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Stell dir vor, dein Leben gibt es doppelt ... Diesmal ereilt Vicki der typische Zimtduft, der ihre Sprünge in ein Paralleluniversum stets ankündigt, zu einem besonders ungünstigen Moment: in der U-Bahn, und zwar kurz bevor sie eigentlich aussteigen muss! Mist! Mitten in der Großstadt und zu allem Überfluss noch ohne Handy verliert Vicki ihre Clique – und landet in der bescheuertsten Parallellebenvariante, die man sich nur vorstellen kann: in einem anstrengenden Schwimmwettkampf, bei dem alle Erwartungen auf ihr liegen, umgeben von lauter Zicken und ohne eine Spur von ihrer besten Freundin Pauline oder ihrem Freund Konstantin. Während Vicki in dem einen Universum so gut es geht den Platz von Parallel-Vicky auszufüllen versucht, schlägt sie sich im anderen Universum alleine und handylos durch die Stadt. Und macht dabei eine überraschende Bekanntschaft ... Wer sagt, dass nach Band 3 einer Trilogie unbedingt Schluss sein muss? Und so kommt hier für alle, die nach »Zimt und ewig« wehmütig zurückgeblieben sind, das überraschende Sequel zur ersten Staffel. Enthält außerdem das Oster-Bonuskapitel »Zimt und versteckt« und eine Leseprobe der neuen zweiten Staffel, die im Mai 2022 mit »Auf den ersten Sprung verliebt« beginnt! Alle Bände der Zimt-Serie: Staffel I, Band 1: Zimt und weg Staffel I, Band 2: Zimt und zurück Staffel I, Band 3: Zimt und ewig Staffel I, Sequel: Zimt und verwünscht Staffel II, Band 1: Zimt – Auf den ersten Sprung verliebt (erscheint im Frühjahr 2022) Staffel II, Band 2 (erscheint voraussichtlich im Herbst 2022) Staffel II, Band 3 (erscheint voraussichtlich im Frühjahr 2023)
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Seitenzahl: 230
Dagmar Bach
Zimt und verwünscht –
Die vertauschten Welten der Viktoria King (Sequel)
FISCHER E-Books
Für alle Leserinnen und Leser, die Vicky genauso ins Herz geschlossen haben wie ich – und die sie genauso wenig loslassen wollen.
Dieses Buch ist für euch!
Der erste Samstag im neuen Schuljahr versprach ein echtes Highlight zu werden. Denn so sehr ich unsere Kleinstadt liebe, in der ich mit meiner Familie und meinen Freunden lebe, so sehr brauche ich auch manchmal Abwechslung.
Und Abwechslung hatte ich heute – in Form eines Ausflugs in die Großstadt, die knappe zwei Stunden von unserem Ort entfernt liegt.
»Wann sind wir denn endlich da?«, fragte Pauline gerade, als Dad den Blinker setzte und von der Autobahn abfuhr.
»In zehn Minuten. Und wenn nicht viel los ist, geht es vielleicht sogar noch schneller.«
Und wir waren tatsächlich schon mittendrin. Links und rechts von uns erstreckten sich nach Industriegebieten, ländlichen Vororten mit alten Villen und Gärten immer dichter werdende Häuserfronten, bis wir in die Nähe der lebhaften Innenstadt kamen. In der Ferne sah ich den hohen Fernsehturm – eines der Wahrzeichen der Stadt.
Mum hatte das Fenster am Beifahrersitz heruntergelassen, und die typische Großstadtmischung aus Abgasen und Asphalt erfüllte sofort das Wageninnere. Vor Vorfreude kribbelte es in meinem Bauch, und auch meine Freunde, die uns auf den Ausflug begleiteten, schauten sich gespannt um.
Hier und da erkannte ich ein prägnantes Gebäude oder einen Platz – da vorne war zum Beispiel dieses tolle Theater, in dem ich mal mit Mum in einer Vorstellung von Der Kaufmann von Venedig war, sonst kannte ich mich nicht besonders gut aus. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass ich dem heutigen Tag entgegenfieberte.
»Wir essen doch erst was, bevor wir losgehen, oder?«, sagte ich unruhig und dachte an das einsame Butterhörnchen, das ich heute zum Frühstück hatte. Zu mehr war ich nicht gekommen, obwohl wir erst am späten Vormittag losgefahren waren. Schwerer Fehler.
