Zimt und weg - Dagmar Bach - E-Book
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Zimt und weg E-Book

Dagmar Bach

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Beschreibung

Stell dir vor, dein Leben gibt es doppelt … Eines Tages findet Victoria sich an einem ihr vollkommen fremden Ort wieder. Zum Glück dauert das nur ein paar Sekunden, und dann ist sie wieder zurück in ihrem normalen Leben. Aber dann passiert es immer häufiger – und dauert immer länger! Was ist da los? Ihre Freundin Pauline ist überzeugt, dass Vicky in Parallelwelten springt, aber kann das wirklich sein? Und was hat es mit dem intensiven Duft nach Zimt auf sich, der diese seltsamen Sprünge ankündigt? Und wer, verflixt nochmal, nimmt ihren Platz ein, solange sie selbst weg ist, und bringt dort alles durcheinander? Und schnell weiß keiner mehr, wer eigentlich wo in wen verliebt ist. Alle Bände der »Zimt«-Trilogie: Band 1: Zimt und weg Band 2: Zimt und zurück Band 3: Zimt und ewig Sequel: Zimt und verwünscht

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Seitenzahl: 349

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Dagmar Bach

Zimt und weg

Die vertauschten Welten der Victoria KingTeil Eins

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungProlog1.2.3.4.Logbucheintrag von Samstag, den 30. April, 3.39 Uhr5.6.7.8.9.Logbucheintrag von Samstag, den 7. Mai, 21.03 Uhr10.11.12.Logbucheintrag von Montag, den 16. Mai, 18.31 Uhr13.14.15.16.17.Logbucheintrag von Montag, den 23. Mai, 21.25 Uhr18.19.20.21.22.23.24.25.26.27.28.EpilogDrei Tage späterLESEPROBE Band 2: Zimt und zurück2.

Für alle Eltern, die ihren Kindern die Liebe zum Lesen vermitteln.

 

Und ganz besonders für meine.

Prolog

Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass ich in der Damenumkleide unseres Schwimmbads stand und versuchte, mit einem grobzinkigen Kamm meine nassen Haare zu entwirren.

Dann kam der Zimtschneckengeruch, und plötzlich war ich hier, in diesem Zimmer, das auf den ersten Blick ein Büro sein konnte oder vielleicht ein Wartezimmer – und das ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.

Ich war komplett unvorbereitet hier gelandet.

Und ohne den geringsten Anhaltspunkt, warum.

Warum ausgerechnet ich.

Ich fing an, in Gedanken zu zählen – und kam bis fünf.

Denn bei sechs war ich wieder ich, stand in der Umkleidekabine mit dem Kamm in der Hand und einem flauen Gefühl im Magen.

Es war wieder geschehen.

Zum dritten Mal in den letzten zwei Wochen.

Zum elften Mal in den letzten drei Monaten.

Und zum ungefähr achtundzwanzigsten Mal seit meinem zwölften Geburtstag.

Und ich hatte keine Ahnung, wann es wieder passieren würde …

***

Mein Name ist Victoria King. Ich bin knapp fünfzehn Jahre alt, gehe in die neunte Klasse der St.-Anna-Privatschule – und ich habe die ziemlich lästige Angewohnheit, von einer Sekunde auf die andere zu verschwinden und an ganz unterschiedlichen Orten wieder aufzutauchen. Einfach so, ohne Vorwarnung. Und meistens genau dann, wenn ich am allerwenigsten darauf gefasst bin.

Meine beste Freundin Pauline hat jede Menge Theorien zu diesem Phänomen und dazu eine ihrer unvermeidlichen Listen angelegt (sie möchte nämlich mal Wissenschaftlerin werden):

1) Ich verschwinde nicht, sondern falle in einen Sekundenschlaf und träume.

Wäre möglich, ist es aber sicher nicht. Denn ich bin jedes Mal hellwach, wenn es passiert.

2) Ich verschwinde nicht, sondern habe Tagträume, ganz ohne Schlaf.

Diese Theorie weise ich entschieden zurück. So dusselig bin ich nicht, dass ich das nicht merken würde. Außerdem habe ich nur Tagträume, wenn ich beim Schwimmtraining bin. Und die handeln dann meistens von dem Jungen, in den ich mich ein ganz kleines bisschen verguckt habe …

3) Ich verschwinde nicht, sondern habe kurze Blackouts oder Halluzinationen.

