Destiny. Selbst als ihr jüngster Leutnant und gerade erst vom Fähnrichslogis in die Offiziersmesse hinübergewechselt, hatte er unglaublich Aufregendes und Befriedigendes erlebt.

Er stampfte mit dem Fuß auf, so daß der Wachtposten auf der anderen Seite des nassen Decks herumfuhr. Jetzt war er Vierter Offizier dieses verankerten Riesen, und es sah so aus, als würde er das für die nächste Zeit auch bleiben.

Die Trojan wäre viel besser aufgehoben bei der Kanalflotte, dachte er: Manöver, Flaggezeigen bei den wachsamen Franzosen, und, wenn irgend möglich, an Land gehen in Plymouth oder in Portsmouth, alte Freunde aufsuchen …

Bolitho wandte sich um, als er wohlvertraute Schritte von achtern über das Deck kommen hörte. Es war Cairns, der Erste Offizier, wie die meisten von ihnen an Bord, seit die Trojan im Jahre 1775 nach einer längeren Aufliegezeit in ihrer Bauwerft in Bristol wieder in Dienst gestellt worden war. Cairns war groß, schlank und sehr verschlossen. Falls er sich ebenfalls nach der nächsten Sprosse seiner Karriere sehnte, nach einem eigenen Kommando vielleicht, so zeigte er das nicht. Er lächelte selten, war aber trotzdem ein Mann von großem Charme. Bolitho mochte ihn gern und respektierte ihn. Oft fragte er sich, was Cairns wohl vom Kommandanten[1] hielt.

Cairns blieb stehen und biß sich auf die Unterlippe, während er zur Takelage, zu dem sich auftürmenden Gewirr von Wanten und laufendem Gut, hinaufschaute. Dünn, mit klebrigem Schnee bedeckt, sahen die Rahen aus wie die Zweige ungeheurer Fichten.

Dann sagte er: »Der Kommandant wird bald zurückkommen. Ich bin auf Abruf bereit, also halte die Augen auf.«

Bolitho nickte. Cairns war achtundzwanzig, während er selbst knapp einundzwanzig Jahre zählte, aber der Abstand zwischen dem Ersten und dem Vierten Offizier war größer, als das Alter es ausdrückte. Er wartete ein wenig und fragte dann beiläufig: »Irgend etwas bekannt über des Captains Mission an Land, Sir?«

Cairns schien in Gedanken. »Ruf die Toppsgasten herunter, Dick, sie sind sonst so steifgefroren, daß sie nicht zupacken können, wenn das Wetter schlechter wird. Der Koch soll eine heiße Suppe ausgeben.« Er zog eine Grimasse. »Das wird dem geizigen Schmierlappen Freude machen.« Er blickte Bolitho an. »Welche Mission?«

»Nun, ich dachte, vielleicht bekommen wir neue Befehle.« Er hob die Schultern. »Oder so etwas ähnliches.«

»Sicher, der Captain war beim Befehlshaber, aber ich bezweifle, daß wir etwas anderes zu hören bekommen als das übliche: erhöhte Wachsamkeit, Augen auf bei der Arbeit …«

»Verstehe.« Bolitho blickte zur Seite. Er wußte nie genau, wann Cairns völlig ernst war und wann nicht.

Dieser zog seinen Rock höher und hielt ihn über der Kehle zusammen. »Machen Sie weiter, Mr. Bolitho.«

Sie grüßten beide durch Handanlegen an den Hut, die Zwanglosigkeit für den Augenblick beiseite lassend, dann rief Bolitho: »Fähnrich der Wache!« Er sah, wie sich eine der im Schutz des Hängemattnetzes lehnenden Gestalten löste und auf ihn zulief.

»Sir!«

Es war Midshipman[2] Couzens, dreizehn Jahre alt, eines der neuen Besatzungsmitglieder, die kürzlich mit einem Transport aus England gekommen waren. Rundgesichtig, ständig fröstelnd, glich er seine Unkenntnis mit einem Eifer aus, den weder seine Vorgesetzten noch das Schiff brechen konnten.

Bolitho informierte ihn über die zu erwartende Rückkehr des Kommandanten sowie wegen des Kochs und ließ ihn dann zur Wachablösung pfeifen. Diese Anweisungen gab er mechanisch, ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Dafür betrachtete er Couzens, sah aber nicht diesen, sondern sich selbst im entsprechenden Alter. Auch er war damals an Bord eines Linienschiffes gewesen und wurde von jedermann gehetzt und schikaniert, so kam es ihm wenigstens jetzt in der Erinnerung vor. Einen aber hatte er wie einen Helden verehrt, einen Leutnant, der möglicherweise von seinem Vorhandensein kaum etwas wußte. Bolitho jedoch hatte sich auch später immer an ihn erinnert. Der war niemals grundlos wütend geworden, nahm auch nie seine Zuflucht zu Schikanen und Demütigungen, wenn er selbst vom Kommandanten getadelt worden war. Bolitho hatte gehofft, einmal so zu werden wie dieser Offizier. Er hoffte es noch immer.

Couzens antwortete eifrig und stramm: »Aye, aye, Sir.«

Auf der Trojan gab es neun Midshipmen, und Bolitho fragte sich mitunter, wie deren Leben später wohl verlaufen werde. Einige würden bis zum Flaggoffizier aufsteigen, andere dagegen vorher straucheln oder umkommen. Gewiß war unter ihnen auch die übliche Mischung von Tyrannen und echten Führernaturen, von Helden und Feiglingen.

Später, als die neue Wache schon unterhalb des Aufbaudecks gemustert wurde, rief einer der Ausgucksposten: »Boot in Sicht, Sir!« Dann nach einer kleinen Pause: »Der Kommandant!«

Bolitho warf rasch einen Blick nach unten auf das quirlende Durcheinander beim Antreten der neuen Wache. Der Kommandant hätte sich keinen ungünstigeren Augenblick aussuchen können.

Er rief hinunter: »Wahrschaut den Ersten Offizier! Fallreepsposten raus, dem Bootsmann Bescheid sagen!«

Gestalten flitzten in der Dunkelheit hin und her, und während die Marineinfanteristen schwerfällig zur Pforte stampften, ihre weißen, gekreuzten Brustriemen im schwachen Licht leuchtend, versuchten die Unteroffiziere, einigermaßen Ordnung in den Haufen der neuen Wache zu bringen.

Ein Boot tauchte auf aus dem Dunst und näherte sich rasch dem Fallreep; im Bug stand bereits kerzengerade der Bootsgast, Bootshaken bei Fuß.

»Boot ahoi?«

Sofort kam die laut gerufene Antwort des Bootssteurers: »Trojan!« Ihr Herr und Meister war also zurück. Der Mann, der – nächst Gott – jede Stunde und Minute ihres Lebens bestimmte, der belohnen, auspeitschen, befördern oder hängen konnte, entsprechend der jeweiligen Situation. Er weilte jetzt wieder unter ihnen, in ihrer überfüllten kleinen Welt.

Als Bolitho sich umsah, war Ordnung, wo vor kurzem noch Chaos zu herrschen schien. Die Seesoldaten waren angetreten, das Gewehr geschultert, kommandiert von dem sympathischen Hauptmann der Marineinfanterie d’Esterre, der mit seinem Leutnant vor der Front stand, anscheinend unempfindlich gegen Wind und Kälte.

Die Bootsmannsmaaten der Wache waren zur Stelle und feuchteten bereits ihre Lippen an, hatten die silbernen Pfeifen klar zum Seitepfeifen; Cairns, die Augen überall, wartete darauf, den Kommandanten zu empfangen.

Der Bootshaken griff in die Fallreepskette, die Gewehre wurden mit lautem Griff präsentiert, die Bootsmannsmaaten pfiffen ihren schrillen Salut. Des Kommandanten Kopf und Schultern tauchten auf, und während er seinen Zweispitz in Richtung Achterdeck hin lüftete, ließ er zugleich einen prüfenden Blick über das ganze Schiff schweifen, über seinen Kommandobereich.