»Ihr müsst natürlich zu Alfredo, da gibt es die besten Piadine der Welt!« Mums Augen leuchteten, als sie sich in ihrem Sitz zu uns umdrehte. »Kennt ihr die? Das sind Teigfladen, gefüllt mit so tollem Antipasti-Gemüse, Rucola und Käse, und Alfredo macht einfach die besten, und man kann sich auch noch … ach, wisst ihr was? Wir bringen euch vorbei, und ich lade euch ein. Ihr braucht ja was im Magen, bevor ihr den ganzen Nachmittag durch die Stadt zieht. Die Zeit dafür haben wir doch noch, oder, Kenneth?«
Dad nickte, verließ die zweispurige Ringstraße und schlängelte sich kurz darauf zielsicher durch kleine Seitenstraßen. Er und meine Mum hatten sich in dieser Stadt beim Studium kennengelernt und hier ein paar sehr glückliche Jahre verbracht – demzufolge kannten sie sich bestens aus. Als Student lerne man seine Umgebung fürs Leben kennen, behaupteten beide immer. Allein deshalb, weil man kein Geld für ein Auto hat oder sich Selbiges für die U-Bahn sparen möchte.
Meine beste Freundin Pauline war jedes Mal ganz Ohr, wenn meine Eltern von ihrer Zeit in der Stadt sprachen. Sie wollte auch studieren, am liebsten sofort. Vermutlich hätte sie dank ihres Superhirns sämtliche Aufnahmeprüfungen sogar schon jetzt, mit fünfzehn Jahren, geschafft, aber sie beteuerte immer wieder, dass sie warten und erst zusammen mit mir das Abi machen würde. Damit ich nicht so alleine war. (Und damit sie – den neuesten Liebesentwicklungen entsprechend – so lange wie möglich in der Nähe ihres Freundes Nikolas bleiben konnte.)
»Müssen wir wirklich noch ins Café? Ich hab gar keinen Hunger, ich würde gerne direkt los«, nölte Claire hinter mir.
Ja, Exerzfeindin Nummer eins war ebenfalls dabei, kaum zu glauben. Mit Betonung auf Ex. Denn auch wenn wir uns früher – na ja – nicht so gut verstanden haben, wurde Claire so langsam zu einer echten Freundin. Was allerdings nicht bedeutete, dass sie ihre alten Gewohnheiten ganz abgelegt hat – oder ihr Äußeres. Obwohl sie sonst auch oft gnadenlos overdressed und zu stark geschminkt ist, hatte sie sich heute besonders in Schale geschmissen. Vermutlich wollte sie sich auf keinen Fall als Landei die Blöße geben. Oder sie träumte immer noch davon, von Scouts entdeckt zu werden.
Jedenfalls trug sie einen ultrakurzen Rock mit stylishem Oversizeshirt und dazu ihre extrahohen Plateausandalen. Seit unserem letzten Schulausflug wusste ich allerdings, dass sie mit denen mindestens so schnell und lang laufen konnte wie unsere Klassenlehrerin Frau Geiger, die ausschließlich Gesundheitsschuhe trug und Waden hatte wie ein Fußballer. Unsere komplette Klasse war nach Claires Zehnkilometermarsch schwer beeindruckt gewesen. Noch dazu, als sie nach unserer Rückkehr kurz die Schuhe auszog und ihre Füße weder rot, geschwollen, schwitzig noch irgendwo aufgeschrubbelt waren. Inzwischen vermuteten Pauline und ich, dass sie Füße aus Stein hatte. Oder, bei der Schickimickifamilie, vielleicht aus Marmor.
»Keine Chance, Claire, wir sterben hier alle vor Hunger. Du wirst dich noch eine halbe Stunde gedulden müssen.« Konstantin, der neben mir in der mittleren Sitzreihe saß, meine Hand hielt und ungeduldig mit dem Fuß wippte, war unerbittlich. Kein Wunder. Sein Magen knurrte schon seit einer Stunde so laut, dass Dad zwischenzeitlich Angst hatte, dass etwas mit Franks Auto, das wir uns geliehen hatten, nicht stimmte, und deswegen sogar kurz rechts rangefahren war.
Claires Freund Leonard nickte heftig. »Wo Konstantin recht hat, hat er recht. Wenn ich nachher deine Tüten schleppen soll, brauche ich Kraft.«
Claire kniff die Lippen zusammen. Laut Mum steckte sie einfach noch in Verhaltensmustern fest, die sie zu lange antrainiert hatte und deshalb so schnell nicht mehr loswurde. Sie sei aber auf einem prima Weg, zu einem ganz normalen Mädchen zu werden. Oder so normal, wie Claire eben sein konnte.