Ich habe Pauline verboten, diese Theorie weiterzuverfolgen, denn wenn sie recht hätte, würde das bedeuten, dass ich vermutlich eine schwere Krankheit oder so habe. Die ich natürlich nicht habe, ich bin topfit. Meine Oma sagt auch immer, dass ich so zäh sei wie Opas alte Gummistiefel, und die hat er schon von seinem Großvater geerbt. Und der war, glaube ich, noch ein Kumpel von Kaiser Wilhelm.

4) Ich verschwinde nicht, sondern habe die Geschichte frei erfunden, um mich wichtig zu machen.

Auch diese Theorie ist hinfällig, denn Pauline hat sie damals nur auf ihre Liste gesetzt, um mich zu ärgern, als wir uns mal gestritten hatten. Wir haben uns sofort wieder versöhnt, und natürlich glaubt sie mir, sie ist schließlich meine beste Freundin.

5) Ich verschwinde tatsächlich. Und schlüpfe an einem anderen Ort in einen fremden Körper.

Diese Theorie hat Pauline aufgestellt, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich an diesen anderen Orten (diesmal war es der Frühstücksraum eines schicken Hotels) eine Zeitung gesehen habe mit demselben Datum, an dem ich zu Hause verschwunden bin. Seit diesem Zeitpunkt behauptet sie steif und fest, dass ich, wenn ich weg bin, in Parallelwelten gelandet sein müsse. Also in verschiedenen Welten, die Spiegelbilder unserer eigenen sind, nur eben unter anderen Voraussetzungen. Und seitdem hat sie immer dieses triumphierende Lächeln im Gesicht, wenn ich wieder von einem Sprung berichte, und faselt irgendwelche physikalischen Sachen (dabei verwendet sie Wörter wie Relativitätstheorie und Quantenmechanik – keine Ahnung, was das bedeuten soll).

Ich weiß nicht, ob sie recht hat. Ich weiß nur, dass dieses Verschwinden, Springen – was auch immer – mich vor kurzem in das größte Chaos gestürzt hat, das ihr euch vorstellen könnt.

Aber vielleicht erzähle ich lieber die Geschichte von Anfang an.

Eigentlich begann alles schon an Mimis Hochzeit …

1.

»Und Mimi wollte dir ganz sicher nicht verraten, welche Überraschung sie für uns hat?«, löcherte ich Mum ungefähr zum zwanzigsten Mal heute Mittag, während sie gerade in der Badewanne saß und sich aus Schaum einen Haarberg wie Marge Simpson auftürmte.

»Nein, hat sie nicht. Außerdem wär’s ja sonst auch keine Überraschung mehr«, sagte sie und pappte sich noch einen Vollbart an.

»Ich hasse Überraschungen«, murmelte ich, und das stimmt tatsächlich. Ohne Witz. Ich will immer lieber genau wissen, was mir bevorsteht. Selbst an Weihnachten weiß ich gerne im Voraus, was ich geschenkt bekomme, denn es fällt mir wahnsinnig schwer, mich spontan über etwas zu freuen, was ich eigentlich ganz furchtbar finde. Bei den Geschenken von meinen Großeltern ist das jedes Jahr eine echte Herausforderung. Was würdet ihr zum Beispiel machen, wenn ihr von eurer Oma einen Nasenhaarschneider bekommen würdet? Oder das dritte Aufklärungsbuch hintereinander?

Mum ist da allerdings nicht so voreingenommen. Im Gegensatz zu mir steht sie allem Neuen sehr offen gegenüber.

»Mimi meint es nur gut, und es wird bestimmt lustig. Ist doch super, dass sie sich was für uns überlegt hat!«

Mimi ist eine Schulfreundin meiner Mutter. Jahrelang war sie eingefleischter Single, verpasste keine Party und heulte sich danach immer bei Mum aus, wenn es wieder einmal nicht geklappt hatte mit einem Typen, den sie dort kennengelernt hatte. Bis sie sich vor einer Weile Hals über Kopf in Konrad verliebt hat. Und ab da war alles klar: Gerade mal vier Monate hatte sie gebraucht, ihn dazu zu bringen, sie zu heiraten. Weder Mum noch ich finden das besonders schlimm, im Gegensatz zu Mimis Eltern, denn denen geht das viel zu schnell. Na ja, ein bisschen fragwürdig ist vielleicht die Tatsache, dass Konrad leidenschaftlicher Jäger ist – allein das wäre für mich ein Ausschlusskriterium, egal, wie toll der Kerl ansonsten ist. Aber das muss Mimi ja selber wissen.

