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Für Fans und Neueinsteiger: »Zimt« kommt zurück – der Bestseller geht in die zweite Staffel! Vickys Leben wird von jetzt auf gleich durcheinandergewirbelt. Denn sie und ihr Freund Konstantin haben die einzigartige Gabe, in Parallelwelten zu wechseln. Oberstes Gebot dabei: Unauffällig bleiben! Doch wie soll das gehen, wenn sich ihre Doppelgänger beim heimlichen Knutschen erwischen lassen? Oder Parallelwelt-Oma fast die Küche von Mums Bed & Breakfast abfackelt? Noch während Vicky und Konstantin versuchen, das magische Chaos in den Griff zu bekommen, wird es für ihre Liebe gefährlich. Denn jemand stellt ihnen eine fiese Falle, und bald sind ihre Ausflüge in die Parallelwelt alles andere als Zuckerschlecken … Zimtschneckenduft, Parallelwelten und eine spannende Jagd — ein neues Abenteuer für Vicky und Konstantin, das süßeste Pärchen der Jugendbuchgeschichte, beginnt! Du kennst die erste Staffel nicht? Macht nichts, die Bände sind auch unabhängig voneinander lesbar! Alle Bände der Zimt-Serie: Staffel I, Band 1: Zimt und weg Staffel I, Band 2: Zimt und zurück Staffel I, Band 3: Zimt und ewig Staffel I, Sequel: Zimt und verwünscht Staffel II, Band 1: Zimt – Auf den ersten Sprung verliebt Staffel II, Band 2: Zimt – Zwischen den Welten geküsst Staffel II, Band 3: Zimt – Für immer von Magie berührt
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Seitenzahl: 419
Dagmar Bach
Zimt
Auf den ersten Sprung verliebt Teil eins
FISCHER E-Books
»Vicky! Tür zu!«
Schnaufend stemmte ich mich von innen gegen die Haustür. Ich hatte mich beeilt, ins Bed & Breakfast zu kommen, aber der warme Frühlingswind war an diesem Morgen mindestens genauso schnell gewesen. Ich rieb meine Augen, die eine Ladung Blütenstaub abbekommen hatten, und schüttelte meine Haare. Ein paar Blätter hatten sich in ihnen verfangen und fielen jetzt auf den Boden.
»Musst du so viel Schmutz mit hereinbringen?« Meine Oma, die gerade die Treppe herunterkam, sah mich missbilligend an.
O nein. Meiner Großmutter war ich so früh am Morgen noch nicht gewachsen, schließlich war es erst kurz vor neun an einem Samstag. Normalerweise kuschelte ich mich zu dieser Uhrzeit noch einmal wohlig in die Kissen. Leonard aus meiner Klasse hatte gestern Abend Geburtstag gefeiert, und mein Freund Konstantin hatte mich spät nach Hause gebracht. Zu spät für meine Verhältnisse. Aber Claire hatte sich um Mitternacht als Ariana Grande verkleidet und ihm ein Ständchen gesungen, und es wäre definitiv mehr Willenskraft erforderlich gewesen, die Party zu verlassen, als ich aufbringen konnte.
Doch vorhin war ich aus einem phänomenalen Kuchentraum aufgewacht, vermutlich erzeugt von meinem knurrenden Magen. Der Geschmack hatte mir noch auf der Zunge gelegen und mich schließlich aus dem Bett getrieben, in der Hoffnung auf drei Tassen Tee und zwei von Mums leckeren Croissants.
Leider hatte ich unser Haus verlassen vorgefunden. Von Mum und Dad war keine Spur zu sehen, und unser Kühlschrank war genauso leer wie der Akku meines Handys.
Also hatte ich mir schnell ein paar Klamotten übergestreift und war zwei Häuser weiter ins B&B meiner Mum gelaufen. Ursprünglich war es das Haus meiner Großeltern, die jetzt noch das Dachgeschoss bewohnten, doch Mum hatte es schon vor Jahren zu einer schnuckeligen und sehr beliebten Frühstückspension im britischen Stil umgewandelt. Mit Schwerpunkt auf Frühstück!
Ich pflückte mir noch ein verirrtes Blütenblatt von der Jacke und schnupperte in freudiger Erwartung. Mums Buffets waren legendär: Es gab die obligatorischen englischen Würstchen mit Bohnen, frisch gebackenen Croissants und Scones und Brot, diverse vegetarische Brotaufstriche, selbst gebeizten Lachs, Marmite, Lemon Curd, Eierspeisen und jede Menge aufgeschnittenes Obst – meine gesamte Klasse und die halbe Schule beneideten mich glühend um das B&B.
»Ist Mum in der Küche?«, fragte ich Oma, und plötzlich kreischte sie auf.
»Küche!«, rief sie aus und starrte mich an.
Ich starrte zurück, denn irgendwie kam sie mir noch merkwürdiger vor als sonst. Obwohl Oma schon über sechzig ist, hat sie einen ziemlich gewagten Kleidungsstil, und man weiß praktisch nie, welche Verrücktheit sie als Nächstes trägt. In ihrem Schrank hängt alles vom Funkenmariechen-Kostüm über Pannesamtkleidern bis hin zum Neoprenanzug. Doch an diesem Tag sah sie besonders unheimlich aus: Sie steckte von Kopf bis Fuß in einer Art schwarzem Zweiteiler, über dem sie eine fliederfarbene Schürze mit Spitzenrand trug. Eine Art Viktorianisches-Dienstmädchen-Look. Total abgefahren.
»Ja, Küche«, wiederholte ich vorsichtig. »Das ist dieser Raum am Ende des Flurs, in dem man Sachen kocht. Meist stehen ein Kühlschrank drin und ein Backofen und …«
Ich schnupperte wieder, diesmal allerdings irritiert. Was war denn das für ein Gestank? Gleichzeitig ertönte ein schrilles Fiepen durch den Flur.
»Ich habe die Madeleines vergessen!«, rief Oma in diesem Moment, machte auf dem Absatz kehrt, sprintete los und riss die Tür zur Küche auf. Graue Rauchschwaden schlugen uns entgegen.
Ich sauste hinter Oma her und hielt mir den Ärmel meines Pullis vor die Nase, weil mir schon nach Sekunden der Qualm in den Augen brannte. Von Mum war keine Spur zu sehen. Von offenen Flammen aber glücklicherweise auch nicht.
»Terrassentür und Fenster auf«, befahl ich, doch ich staunte, dass Oma bereits in voller Aktion war. In Notsituationen stand sie normalerweise eher herum und nörgelte.
Schon hatte sie den Backofen ausgeschaltet, und während ich die Fenster und Türen zur Veranda aufriss, zerrte sie einen Stuhl zu sich heran, stieg darauf und fummelte am Rauchmelder herum, der mit jeder Minute enervierender piepte.
»Der weckt uns noch die Gäste«, knurrte sie, »wie stellt man den nur aus?« Und als er sich nicht beruhigen ließ, riss sie das Ding kurzerhand samt Dübeln aus der Decke, so dass kleine Bröckchen Putz in alle Richtungen flogen.
Vorsichtshalber brachte ich mich auf der überdachten Terrasse in Sicherheit und schielte von da in Richtung Backofen. Vor lauter Qualm war nicht viel zu erkennen.
»Wo ist Mum? Und warum bist du eigentlich schon so früh auf?«
Normalerweise schlafen meine Großeltern bis mittags. Oder sie stehen so früh auf, dass sie morgens um acht schon wieder müde sind.
Oma grunzte. »Meg hat heute Vormittag einen Termin mit diesem Versicherungsfritzen. Hoffentlich denkt sie an die Gebäude- und Hausratversicherung. Das hier zeigt mal wieder, wie wichtig es ist, immer ausreichend versichert zu sein.«
Fast hätte ich meinen Mund nicht wieder zugekriegt. Was tat diese Frau hier, und was hatte sie mit meiner Oma gemacht? Hatte sich Opa neulich nicht fürchterlich aufgeregt, dass die Typen von der Versicherung alles Halsabschneider und Betrüger wären? Dabei war er es gewesen, der steif und fest behauptet hatte, der Schaden an seinem Kotflügel wäre von einem herabfallenden Tannenzapfen verursacht worden und nicht durch den massiven Betonpoller, gegen den er beim Rückwärtsfahren gesetzt hatte.