Das durfte man natürlich vor ihr nicht laut sagen, aber ich fand, meine Mutter lag da gar nicht falsch. Claire tat zwar manchmal zickig, aber wenn man ihr Kontra gab, war sie null eingeschnappt, und sie konnte immer öfter sogar über sich selbst lachen. Mittlerweile verbrachte ich meine Zeit tatsächlich gerne mit ihr.
Und obwohl Claire zu Hause nur mit dem Finger schnippen musste, wenn sie Lust auf einen Shoppingtrip in die Stadt hatte, bevorzugte sie offenbar unsere Begleitung – obwohl sie das so direkt nie sagte. Aber als sie neulich zu Besuch war und von unseren Plänen für das Wochenende Wind bekommen hatte, hatte sie so lange auf Mum eingeredet, bis die ihr angeboten hatte, mitzukommen. Und weil Claire entgegen ihrer Beteuerung mittlerweile nur noch ganz schlecht ohne Leonard sein konnte (sie bestritt nach dem schicksalhaften Abend von Pollys und Franks Caféeröffnung vor fünf Wochen, dass sie ihn eigentlich jede Minute des Tages um sich haben wollte), hatte Mum Tante Pollys Verlobten Frank gefragt, ob er uns nicht seinen VW-Bus leihen konnte.
Nachdem wir nun ein großes Auto und jede Menge Sitzplätze hatten, hatten Konstantin und Nikolas sich praktisch selbst eingeladen. Nicht, dass ich etwas dagegen hatte. Oder Pauline. Im Gegensatz zu Claire konnten sowohl meine beste Freundin als auch ich sehr gut zugeben, dass wir einfach sehr verliebt waren und so viel Zeit wie möglich mit unseren Freunden verbringen wollten.
Und so hatten wir uns an diesem Samstag zu acht auf den Weg in die Stadt gemacht – Claire, Leonard, Pauline, Nikolas, Konstantin, Mum, Dad und ich. Tante Polly und Frank kümmerten sich derweil um das B&B.
»Ah, da vorne ist Alfredo’s schon, schaut mal. Und die Sonne scheint, dann könnt ihr draußen essen, so ein Glück!«
Claire legte schnell noch einmal Lipgloss nach, als Dad den Bus in eine Parklücke manövrierte und wir alle nacheinander ausstiegen, um Mum zu folgen, die bereits vorausgetänzelt war.
»Oh, hallo-oh, Alfredo!«, rief sie schon und winkte jemandem im Inneren des Ladens zu. Sie benahm sich, als würde sie jeden Morgen hier frühstücken. »Sucht euch einen Platz, ich bin gleich wieder da.«
Wir stellten schnell zwei Tische zusammen und setzten uns Schulter an Schulter auf die wackeligen Holzstühle, während Mum und Dad an der Bar standen und in ein angeregtes Gespräch mit dem Typen hinter der Theke vertieft waren. Warum wunderte ich mich eigentlich immer noch, dass sie auch hier alles und jeden kannten? So waren meine Eltern, jeder musste sie einfach ins Herz schließen und hielt ihnen auch dann noch die Treue, wenn er sie Jahre nicht gesehen hatte.
»Aber beeilt euch bloß. Das geht alles von meiner Shoppingzeit ab.« Claire konnte es nicht lassen, das Gemecker lag ihr echt im Blut. Wobei sie trotz alledem einen sehr interessierten Blick in die kleine Speisekarte warf, die auf dem Tisch lag. »Cool, die Fladen gibt’s ja sogar in low carb.«
»Wer will denn so was?«, fragte Pauline und schnappte sich die andere Karte.
»Du offenbar nicht.«
»Du willst damit hoffentlich nicht sagen, dass ich es nötig habe!«
Claire sah Pauline ungerührt an. »Hast du nicht. Aber ein bisschen Sport würde dir trotzdem nicht schaden.«
»He, sag mal, was soll das denn jetzt –«
Nikolas fing an zu lachen und hörte selbst dann nicht auf, als Pauline ihn in den Oberarm boxte.
»Ich hab dafür andere Qualitäten«, sagte sie so würdevoll wie möglich. »Manchmal frage ich mich, warum ich nicht wirklich eine Klasse überspringe und euch alle hinter mir lasse!«
»Weil du uns dafür viel zu liebhast«, antwortete ich, lehnte mich zu ihr hinüber und gab ihr einen Schmatz auf die Wange. »Und jetzt such dir was zu essen aus. Etwas mit vielen Kohlenhydraten.«
Zu Claires großer Freude schaffte es der Koch, sechs Piadina-Fladen innerhalb von fünf Minuten fertigzuhaben. Und leider konnten wir es uns alle nicht nehmen lassen, sie ständig damit aufzuziehen, dass sie selbst – als Einzige – den Fladen mit extra viel Schinken und Doppelrahmfrischkäse genommen hatte.