Jedenfalls sollte die Hochzeit von Mimi und Konrad an diesem Nachmittag stattfinden, und Mum und ich waren natürlich eingeladen – Mum ist eigentlich immer eingeladen, wenn in unserer Kleinstadt jemand heiratet. Und aus Ermangelung einer männlichen Begleitung (Mum ist schon ewig Single), nimmt sie oft mich mit zu solchen Veranstaltungen.

»Schatz, hol doch noch mal das Rote mit den Punkten. Oder soll ich lieber das Grüne mit der Schärpe anziehen? Ich kann mich einfach nicht entscheiden! Wer weiß, wem wir heute begegnen! Was ist, wenn da plötzlich mein Traummann vor mir steht, und ich habe das falsche Kleid an?«, jammerte sie und brachte das Wasser in der Wanne beinahe zum Überlaufen, weil sie so rumzappelte.

In der letzten Stunde hatte ich ihr ihren halben Kleiderschrank vorgeführt, während sie hier im Bad ihr Schönheitsprogramm durchzog. (Im Gegensatz zu ihr brauchte ich keine Hilfe bei Kleiderwahl oder Styling. Ich besitze sowieso nur ein schickes Kleid, weil ich ansonsten lieber Jeans und bunte Kapuzenshirts trage. Und meine kinnlangen Haare fallen so, wie sie eben fallen. Ich habe keine Frisur. Nur Haare.)

Bei Mum zieht sich die Kleiderwahl manchmal ewig hin, weil sie sich nicht entscheiden kann. Heute brauchte sie mal wieder einen kleinen Schubs in die richtige Richtung.

»Du ziehst das Blaue an. Der Hut dazu ist nämlich der allercoolste von allen.« Das stimmt wirklich. Mum ist eine der wenigen Frauen, die ich kenne, die einen Hut tragen. Und bei ihr sieht es auch überhaupt nicht lächerlich aus, sondern einfach irgendwie richtig. Sie zieht fast ausschließlich knielange Kleider an und hat jedes Mal den passenden Hut – sie macht sich gerne schick, vor allem zu solchen Gelegenheiten wie heute. Sie sieht dann aus wie eine echte englische Lady, obwohl sie vehement leugnet, dass Prinzessin Kate ihr absolutes Vorbild sei, was Mode und Styling angeht. Nichtsdestotrotz könnte sie locker als deren Schwester durchgehen. An guten Tagen sogar als ihre jüngere.

Aber Mum hat nicht nur das passende Äußere, sondern ist tatsächlich durch und durch Fan von allem, was auch nur im Entferntesten mit England zu tun hat: Geschichten aus dem Königshaus, vor Fett triefende Fish & Chips, Linksverkehr, Fünf-Uhr-Tee und sogar Lemon Curd – das ganze Programm, ihr wisst, was ich meine. Und wegen dieser Leidenschaft hat sie auch vor ein paar Jahren bei uns zu Hause ein echt englisches Bed & Breakfast aufgemacht, und Lemon Curd gehört zu unserem Frühstück wie bei anderen Nutella.

Den passenden Mann hat sie dazu auch mal gehabt – mein Dad ist ein echter Engländer, sieht von weitem aus wie Hugh Grant und hat bis heute einen sehr putzigen Akzent, wenn er Deutsch spricht, obwohl er schon viele Jahre hier lebt. Die beiden haben sich allerdings getrennt, als ich noch ein kleines Kind war, und bis heute verstehe ich die Gründe nicht. Aber sobald das Gespräch auf meinen Dad kommt, ist Mum empfindlich und wechselt sofort das Thema, obwohl das Ganze schon so lange her ist.

»Vorsicht, Vicky!«

Zu spät. Mum hatte sich schon aus der Wanne katapultiert, wobei sie beinahe das komplette Badezimmer unter Wasser setzte. Ich sprang zurück und brachte den kleinen blauen Hut in Sicherheit, mit dem sie mindestens so lässig aussehen würde wie Prinzessin Kate bei der Taufe der kleinen Charlotte.