»Vicky, was ist denn passiert? Brennt es bei euch?«, ertönte da eine zarte Stimme hinter mir.
Ich wirbelte herum. Zwischen den beiden großen Rhododendren, die Mum als Sichtschutz zur Straße gepflanzt hatte, erschien das Gesicht unserer Nachbarin Frau Rabe.
Jeder normale Mensch hätte sich (und, wenn er nett war, auch mich) schon allein bei der Vermutung, dass meine Oma gerade die Küche abfackelte, in Sicherheit gebracht. Nicht so Frau Rabe. Die war so neugierig, dass sie trotz ihres hohen Alters und ihrer kaputten Knie in zwei flotten Sprüngen auf die Veranda hopste, mich zur Seite schob und versuchte, einen Blick in die Küche zu erhaschen.
»Die Feuerwehr kommt gleich«, rief sie zu Oma hinein. »Ich hab direkt dem Herbert Bescheid gegeben.«
»Was soll ich mit der Feuerwehr?«, rief Oma von drinnen. »Hier ist alles unter Kontrolle! Ich hab nur die Madeleines im Ofen vergessen.«
»Ja, ja. Alles unter Kontrolle«, plapperte Frau Rabe unbeirrt weiter. »Das denkt jeder. Der Kollege von meinem Schwiegersohn auch, der kam nachts heim – sternhagelvoll, wenn ihr mich fragt – und hat sich noch ’ne Pizza in den Ofen geschoben. Tja, und dann isser auf der Couch eingeschlafen, die mussten am Ende das ganze Haus evakuieren. Acht Parteien!«
In diesem Moment hörten wir Sirenen, die sich schnell näherten, und kurz darauf hielt ein Löschzug mit vier Wagen in unserer Straße. Motoren liefen, Autotüren knallten, und Befehle wurden gebellt.
Oma begann zu fluchen. »Die kommen mir nicht ins Haus!«
Frau Rabe neben mir stellte sich auf die Zehenspitzen und lehnte sich so weit über unser Verandageländer, dass ich sie vorsichtshalber an ihrer Steppweste festhielt, damit sie nicht darüberpurzelte.
»Vielleicht sollten wir ein bisschen aus dem Weg gehen«, schlug ich vor, doch sie hatte die Füße samt Gesundheitsschuhen fest in den Boden gestemmt und schüttelte so vehement den Kopf, dass ihre grauen Löckchen flogen.
»Aber hier ist es spannender«, raunte sie mir zu.
Tatsächlich kamen da schon ein paar Feuerwehrleute in kompletter Montur samt Atemschutz in den Garten gejoggt, den Schlauch im Anschlag.
»Weg vom Brandgeschehen!«, rief einer der Männer, während ein anderer wild gestikulierte und auch irgendwas sagte, doch ich verstand kein Wort.
»Die reden wie der große Typ aus diesem Sternen-Film, der mit der Maske«, sagte Frau Rabe. Ich überlegte noch, wen sie meinen könnte, da tauchte meine Oma im Türrahmen zur Küche auf.
Breitbeinig stand sie in der Öffnung wie eine Spinne, die ihr Netz bewachte, und plärrte: »Hier gibt es kein Brandgeschehen. Ihr könnt sofort wieder abrücken. Und wagt es bloß nicht, mit diesen Stiefeln in die Küche zu kommen, wir haben den Boden erst neu eingelassen!«
Jeder in unserem kleinen Ort kannte meine Großeltern und wusste, wie speziell sie waren. Aber selten hatte ich Oma so furchteinflößend erlebt wie jetzt gerade. Sie sah aus wie Medusa, die die Feuerwehrleute mit ihren bösen Blicken sofort zu Stein erstarren lassen wollte.
Und tatsächlich blieben die Männer verunsichert stehen und schielten zwischen dem im Hintergrund qualmenden Backofen und Oma hin und her. Als ob sie sich nicht sicher waren, worauf sie den Schlauch zuerst richten sollten.
»Wir haben unsere Anweisungen«, röchelte der eine aus seiner Maske heraus, und die anderen beiden grunzten zustimmend.
»Papperlapapp«, keifte Oma. »Ihr seid doch nur scharf darauf, irgendetwas zu löschen. Aber hier bestimme ich, was passiert!« Sie drehte sich in unsere Richtung und funkelte Frau Rabe an. »Und ich bestimme auch, wann der Herbert angerufen werden muss und wann nicht!«
Herbert war der Feuerwehrkommandant unserer Stadt, der Gott sei Dank gerade um die Ecke in den Garten kam. »Scheint wirklich alles in Ordnung zu sein. Ich war gerade kurz drinnen – ohne Schuhe!«, sagte er schnell mit einem Blick auf Oma. »Falscher Alarm. Beziehungsweise – gerade noch gutgegangen.«
»Sag ich doch«, schnauzte Oma.
»Das konnte ich ja nicht wissen!«, ereiferte sich Frau Rabe wieder, die ganz rote Wangen bekommen hatte. »Stellt euch mal vor, wenn es wirklich gebrannt hätte! Da zählt jede Minute! Ihr könnt froh sein, dass ihr so eine aufmerksame Nachbarin habt.«
Aus einem Reflex heraus legte ich einen Arm um sie und drückte ihre Schulter. »Sie haben das ganz richtig gemacht, Frau Rabe«, sagte ich tröstend. »Schließlich konnten Sie nicht wissen, dass es nur das Gebäck war.«
»Genau!«, erwiderte sie schnaufend und sah mich dankbar an.
Oma grummelte etwas Unverständliches und machte sich daran, die Feuerwehrleute von der Veranda zu schieben.
»Alles in Ordnung, ihr habt es ja gehört. Und jetzt husch, husch, weg mit euch!«
Die Männer murmelten noch etwas in ihre Atemschutzmasken, von dem ich sicher war, dass es nicht für unsere Ohren bestimmt war, verzogen sich aber, nachdem auch Herbert ihnen mit einer Geste zu verstehen gegeben hatte, dass ihr Auftrag hier erledigt war.
Es dauerte nicht lange, bis auf der Straße die Motoren der Einsatzfahrzeuge wieder gestartet wurden, und auch Frau Rabe trollte sich. Allerdings erst, nachdem ich ihr versprochen hatte, dass Mum sie bald zu Tee und Scones einladen würde, als Dankeschön für ihren Einsatz, und das schien sie zu versöhnen.
Wo blieb Mum nur? Und warum überließ sie den Versicherungskram nicht Dads Büro? Er war Anwalt, und Mum war heilfroh, solche Sachen bei ihm abladen zu können, seit sie wieder zusammengekommen waren.
Oma werkelte mittlerweile in der Küche, als ob nichts passiert wäre.
»Warum warst du eben so garstig zu den armen Feuerwehrleuten?«, fragte ich durch die offene Tür. »Ich dachte, der Herbert ist ein Kumpel von dir und Opa?«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich konnte nicht riskieren, dass die rausfinden, wer bei uns übernachtet«, meinte Oma und kramte unter der Spüle herum.
»Wieso? Wer übernachtet denn hier?«
Oma tätschelte mir die Schulter, als sie wieder an mir vorbei nach draußen schlüpfte und mit hektischen Bewegungen anfing, den Verandatisch abzuwischen.