»Die Kalorien hab ich im Handumdrehen wieder abtrainiert. Wusstest ihr, dass man beim Powershopping mindestens genauso viel Energie verbraucht wie beim Walking?«
Pauline stöhnte. »Gibt es in dieser neuen Trendsportart auch Weltmeisterschaften? Wenn ja, wärst du die erste Kandidatin für den Sieg.«
Claire und wir wollten da nicht widersprechen.
Während wir unsere Piadine inhalierten, stürzten meine Eltern nur hastig einen Espresso herunter, was mit dem eigentlichen Anlass für unseren Ausflug zu tun hatte.
Die beiden hatten von Tante Polly und Frank einen Kochkurs geschenkt bekommen, bei einer renommierten Sterneköchin, die scheinbar so exklusiv war, dass sie sich ihre Kunden aussuchen konnte. Angeblich hatte sie eine ellenlange Warteliste, aber Frank kannte sie von früher. Ihre Kurse fanden bei ihr zu Hause in der eigenen Küche statt und dauerten einen halben Tag. Mum sprach seit Wochen von nichts anderem mehr.
»Bea von Bergen! Ich war einmal in dem Restaurant, das sie früher hatte – zwei Sterne! –, das ist Ewigkeiten her, aber ich schwöre dir, ich hab noch nie so gut gegessen, noch nie!«, hatte sie gebetsmühlenartig wiederholt.
Dad stand auf und brachte ihre leeren Tassen ins Café zurück. »Wir müssen los, für den Fall, dass wir nicht gleich einen Parkplatz bekommen«, sagte er.
Er legte den Arm um Mums Schulter. Seit die beiden vor ein paar Wochen wieder zusammengekommen waren, wusste ich nicht, wer glücklicher war: Mum, die praktisch nur noch strahlend durch die Gegend lief, oder Dad, der zurzeit sogar meine Großeltern ertrug. Und das trotz ihrer schlimmen Streitigkeiten in der Vergangenheit. (Und ihrer Begeisterung für deutsche Schlager in der Gegenwart.)
Das sei echte Liebe, meinte Tante Polly fast täglich.
Meine Eltern winkten in unsere Runde. »Viel Spaß euch! Und Vicky, nicht vergessen: Der Kurs findet in der Königinstraße 33 statt.« Mum gab mir einen Flyer. »Hier steht alles drauf. Falls was ist, Kenneth und ich lassen unsere Handys an.«
Ich verdrehte die Augen. »Mum! Wir kommen schon klar.«
»Ich mein ja nur.« Mum warf uns eine Kusshand zu, ehe sie wieder mit Dad in den VW-Bus stieg und die beiden davonfuhren.
Ich verstaute den Zettel in meiner Hosentasche, während meine Freunde anfingen, die Tagesgestaltung genauer zu diskutieren.
»Also, ich will hauptsächlich in die Sternstraße, da gibt’s die meisten Boutiquen, die mich interessieren.« Claires Blick fiel auf Leonard, der ihr zuzwinkerte und seinen letzten Bissen hinunterschluckte. »Ach, das ist prima. Am besten komme ich dann dahin, in, sagen wir, zwei, nein, lieber drei Stunden. Ich gehe mit Konstantin und Nik erst in den Media-Store.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Ihr geht sofort zum Media-Store? Ich dachte, wir könnten erst mein Handy reparieren lassen.« Das stand nämlich ganz oben auf meiner Prioritätenliste, und eigentlich hatte mein Freund versprochen mitzukommen.
Konstantin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wischte sich die Finger an einer Serviette ab. »Ja, schon, aber der Media-Store und das Sportgeschäft sind in der ganz anderen Richtung als der Handyladen. Ich dachte, das mit dem Handy können wir auch auf dem Rückweg erledigen?«
»Erst ganz zum Schluss? Und was mache ich bis dahin?« Ich hatte so lange durchgehalten ohne mein praktisch nagelneues Smartphone – das ich allerdings blöderweise vor ein paar Tagen auf der Veranda des B&B hatte fallen lassen, wo es wie ein Flummi die Stufen nach unten in den Garten gehüpft war, um danach seinen Geist aufzugeben. Ich konnte es kaum abwarten, wieder online und erreichbar zu sein, gerade bei so einem Stadtausflug wie heute. Mein Dad hatte das Gerät von dem Anbieter bekommen, der auch seine Kanzlei mit den Firmenhandys versorgte, zu einem offenbar super Preis. Und zu dem ich jetzt allerdings auch hinmusste, um mein Gerät dort im Rahmen des Servicevertrags reparieren zu lassen.