Zum Ersten Offizier sagte er kurz: »Kommen Sie nach achtern, Mr. Cairns«, dann nickte er den Marineinfanteristen zu. »Gut gemacht, d’Esterre.« Er wandte sich abrupt um und fuhr Bolitho an: »Wieso sind Sie hier, Mr. Bolitho?«

Während er noch sprach, ertönten acht Glasen[3] von der Back her.

»Sie sollten doch schon abgelöst sein?«

Bolitho sah ihm ins Gesicht. »Ich nehme an, Mr. Probyn ist aufgehalten worden, Sir.«

»So, das nehmen Sie an?«

Der Kommandant hatte eine scharfe Stimme, die wie ein Entermesser in das Heulen des Windes und das Knarren der Stengen schnitt.

»Die Verantwortung des Wachegehens beginnt mit der Ablösung.« Er blickte in Cairns’ unbeteiligtes Gesicht. »Das sollte doch nicht so schwer zu begreifen sein, denke ich.«

Sie gingen nach achtern, und Bolitho atmete tief und langsam aus.

Leutnant George Probyn, sein unmittelbarer Vorgesetzter, kam öfter zu spät zur Wachablösung, übrigens auch zum sonstigen Dienst.

Er war ein Sonderling in der Messe, mürrisch, streitsüchtig, verbittert, aber aus welchem Grund, das hatte Bolitho noch nicht herausgefunden. Er sah ihn die Steuerbord-Schanztreppe heraufkommen, vierschrötig, unordentlich, sich argwöhnisch umschauend.

Bolitho trat ihm entgegen. »Die Wache ist achtern angetreten, Mr. Probyn.«

Probyn wischte sich das Gesicht und schneuzte dann in ein rotes Taschentuch.

»Ich nehme an, der Captain hat nach mir gefragt?« Selbst diese paar Worte klangen bei ihm feindselig.

»Er hat gemerkt, daß Sie nicht da waren.« Bolitho roch Branntwein und fügte hinzu: »Aber er hat sich damit zufriedengegeben.«

Probyn winkte den wachhabenden Steuermannsmaaten herbei und sah flüchtig das Logbuch durch, das dieser ihm unter eine Laterne hielt.

Bolitho sagte müde: »Keine besonderen Vorkommnisse. Ein Seemann ist verletzt und ins Lazarett gebracht worden. Er fiel vom Bootsdavit.«

Probyn schnaubte verächtlich. »Schande.« Er klappte das Buch zu. »Sie sind abgelöst.« Finster brütend blickte er Bolitho nach und fügte drohend hinzu: »Wenn ich glauben müßte, daß mir jemand hinter meinem Rücken Schwierigkeiten macht …«

Bolitho drehte sich um und verbarg seinen Ärger. Meckere nicht, du Trunkenbold, die machst du dir schon selbst, dachte er.

Probyns grobe, polternde Stimme folgte ihm auf der Schanztreppe, als dieser seiner Wache die üblichen Anweisungen gab.

Während er leichtfüßig den Niedergang hinablief und dann weiterging zur Messe, überlegte Bolitho, was der Kapitän wohl mit Cairns zu besprechen hatte.

Einmal unter Deck, umfing ihn die Trojan und hüllte ihn ein mit ihrer ganzen Vertrautheit. Die Gerüche nach Teer, Hanf, Bilge und Menschenleibern gehörten genauso zu ihr wie ihre Bordwände.

Mackenzie, der dienstälteste Messesteward, begegnete ihm mit aufmunterndem Lächeln. Er hatte seinen Dienst als Toppsgast aufgeben müssen, als er aus der Takelage fiel und infolge eines dreifachen Beinbruches fürs Leben zum Krüppel wurde. Mackenzie genoß es, von jedermann bemitleidet zu werden, und seine Verletzung hatte ihm immerhin zu einer so bequemen Stellung verholfen, wie manch einer auf des Königs Schiffen sie sich gewünscht hätte.

»Ich habe noch etwas Kaffee, Sir, kochend heiß!« Er hatte denselben weichen, schottischen Akzent wie Cairns. Bolitho schälte sich aus seinem Überrock und reichte diesen samt seinem Hut dem Schiffsjungen Logan, der den Messestewards half.

»Nehme ich gern, danke.«

Die Offiziersmesse, die sich am Heck über die ganze Schiffsbreite erstreckte, war voll ziehender Rauchschwaden und roch nach dem ihr eigentümlichen Gemisch von Wein und Käse. Die großen Heckfenster ganz achtern waren schon in Dunkelheit getaucht, nur beim Überholen sah man gelegentlich ein Licht auftauchen wie einen verirrten Stern.

Kleine Kabinen säumten die Seiten, Verschlägen ähnlich, kaum mehr als Schutzwände, die man abriß, wenn das Schiff gefechtsklar gemacht wurde: winzige Schutzhäfen der Privatsphäre, die des Eigners Koje, Seekiste und ein bißchen Platz zum Aufhängen der Garderobe enthielten. Außer den Arrestzellen waren dieses die einzigen Räume des Schiffes, in denen man einmal für sich allein sein konnte.

Direkt darüber, in einer Kabine, die in ihrer Größe etwa dem Gesamtraum der übrigen Offizierskabinen entsprach, lag das Reich des Kommandanten. Im selben Deck waren auch der Erste Offizier und der Navigationsoffizier untergebracht, damit sie in der Nähe des Achterdecks und des Ruders logierten.

Aber hier in der Messe verbrachten sie alle gemeinsam ihre wachfreie Zeit, diskutierten ihre Probleme, ihre Hoffnungen, ihre Befürchtungen, nahmen ihre Mahlzeiten ein und tranken ihren Wein: die sechs Wachoffiziere, zwei Marineinfanterieoffiziere, der Navigationsoffizier, der Zahlmeister und der Arzt. Die Messe war sicherlich sehr eng für so viele Menschen, aber verglichen mit den Quartieren unter der Wasserlinie, in denen die Kadetten, Fähnriche, Deckoffiziere und Spezialisten wohnten – ganz zu schweigen von der Unterbringung der gemeinen Seeleute und Seesoldaten – war sie geradezu luxuriös.

Dalyell, der Fünfte Offizier, saß mit gekreuzten Beinen, die Füße auf einem kleinen Faß, unter den Heckfenstern. In einer Hand hielt er eine lange Tonpfeife.

»George Probyn war wohl wieder blau, Dick?«

Bolitho grinste. »Es wird allmählich zur Gewohnheit.«

Sparke, der Zweite Offizier, ein Mann mit strengem Gesicht und einer münzgroßen Narbe auf der Wange, sagte: »Ich würde ihn vor den Captain bringen, wenn ich hier der Senior wäre.« Er wandte sich wieder seinem zerlesenen Zeitungsblatt zu und fuhr dann heftig fort: »Diese verdammten Rebellen scheinen zu machen, was sie wollen! Zwei weitere Transporte überfallen, genau vor den Nasen unserer Fregatten, eine Brigg aus dem Hafen verschleppt, durch eins ihrer verdammten Kaperschiffe! Wir gehen viel zu sanft mit ihnen um!«

Bolitho setzte sich und streckte die Beine aus, dankbar, nicht mehr dem kalten Wind ausgesetzt zu sein, obgleich er wußte, daß die Illusion von Wärme bald wieder schwinden würde.

Sein Kopf sackte vornüber, und als Mackenzie den Kaffee brachte, mußte er ihn an der Schulter wachrütteln.

In geselligem Schweigen entspannten sich hier die Offiziere der Trojan und taten, wozu sie Lust hatten. Einige lasen, andere schrieben nach Hause – Briefe, die möglicherweise den Empfänger nie erreichten.

Bolitho trank den Kaffee und bemühte sich, den Schmerz in seiner Stirn zu ignorieren. Gedankenversunken strich er sich die widerspenstige Stirnlocke vom rechten Auge. Das schwarze Haar verdeckte eine bläuliche Narbe, die Ursache seines Kopfschmerzes. Er hatte sie sich während seiner Zeit auf der Destiny geholt. Oft kam es wieder über ihn, in Augenblicken wie diesem: die Illusion von Sicherheit, dann das plötzliche Getrappel von Füßen, das Schlagen und Hacken von Waffen. Der heftige Schmerz, das Blut, die jähe Nacht …

Es klopfte an die äußere Tür, und kurz darauf sagte Mackenzie zu Sparke, dem dienstältesten anwesenden Offizier: »Verzeihung, Sir, der Fähnrich der Wache ist hier.«

Dieser stapfte so vorsichtig in die Messe, als schritte er über kostbare Seidenteppiche.