»Am besten decken wir draußen, dann müssen die Gäste nicht in dieser Räucherkammer frühstücken«, sagte sie statt einer Antwort. »O Gott, ich glaub, ich hab was gehört oben. Los, schnell, Vicky. Ich reiche dir die Sachen aus der Küche, und du deckst den Tisch. Ah, Dietrich, da bist du ja.«
Erstaunt sah ich zu meinem Opa, der in die Küche kam. Genau wie meine Oma, die jetzt wie ein Wiesel zum Kühlschrank fegte, war auch er nicht wiederzuerkennen, denn er war komplett angezogen – und damit meine ich mit Stoffhose und Hemd. So ein Outfit hatte er zuletzt getragen, als meine Großeltern ihr altes Motorrad zum Schrottplatz gebracht haben. Letzte Ehre und so. Für Gäste, geschweige denn für uns, hatte er sich noch nie so fein gemacht.
Merkwürdig.
Und meine Oma – sie war selten so … effizient und überlegt in dem, was sie tat.
Wirklich merkwürdig. Hoffentlich hatte sie ihre Blutdrucktabletten nicht überdosiert.
»Dietrich, du musst sofort zu den Ludwigs fahren und frisches Gebäck holen, unseres ist verbrannt«, wies Oma ihn an. »Für sechs – ach, rechne lieber für acht Gäste.«
Ich wappnete mich, dass Opa gleich anfangen würde zu protestieren. Normalerweise rührte er keinen Finger für das B&B, weil Mum verantwortlich war, und er schaffte es immer, sich aus solchen Situationen herauszuquatschen. Ich sah mich in Gedanken schon wie eine Irre zur Bäckerei rennen, damit das mit dem Frühstück noch hinhaute. Doch Opa nickte nur knapp, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand.
Und das war mal richtig gruselig.
Oma drückte mir aus der offenen Tür ein vollgepacktes Tablett in die Hand, und ich begann, den Tisch zu decken, damit ich etwas zu tun hatte und sich meine Nerven wieder etwas beruhigen konnten.
Wie blöd, dass ich mein Handy zu Hause am Ladekabel gelassen hatte. Ich musste dringend Mum und Konstantin Bescheid geben, dass alles mit mir und im B&B in Ordnung war. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Frau Rabe ans Telefon hängen würde. Und dann käme es in unserer Kleinstadt innerhalb von Minuten zu einer Kettenreaktion, die kaum zu stoppen wäre. Ich tippte darauf, dass bald Gerüchte kursierten, wie Herbert unsere Gäste mit der Drehleiter vom brennenden Dach hatte holen müssen, bevor das B&B zu einem Häufchen Asche herunterbrannte und nur noch das Metallschild über dem Eingang mit den goldenen Krönchen übrig blieb. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Phantasie mit den Bewohnern unseres Ortes durchgehen würde.
Ich ließ den Tisch halb gedeckt und holte rasch das iPad aus der Küchenschublade, wo es ausnahmsweise ordentlich aufgeräumt war. Als ich Mum und Konstantin eine kurze Nachricht geschickt hatte, ging es mir schon besser. Aber nicht sehr lange.
»Vicky«, herrschte mich sofort Oma an. »Hör auf mit dem Gedaddel! Der Tisch deckt sich nicht von allein.«
Ich stöhnte. »Wie viele Gäste sind es gleich?«, fragte ich.
»Sechs.«
Ich holte die Teller aus dem Schrank und begann, sie zu verteilen.
»Warum deckst du denn für sieben?«
»Weil ich auch noch nicht gefrühstückt habe?« Ich unterdrückte ein Augenrollen. Das war doch total klar. Schließlich war ich genau deshalb hergekommen.
»Das wirst du schön bleiben lassen!«
Erstaunt sah ich meine Oma an. »Wie bitte?«
»Ich hab doch gesagt, dass die Band nicht gestört werden will.«
»Ich will ja nicht stören, ich will nur frühstücken! Und welche Band überhaupt?«
»Frühstücken kannst du auch in der Küche.«
Sprachlos starrte ich meine Oma an. Jetzt war sie völlig durchgedreht. Bis vor einem halben Jahr hatte ich im B&B gewohnt. Und jeden einzelnen Tag hier gefrühstückt. Seit ich mit Mum und Dad zwei Häuser weiter lebte, machte ich das immer noch ganz oft.
Tja, bis heute, offensichtlich.
Oma war zwischenzeitlich wieder ins Kücheninnere verschwunden und hielt mir jetzt erneut das Tablett hin, diesmal mit verschiedenen exotischen Marmeladen, einer Schüssel mit Honigwaben und Schälchen mit diversen Aufstrichen.
»Wir stellen alles auf den Tisch, statt ein Buffet anzurichten, das wird hoffentlich in Ordnung sein. Oh, und hier sind die Schilder. Nix vertauschen, hörst du?«
Ich sah auf die Kärtchen, die sie mir in die Hand gedrückt hatte.
Belugalinse-Balsamico-Aufstrich
Erdnuss-Dattel-Streichcreme
Mandel-Rucola-Paprika-Pesto
Seit wann hatte Mum denn solche Aufstriche? Und hatte sie die Zettel selbst gestaltet? Auf dem Tisch dekoriert sahen sie richtig hübsch aus.
Opa war mittlerweile auch wieder zurück, samt Gebäck für eine halbe Kompanie. Ich war gerade dabei, die letzten Schälchen zu arrangieren, als ein schlanker Mann in Jeans und Shirt in der Küche auftauchte. Offenbar gehörte er zu den Übernachtungsgästen. Seine Haare waren halblang, und er trug einen Hipsterbart, der fast sein gesamtes Gesicht bedeckte, schaute allerdings nicht ganz so hip, sondern ziemlich misstrauisch.
»Guten Morgen! Haben Sie gut geschlafen?« Oma umschwirrte unseren Gast mit tausend Fragen. »Tee? Kaffee? Es tut mir schrecklich leid, es hat ein kleines Missgeschick mit dem Gebäck gegeben, aber das Frühstück steht schon auf der Terrasse bereit. Dort sitzt man schön windgeschützt.«
Herrje, hoffentlich war Mum bald wieder da. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Oma sich richtig danebenbenahm. Heute hatte sie schon so lange einen Lauf in Sachen Normalverhalten, dass sicher ganz bald der Absturz kam.
Doch der Gast achtete nicht auf Oma, sondern ging nur nervös zwischen Küche und Terrasse hin und her und sah dabei aus, als wäre er vom Ordnungsamt persönlich. Er wirkte steif und angespannt, obwohl er total leger gekleidet war. Sofort war ich froh, dass ich mir beim Tischdecken so große Mühe gegeben hatte.
»Die Band kommt gleich runter, ich wollte nur sehen, ob Sie auch … entsprechend vorbereitet sind. Und diskret«, sagte er, und bei seinem letzten Wort starrte er mich unverwandt an. »Denk nicht mal dran, dein Handy zu benutzen. Keine Fotos, keine Videos, keine Tonaufnahmen. Am besten gibst du es mir. Bevor wir nachher abreisen, bekommst du es wieder.« Er hielt mir abwartend seine ausgestreckte Hand hin.
Ich war gerade dabei, mir ein Croissant zu sichern, das nicht mehr in den Brotkorb gepasst hatte, doch ich erstarrte in meiner Bewegung.
»Wie meinen Sie denn das?«
Er durchbohrte mich mit seinem Blick. »Du lässt sie in Ruhe, ja? Keine Autogrammwünsche, keine Handyfotos, nix. Ansonsten verklagen dich die Porters.«
Ich schluckte. Irgendwie war ich komplett im falschen Film, denn ich wusste überhaupt nicht, wovon er da sprach.
»Wie heißt die Band noch mal?«
»Vicky, jetzt reicht’s aber!« Oma schob mich vor sich her in die Küche. »Hol mir noch eine Flasche Orangensaft aus dem Keller, dann nimm dir was zu essen und verkrümele dich irgendwohin.«
Grummelnd ging ich in den Keller. Was für eine Band denn bitte schön? Mum hätte mir doch längst erzählt, wenn spannende Gäste im B&B abgestiegen wären, das tat sie immer. (Nicht, dass das jemals passiert wäre, aber trotzdem.)