»Ich dachte, du wolltest nach einem neuen Badeanzug schauen. Das würde doch passen«, fuhr Konstantin fort und sah mich abwartend an.
»Hm.« Unschlüssig schaute ich zu Pauline. »Und wo fährst du jetzt hin?«
Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Ich wollte direkt zur Unibuchhandlung und da ein bisschen herumstöbern. Und, na ja, vielleicht auch mal in den ein oder anderen Hörsaal reinschauen. Nur so – mich einfach umsehen.«
Ich seufzte, nickte aber. Ich wusste, dass das für Pauline die perfekte Tagesplanung war. Alles, was sie interessierte, war die Uni. Und so lieb ich sie hatte – ich hatte leider keine Ambitionen, sie zu begleiten. Sie würde stundenlang in wissenschaftlichen Büchern blättern und hinterher noch eine Tasse Tee in einem Studentencafé trinken. Und dabei wieder in besagten Büchern blättern, die sie haufenweise gekauft haben würde.
Also blieb nur die Frage: alleine zum Handyladen oder mit den Jungs erst zum Media-Store und zum Sportgeschäft? Mit Claire shoppen zu gehen, war keine Option – dazu brauchte man Nerven wie Drahtseile, mindestens, und die hatte ich nicht, egal, wie gerne ich sie mittlerweile mochte. Noch nicht mal Leonard traute sich das zu.
Auf dem Weg zur U-Bahn schlossen wir einen Kompromiss. Ich würde erst mal mit Konstantin und den Jungs mitgehen, allerdings nur, wenn sie vorher für mich nachsahen, wie lange der Handyladen offen hatte und wir rechtzeitig dorthin aufbrachen.
»Versprochen«, sagte Konstantin und küsste mich auf die Wange, bevor wir uns zu den anderen gesellten, die schon am Fahrkartenautomaten angekommen waren und ihre Tickets zogen. Blöderweise konnten wir eine Gruppenkarte vergessen, schließlich mussten wir ja alle in unterschiedliche Richtungen.
Was ich insgeheim verfluchte. Ich war zwar selbst schon ab und zu in der Stadt gewesen und dabei jedes Mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, aber ich hatte es lieber Mum überlassen, sich um die Fahrkarten zu kümmern. Es erhöhte leider meinen persönlichen Landeifaktor um tausend, aber ich konnte es nicht ändern: Solche Automaten und ich würden niemals Freunde werden – besonders in Kombination mit dem Tarifdschungel des öffentlichen Nahverkehrs. Meist stand ich davor und kapierte gar nichts.
Aber zu meiner Überraschung schien es diesmal ganz leicht zu sein, als ich Pauline über die Schulter schaute. Das Menü auf dem Touchscreen des Automaten zeigte erstaunlich genau und übersichtlich an, was sie drücken musste.
Tageskarten Zone 1
Schüler-Tageskarte Zone 1, gültig heute
Bezahlen
Das würde ich ganz prima schaffen.
Nach Pauline kauften die anderen der Reihe nach ihre Tickets. Ich stellte mich hinter Konstantin als Letzte an.
Als der gerade fertig war und sein Geld wieder einsteckte, waren die anderen schon ein Stück Richtung Bahnsteig vorausgegangen.
»Du brauchst nicht auf mich zu warten, ich bin in einer Minute bei euch!«, bot ich lässig an. Ha! Von wegen Landeifaktor. Ganz die hippe Großstädterin.
»Okay, bis gleich!« Konstantin drückte kurz meine Hand, ehe er sich umdrehte und zur Rolltreppe ging.
Ich lächelte ihm kurz versonnen nach – solche Augenblicke gab es immer noch. Selbst nach gut drei Monaten, in denen wir jetzt zusammen waren, konnte ich es manchmal nicht fassen, dass ich mich in diesen Jungen verliebt hatte. Oder vielmehr: er sich in mich. Ich versuchte allerdings, nur zu schmachten, wenn man mich nicht unbedingt dabei beobachtete.
Ich wandte mich wieder dem Automaten zu.