Sparke fragte kurz angebunden: »Was gibt es, Mr. Forbes?«

»Der Erste Offizier bittet alle Offiziere um zwei Glasen[4] in die Kommandantenkabine.«

»Ist gut.« Sparke wartete, bis die Tür geschlossen war. »Jetzt werden wir’s erfahren, meine Herren. Vielleicht gibt es Wichtiges für uns zu tun.«

Anders als Cairns konnte der Zweite Offizier das plötzliche Aufleuchten seiner Augen nicht verbergen: Dies bedeutete Beförderung, Prisengeld oder auch nur die Aussicht auf eigenen Einsatz, anstatt immer nur von anderen darüber zu hören.

Er sah Bolitho an. »Ich rate Ihnen, ein reines Hemd anzuziehen. Der Captain scheint Sie besonders im Auge zu haben.«

Bolitho streifte beim Aufstehen mit dem Kopf den Decksbalken. Zwei Jahre war er jetzt an Bord, aber außer bei einem Essen in der Kajüte zur Feier der Wiederindienststellung des Schiffes in Bristol hatte er die soziale Barriere zum Kommandanten nie überschritten: einem strengen, verschlossenen Mann, der trotzdem eine geradezu unheimliche Kenntnis von allem zu besitzen schien, was sich in den verschiedenen Decks seines Schiffes abspielte.

Dalyell klopfte sorgfältig seine Pfeife aus und bemerkte: »Vielleicht mag er dich wirklich, Dick.«

Raye, der Leutnant der Marineinfanterie, gähnte.

»Ich glaube nicht, daß er überhaupt menschlicher Regungen fähig ist.«

Sparke eilte in seine Kabine, es widerstrebte ihm, in die Kritik an der Obrigkeit hineingezogen zu werden. »Er ist der Kommandant, er bedarf keiner menschlichen Regungen«, stellte er abschließend fest.

Kapitän zur See Gilbert Brice Pears las die letzte Eintragung im Logbuch und setzte dann seine Unterschrift darunter, die von Teakle, seinem Sekretär, hastig getrocknet wurde.

Draußen, außerhalb der Heckfenster, schienen Hafen und Stadt weit entfernt und ohne die geringste Verbindung zu dieser geräumigen, hell erleuchteten Kajüte. Sie war geschmackvoll möbliert, und im angrenzenden Speiseraum war schon zum Abendessen gedeckt. Foley, der Kommandantensteward, stand, adrett in blauem Jackett und weißer Hose, bereit, seinen Herrn zu bedienen.

Kapitän Pears lehnte sich im Sessel zurück und betrachtete die Kabine, jedoch ohne sie wirklich zu sehen. Nach zwei Jahren kannte er sie genau.

Er war zweiundvierzig Jahre alt, wirkte aber älter. Untersetzt, ja sogar vierschrötig, war er genauso mächtig und beeindruckend wie die Trojan selbst.

Er hatte Gerede unter seinen Offizieren gehört, das schon fast auf Unzufriedenheit hinauslief. Der Krieg – als solcher mußte er jetzt wohl angesehen werden – schien sie zu übergehen. Pears war jedoch Realist und wußte, daß die Zeit noch kommen würde, da er und sein Schiff so eingesetzt werden würden, wie es beabsichtigt gewesen war, als Trojans stattlicher Kiel vor genau neun Jahren zum ersten Mal Salzwasser gekostet hatte. Kaperschiffe und Stoßtruppenunternehmen waren eine Sache, wenn aber die Franzosen offen in den Konflikt eingriffen und ihre Linienschiffe in diesen Gewässern operierten, war dies etwas ganz anderes; die Trojan und ihre schweren Schwesterschiffe konnten dann ihren wahren Wert zeigen.

Er blickte auf, als der vor der Kajütstür Posten stehende Seesoldat die Hacken zusammenknallte; einen Augenblick später trat der Erste Offizier ein.

»Ich habe in der Messe Bescheid sagen lassen, Sir. Alle Offiziere werden pünktlich hiersein.«

»Gut.«

Pears brauchte seinen Steward kaum anzusehen, und schon war dieser bei ihm und schenkte zwei große Gläser Bordeaux ein.

»Tatsache ist, Mr. Cairns«, Pears hob prüfend ein Glas gegen die nächste Lampe, »daß man einen Krieg auf die Dauer nicht defensiv führen kann. New York ist ein Brückenkopf in einem Land, das täglich rebellischer wird. In Philadelphia liegen die Dinge kaum anders. Stoßtruppunternehmen, Geplänkel, wir verbrennen hier ein Fort, dort einen Außenposten, sie fangen einen unserer Transporte ab oder locken eine Patrouille in den Hinterhalt. Was ist New York? Eine belagerte Stadt. Eine Oase auf Zeit. Wie lange noch?«

Cairns schwieg und nippte an seinem Bordeaux, in Gedanken mehr bei den Geräuschen außerhalb der Kajüte, dem Heulen des Windes in der Takelage, dem Ächzen der Stengen und Rahen.

Pears sah seinen abwesenden Gesichtsausdruck und lächelte in sich hinein. Cairns war ein guter Erster Offizier, vielleicht der beste, den er je hatte. Er hätte ein eigenes Kommando verdient – eine Chance, die sich nur im Kampf bot.

Aber Pears war sein Schiff wichtiger als alle Hoffnungen oder Träume. Der Gedanke, daß Sparke dann als Erster Offizier nachrücken würde, schien ihm wie eine Drohung. Sparke war ein tüchtiger Offizier und widmete sich ganz seinen Geschützen und sonstigen Aufgaben, aber er war phantasielos. Pears dachte an Probyn und verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Dann war da noch Bolitho, der Vierte Offizier, seinem Vater sehr ähnlich, obwohl er bisweilen seine Pflichten ein wenig zu leicht nahm. Aber seine Leute schienen ihn zu mögen, und das bedeutete in diesen harten Zeiten eine ganze Menge.

Pears seufzte. Bolitho fehlten immer noch ein paar Monate am einundzwanzigsten Lebensjahr. Man brauchte erfahrene Offiziere, um ein Linienschiff wie dieses zu handhaben. Er rieb sich das Kinn und verbarg dadurch seinen Gesichtsausdruck. Vielleicht war es bei Bolithos Jugend nur sein eigenes, fortgeschrittenes Alter, das ihm diese Bedenken eingab.

Er fragte abrupt: »Sind wir in jeder Beziehung seeklar?«

Cairns nickte. »Aye, aye, Sir. Ich könnte wohl noch ein weiteres Dutzend Leute gebrauchen, wegen der Krankheitsausfälle und Verletzungen, aber das ist heutzutage ja eine geringe Differenz.«

»Das ist es in der Tat. Ich habe erlebt, daß Erste Offiziere graue Haare bekamen, weil sie einfach nicht genügend Leute anwerben, pressen oder kaufen konnten, um überhaupt die Anker zu lichten.«

Zur festgesetzten Zeit wurden die Türen geöffnet, und die Offiziere der Trojan – mit Ausnahme der Kadetten und der jüngeren Deckoffiziere – traten nacheinander ein.

Es war kein alltägliches Ereignis, daher dauerte es einige Zeit, bis alle einen Sitzplatz auf den Stühlen gefunden hatten, die Foley und Hogg, des Kommandanten Bootssteurer, eifrig herbeischafften. Diese Verzögerung gab Pears Gelegenheit, die Offiziere und ihre verschiedenen Reaktionen zu beobachten.

Probyn, durch einen Steuermannsmaat abgelöst, hatte ein gerötetes Gesicht und auffällig glänzende Augen. Sein Auftreten wirkte zu betont sicher, um echt zu sein.