Zurück in der Küche schnappte ich mir einen Teller für mein Croissant und das Familienglas Schokocreme und setzte mich demonstrativ auf die Eckbank in der Küche. Erst mal was essen, ich war schon ganz zittrig. Sollten Oma und der Typ doch machen, was sie wollten.
Während ich mir mein Hörnchen fingerdick bestrich, hörte ich Stimmen von der Terrasse. Am Tisch draußen hatten mittlerweile zwei Frauen und drei Männer Platz genommen. Von hier aus konnte ich nicht viel von ihnen erkennen, außer, dass sie zerknautschte Klamotten trugen und offensichtlich noch nicht die Kraft gefunden hatten, sich zu kämmen.
»Kaffee«, murmelte eine Frau wie ein Mantra. »Gebt mir Kaffee!«
Okay, das war also die Band? Fünf müde Erwachsene mit Frisuren wie Tiffy aus der Sesamstraße?
Ich holte mir noch ein Brötchen, doch als ich mir eine Tasse aus dem Schrank nehmen wollte, stutzte ich. Seit wann waren die Küchenmöbel so dunkel? Lag das am Rauch? Normalerweise waren die Fronten in einem hellen Grau lackiert, aber heute sahen sie irgendwie anders aus. Überhaupt hatte Mum umgeräumt. Sie hatte mir zwar schon erzählt, dass sie einiges ändern wollte – nur in so kurzer Zeit?
Ein flaues Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit. Und das lag nicht am überzuckerten Frühstück, das ich gerade eingeschoben hatte.
Draußen auf der Veranda lachten die Gäste, und Oma umschwirrte sie wie eine gute Fee, die es allen recht machen wollte.
Was passierte hier? Wer waren diese Leute? Und warum war Oma so … unomahaft?
Ich ging zum Küchenschrank und nahm das iPad aus der Schublade, das ich dort wieder verstaut hatte, zum Glück, sonst hätte es der merkwürdige Typ noch entdeckt. Ich verzog mich damit ins Wohnzimmer, wo man mich von der Terrasse aus nicht sehen konnte. Der Hipster erschien mir so unberechenbar, dass er mir das Tablet bestimmt aus der Hand reißen würde, wenn er mich damit erwischte.
Mit fliegenden Fingern gab ich in die Suchmaschine Porters ein.
Über drei Millionen Ergebnisse.
What???
Ich ließ mich aufs Sofa sinken und scrollte nach unten. Tatsächlich. Zwei Frauen und drei Männer. Ich entdeckte diverse Alben, die allesamt an mir vorbeigegangen waren, doch am meisten beeindruckten mich die Aufnahmen von ihren Live-Auftritten. Die fünf füllten Hallen und Arenen! Zigtausende von Menschen waren bei denen auf den Konzerten.
Ich fragte mich gerade ernsthaft, auf welchem Planeten ich lebte. Da hatten die eine riesige Fanbase, zwei ihrer Lieder waren Top-Twenty-Titel – und fast eine Million folgten ihnen auf Instagram.
Und sie wohnten bei uns im B&B !
Ich sah mich um. Ganz aufmerksam, zum ersten Mal an diesem Morgen. Bisher war ich ja quasi nur draußen auf der Veranda gewesen. Aber wäre meiner Oma nicht das Missgeschick mit den verbrannten Madeleines passiert, wäre es mir vielleicht viel eher aufgefallen.
Wobei, da hätte es bei mir eigentlich schon klingeln müssen. Meine Oma konnte noch nicht mal Pfannkuchen backen, geschweige denn Madeleines!
Die Unterschiede lagen im Detail.
Mum hatte das hier eingerichtet – daran hatte ich keinen Zweifel. Aber während bei uns am großen Panoramafenster Vorhänge aus rotem und dunkelgrünem Samtstoff hingen, waren diese hier cremefarben. Genau wie die Polster der Couch. Kein großflächiges Blumenmuster wie bei uns zu Hause, sondern alles einen Tick zurückhaltender.
Und auch meine Großeltern waren nicht dieselben.
Genau in diesem Moment stieg mir ein Zimtschneckengeruch in die Nase, als ob er mir beweisen wollte, dass ich recht hatte. Und mir wurde klar, dass ich überhaupt nicht in meiner eigenen Welt war, sondern mich in einer Parallelwelt befand, in der ich nie zuvor gewesen war.
Das passierte mir nicht zum ersten Mal. Ganz und gar nicht. Und so verflixt aufregend und supergeheim diese Fähigkeit war, sie erforderte höchste Konzentration. Denn von jetzt auf gleich in den Körper seines anderen Ichs zu springen und sich in der anderen fremden Welt zurechtfinden, das war nicht so einfach. Deswegen waren es auch denkbar schlechte Voraussetzungen, wenn man diesen Sprung schlichtweg – verschlief.
Und genau das musste mir passiert sein. Ich hatte mich nach dem Aufwachen bereits in dieser anderen Welt befunden und es noch nicht mal gemerkt.
Kein Wunder, dass ich von Kuchen geträumt hatte.
Und mit dieser Erkenntnis sprang ich zurück nach Hause.
Wo ich – wie der Zufall so wollte – am Küchentisch des B&B landete. In einer Küche, die nicht wegen verbrannter Madeleines verqualmt war, sondern genauso aussah, wie ich sie in Erinnerung hatte.
»Vicky, Schatz, ist alles in Ordnung? Du bist so ruhig heute Morgen.«
Eine bekannte Stimme drang zu mir, und ich sah auf. Meine Mutter stand vor mir, in der Hand einen Teller mit frisch aufgeschnittenen Früchten, und blickte mich besorgt an.
Eine Welle der Erleichterung schlug über mir zusammen.
Ich, Victoria King, war wieder zu Hause.
In meiner eigenen Welt, in meinem eigenen Körper.
»Alles in Ordnung, Mum«, sagte ich und lächelte. »Ich war nur kurz mit den Gedanken … woanders. Aber jetzt bin ich ganz bei dir. Und hab solchen Hunger!«
»Pauline, du hörst mir überhaupt nicht zu!«, sagte ich und knuffte sie liebevoll in die Seite.
Meine beste Freundin warf mir einen strengen Blick über den Rand ihres Buches zu. »Stimmt. Aber nur, weil wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit in der nächsten Stunde einen Test in Wirtschaft schreiben werden.«
Ich seufzte. Innerlich bohrte sich das schlechte Gewissen tief in meinen Magen, doch ich war so hibbelig, dass ich einfach nicht stillsitzen konnte. Pauline und ich verbrachten die große Pause auf dem Hof in einer unserer Lieblingsecken, an der Außenwand der Kunstsäle direkt neben dem Eingang zum Schulgarten. Von hier hatte man einen guten Überblick, und außerdem war diese Nische windgeschützt und schon im Frühling superwarm, wenn die Sonne schien. Wobei die sich im Gegensatz zu gestern noch nicht hatte blicken lassen.
»Ich weiß, du willst lernen, aber –«
»Ja, ich will lernen. Und du solltest es, ehrlich gesagt, auch machen, wenn du nicht ins offene Messer vom Völke laufen willst.«
»Ach was, wir haben doch erst neulich einen Test geschrieben! So fies ist der nicht.«
Herr Völke ist unser Wirtschaftslehrer. Engagiert, jung, dynamisch und sogar mit einem guten Musikgeschmack. Okay, dass er Wirtschaft unterrichtet, bringt ihm nicht unbedingt Pluspunkte von meiner Seite, dafür gibt er auch Sport, und das macht die Sache wieder wett. Ich hatte mir zwar sagen lassen, dass er fachlich in Wirtschaft unheimlich gut war, aber das war etwas, das ich so wenig beurteilen konnte wie die Fußballergebnisse vom Wochenende. Außerdem hatte ich gerade für die freie Marktwirtschaft keinen Kopf, denn es gab unendlich viel wichtigere Themen.