Und dann …
… passierte genau das, was mir grundsätzlich immer in solchen Situationen passierte: Das Ding funktionierte plötzlich nicht mehr. Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Nachdem meine fünf Freunde ohne Probleme und ruckzuck ihre Fahrkarten gekauft hatten, gab das Gerät ausgerechnet bei mir den Geist auf. Nur eine Minute stand ich davor, und – BUMM! – der Touchscreen reagierte nicht mehr. Egal, wie leicht (oder wie fest) ich auf ihm herumdrückte. Blöderweise hatte ich mich kurz vorher vertippt und statt der Schüler-Tageskarte eine Schüler-Jahreskarte ausgewählt. Was den minimalen Preisunterschied von 496 Euro ausmachte. Nur leider kam ich aus dem Menü nicht mehr heraus, der eingebaute (und offenbar sehr geschäftstüchtige) Computer bot mir hartnäckig die Jahreskarte an – oder gar nichts.
»Jetzt komm schon«, murmelte ich, denn die anderen waren schon mit der Rolltreppe entschwebt, die nach unten aufs Gleis führte. Klar, ich hatte ihnen ja auch gerade noch gesagt, sie sollten schon vorgehen.
Schön blöd.
Ich hämmerte mit der flachen Hand auf den Bildschirm, und endlich tat sich etwas – er verfärbte sich leuchtend blau.
»O nein!« Panisch blickte ich mich nach einem zweiten Automaten um. Es gab einen, keine zehn Meter weiter – und davor stand eine Gruppe Anzug tragender Japaner an, mindestens sechs Stück, und die Typen sahen nicht so aus, als ob das bei ihnen schnell gehen würde. Dafür wurde bei denen viel zu viel diskutiert.
Verflixt nochmal. Schwarzfahren schied auf jeden Fall aus, mit meinem Hang zur Ehrlichkeit konnte ich das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Außerdem würde wahrscheinlich bei meinem Glück der Kontrolleur genau neben mir in die Bahn steigen und mich vor versammelter Mannschaft bloßstellen. Darauf wollte ich es ganz sicher nicht ankommen lassen.
Es musste eine Fahrkarte her, jetzt sofort. Die Japaner drückten sich munter durch das Menü (ich hatte mich an sie herangepirscht und konnte ihnen von hinten über die Schulter gucken – endlich mal ein Volk, das so klein war wie ich), waren dabei aber alles andere als flott. Das würde noch ewig dauern.
Resigniert versuchte es noch mal bei meinem Automaten. Der blaue Bildschirm war verschwunden. Da … der Computer startete offenbar gerade neu. Erleichterung machte sich in mir breit.
»Schneller, komm schon. Du schaffst das!«, sagte ich und tätschelte ihm aufmunternd den Münzschlitz.
»Dit is’ne Maschine, da hilft jut zureden jarnüscht«, sagte da jemand hinter mir, und ich zuckte zusammen. Einer der Japaner (die hatten auf einmal alle ihre Karten und gingen zur Treppe) hatte sich zu mir umgedreht. Und war plötzlich viel weniger japanisch, als er aussah. Pfff.
»Aber schaden kann es auch nicht!«, antwortete ich, und er schüttelte nur den Kopf und eilte hinter seinen Kumpels die Stufen hinunter.
Endlich zeigte mir der Bildschirm die Startseite, und ich achtete diesmal darauf, nicht zu schnell zu tippen und auch wirklich nur die Tageskarte auszuwählen.
Da, endlich! Kaum war mein Ticket gedruckt und in den Ausgabeschlitz gefallen, grapschte ich danach und rannte los, meinen Freunden und den unjapanischen Japanern hinterher.
Als ich an die Rolltreppe kam, setzte sie sich sofort in Bewegung – allerdings in die falsche Richtung. Verdammt! Ein kicherndes Paar Mädchen fuhr nach oben. Hätten die nicht die normale Treppe nehmen können? Sie waren doch jung und gesund. Egal. Dann musste ich das jetzt halt tun.
Ich war schon die halbe Treppe runter, als die U-Bahn einfuhr.
»Schnell, Vicky, das ist unsere!«, rief da Konstantin, der mir von der Mitte des Bahnsteigs aus wild zuwinkte. Ich winkte zurück – erleichtert, dass ich ihn gleich entdeckt hatte. Wenigstens etwas.
Sofort fing ich an zu rennen. Wie lange hielt so eine Bahn an der Haltestelle? Eine Minute? Zwei? Und ich musste noch ein gutes Stück den Bahnsteig runter.
Egal, ich würde das schaffen.