Sparke, etwas gedrechselt und steif in seiner strengen Korrektheit, und der junge Dalyell saßen neben dem sechsten und jüngsten Leutnant, Quinn, der vor fünf Monaten noch Fähnrich gewesen war.

Dann kam Erasmus Bunce, der Navigationsoffizier, Sailingmaster oder auch kurz »Master«, eine beeindruckende Erscheinung. Hinter seinem Rücken nannte man ihn »den Weisen«. Über ein Meter achtzig groß, breitschultrig, mit widerspenstigem, grauem Haar, hatte er tiefliegende, klare Augen, die so schwarz waren wie seine buschigen Brauen. Seine Spezialkenntnisse der Seemannschaft – schon manche hervorragende Persönlichkeit war durch diese geprägt worden – hatten auch ihm ihren Stempel aufgedrückt. Pears beobachtete, wie der Master sich unter den Decksbalken rechtzeitig bückte, und war beruhigt. Bunce genoß zwar seinen Rum, aber die Trojan liebte er wie eine Frau. Unter seiner navigatorischen Führung hatte sie wenig zu fürchten.

Dann kam Molesworth, der Zahlmeister, ein blasser, nervös blinzelnder Mann, was Pears auf eine unaufgedeckte Unterschlagung zurückführte, und Thomdike, der Schiffsarzt, der stets zu lächeln schien. Er wirkte mehr wie ein Schauspieler als wie ein Knochenflicker. Die beiden leuchtend scharlachroten Flecken auf der Backbordseite waren die Offiziere der Marineinfanterie, d’Esterre und Leutnant Raye: Nicht gebeten waren all die Deckoffiziere und Spezialisten, der Bootsmann, der Stückmeister, die Steuermannsmaaten und die Zimmerleute. Pears kannte sie alle vom Sehen und Hören und kannte vor allem ihre Fähigkeiten.

Probyn fragte laut flüsternd: »Mr. Bolitho scheint noch nicht hierzusein?«

Pears runzelte die Stirn über Probyns Scheinheiligkeit, die er verachtete.

Cairns schlug vor: »Ich werde jemandem nach ihm schicken, Sir.«

Die Tür öffnete sich und schloß sich ebenso rasch wieder, und Pears sah Bolitho auf einen freien Stuhl neben d’Esterre schlüpfen.

»Aufstehen, der Offizier dort!« Pears’ sonst so schroffe Stimme klang beinahe freundlich. »Ah, Sie sind es, Sir. Endlich.«

Bolitho stand still, nur sein Oberkörper glich die langsamen Bewegungen des Schiffes aus.

»Ich … Ich bitte um Entschuldigung, Sir.« Er sah das Grinsen auf Dalyells Gesicht, als Wasser unter seinem Rock hervor auf den mit schwarzweiß kariertem Segeltuch bespannten Boden tropfte.

Pears sagte milde: »Ihr Hemd scheint noch ziemlich feucht zu sein, Sir!« Dann wandte er sich um und befahl dem Steward: »Foley, etwas Segeltuch unter diesen Stuhl. Solche Dinge lassen sich nur schwer hier draußen ersetzen.«

Bolitho setzte sich mit einem Plumps und wußte nicht, ob er zornig sein oder sich gedemütigt fühlen sollte.

Er vergaß jedoch Pears’ ätzenden Ton und sein Hemd, das er soeben klitschnaß von der Leine genommen hatte, als Pears mit wieder normalem Tonfall sagte: »Wir segeln beim ersten Tageslicht, meine Herren. Der Gouverneur von New York hat eine Information erhalten, daß der von Halifax erwartete Konvoi wahrscheinlich angegriffen wird. Es ist ein großer Geleitzug, von zwei Fregatten und einem Kanonenboot gesichert. Bei diesem Wetter könnten die Schiffe jedoch leicht die Fühlung verlieren, wobei dann das eine oder andere Fahrzeug zur Standortbestimmung dichter unter Land geht.« Seine Finger schlossen sich zur Faust. »Das ist dann der Augenblick, in dem der Feind zuschlägt.«

Bolitho lehnte sich vor und ignorierte das unangenehme Gefühl der Nässe um seine Körpermitte.

Pears fuhr fort: »Ich sagte schon zu Mr. Cairns, man kann keinen defensiv geführten Krieg gewinnen. Wir haben die Schiffe, aber der Feind hat die Ortskenntnis und kann dadurch kleinere, schnellere Fahrzeuge einsetzen. Um einigermaßen Aussicht auf Erfolg zu haben, müssen wir sämtliche Nachschubwege offenhalten, jedes verdächtige Schiff durchsuchen oder aufbringen, unsere Anwesenheit ständig fühlen lassen. Kriege werden schließlich nicht mit Idealen, sondern mit Pulver und Blei gewonnen, und das hat der Feind nicht in ausreichendem Maße. Noch nicht.«

Finster blickte er in die Runde.

»Der Konvoi aus Halifax bringt in erster Linie Pulver und Munition, auch Geschütze für die Garnisonen von Philadelphia und New York. Wenn auch nur ein einziges von diesen Schiffen mit seiner wertvollen Ladung in die Hände des Feindes fällt, würden wir die Auswirkungen in den kommenden Monaten zu spüren bekommen.« Er sah sich noch einmal mit scharfem Blick um. »Irgendwelche Fragen?«

Sparke stand als erster auf.

»Wieso wir, Sir? Natürlich bin ich äußerst dankbar, auslaufen zu können und im Dienste meines Vaterlandes eingesetzt zu werden, um einiges von dem …«

Pears sagte kurz: »Bitte kommen Sie zur Sache.«

Sparke schluckte, seine Narbe auf der Wange wurde plötzlich blutrot. »Warum werden keine Fregatten geschickt, Sir?«

»Weil nicht genug da sind, nie genug da sein werden. Auch ist der Admiral der Ansicht, daß eine Demonstration der Stärke not tut.«

Bolitho sah auf, als hätte er etwas überhört. Es war der Tonfall des Kommandanten. Lag darin nicht eine leise Andeutung von Zweifel? Er blickte seine Kameraden an, entdeckte aber nichts in ihren Mienen. Vielleicht bildete er es sich nur ein oder suchte einen Ausgleich für sein vorheriges Unbehagen über Pears’ Ton.

Dieser fuhr fort: »Was diesmal auch passieren mag, wir dürfen in unserer Wachsamkeit nie nachlassen. Dieses Schiff ist unsere Hauptverantwortung, das müssen wir uns immer wieder vor Augen halten. Der Krieg ändert sich von Tag zu Tag. Wer gestern noch ein Verräter war, ist morgen ein Patriot. Ein Mann, der dem Ruf seines Vaterlandes gefolgt ist«, ein schiefes Lächeln in Sparkes Richtung, »wird jetzt Loyalist genannt, als ob er und nicht die anderen Ausgestoßene seien.«

Der Navigationsoffizier, Master Erasmus Bunce, stand langsam auf; seine Augen starrten unter einem Decksbalken hervor wie zwei glühende Kohlen. »Ein Mann muß handeln, wie ihm sein Gewissen befiehlt, Sir. Gott allein wird entscheiden, auf wessen Seite in diesem Konflikt das Recht ist.«

Pears lächelte ernst. Der alte Bunce war bekannt für seinen Glauben. In Portsmouth hatte er einmal einen Seemann ins Wasser geworfen, nur weil dieser in der Trunkenheit ein Spottlied gesungen hatte, in dem der Name des Herrn verunglimpft wurde.

Bunce stammte aus Devonshire und war im Alter von neun oder zehn Jahren zur See gegangen. Angeblich war er jetzt über sechzig, aber Pears konnte sich nicht vorstellen, daß er jemals jung gewesen war.

Er sagte: »Genauso ist es, Mr. Bunce. Das war gut gesagt.«

Cairns räusperte sich und blickte den Master nachsichtig an. »War das alles, Mr. Bunce?«

Dieser setzte sich mit verschränkten Armen. »Es sei genug.«

Der Kapitän gab Foley ein Zeichen. Dafür brauchte es keine Worte, dachte Bolitho.