»Ach, komm schon, Pauline. Ich bin seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesprungen. Das letzte Mal war vor über zwei Monaten! Und jetzt, wo es wieder so weit war, willst du nichts darüber hören?«
»Nicht korrekt. Ich habe alles darüber gehört. Gestern, den halben Nachmittag. Und heute Morgen vor der Schule. Und während Französisch und Deutsch«, murmelte sie, ehe sie mit den Zähnen den Deckel von ihrem Textmarker zog, um in ihren Aufzeichnungen etwas zu unterstreichen. »Und nachher höre ich es mir gerne noch mal an. Aber nicht jetzt.«
Unglücklich schaute ich mich um, doch meine Stimmung hellte sich schlagartig auf.
»Oh. Sieh mal. Da sind die Jungs.«
Pauline blickte von ihrem Buch auf, und mir entging das kurze Lächeln nicht, das über ihr Gesicht huschte, als sie Nikolas und Konstantin auf uns zukommen sah.
»Hallo, Ladys«, sagte Nikolas und beugte sich zu Pauline, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. Er und Pauline waren seit dem letzten Sommer zusammen, fast genauso lange wie Konstantin und ich.
Konstantin begrüßte mich auch – allerdings mit einem schnellen Kuss auf den Mund, und seine Lippen waren so weich, dass ich kurz in Versuchung geriet, mich an ihn zu klammern und einfach den Rest der Pause mit ihm durchzuknutschen. Machte ich natürlich nicht, aber ich seufzte enttäuscht, als er sich wieder zurückzog.
Wie war es eigentlich möglich, dass ich mich mehr und mehr in meinen Freund verliebte, je länger ich mit ihm zusammen war? Früher dachte ich, dass die ersten Wochen die aufregendsten sein würden, aber bei uns hatte ich das Gefühl, als ob es immer schöner wurde. Und kribbeliger. Und … spannender. Jedenfalls waren die berühmten Schmetterlinge in meinem Bauch noch ziemlich nervös, und zwar jedes einzelne Mal, wenn sie Konstantin sahen.
Was aber vielleicht an diesem Tag auch mit etwas anderem zu tun hatte.
»Und, hast du deinen Sprung gestern gut verdaut?«, raunte er mir ins Ohr, und ich nickte, während ich mich vorsichtshalber umsah. Es wäre fatal, wenn jemand unser Gespräch über dieses Thema belauschen würde, doch wir hatten Glück. In dieser Ecke des Pausenhofs waren wir im Moment ganz unter uns.
Denn die Sache mit den Parallelweltsprüngen war ziemlich brisant – und eben supergeheim. Nur Pauline und Nikolas wussten davon, und meine Tante Polly, weil die an allem schuld war.
Es ist so: Konstantin und ich verlassen hin und wieder unsere eigene Welt – also, unseren Körper – und schlüpfen in den von Parallel-Ichs von uns. In irgendeinem Paralleluniversum. Fragt mich bitte nicht, wo genau diese Universen liegen. Davon habe ich keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es manchmal ganz stark nach Zimtschnecken duftet und ich mich im nächsten Augenblick in einem anderen Körper wiederfinde. In einem anderen Ich. Und von diesen anderen Victoria Kings gibt es unzählige. Für jede Entscheidung, die man selbst oder jemand anderes trifft, die den eigenen Lebensweg auf irgendeine Weise beeinflusst, gibt es ein anderes Universum. So stelle ich es mir jedenfalls vor. Ein praktisches Beispiel: In der ersten Klasse haben Pauline und ich uns nebeneinandergesetzt, ohne uns zu kennen, und sind auf Anhieb beste Freundinnen geworden. Hätte ich mich damals allerdings mit Claire zusammengetan und wäre sie meine beste Freundin geworden, wäre mein Leben in manchen Bereichen mit Sicherheit ganz anders verlaufen.
Es gibt also unzählige Varianten meines eigenen Lebens – und in eine davon schlüpfe ich, wenn ich den Zimtschneckengeruch rieche. Und die Vicky aus dieser anderen Welt schlüpft in meinen Körper und muss sich in meiner Weltenvariante zurechtfinden, während ich wiederum in ihrem Leben versuche, nicht aufzufallen und möglichst wenig Schaden anzurichten, bis wir wieder zurücktauschen.
Das ist so gesehen schon ein ganz schöner Hammer, aber es kommt noch besser: Konstantin springt auch seit einer Weile, glücklicherweise immer zeitgleich mit mir.
Die Ursache der Parallelweltsprünge liegt in speziellen Bonbons meiner verrückten Tante Polly. Die hatte sie vor vielen Jahren in einem ihrer wahnhaften wissenschaftlichen Erfindungsanfälle hergestellt, und sie bewirkten, dass man durch den Raum reisen konnte. Ich hatte als Kind völlig unwissentlich von ihnen genascht und Konstantin letztes Jahr. Wir hatten leider keine Kontrolle, wann und wo wir sprangen, aber die Fähigkeit blieb. Vorstellen muss man sich das in etwa wie die Geschichte damals mit Obelix und dem Zaubertrank. Nur ohne die Wildschweine.
Jedenfalls haben wir seitdem den ganzen Ärger, pardon: die spannenden Ausflüge am Hals. Es sei denn, man verpennte das Ganze schlichtweg.
»Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass du nichts vom Sprung mitbekommen hast«, sagte ich.
Konstantin grinste schief. »Sorry, aber ich war so müde. Ich hab mich wohl einfach noch mal umgedreht und nix gemerkt. Und außerdem …« Er beugte sich ein Stück zu mir und stupste mich mit dem Ellbogen an, »du warst ja auch nicht sofort im Bild, als du aufgestanden bist.«
Das würde ich mir wohl noch eine ganze Weile anhören müssen. Konstantin hatte sich vor Lachen nicht mehr halten können, als ich ihm gestanden hatte, dass ich die ganze Episode im B&B nicht als Parallelweltsprung erkannt hatte.
»Aber wenigstens hab ich was erlebt. Gibt’s eigentlich was Neues von eurer App?«
Bis jetzt hatte Pauline für uns ein Logbuch geführt, das im Grunde eine normale Tabelle war, doch Konstantin und Nikolas entwickelten gerade ein Programm, mit dessen Hilfe wir in Zukunft unsere Sprünge würden dokumentieren können.
»Seit gestern Abend nicht. Du bist ganz schön ungeduldig!«
»Weil ich Angst habe, etwas Wichtiges zu vergessen«, erwiderte ich.
Pauline schnaubte. »Du hast mir alles erzählt. Du hast es Konstantin erzählt. Und du hast dabei die Diktierfunktion vom Handy mitlaufen lassen.«
»Ja, schon, aber ich bin eben unsicher. Dieser Sprung hat sich irgendwie anders angefühlt. Also, so im Nachhinein. Sonst merke ich immer, wenn was nicht stimmt, diesmal allerdings war alles täuschend echt, dass ich … einfach darüber reden muss! Und das kann ich eben nur mit euch.«
Pauline zog die Augenbraue hoch. »Kein Grund, so hibbelig zu sein.«
»Das bin ich schon die ganze Zeit. Tante Polly meint, das liegt am Mond. Der steht wohl gerade ungünstig. Ob der wohl auch Einfluss auf die Sprünge hat?«
»Solange er nicht für den Wirtschaftstest gleich ungünstig steht, ist mir alles egal.« Pauline hatte sich von Nikolas gelöst und wieder damit angefangen, wie eine Wilde Textstellen in ihren Unterlagen zu unterstreichen.
Unglücklich sah ich ihr dabei zu, und als sie etwas von Gleichgewichtspreis und magischem Sechseck vor sich hinmurmelte, wurde mir dann doch ein bisschen unwohl, und ich zog halbherzig mein Heft aus dem Rucksack.
Leider läutete in diesem Moment die Schulglocke.
Pauline behielt recht. Wie immer. Und ich wiederum hätte mir am liebsten selbst in den Hintern getreten dafür, dass ich nicht auf sie gehört hatte.