»Bist du sicher, dass ich dich diesmal nicht doch ein bisschen schminken soll?«, fragte sie und wickelte sich in ein riesiges Handtuch.

Nicht schon wieder. »Ganz sicher. Meine jugendlichen Poren werden nicht unnötig verstopft. Mir reicht der dicke Pickel, den ich manchmal auf der Stirn habe.«

»Aber vielleicht kann ich dir zur Abwechslung mal die Haare –«

»Mum!«

»… oder vielleicht die Nägel?«

»MUM!!!«

»Schon gut, schon gut«, murmelte sie, während sie sich trockenrubbelte.

Mum liegt mir immer in den Ohren, dass ich mich doch mal ein bisschen mädchenhafter zurechtmachen soll, aber damit beißt sie bei mir auf Granit. Ich fühle mich nämlich gut, so wie ich bin.

Deswegen versuchte ich wie jedes Mal, wenn sie damit anfängt, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

»Hoffentlich wird es nicht so langweilig wie die Hochzeit von Gitte und Henning«, sagte ich und dachte mit Grauen an dieses schlimmste aller Feste, bei dem wir praktisch die Minuten zählten, bis wir endlich nach Hause durften.

»Solange wir nicht wieder am Tisch mit ihren alten Tanten sitzen, wird das nicht passieren«, sagte Mum und kippte den Inhalt ihrer Schublade des Badezimmerschrankes aus, weil sie ihre Haarnadeln nicht finden konnte. O ja, die Tanten. Die hatten es geschafft, einen ganzen Abend lang nur über Verdauungsstörungen und Inkontinenz zu sprechen (das ist die Krankheit, bei der man nicht mehr merkt, wann man Pipi muss).

Mum hatte gefunden, was sie suchte.

»Jetzt lass uns nicht weiter herumunken, das bringt nur Unglück«, sagte sie energisch, während sie sich mit einem breiten Kamm durch die Haare fuhr. »Wenn Mimi und Konrad heute die Ringe tauschen, dann –« Sie kreischte entsetzt auf. »O Gott, die Ringe!«

»Sag nicht, dass du sie vergessen hast«, sagte ich, aber eigentlich kannte ich die Antwort schon. Mum ist manchmal ein bisschen schusselig.

»Du lieber Himmel, wie konnte ich das nur verschwitzen? Los, los, los, zieh dich sofort an, wir müssen unbedingt vor der Trauung bei Raimund vorbeifahren!«

Raimund Graf ist der Juwelier unserer Stadt, und Mimi hatte Mum schon vor Wochen damit beauftragt, die Eheringe dort abzuholen und zur Kirche mitzubringen.

»Hat denn sein Laden am Samstagnachmittag auf?«, fragte ich.

»Das muss er einfach!« Wie ein Wirbelwind rauschte Mum an mir vorbei in ihr Zimmer, um fünf Minuten später komplett angezogen in der offenen Haustüre zu stehen.

»Kommst du jetzt endlich?«

 

Mum brauchte für die Strecke zu Raimunds Laden nur halb so lange wie jemand, der sich an die Verkehrsregeln gehalten hätte. Doch heute war nun einmal ein Notfall, und Mum würde jedem Polizisten die Geschichte von Mimi und den Ringen so glaubhaft verklickern, dass sie vermutlich ohne Strafe davonkommen würde. Aber niemand hielt uns auf, zum Glück, und keine fünf Minuten später standen wir vor dem kleinen Schmuckgeschäft.

Wo blöderweise die Sicherheitsgitter vor der Tür und den Fenstern schon heruntergelassen waren. Der Laden war geschlossen.

»So ein Mist«, murmelte Mum. Dann packte sie mich am Arm und zog mich mit sich. »Komm, Raimund wohnt hier ganz in der Nähe, er muss uns unbedingt noch mal aufschließen.«

In unserem Städtchen kennt quasi jeder jeden – und man weiß eben meistens auch, wer wo wohnt. Und obwohl das meiner Meinung nach nicht immer toll ist, war es heute auf jeden Fall ein Segen.

Mum zerrte mich ein paar Häuser weiter zu einem kleinen Mehrfamilienhaus. Einer der Briefkästen – und damit eine der Wohnungen – gehörte einem gewissen R. Graf.