Gläser und Weinkrüge wurden herumgereicht, dann sagte Pears: »Einen Toast, meine Herren. Auf das Schiff, und Verderben allen Feinden des Königs!«

Bolitho beobachtete Probyn, der nach einem der Krüge Ausschau hielt, da sein Glas bereits wieder leer war.

Er dachte an des Kommandanten Stimme, als dieser von dem Schiff gesprochen hatte. Gott Gnade George Probyn, wenn der die Trojan eines Tages auf Dreck setzen sollte, weil er ein Glas zuviel getrunken hatte.

Bald darauf war die Versammlung beendet, und Bolitho stellte fest, daß er dem Kommandanten noch immer nicht nähergekommen war – außer durch eine Rüge.

Er seufzte. Als Fähnrich glaubte man, das Leben eines Offiziers spiele sich in einer Art Himmel ab. Aber vielleicht hatten selbst Kommandanten immer noch jemanden, den sie fürchten mußten, obgleich es im Augenblick schwierig war, dies zu glauben.

Die Morgendämmerung kam, das Wetter wurde ein wenig sichtiger, aber nicht viel. Der Wind blies weiter steif aus Nordwest, und das Schneegestöber wurde bald von Nieselregen abgelöst, der sich mit dem verwehten Gischt mischte und Decks wie Takelage matt glänzen ließ.

Bolitho hatte mehr Auslaufmanöver erlebt, als er sich erinnern konnte, aber noch immer bewegte und erregte ihn die Art und Weise, wie sich jeder in die Kommandokette einfügte und dadurch das Schiff zu einem lebenden Wesen machte, zu einem vollkommenen Instrument.

Jeder Mast hatte seine eigene Abteilung von Seeleuten, vom flinken Toppsgast bis zu den älteren, weniger beweglichen Männern, die an Deck die Brassen und Fallen bedienten. Wenn die Kommandos und Pfeifsignale ertönten und die Seeleute dann durch die Luken und durch die Niedergänge an Deck strömten, schien es unglaublich, daß der Rumpf der Trojan, der von der Galionsfigur bis zur Heckreling siebzig Meter maß, so viele Menschen enthielt. Jedoch in Sekundenschnelle formierten sich diese dahinhuschenden Gestalten von Männern, Jungen und Seesoldaten zu Gruppen, deren jede von Unteroffizieren mit Stentorstimmen aufgerufen und kontrolliert wurde.

Das große Ankerspill drehte sich bereits, genau wie sein Zwilling ein Deck tiefer, und unter seinen Füßen meinte Bolitho des Schiffes Erregung zu verspüren, seinen Eifer, Kurs auf die offene See zu nehmen.

Genau wie die Seeleute und Seesoldaten waren auch die Offiziere auf ihren Stationen. Probyn war, unterstützt von Dalyell, auf der Back für den Fockmast verantwortlich. Sparke hatte das Kommando auf dem oberen Batteriedeck und war für den Großmast verantwortlich, der die eigentliche Stärke des Schiffes ausmachte – mit allen seinen Spieren, Stagen, der Leinwand und den Meilen von Tauwerk, die zusammen dem Schiffsrumpf darunter erst Leben gaben. Der Besanmast endlich wurde in erster Linie von den Achtergasten bedient, wo der junge Quinn mit dem Marineleutnant und dessen Leuten Cairns’ Anordnungen ausführte.

Bolitho blickte hinüber zu Sparke: kein einfacher Vorgesetzter, aber es war ein Vergnügen, ihn bei der Arbeit zu beobachten. Er beherrschte seine Seeleute, seine Brassen und Fallen mit der Erfahrung und Leichtigkeit eines begabten Dirigenten.

Eine plötzliche Stille schien sich über das Schiff zu legen; Bolitho sah den Kommandanten achtern zur Schanzreling gehen, dem alten Bunce zunicken und dann leise mit dem Ersten Offizier sprechen.

Hoch über dem Deck stand der rote Wimpel vom Flaggenkopf des Großtopps so steif, als wäre er aus Metall; eine gute Segelbrise. Aber Bolitho war froh, daß nicht er, sondern der Kommandant und der alte Bunce die Trojan durch das Gewimmel der vor Anker liegenden Schiffe manövrieren mußten.

Er blickte zu den anderen Fahrzeugen hinüber und überlegte, wer ihr Auslaufen wohl beobachtete: Freunde, vielleicht auch Spione, die bereits in diesem Augenblick Washingtons Agenten benachrichtigten? Ein weiteres Kriegsschiff geht Anker auf, wohin? Zu welchem Zweck?

Seine Gedanken und seine Aufmerksamkeit wandten sich den Vorgängen an Bord zu, schweiften dann aber wieder ab. Wenn die Hälfte von dem, was er gehört hatte, stimmte, dann wußte der Feind möglicherweise besser Bescheid als sie selbst. Es sollte viele lose Zungen in New Yorks Zivil- und Militärkreisen geben.

Cairns hob sein Sprachrohr. »Mehr Tempo, Mr. Tolcher!«

Tolcher, der vierschrötige Bootsmann, zückte seinen Rohrstock und brüllte: »Mehr Leute ans Spill! Hiev rund, Jungs!« Er starrte zum Shantymann mit seiner Fiedel hinüber. »Spiel, du Hurensohn, oder ich steck dich in den Kettenkasten!«

Von der Back kam der Ruf: »Anker ist kurzstag, Sir!«

»Enter auf! Toppsegel los!« Cairns’ Stimme verfolgte und trieb sie. »Vorsegel los!«

Dem Wind ausgesetzt, riß sich das Segeltuch los und fing an, wild zu schlagen, während die Seeleute auf den schwankenden Rahen kämpften, um es bis zum richtigen Augenblick unter Kontrolle zu bringen.

Sparke schrie: »An die Brassen! Mr. Bolitho, stellen Sie den Namen dieses Mannes fest!«

»Aye, Sir!«

Bolitho lächelte in den Nieselregen hinein. Es war immer dasselbe mit Sparke: »Stellen Sie den Namen dieses Mannes fest!« In Wirklichkeit war da niemand, dessen Name festzustellen gewesen wäre, aber es erweckte bei den Seeleuten den Eindruck, als habe Sparke seine Augen überall.

Wieder die rauhe Stimme vom Bug: »Kette ist auf und nieder, Sir!«

Befreit vom Grund – der erste Anker war bereits auf und gekattet –, drehte die Trojan heftig zur Seite, ihre Segel füllten sich mit einem Donner wie von Kanonenschüssen, während die Männer an den Brassen zogen, die Körper nach hinten gebogen, bis sie fast das Deck berührten.

Rund und rund schwangen die Rahen, die Segel füllten sich eins nach dem anderen, wurden hart und steif wie Brustpanzerplatten, bis das Schiff seine Flanken in den Gischt tauchte, die Leegeschützpforten bereits zeitweilig unter Wasser.

Bolitho rannte von einer Gruppe zur anderen, sein Hut saß schief, seine Ohren dröhnten vom Quietschen der Blöcke und vom Donnern der Segel, und über allem hing der ächzende Chor der vibrierenden Stagen und Wanten.

Als er pausierte, um Atem zu holen, sah er die Umrisse von Sandy Hook querab vorbeigleiten. Ein paar Menschen warteten in einer kleinen Yawl und winkten, als das große Schiff fast über ihnen stand.

Er hörte wieder Cairns’ Stimme: »Bramsegel setzen!«

Bolitho blickte zum Großtopp hinauf, mit seinen unter dem Druck der Segel gebogenen Rahen. Seeleute und Fähnriche wetteiferten miteinander beim Setzen weiterer Segel. Als er sich wieder nach achtern wandte, sah er Bunce, die Hände auf dem Rücken, das Gesicht wie aus Stein gemeißelt, während er sein Schiff und die Segelstellung musterte. Dann nickte er langsam. Dies kam so nahe an Zufriedenheit heran, wie Bolitho es noch nie bei ihm gesehen hatte.