Dabei hatte es eindeutige Vorzeichen gegeben. Herr Völke war einfach zu … nett. Dass er nebenbei Sport unterrichtete, war vermutlich seine Taktik, um uns Schüler in falscher Sicherheit zu wiegen. Denn normalerweise waren die Sportlehrer ja unangefochten die coolsten Lehrer der Schule. Damit hatte er uns ganz geschickt getäuscht, Pauline ausgenommen, denn die war schon immer viel schlauer als alle in meiner Klasse zusammen, mich eingeschlossen.
Also, wie gesagt – ich hätte es wissen müssen. Schon bei seinem fiesen Lächeln, als er an diesem Tag den Stapel Blätter für den Test aus seiner Tasche herausholte, war mein Untergang praktisch beschlossene Sache. Und ich hätte schwören können, dass er unsere Panik in vollen Zügen genoss.
Ich konnte Paulines Blick auf mir spüren, aber ihr Ich-hab’s-dir-ja-gesagt-Augenbrauen-Hochziehen konnte ich in der Situation genauso wenig brauchen wie diese Prüfung.
Die gute Nachricht war: Der Test war relativ schnell vorbei.
Die schlechte: Ich war grandios untergegangen. Von fünf Fragen hatte ich mit viel Glück eineinhalb richtig. Und das reichte noch nicht mal ansatzweise für eine Vier.
Als Herr Völke unsere Prüfungsblätter wieder einsammelte, hatte ich das Gefühl, dass er mir besonders fies zulächelte (er hatte unglaublich spitze Eckzähne, war mir das vorher je aufgefallen?), und im Nachhinein kann ich es mir nur so erklären, dass dieses Lächeln der Auslöser für meine hirnverbrannte Aktion war, die daraufhin folgen sollte. Mir mussten schlicht und einfach die Sicherungen durchgebrannt sein.
Es war nicht das erste Mal, dass ich in meiner Schullaufbahn bei einem Test versagt hatte, wirklich nicht. Ich hatte mich trotz aller schulischen Niederlagen immer im soliden Mittelfeld bewegt, mit dem ich völlig zufrieden war. Deshalb würde mich eine schlechte Wirtschaftsnote jetzt auch nicht ins Verderben stürzen. Aber dieses süffisante Lächeln mit den spitzen Vampirzähnen brachte mich in diesem Augenblick innerlich zum Überschäumen.
Als der Unterricht schon längst weitergegangen war, griff meine Hand praktisch wie von selbst zu meinem Kuli und begann, an den unteren Rand meines Hefts kleine Bilder zu krakeln.
Bilder eines Männchens mit sehr spitzen Eckzähnen, das an einem Galgen hing. Das von einer steilen Klippe fiel. Das von einem Bagger überrollt wurde. Ein Mini-Skelett in einem Sarg, bei dem nur Knochen und Eckzähne übrig geblieben waren.
Einen ganz kurzen Moment war ich erstaunt über mich selbst, wie gut ich Herrn Völke mit so wenigen Strichen getroffen hatte. Vielleicht sollte ich mich doch ein wenig mehr in Kunst engagieren, hatten die hier in der Schule nicht sogar einen Comickurs –
»Vicky«, zischte Pauline da neben mir, und eine Sekunde später spürte ich ihren spitzen Ellbogen in den Rippen.
»Aua, was soll –«
»Victoria.« Ein Schatten fiel auf unsere Tischplatte, und direkt vor mir stand Vampi.
»Oh. Hi«, sagte ich und schob meinen Ellbogen geistesgegenwärtig über mein Heft. Neben mir hörte ich Pauline leise aufstöhnen, aber ich ignorierte sie.
Und konzentrierte mich darauf, freundlich zu lächeln.
»Darf ich fragen, was du da tust?« Die Vampirzähne glänzten im Licht der grellen Deckenlampe.
»Ich schreibe mit?«
»Was hab ich denn als Letztes gesagt?«
Mein Puls beschleunigte sich auf 180. Verdammt, musste der seine Augen immer überall haben? Und, was verflucht nochmal, hatte er gesagt?
Ich beugte mich einen Millimeter zu Pauline, die meinen Hilferuf natürlich sofort verstand.
Leider auch Herr Völke. »Ich frage nicht Pauline, ich frage dich.«
Ich schob mein Heft noch ein Stück zu mir heran und wagte schließlich, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich hab gerade das Datum notiert, da habe ich einen Moment nicht aufgepasst.«
»An den unteren Rand deines Heftes?«
»Damit ich oben mehr Platz für meine Aufzeichnungen habe.«
»Lass doch mal sehen.« Vampis Lächeln war wölfisch geworden.
»Ach, das ist nur das Datum«, erwiderte ich leichthin und winkte ab. »Das haben Sie schon tausend Mal gesehen.« Ich deutete mit dem Stift an ihm vorbei in Richtung Tafel. »Wir können jetzt gerne, äh … weitermachen.«
Das spöttische Gemurmel meiner Mitschüler blendete ich aus.
Einfach nur lächeln, Vicky. Immer weiter lächeln.
Aber Herr Völke war offenbar zum Raubtier geboren, denn er schlug so blitzartig zu, dass ich es nicht hatte kommen sehen.
Schneller, als ich gucken konnte, hatte er sich mein Heft geschnappt und versuchte jetzt, es unter meinen Ellbogen hervorzuziehen.
Das durfte ich auf keinen Fall zulassen!
Mit beiden Händen erwischte ich die andere Seite meines Heftes, und eine Sekunde später zerrten wir es zwischen uns her wie zwei Hunde einen dicken Knochen.
Es war entwürdigend.
Und Vampir-Völke war sehr viel stärker als ich.
In einem Moment zog ich noch am Heft – und im nächsten krachte ich mit dem Brustkorb gegen die Tischkante, nachdem er es mir brutal entrissen hatte.
»Uff«, entfuhr es mir, als die Luft aus meinen Lungen gepresst wurde.
Herr Völke schien sich dagegen null dafür zu schämen, dass er mir eventuell eine Rippenprellung beschert hatte. Stattdessen sah er sich meine Zeichnungen an, mit unbewegtem Gesichtsausdruck.
In der Klasse war es totenstill geworden, alle warteten auf seine Reaktion, und Xaver, der vor mir saß, versuchte unauffällig, einen Blick auf die Seiten zu werfen.
Ich spürte, wie ich knallrot anlief. Ich war nie jemand gewesen, der besonders frech zu Lehrern war, ich hatte gerne meine Ruhe und ließ anderen den Vortritt.
Das hier war ein Albtraum.
»Du hast mich gut getroffen«, sagte Herr Völke schließlich, immer noch mit unbewegter Miene, aber seine Augen schienen kleine Blitze in meine Richtung zu schicken. »Das soll ich doch sein, oder?«
Ich schloss kurz die Augen. »Das … war eine Übersprunghandlung«, murmelte ich. »Es tut mir leid.«
»Du bist sehr kreativ.«
»Ich möchte einen Comic-Zeichen-Kurs machen.« O Gott, hatte ich das wirklich gerade gesagt?
Herr Völke zog die Augenbrauen hoch, und zu meinem endgültigen Entsetzen drehte er mein Heft um und hielt es hoch, so dass alle aus meiner Klasse meine kleinen Hasszeichnungen sehen konnten.
»Eure Klassenkameradin hat ganze Arbeit geleistet, findet ihr nicht?«
Keiner sagte einen Mucks. Wenn es hart auf hart kam, hielten wir zusammen.
»Natürlich wollen wir hier an der Schule eure Kreativität so gut es geht unterstützen, gerne auch in allen künstlerischen Disziplinen. Aber bitte das nächste Mal nicht in Wirtschaft, in Ordnung?«
Ich nickte zaghaft.
»Dann machen wir mal weiter nach diesem kleinen … Zwischenspiel.« Herr Völke warf mir einen letzten langen Blick zu, dann drehte er sich langsam um und ging wieder nach vorne. Konnte es sein, dass es vorbei war?