Blöderweise hatte ich nicht gedacht, dass so viele Leute aussteigen würden. Klar, es war Samstagmittag, doch plötzlich waren dermaßen viele Menschen vor mir, dass ich mein Tempo rigoros drosseln musste, um niemanden zu schubsen.
Nur noch ein Stück, ein kleines Stück, da vorne war schon Konstantins Haarschopf.
Eine knarrende Stimme tönte über die Lautsprecher am Bahnsteig: »Bitte zusteigen!«
Noch nicht, herrje. Ich musste noch zwei Wagen weiter, ich hatte doch sonst keine Ahnung, wo ich hinmusste …
Und ausgerechnet da versammelte sich auch noch direkt vor mir eine Gruppe mit kleinen Kindern, alle mit roten Baseballkappen auf dem Kopf.
Und was konnten kleine Kinder ganz prima?
Im. Weg. Stehen.
O Mann, ich musste mir einen derben Fluch verkneifen und einen großen Schlenker laufen, um nicht versehentlich jemanden anzurempeln.
Da vorne war Konstantin. Er stand nicht mehr auf dem Bahnsteig, sondern in der Waggontür, mit einem Bein bereits in der Bahn. Er winkte hektisch.
»Vicky, schnell, die anderen sind schon drin!«
»Wartet auf mich!«
Wenn ich wenigstens in den angrenzenden Wagen kam, damit ich meine Freunde durchs Fenster sehen konnte. Vor allem, damit ich wusste, wo sie ausstiegen … aber es war noch ein Stück, und ich steckte plötzlich mitten in dieser Kindergruppe. Die kleinen Bestien hatten mich umzingelt wie ein Rudel Wölfe ein armes kleines Häschen.
»Zurückbleiben, bitte!«
»Nein!!!«, rief ich, aber es war zu spät. Ich konnte noch sehen, dass eine Hand (ich glaube, es war die von Leonard) Konstantin am Shirt packte und in den Wagen zog.
Dann gingen die Türen endgültig zu, und die U-Bahn fuhr los.
Mit meinen Freunden – und ohne mich.
»Hey, die Alte schubst!«, sagte da ein Kleiner und zeigte mit seinem spitzen Zeigefinger auf mich. Und ich war plötzlich versucht, ihm mal zu zeigen, was richtig schubsen war.
Aber jetzt war es zu spät.
Ich stand ohne meine Freunde am Bahnsteig und konnte nur hoffen, dass Konstantin sich daran erinnerte, was wir ausgemacht hatten, als wir letztes Mal gemeinsam in der Stadt waren: Für den Fall, dass wir uns verlieren – vor allem in der Bahn –, würden wir uns direkt an der nächsten Station nach unserer Abfahrt treffen.
Konstantin würde also an der nächsten Station aussteigen, und wenn ich wiederum den nächsten Zug nahm, der laut Anzeige in drei Minuten kommen sollte, würde alles gut.
Ich fühlte mich gleich ein bisschen besser. Den kleinen Schwätzer funkelte ich noch einmal böse an (er traute sich jetzt auch nichts mehr zu sagen, ha!), ehe ich weiterging, ungefähr zu der Stelle, an der Konstantin eingestiegen war.
Dann nahm ich die nächste Bahn. Dass ich kein Handy hatte, machte mich echt wahnsinnig – gerade in solchen Situationen. Wie haben das die Menschen früher gemacht? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass man überhaupt jemanden getroffen hat, wo doch heute die meisten Nachrichten, die man verschickt, sind:
Wo bist du?
Oder:
Ich bin da, aber ich sehe dich nicht.
Oder:
Ich komme zehn Minuten später.
Oder:
Könnten wir uns nicht doch woanders treffen?
Oder:
Ich komme gar nicht.
Zum Glück würde mein smartphoneloses Dasein spätestens heute Abend ein Ende haben.
Ich ließ mich auf einen freien Sitz fallen, auch wenn ich nur eine Station fuhr, und versuchte, mich zu entspannen.
Ich atmete einmal tief durch. Und noch mal.
Und dann – wurde mir schlagartig mulmig.
O nein!
Da war der Zimtschneckengeruch!!!
Es war passiert, schon wieder. Ich war aus meinem Körper verschwunden und in dem einer zweiten Version meiner selbst wieder aufgetaucht. Und zwar ganz woanders – in einer Parallelwelt. In der eigentlich eine andere Vicky lebte, mit der ich gerade den Platz getauscht hatte.
Ausgerechnet jetzt!