Er stellte sich vor, welchen Eindruck die Trojan wohl vom Land aus machte: die Galionsfigur – der grimmig blickende trojanische Krieger –, Bugspriet und Klüverbaum, ja die ganze Back vom Gischt übersprüht; der massige, schwarz und lederfarben glänzende Rumpf, der die vorbeizischenden weißen Schaumkronen widerspiegelte, als wolle er sich vom Lande reinwaschen.

Probyns grobe Stimme ertönte von vorn, wo er seinen Leuten beim Katten des zweiten Ankers Anweisungen zuschrie. Er würde nach diesem Geschrei viel trinken müssen, dachte Bolitho.

Er blickte nach achtern, hinweg über seine eigenen Seeleute, die teils an den Stagen herunterrutschten, teils aus den Wanten herabsprangen und unten vor dem Mast wieder antraten. Dann sah er, daß der Kommandant ihn beobachtete. Über das halbe Schiff hinweg, durch all das Gewühl und Gehaste, schienen ihre Blicke sich zu begegnen.

Verlegen griff Bolitho nach oben und rückte seinen Hut zurecht; er meinte, ein kleines, aber nachdrückliches Nicken des Kommandanten bemerkt zu haben.

Aber die träumerische Stimmung war bald wieder verflogen, die Trojan ließ keinem Zeit für Phantastereien.

»An die Brassen! Klar zum Wenden!«

Sparke rief: »Mr. Bolitho!«

Bolitho legte die Hand an den Hut. »Aye, Sir, ich weiß. Notieren Sie den Mann da!«

Als das Wendemanöver zu des Kommandanten und auch zu Bunces Zufriedenheit ausgeführt, das Schiff über Stag gegangen und auf den neuen Kurs eingesteuert war, hatten Regen und Dunst das achteraus liegende Land bereits verschluckt.

II Ein verwegener Plan

Leutnant Richard Bolitho ging zur Luvseite des Achterdecks und griff in das Mattennetz, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Über und vor ihm türmten sich die gewaltigen Pyramiden der Segel, beeindruckend selbst für jemanden, der diesen Anblick gewohnt war. Besonders nach all der Enttäuschung und Mühe der letzten viereinhalb Tage, dachte er.

Der Wind, der ihnen von Sandy Hook aus so vielversprechend gefolgt war, hatte innerhalb weniger Stunden gedreht, als habe der Teufel selbst die Hand im Spiel. Ohne Warnung sprang er um, schralte, frischte auf oder flaute ab, so daß keine Wache ohne wenigstens ein Alle-Mann-Manöver auskam, um Segel zu reffen, zu bergen oder wieder zu setzen. Ein ganzer Tag war nötig gewesen, um die gefürchteten Nantucketbänke zu umrunden. Die See kochte unter dem Klüverbaum, als würde sie von der Hölle angeheizt.

Als sie dann allmählich wieder vier, ja fünf Knoten Fahrt machten, hatte der Wind erneut gedreht und aufgefrischt. In den heulenden, orgelnden Böen kämpften die atemlosen Seeleute mit dem von der Nässe steifen Segeltuch, packten mit schwieligen Fäusten hinein, um zu reffen, während die stampfende Welt um sie herum, hoch über dem Deck, verrückt spielte.

Aber jetzt war es anders. Die Trojan steuerte beinahe rechtweisend Nord, die Rahen hart angebraßt, um soviel wie möglich vom Wind auszunutzen, und auf ihrer Leeseite schäumte das Wasser als Beweis ihrer beachtlichen Fahrt.

Bolitho ließ den Blick über das obere Batteriedeck schweifen. Unter der Schanzreling lungerten die Leute herum und schwatzten wie immer, wenn sie gespannt darauf warteten, was der Koch ihnen wohl zu Mittag vorsetzen würde. Aus dem fettigen Qualm, der aus dem Kombüsenschornstein quoll und nach Lee davonzog, schloß Bolitho, daß es wieder einmal das Gebräu aus gehacktem Salzfleisch war, herausgekratzt aus den verkrusteten Fässern, gemischt mit feucht gewordenem, glitschigem und muffigem Schiffszwieback, Hafermehl und den Resten vom Vortag. George Triphook, den Chefkoch, haßte jeder mit Ausnahme einiger Speichellecker, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen schien er diesen Haß und die gegen ihn laut werdenden Flüche von Herzen zu genießen,

Bolitho spürte plötzlich Heißhunger; aber ihm war klar, daß das Essen, das ihn nach seiner Ablösung in der Messe erwartete, kaum besser sein würde als dieser Fraß hier.

Dann dachte er an seine Mutter und an das große graue Haus in Falmouth. Er ging ein paar Schritte zur Seite und ließ Couzens stehen, seinen aufmerksamen Midshipman, der ihm sonst auf Schritt und Tritt folgte.

Wie furchtbar der Schlag gewesen war! In der Marine riskierte man sein Leben wohl ein dutzendmal am Tage auf die verschiedenste Weise: durch Krankheit, Schiffbruch, Kanonendonner. Die Wände der Kirche in Falmouth hingen voller Gedenktafeln mit den Namen und Taten von Seeoffizieren – Söhnen der Stadt Falmouth –, die mit ihren Schiffen ausgelaufen waren, um nie mehr zurückzukommen.

Aber seine Mutter! Bei ihr dachte man nicht an so etwas. Sie war immer jugendlich und voller Leben gewesen, immer bereit, einzuspringen und die Verantwortung für die Familie auf ihre Schultern zu laden, die Verantwortung für Haus und Land, wenn der Vater, Kapitän James Bolitho, nicht daheim war. Und das war oft der Fall.

Bolitho und sein Bruder Hugh, seine beiden Schwestern Felicity und Nancy, sie alle hatten die Mutter geliebt, jeder auf seine Weise. Als er von der Destiny nach Hause gekommen war, noch an den Folgen seiner Verwundung leidend, hätte er sie nötiger gebraucht denn je. Aber sie war tot. Er konnte sich auch jetzt noch nicht vorstellen, daß sie nicht daheim war in Falmouth, die See unter Pendennis Castle mit einem Lachen beobachtete, das ansteckend wirkte und alle Niedergeschlagenheit beiseite fegte.

Eine Erkältung, hatten sie gesagt, dann ein plötzliches Fieber. In wenigen Wochen war es zu Ende gewesen.

Er konnte sich seinen Vater vorstellen, jetzt, in diesem Augenblick: Captain James, unter diesem Namen kannte und schätzte man ihn daheim. Er war ein angesehener Friedensrichter, seit er seinen Arm verloren hatte und aus dem aktiven Dienst ausscheiden mußte. Das Haus im Winter, die schlammigen, heckengesäumten Wege, auf denen die Neuigkeiten immer etwas verspätet eintrafen, die Landbevölkerung war viel zu beschäftigt mit ihren eigenen Sorgen, mit der Kälte, der Nässe, verlorenen Tieren, räubernden Füchsen und anderem, um sich für den weit entfernten Krieg zu interessieren. Aber sein Vater tat es. Wie ein Kriegsschiff, das bei Carrick Roads vor Anker lag, so brütete er vor sich hin und sehnte sich nach dem Leben, das ihn ausgestoßen, ihn zurückgewiesen hatte. Nun war er vollständig allein.

Für ihn muß es tausendmal schwerer sein, dachte Bolitho traurig.

Cairns erschien an Deck und kam nach einem prüfenden Blick auf Kompaß und Schiefertafel, wo der Steuermannsmaat der Wache seine halbstündlichen Eintragungen machte, herüber zu Bolitho.

Dieser berührte grüßend seinen Hut. »Sie liegt stetig, Sir. Nord bei Ost, voll und bei.«

Cairns nickte. Er hatte sehr helle Augen, die durch einen hindurchsehen konnten.

»Wir müssen wohl reffen, wenn es noch mehr auffrischt. Trotzdem lassen wir soviel wie möglich stehen.«

Er hielt die Hand über die Augen, als er jetzt nach Backbord blickte, denn obwohl die Sonne nicht schien, war die Strahlung intensiv und blendete. Es war schwierig, die Grenze zwischen Himmel und Wasser zu erkennen, die See wirkte wie eine Wüste ruhelosen, grau glänzenden Stahls. Aber der Abstand zwischen den einzelnen Brechern war jetzt größer, sie rollten unter Trojans fettem Heck hinweg, lüfteten es und verursachten noch mehr Schlagseite. Gelegentlich brach sich einer von ihnen an der Luvpforte, bevor er zum jenseitigen Horizont weiterrollte.