»Schlagt Seite 83 in eurem Buch auf, wir schauen uns genauer die Einflussfaktoren auf Angebot und Nachfrage an.« Leises Geraschel und Gemurmel folgte, und während ich mich auf meinem Platz besonders klein machte und eifrig begann, in meinem Buch zu blättern, sagte er: »Ach, und Victoria: Natürlich hat das ein Nachspiel. Du wirst ein Referat halten, zwanzig Minuten, PowerPoint und Handout.«
Ich schluckte. War ja klar, dass er mich nicht ohne Strafe davonkommen lassen würde.
»Über welches Thema?«, fiepte ich.
Herr Völke zeigte seine Zähne, während er lächelte. »Nachhaltiges Wirtschaften in Hotellerie und Gastronomie. Das ist ja praktisch ein Heimspiel für dich, oder?«
Ich nickte matt. »Mach ich. Bis wann?«
Noch mehr Vampirzähne. »Das überlege ich mir noch. Sei einfach vorbereitet. Und falls du mich nicht überzeugst –«, er wedelte mit meinem Heft in seiner Hand wie mit einer Trophäe, bevor er es in seine lederne Umhängetasche steckte, »macht das hier einen kleinen Besuch im Direktorat.«
»Ich weiß gar nicht, was daran so lustig ist!«, murrte ich, doch Konstantin antwortete nicht. Stattdessen schlingerte sein Mountainbike bedenklich, während er vor sich hin gluckste. Er konnte gar nicht mehr geradeausfahren, so sehr amüsierte er sich über mich. So ging das schon, seit wir den Schulhof verlassen hatten.
Ich trat fester in die Pedale, um ihn ein Stück hinter mir zu lassen, und genoss die milde Frühlingssonne, die gerade herausgekommen war. Und versuchte, nicht auf meinen albernen Freund zu achten.
Konstantin hinter mir räusperte sich, und vermutlich fuhr er sich gerade mit der Hand über das Gesicht, was er immer machte, wenn er sich sammeln musste.
»Ich werde nicht gerne ausgelacht«, sagte ich über meine Schulter, und sofort war er auf dem Radweg wieder neben mir und berührte mich kurz versöhnlich am Arm.
»Ach, komm, Vicky. Ich lache dich doch nicht aus. Aber du musst zugeben, dass die Geschichte mit etwas Abstand total lustig ist. Deine Zeichnungen muss ich unbedingt sehen.«
»Frag Vampi, vielleicht zeigt er dir mein Heft. Aber wahrscheinlich liegt es mittlerweile eh schon beim Direktor.« Ich schauderte bei dem Gedanken, eine offizielle Verwarnung von oberster Stelle zu bekommen. »Und dabei war ich mein ganzes Schulleben immer so brav! Ich hab nie geschwänzt, mich nie bei den blöden Streichen beteiligt, und sogar meinen Tafeldienst hab ich nicht einmal vergessen!«
Wir waren mittlerweile am Brunnen neben der Gemeindewiese angekommen, und ohne uns abzusprechen, hielten wir an und stiegen von den Rädern. Das letzte Stück zu schieben war zu einem Ritual bei uns geworden, das sich einfach so ergeben hatte. Wenn wir direkt bis zu mir nach Hause fuhren, mussten wir uns viel zu schnell verabschieden. So blieben uns noch ein paar Minuten länger.
Mein Freund war direkt neben mich getreten, schob sich die Haare aus der Stirn und betrachtete mich von oben. Er war fast einen Kopf größer als ich, so dass mein Blick automatisch auf seinen Lippen ruhte. Ich konnte quasi nirgendwo anders hinsehen.
»Ich wusste gar nicht, dass du so brav bist«, meinte er, und ich zuckte mit den Schultern.
»War ich schon im Kindergarten. Da hab ich oft so getan, als wäre ich selber die Erzieherin. Ich wollte immer den anderen Kindern die Brote schmieren.«
Konstantin beugte sich zu mir und hauchte einen Kuss auf meinen Mundwinkel. »Du hättest mir jederzeit mein Brot schmieren dürfen, ich hätte dir dafür bestimmt mein Lego geschenkt.«
Die Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch. »Oh, das ist aber, hm … süß von dir.«
Ein zweiter Kuss folgte. »Ob wir mal in eine Welt springen, in der wir uns schon ein Leben lang kennen? In der ich nicht erst vor knapp zwei Jahren hierhergezogen bin? Das stelle ich mir ziemlich cool vor.«
Ich grinste an seinen Lippen. »Oder du würdest mich genau deshalb nicht mögen. Weil du all die blöden Geschichten aus meiner Vergangenheit kennst.«
»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass da überhaupt welche –«
»Juhu, Vicky!«
Konstantin und ich schreckten auseinander. Musste ausgerechnet jetzt jemand uns unterbrechen?
Ich sah mich um, woher, die Stimme kam, und entdeckte Frau Hufnagel neben uns stehen, eine unserer Ü70-Nachbarinnen. Hatte die sich hierher gebeamt, oder warum hatte ich sie nicht kommen gehört?
»Liebes, mir ist da gerade etwas zu Ohren gekommen …« Ihre Augen funkelten wie zwei kleine Diamanten. »Ist dir das heute in der Schule wirklich passiert? Das mit den Zeichnungen von deinem Lehrer?«
Ich spürte förmlich, wie mir die Kinnlade bis auf die Brust fiel. »Woher wissen Sie denn das?«
»Ach, mein Sohn Sven ist doch Elektriker, der hatte heute in der Schule zu tun, am Sicherungskasten beim Computerraum, und da hat ihm das der Timo erzählt, der Neffe seiner Frau. Der geht in die zwölfte Klasse.«
Ich kannte diesen Timo gar nicht, geschweige denn Sven. Die aber offensichtlich mich.
Entsetzt sah ich Konstantin an. »Das spricht sich so schnell rum? Das ist ja schrecklich!«
Doch Konstantin zuckte nur grinsend mit den Schultern. »Ich find die Geschichte, wie gesagt, auch cool.«
Und Frau Hufnagel tätschelte mir die Schulter. »Mach dir mal keinen Kopf, Liebes, das wird schon wieder. Wir stehen alle hinter dir, hörst du?«
»Wir?«
»Ja, wir.« Jetzt hatte sie auch noch den Nerv, zu kichern. »Frau Rabe, ich, und meine Freundinnen vom Skat-Club sind alle auf deiner Seite, und wenn dein Lehrer Ärger macht, schickst du den zu uns. Dann werden wir dem mal erzählen, was für ein liebes Kind du bist, und dass er sich nicht so anstellen soll.« Bei dem Gedanken daran, wie Vampi auf den Skat-Club traf, wurde mir schummerig, so dass ich mich an meinem Fahrrad festklammerte. Doch Frau Hufnagel strahlte mich nur an. »Und wenn du Hilfe brauchst wegen des Referats, komm einfach zu mir.«
»Sind Sie denn gut in Wirtschaft?«, fragte ich erstaunt.
Sie winkte ab. »Nicht doch. Aber ich habe einen schnellen Internetzugang. Das braucht man dazu, oder?«
Ich nickte schwach. »Ja. Danke. Wenn der bei uns zu Hause ausfällt, melde ich mich.«
Konstantin gluckste leise hinter mir, als Frau Hufnagel endlich den Rückzug antrat und in Richtung Fußgängerzone davonwackelte.
»Liebes Kind«, wiederholte Konstantin, sein Lächeln so tief, dass beide Grübchen zu sehen waren.
Ich straffte die Schultern und versuchte, ihm einen möglichst würdevollen Blick zuzuwerfen. »Selbstverständlich. Aber dass du das bis jetzt noch nicht bemerkt hast, gibt mir doch zu denken.«
Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da hatte Konstantin sein Rad schon abgestellt, war zu mir gekommen und hatte mich fest in die Arme geschlossen.
»Du bist ganz genau richtig, wie du bist«, meinte er leise, und dann küsste er mich.
Und in den nächsten Minuten war mir Vampi einfach nur noch so was von egal.