Volltreffer.

Mum drückte gleich fünfmal auf den kleinen schwarzen Klingelknopf.

»Meinst du nicht, dass einmal klingeln reicht?«, fragte ich. Meine Mum ist oft ein bisschen überschwänglich, und ich habe manchmal alle Hände voll zu tun, sie zu bremsen. Was nicht immer funktioniert.

Sie guckte nach oben zu den Fenstern, hinter denen sie Raimund vermutete, und schüttelte den Kopf.

»Anscheinend nicht.« Sie drückte noch ein paarmal. Und kniff die Augen zusammen. »Da hat sich doch der Vorhang bewegt, oder etwa nicht?«

Ich lief ein Stück Richtung Straße, um besser sehen zu können. Tatsächlich wackelte die Gardine hinter dem oberen linken Fenster ein bisschen.

»Na warte, dich krieg ich schon«, murmelte Mum, ging ein paar Schritte in den kleinen Vorgarten und bückte sich. Um im nächsten Moment eine Handvoll Kieselsteine mit voller Wucht gegen Raimunds Fenster zu pfeffern. Dass die Scheiben dabei heil blieben, grenzte beinahe an ein Wunder, denn die kleinen Geschosse machten so einen Lärm, dass das Rentnerehepaar aus dem Parterre sofort die Rollläden mit einem lauten Knall herunterfahren ließ. Die dachten wahrscheinlich, dass gerade ein spontaner Hagelsturm über sie gekommen war.

Mum war das allerdings völlig egal. »Ich kann dich sehen, Raimund, mach sofort die Tür auf!«, plärrte sie nach oben. Und als sie erneut ausholte, um noch eine Ladung Steine zu werfen, ging das Fenster endlich auf, und Raimund starrte ziemlich böse auf uns herab. Zur Abwechslung trug er nicht seinen spießigen braunen Tweedanzug, sondern ein weißes Rippunterhemd, was so gar nicht zu seiner sonst seriösen Erscheinung als Juwelier passte.

»Bist du verrückt geworden, Meg?«, schnauzte er Mum an.

»Ich hab Mimis Ringe vergessen! Du musst noch mal kurz mit in deinen Laden kommen.«

»Und deswegen wirfst du hier die Fenster ein? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!«

»Ich bring dir nachher dafür ein Stück Hochzeitstorte vorbei.«

»Ich hab jetzt Feierabend und will in Ruhe das Fußballspiel gucken. Außerdem esse ich keine Torte!«

»Gut, dann keine Torte. Aber dann komm morgen früh zu uns zum Frühstücken.«

»Frühstück, du meine Güte! Ja, was glaubst du denn? Ich fahre doch nicht extra zu euch rüber, nur um zu frühstücken. Da musst du dir schon was Besseres einfallen lassen.«

Mum überlegte kurz. »Wenn deine Tante das nächste Mal zu Besuch kommt, kann sie bei uns im Bed & Breakfast schlafen. Dann hast du sie nicht am Hals.«

Raimund, der gerade das Fenster wieder zuschlagen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Er schien Mums Angebot tatsächlich in Erwägung zu ziehen.

»Wie lange?«, rief er nach unten.

»Was meinst du?«, fragte Mum.

»Wie lange kann sie bei euch bleiben?«

Auf Mums Gesicht breitete sich ein Lächeln des Triumphs aus. Sie hatte ihn. »Vielleicht eine Woche?«

Raimund kratzte sich seinen dicken Schnurrbart, der immer besser zu seinem ausgeleierten Unterhemd passte, je länger man hinguckte.

Dann murmelte er etwas Unverständliches und schloss das Fenster. Mum und ich guckten uns unsicher an, aber als keine Minute später die Haustüre aufging und Raimund in Unterhemd, lila Jogginghose und Badelatschen auf uns zukam und in seiner Hand ein dicker Schlüsselbund klirrte, war Mum so erleichtert, dass sie ihm kurzerhand um den Hals fiel.

Was Raimund knallrot anlaufen ließ.

»Ich mach das nur wegen der alten Schreckschraube, hörst du? Das wird dir noch leidtun, wenn du die erst mal kennenlernst«, nuschelte er und schlappte missmutig in die Richtung, in der sein Laden lag.