Sie hatten den gesamten Seeraum für sich allein, denn seit sie Nantucket gerundet und Kurs auf die Einfahrt der Massachusetts Bay genommen hatten, waren sie nicht nur frei von Land, sondern auch von der örtlichen Küstenschiffahrt. Irgendwo in Luv, rund sechzig Meilen entfernt, lag Boston. An Bord der Trojan konnten sich nicht wenige noch an die Stadt erinnern, wie sie einmal gewesen war, bevor aus Spannung und Verbitterung offener Haß und Blutvergießen wurde.

Die Bucht selbst mieden alle außer den verwegensten britischen Seefahrern. Hier waren einige der fähigsten Kaperkapitäne beheimatet, und Bolitho überlegte nicht zum ersten Male, ob man wohl den mächtigen Zweidecker bereits belauerte.

Cairns, der einen Wollschal um den Hals geschlungen hatte, fragte: »Was hältst du vom Wetter, Dick?«

Bolitho sah zu, wie die Leute auf ihrem Weg zur Kombüse aus den Niedergängen und dann wieder zurück in ihre überfüllten Mannschaftsräume strömten.

Er ging die Wache selbst, da Bunce streng darauf achtete, daß die Mittagsbreite genommen wurde, was bei dieser schwachen Sicht mehr ein routinemäßiges Ritual war. Die Fähnriche standen bereits mit ihren Sextanten in der Hand in einer Linie da, und die Steuermannsmaaten überwachten ihre Fortschritte beziehungsweise den Mangel daran.

Bolitho sagte ruhig: »Wir bekommen Nebel.«

Cairns starrte ihn verblüfft an. »Ist das eine deiner keltischen Halluzinationen, Dick?«

Bolitho lächelte. »Der Master sagt Nebel.«

Der Erste Offizier seufzte. »Dann gibt es auch Nebel. Obgleich ich bei diesem halben Sturm keine Chance dafür sehe.«

»An Deck!«

Sie blickten hoch, ein wenig achtlos geworden nach ihrer tagelangen Einsamkeit. Bolitho sah die verkleinerte Gestalt des Ausgucks im Großtopp, eine winzige Figur vor den tiefhängenden Wolken. Schon das Hinaufschauen machte ihn schwindlig.

»Segel in Luv querab, Sir!«

Die beiden Offiziere ergriffen ihre Fernrohre und kletterten in die Wanten. Aber es gab nichts zu sehen als Wellenkämme – steiler, drohender in der Vergrößerung –, dazu das intensive, grellweiße Licht.

»Soll ich den Kommandanten informieren, Sir?«

Bolitho beobachtete Cairns’ Gesicht, als er wieder an Deck sprang. Er konnte beinahe seinen Verstand arbeiten sehen. Ein Segel! Was bedeutete es? Kaum anzunehmen, daß es befreundet war. Selbst ein verirrter und verwirrter Handelsschiffkapitän mußte die Gefahren hier draußen kennen.

»Noch nicht.« Cairns blickte vielsagend nach achtern. »Er wird die Meldung ohnehin gehört haben und erst darauf reagieren, wenn wir dazu bereit sind.«

Bolitho dachte darüber nach. Ein weiterer Aspekt von Kapitän Pears, den er noch nicht in Betracht gezogen hatte. Aber es stimmte: Er rannte niemals gleich an Deck wie manche Kapitäne, voller Angst um ihr Schiff, ungeduldig auf Antworten wartend, die noch nicht zu geben waren.

Er betrachtete nochmals Cairns’ ruhiges Gesicht. Es stimmte natürlich auch, daß Cairns solches Vertrauen rechtfertigte.

Bolitho fragte: »Soll ich nach oben und selbst nachsehen?«

Cairns schüttelte den Kopf. »Nein, ich gehe. Der Kommandant will zweifellos einen vollständigen Bericht.«

Bolitho sah zu, wie der Erste Offizier aufenterte, das Teleskop wie ein Gewehr über die Schulter geschlungen; hinauf und immer höher kletterte er hinauf, über die Marspüttings, vorbei an dem bezogenen Schwenkgeschütz auf dem Mars zur Bramstenge und weiter zur Bramsaling, wo der Ausguck so ruhig saß wie auf einer bequemen Dorfbank.

Er wandte den Blick von Cairns ab. Das war etwas, woran er sich nie gewöhnen, was er nie überwinden konnte: sein Schauder vor der Höhe. Jedesmal, wenn er nach oben mußte, was glücklicherweise selten der Fall war, überkam in dieselbe Übelkeit, fürchtete er abzustürzen.

Er sah eine vertraute Figur auf dem Batteriedeck unter der Schanzreling und fühlte etwas wie Zuneigung zu dem großen plumpen Mann in kariertem Hemd und flatternder weißer Hose. Ein weiteres Verbindungsglied zu der kleinen Destiny: Stockdale, der muskulöse Preisboxer, den er von einem marktschreierischen Schausteller befreit hatte, als er und sein entmutigter Rekrutierungstrupp versucht hatten, Freiwillige für das Schiff anzuwerben.

Stockdale war der geborene Seemann. So stark wie fünf Männer, hatte er niemals diese Kraft mißbraucht und war gutmütiger als alle anderen an Bord. Der wütende Schausteller hatte ihn mit einer Kette geprügelt, weil er den Kampf gegen einen Mann Bolithos verloren hatte. Der Betreffende mußte wohl irgendwie gemogelt haben, denn Bolitho hatte danach niemals mehr eine Niederlage Stockdales erlebt.

Er sprach sehr wenig, und wenn, dann nur mit Anstrengung, da seine Stimmbänder in zahllosen Faustkämpfen auf fast allen Jahrmärkten des Landes grausam zugerichtet worden waren.

Als er ihn damals gesehen hatte, entblößt bis zum Gürtel, mit tiefen Platzwunden auf dem Rücken, war es zuviel gewesen für Bolitho. Er fragte Stockdale, ob er sich anwerben ließe, und dieser hatte nur genickt, seine Sachen genommen und war ihm auf das Schiff gefolgt.

Wenn Bolitho jemals Hilfe brauchte oder in Not geriet, dann war Stockdale immer zur Stelle. Wie beispielsweise, als Bolitho den schreienden Wilden mit einem Entermesser auf sich losstürzen sah, das er einem sterbenden Seemann entrissen hatte. Später hatte man ihm erzählt, wie Stockdale die sich zurückziehenden Seeleute gesammelt, ihn selbst aufgehoben und wie ein Kind in Sicherheit gebracht hatte.

Nach Bolithos Versetzung auf die Trojan nahm er zunächst an, daß dies das Ende ihrer seltsamen Beziehung war; aber irgendwie hatte Stockdale es geschafft, auch an Bord zu kommen.

Er krächzte: »Eines Tages, Sir, werden Sie Captain, und ich schätze, daß Sie dann einen Bootssteurer brauchen.«

Bolitho lächelte jetzt zu ihm hinunter. Stockdale konnte beinahe alles, spleißen, reffen und auch steuern, aber hauptamtlich war er Geschützführer an einem von den dreißig Achtzehnpfündern in der oberen Batterie. Und natürlich in Bolithos Abteilung.

»Was halten Sie davon, Stockdale?«

Des Mannes zerschlagenes Gesicht zeigte ein breites Grinsen. »Die beobachten uns, Mr. Bolitho.«

Er sah die mühsamen, krampfhaften Bewegungen des Kehlkopfes. Die scharfe Seeluft machte es für Stockdale besonders schwer.

»Meinen Sie?«

»Aye.« Es klang sehr bestimmt. »Die wissen, was wir Vorhaben und wo wir hin wollen. Ich möchte sogar wetten, daß da noch ein zweites Fahrzeug ist, außer Sichtweite für uns.«

Cairns’ Füße prallten aufs Deck, als er mit der Leichtigkeit eines Fähnrichs eine Pardune heruntergerutscht kam.