Als ich die Haustür aufsperrte, musste ich wieder an das B&B aus der letzten Parallelwelt denken. Im Nachhinein kam ich mir unendlich dumm vor, dass ich den Sprung nicht bemerkt hatte. Und ich war gleichzeitig sehr dankbar, dass dieses B&B, geführt von meiner Mutter statt von meinen Großeltern, Teil meiner angestammten Welt war.
»Mum?«
»In der Küche!«, rief sie, und ich streifte mir die Schuhe von den Füßen und tigerte den Flur entlang. Ich fand meine Mutter alleine in der großen, gemütlichen Küche, wo sie gerade ein Blech Scones in den Ofen schob.
»Hi, Mum.« Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und ließ mich dann erschöpft auf die Eckbank fallen.
Meine Mutter ist mein happy place. Egal, was passiert, in ihrer Gegenwart fühle ich mich sofort besser. Sie ist der lebendig gewordene Optimismus und begegnet jeder Situation erst mal mit einem Lächeln. (Mein Dad ist übrigens ähnlich, denn der ist gebürtiger Engländer, und die sind auch dann höflich, wenn sie innerlich die Zähne fletschen.) Meine Mum macht es überhaupt allen Menschen sehr leicht, sich wohl und willkommen zu fühlen. Außerdem ist sie Herzogin Kates Schwester im Geiste, zumindest, was ihren Look betrifft. Knielange Kleider und zum Ausgehen kleine Hütchen gehören bei ihr zur Grundausstattung, und ich glaube, mindestens die Hälfte aller Gäste des B&B verknallen sich heimlich in sie.
Sie lächelte mich an. »Wie war’s in der Schule, Schatz?«
Ich stöhnte. »Schrecklich. Du kennst doch Herrn Völke, meinen Wirtschaftslehrer?«
»Das ist der mit den Vampirzähnen, oder?«
Das war ihr aufgefallen? »Genau der.« Ich vergrub den Kopf in meinen Händen.
Und dann erzählte ich ihr von dem Test in Wirtschaft, auf den ich nicht vorbereitet gewesen war (so war sie schon mal wegen der schlechten Note vorgewarnt), und von dem Debakel danach.
»Dracula hat deine bösen Bilder gesehen?« Mum hatte gerade die Arbeitsfläche abgewischt und hielt mitten in der Bewegung inne.
Mittlerweile hatte ich die Arme auf dem Tisch verschränkt und meinen Kopf komplett darin vergraben.
Trotzdem konnte ich hören, wie sie lachte, und ich richtete mich wieder auf.
O nein! Nicht auch noch Mum!
»Das ist nicht lustig. Ich kann ihm nie wieder in die Augen schauen! Außerdem hat er mir ein Referat aufgebrummt, und wenn ich das nicht gut abliefere, landen meine Zeichnungen im Direktorat! Und dann hat er sich noch nicht mal festgelegt, wann genau ich präsentieren soll. Weil er will, dass ich mich wochenlang deswegen verrückt mache.«
Mum bemühte sich, ihr Lachen zu verbergen. »Wie ist das Thema?«
»Nachhaltig wirtschaften in Hotellerie und Gastronomie.«
Da drehte sich Mum mit offenen Armen zu mir um und fing an zu strahlen. »Na, das passt doch perfekt. Willkommen in meiner Welt!«
Nachdem ich eine köstliche Bowl mit Reis, Erbsen, frischen Sprossen und Räucherlachs gegessen und hinterher Teewasser aufgesetzt hatte, sah die Welt schon wieder ein klein wenig besser aus. Vor allem, weil sich meine Mutter zu mir setzte, nachdem sie ein weiteres Blech Gebäck in den Ofen geschoben hatte, um mir schon mal ein paar Stichpunkte für mein Referat zu geben.
»Pass auf, am besten fängst du sofort an. Heute ist es ruhig, dann kann ich dir mit der Stoffsammlung helfen.«
Eifrig holte ich meinen Spiralblock aus dem Rucksack und zückte einen Stift.
»Bereit! Womit sollen wir starten?«
»Wenn Vampi dir nicht gesagt hat, welche Themen du genau behandeln sollst, hast du die freie Wahl: Nachhaltigkeit bei den Ressourcen, im Büro- und Veranstaltungsmanagement, nachhaltiges Personalmanagement, nachhaltiger Einkauf, Gästekommunikation, pick dir einfach heraus, was du willst.«
Ich beeilte mich, alles mitzuschreiben. Mum war so ein Schatz.
»Ich gebe dir zu den einzelnen Punkten einen kurzen Überblick, und danach kannst du in die Recherche einsteigen. Du wirst sehen, in –«
Im Stockwerk über uns ertönte plötzlich ein dumpfes Rumpeln, gefolgt von einem langen Schaben. Als ob jemand das Gästezimmer über uns komplett auf den Kopf stellte.
Mum sah mit einem besorgten Blick zur Decke. »Du liebe Güte, Vicky, heute ist ein neuer Gast angekommen. Herr Fariq. Einer von diesen jungen Consultants, die achtzig Stunden die Woche arbeiten und kein Privatleben haben, weil sie von ihrer Firma von einem Projekt zum nächsten geschickt werden. Der Ärmste, er ist die nächsten vier Wochen im Nachbarort beschäftigt. Seine Assistentin hat sich bei der Buchung anscheinend vertippt, und statt Herrn Fariq in ein Fünfsternehaus zu schicken, ist er hier gelandet. Ich hab ihm das große Zimmer gegeben, aber er ist alles andere als zufrieden.«
Mum nahm sich so etwas sehr zu Herzen, selbst wenn es gar nicht ihre Schuld war. Das B&B war total schön und hatte super Bewertungen in den Onlineportalen. Doch ein schickes Fünfsternehotel war es nicht.
Sie seufzte. »Vielleicht bleibt er gar nicht, seine Assistentin wollte noch mal anrufen, ob sie umbuchen kann. Ich hab ihr angeboten, dass sie bis heute Abend bei uns stornieren kann, und sie ist vor Dankbarkeit fast in Tränen ausgebrochen.«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon.
»Ah, das wird sie schon sein.« Mum nahm das Gespräch an. »Meg King? Ah, ja. Ja. Hm-hm. Ach, meine Liebe, jetzt machen Sie sich doch keinen Kopf. Das kann jedem Mal passieren. Die Hotels hören sich sehr ähnlich an. Nein, wirklich! Wissen Sie, was mir in meiner Lehre als Hotelfachfrau passiert ist? Da habe ich in meinem Ausbildungsbetrieb im Vorbeigehen auf einer Liste gelesen, dass in der kommenden Woche der Prinz von Dänemark käme. Ich hab mich für eine Dreifachschicht eingetragen, um seine Ankunft auf keinen Fall zu verpassen. Tja, aber der Prinz war dann, wie sich herausgestellt hat, kein Gast, sondern der Käse der Woche unserer Molkerei, die uns belieferte … Ja, nicht? Ganz ehrlich, ich hatte nur die schwedische Königin im Kopf, Sie wissen schon, die früher mal Stewardess war, und wäre nie auf Käse gekommen.«
Ich musste kichern. Oje, wer Mums verschlungene Gedankengänge nicht kannte, der war immer leicht überfordert.
»Also, Sie sehen – alles halb so wild. Hm-hm. Ja. Kein Problem, bei mir eilt es nicht. Natürlich. Ja, bis dann!«
Kaum hatte Mum aufgelegt, hörten wir Schritte auf der Treppe, und im nächsten Moment erschien ein geschniegelter Typ im dreiteiligen Anzug in der Küchentür. Seine Haare waren akkurat von einem offensichtlich teuren Friseur geschnitten, alles an ihm schrie Business, und er sah völlig fehlplatziert in unserer Küchentür aus.
Mum stand auf. »Nur hereinspaziert, Sie kommen genau rechtzeitig zu Tee und Scones.«
Der neue Gast schüttelte den Kopf. »Dazu habe ich wirklich keine Zeit. Videokonferenz mit New York. Deswegen bin ich auch