Das war schon öfter geschehen, aber weil der Moment dieses Mal so unpassend war wie selten zuvor, wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen – was allerdings nicht ging. Dazu steckte ich plötzlich in viel zu großen Schwierigkeiten.
Wie immer nach der Ankunft in einer anderen Welt wollte ich erst mal so schnell wie möglich die Lage checken – einmal tief Luft holen und mich dann dem Leben meines Parallel-Ichs hingeben. Und dabei versuchen, während unseres Körpertauschs unauffällig zu bleiben, bis ich wieder zurücksprang.
Doch als ich nun versuchte durchzuatmen, füllten sich meine Lungen mit Wasser.
Eine Welle von Panik ergriff mich, ich kniff reflexartig die Augen zu und ruderte wie verrückt mit den Armen. Nach zwei, drei Sekunden war mir zwar bewusst, dass mein Parallel-Ich wohl gerade schwamm oder tauchte, aber leider war das einen Hauch zu spät. Ich sank im Wasser nach unten wie ein alter, durchlöcherter Kahn.
Ich musste mich zusammenreißen, um nicht völlig auszuflippen. Ich brauchte Luft, herrje! Stattdessen musste ich den quälenden Hustenreiz unterdrücken, bis ich wieder an der Oberfläche war, sonst würde ich ertrinken. Aber wo war die verdammte Oberfläche? Momentan war ich völlig orientierungslos. Zum ersten Mal in meiner Parallelsprungkarriere wurde mir bewusst, dass so ein Sprung auch mal schlimm ausgehen konnte.
Dass das hier schlimm ausgehen konnte.
Erst nach ein paar Augenblicken des lähmenden Schocks setzte mein Verstand wieder ein. Ich hielt kurz inne, öffnete dann unter Wasser die Augen, orientierte mich und schwamm schließlich mit zittrigen Gliedern nach oben, zum Licht.
Ein unglaublicher Hustenanfall schüttelte mich, als ich endlich an der frischen Luft war, und ich keuchte und stöhnte und rieb mir die Augen. Ich war in einem Schwimmbad gelandet – den unverwechselbaren Geruch nach Chlor würde ich immer erkennen, sogar ohne etwas zu sehen. Dazu kam, dass es genauso laut war wie in unserem Hallenbad an einem verregneten Ferientag.
Aber Schwimmbad, okay. Dann war dieser Sprung trotz seines unangenehmen Anfangs vielleicht doch nicht ganz so schlimm.
»Vicky!!! Sieh zu, dass du deinen Hintern aus dem Wasser bringst, du bist gleich dran! Was machst du denn so lange?«
Das war eine männliche Stimme, die sich leider ganz prächtig von den Hintergrundgeräuschen abhob, und sie kam von rechts. Sie gehörte einem Typen in Jogginghose, türkisfarbenem T-Shirt und mit einem Klemmbrett in der Hand, der mich aus braunen Knopfaugen anfunkelte. Er sah aus wie Dieter Bohlen mit einem riesigen Schnauzbart, was für sich allein schon erschreckend genug gewesen wäre. Aber die bösen Blicke, die er mir zuwarf, toppten das sogar noch.
Wo hatte ich denn den schon mal gesehen?
Ich zermarterte mir das Hirn, als mein Körper vor meinem Kopf die Situation begriff und sich in Bewegung setzte, in Richtung Beckenrand.
Langsam nahm ich auch den Rest meiner Umgebung wahr. Ich war in einem fremden Schwimmbad, im großen Becken. Und ich war dort ganz allein. Allerdings standen am Rand jede Menge Leute in Sport- oder Badesachen herum, redeten oder machten Übungen.
Und plötzlich schwante mir Böses.
»Du schwimmst gleich im ersten Wettkampf, hast du das vergessen? In einer Viertelstunde geht es los, sieh zu, dass du dich umziehst und noch was trinkst. So ein Getrödel will ich nicht noch mal erleben, verstanden?«
Er zeigte mit einem knubbeligen Zeigefinger auf die große Uhr an der Wand hinter ihm. Diese Geste, in Verbindung mit dem Wort Wettkampf, hatten mich von der einen auf die andere Sekunde zu einem bibbernden Häufchen Elend gemacht.
Ich hatte mich geirrt.
Dieser Sprung hierher war viel, viel schlimmer, als ich gedacht hatte.
Das mit den Parallelweltsprüngen ist ja nicht neu für mich – obwohl ich trotzdem nie wirklich vorbereitet bin und jedes einzelne Mal tierisch aufgeregt.