Er sagte: »Ein Schoner, nach Art der Takelung zu schließen. Ich kann ihn kaum ausmachen, es ist so verdammt diesig.« Dann, als er das Lächeln sah, mit dem Bolitho auf Stockdales Äußerung reagiert hatte, fragte er: »Kann auch ich den Witz hören?«

»Stockdale meinte, daß wir von dem anderen Schiff beobachtet werden, Sir. Es hält sich wohlweislich in Luv.«

Cairns öffnete den Mund, um zu widersprechen, sagte dann aber: »Ich fürchte, er hat recht. Statt einer Demonstration der Stärke führt die Trojan das Rudel möglicherweise erst hin zu der Beute, die wir beschützen sollen.« Er rieb sich das Kinn. »Verdammt, das ist ein bitterer Gedanke. Ich habe einen Angriff auf die üblichen Nachzügler eines Konvois erwartet, von achtern, bevor die Geleitfahrzeuge eingreifen können.«

»Trotzdem«, er rieb sich das Kinn noch stärker als vorher, »werden sie einen Angriff fast in Reichweite unserer Breitseiten nicht riskieren.«

Bolitho erinnerte sich an Pears’ Stimme bei der Besprechung, an die Andeutung eines Zweifels. Sein Verdacht hatte jetzt konkretere Formen angenommen.

Cairns blickte nach achtern, hinweg über die beiden Rudergänger, die breitbeinig an dem großen Doppelrad standen, ihre Augen bald auf dem Kompaß, bald auf den Segeln.

»Es ist nicht viel, was wir dem Kommandanten erzählen können, Dick. Er hat seine Befehle. Die Trojan ist keine Fregatte. Wenn wir mit sinnlosen Manövern Zeit verlieren, werden wir wahrscheinlich den Konvoi nicht mehr rechtzeitig erreichen. Sie haben ja die perverse Art des Windes hier selbst erlebt.«

Bolitho sagte ruhig: »Denken Sie daran, was der Weise gesagt hat: Nebel.« Er beobachtete, wie das Wort bei Cairns einschlug. »Wenn wir beidrehen müssen, nützen wir niemandem etwas.«

Cairns betrachtete ihn nachdenklich. »Das hätte ich voraussehen müssen. Diese Kaperkapitäne wissen mehr über die örtlichen Verhältnisse als irgendeiner von uns.« Er lächelte etwas schief: »Außer dem Weisen, natürlich.«

Leutnant Quinn kam an Deck und tippte grüßend an seinen Hut. »Ich soll Sie ablösen, Sir.«

Er blickte von Bolitho zu der prallen Masse der Segel auf. Bolitho beabsichtigte, nur rasch zum Essen hinunterzugehen, besonders da er auf Pears’ Reaktion gespannt war. Für den Sechsten Offizier jedoch – achtzehn Jahre alt – bedeutete dies eine endlose Zeit furchteinflößender Verantwortung, denn er hatte das Geschick der Trojan in Händen, so lange er als Wachhabender auf dem Achterdeck auf und ab ging.

Bolitho wollte ihn beruhigen, nahm dann aber davon Abstand. Quinn mußte lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Jeder Offizier, der sich in brenzligen Situationen auf die Hilfe anderer verließ, war später auch in wirklichen Krisen hilflos.

Er folgte Cairns zum Niedergang, während Quinn sich mit dem Überprüfen des Logbuchs und beim Kontrollieren des Kompasses wichtig tat.

Cairns sagte leise: »Er wird später ganz in Ordnung sein, braucht halt noch Zeit.«

Bolitho saß an der Messetafel, während Mackenzie und Logan sich bemühten, das Mahl einigermaßen ansehnlich erscheinen zu lassen: Salzfleisch, zusammengekocht mit Haferbrei, dazu Schiffszwieback mit schwarzem Sirup und so viel Käse, wie jeder vertragen konnte. Außerdem gab es eine großzügige Zuteilung von Rotwein, der mit dem letzten Konvoi in New York angekommen war. Nach Probyns gerötetem Gesicht zu urteilen, hatte er ihm fleißig zugesprochen.

Jetzt starrte er hinüber zu Bolitho und fragte heiser: »Was war das für ein Gequatsche über Segel? Da ist wohl jemand nervös geworden und hat Gespenster gesehen, was?« Er lehnte sich vor und sah sich beifallheischend um. »Mein Gott, wie hat sich die Flotte verändert!«

Bunce saß am Kopf der Tafel und sprach mit tiefer Stimme, ohne aufzublicken: »Es ist nicht Sein Werk, Mr. Probyn. ER hat keine Zeit für die Gottlosen.«

Sparke sagte unbeteiligt: »Dieser verdammte Fraß ist Schweinefutter. Ich werde einen neuen Koch auftreiben, bei erster Gelegenheit. Dieser Schurke müßte am Strick baumeln, anstatt uns zu vergiften.«

Das Schiff holte stark über, und alle hielten Teller und Gläser fest, bis es sich wieder aufrichtete.

Bunce zog seine Uhr aus der Tasche und sah nach, wie spät es war. Bolitho fragte ruhig: »Der Nebel, Mr. Bunce – wird er kommen?«

Thomdike, der Schiffsarzt, hörte es und lachte schallend.

»Wirklich, Erasmus! Nebel, bei diesem Wind!«

Bunce ignorierte ihn. »Morgen. Wir müssen beidrehen, hier ist’s zu tief zum Ankern.« Er schüttelte sein mächtiges Haupt. »Zeit verloren, nicht wieder einzuholen.«

Er hatte genug gesprochen und erhob sich. Als er an Probyns Stuhl vorbeikam, sagte er mit seiner tiefen Stimme: »Dann werden wir Zeit haben und sehen, wer nervös wird.«

Probyn schnippte mit den Fingern nach mehr Wein und rief ärgerlich: »Er wird auf seine alten Tage wunderlich!« Er lachte laut, aber niemand stimmte ein.

Hauptmann d’Esterre musterte Probyn kalt. »Wenigstens scheint er den Herrn auf seiner Seite zu haben. Was haben Sie vorzuweisen?«

In seinem Salon darüber saß Kapitän Pears an der großen Tafel, eine Serviette in sein Halstuch gesteckt. Er hörte den Ausbruch des Gelächters aus der Messe und sagte zu Cairns: »Sie sind fröhlicher auf See, nicht?«

Cairns nickte. »Scheint so, Sir.« Er beobachtete Pears’ gebeugten Kopf und wartete auf dessen Schlußfolgerungen oder Gedanken.

Dieser sagte: »Allein oder im Verband, der Schoner ist eine Bedrohung für uns. Wenn wir doch wenigstens als Sicherung eine Brigg oder ein Kanonenboot hätten, um uns diese Wölfe vom Hals zu halten. So wie es jetzt ist …« Er hob die Schultern.

»Darf ich einen Vorschlag machen, Sir?«

Pears schnitt sich ein kleines Stück Käse ab und betrachtete es zweifelnd.

»Deswegen sind Sie ja wohl zu mir gekommen.« Er lächelte. »Schießen Sie los.«

Cairns legte die Hände auf den Rücken, seine Augen glänzten sehr hell.

»Sie haben des Masters Meinung über die Aussicht auf Nebel gehört, Sir?«

Pears nickte. »Ich kenne diese Gewässer auch. Nebel ist hier häufig genug, obwohl ich es nicht wagen würde, im Augenblick eine so bestimmte Voraussage zu machen.« Er schob den Käse beiseite. »Aber wenn der Master so etwas sagt, trifft es gewöhnlich zu.«

»Wir werden also beigedreht liegen müssen, bis es wieder aufklart.«

»Ich habe das schon in Betracht gezogen. Verdammter Mist!«

»Aber genau das wird auch unser Bewacher tun, einmal zu seiner eigenen Sicherheit, dann auch aus Angst, uns zu verlieren. Der Nebel könnte unter Umständen ein Bundesgenosse für uns sein.« Er zögerte, um des Kommandanten Reaktion zu ergründen. »Wenn wir ihn aufspüren und entern …« Er schwieg.