»Schon möglich«, sagte Mum, die vor Freude wie eine Sechsjährige neben ihm herhüpfte, »aber nicht heute. Du rettest mir gerade das Leben.«

Raimund murmelte noch irgendetwas und versuchte dabei, möglichst ärgerlich zu gucken. Aber ich war mir sicher, dass er unter seinem Schnäuzer doch ein kleines bisschen gelächelt hatte, als wir endlich in seinem Laden waren und er Mum das kleine Päckchen mit den Ringen aushändigte.

Mum kann man einfach nicht böse sein.

Und als sie ihm zum Dank schließlich einen Kuss auf die Wange hauchte, bekam er sogar rosige Bäckchen.

 

»Zum Glück ist das noch mal gutgegangen!« Mum seufzte erleichtert, als wir gerade rechtzeitig vor der Hochzeit an der Kirche ankamen und die Ringe den Trauzeugen übergeben hatten.

»Ab jetzt können wir uns entspannen. Das wird heute total super, das hab ich im Gefühl. Wenn einer Feste feiern kann, dann Mimi. Lass uns den Tag einfach nur genießen und es uns richtig gutgehen lassen.«

Dass wir den heutigen Tag alles andere als genießen würden, wussten wir zum Glück noch nicht, als wir kurze Zeit später mit den anderen Gästen unsere Plätze einnahmen. Womöglich hätten wir uns sonst noch etwas einfallen lassen, um dem ganzen Schlamassel zu entkommen.

2.

Wie gesagt, ich hasse Überraschungen, und wie recht ich damit hatte, sollte ich direkt nach der Trauung erfahren. Als Mimi uns nämlich vor dem Lokal, in dem die Feier stattfinden sollte, konspirativ beiseitenahm und zuflüsterte, dass sie ihre eigene Hochzeit dafür nutzen wollte, um mittels gezieltem Brautstraußwurf selbst eine neue Ehe zu stiften, wäre der passende Zeitpunkt für Mum und mich gewesen, uns zu verdrücken.

Was wir natürlich aus Höflichkeit nicht taten.

Und jetzt bitterlich bereuten.

»Wir könnten sagen, unser Hund hätte eine akute Gastroenteritis«, zischte Mum, die neben mir am Tisch saß und sich am Stiel ihres Weinglases festklammerte. Wir hatten gar keinen Hund, und ob es wirklich eine Gastro-Dingsbums gab, war höchst fraglich. Doch wir hatten das dringende Bedürfnis, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden.

»Aber wir würden wahrscheinlich noch nicht mal bis zur Garderobe kommen.« Mum seufzte, und ich gleich mit ihr.

Sie hatte recht. Es war aussichtslos.

Seit diesem Nachmittag waren wir beide in einem Albtraum gefangen, der kein Ende zu nehmen schien, und ich betete regelrecht, dass endlich irgendetwas passierte, was uns von unserem Leid erlösen würde. Aber wenn man einmal im Leben einen echten Notfall brauchte, war natürlich weit und breit keiner in Sicht.

Dabei geht bei uns zu Hause ständig etwas schief, ganz besonders dann, wenn Mum und ich nicht da sind. Da klingelt das Handy keine halbe Stunde, nachdem wir das Haus verlassen haben. Meine Großeltern, die auch bei uns wohnen, haben nämlich ein Händchen für Missgeschicke. Entweder hat meine Großmutter ihren Hausschlüssel vergessen, oder das Heizungsrohr ist geplatzt oder der Kragen meines mauligen Großvaters, weil er sich über meine Großmutter oder geplatzte Rohre aufregt. Irgendwas ist einfach immer bei uns los.

Aber heute Abend – nichts.

Keine Katastrophen weit und breit.

So ein Mist.

 

Mimis Überraschung bestand nämlich darin, unter anderem für Mum und mich die perfekten Partner auf dem Fest bereitzuhalten. Sie hatte dafür so lange an Gästeliste und Sitzordnung gefeilt, bis sie drei ihrer Ansicht nach ideal besetzte Singletische geschaffen hatte, die natürlich allesamt etwas abseits standen. Nicht zu nah an Brauttisch, Tanzfläche und Musik, so dass man auch ja nichts vom Spaß mitbekam und sich die ganze Zeit unterhalten musste – während man außerdem noch am längsten von allen auf sein Essen wartete.

Am ersten Singletisch saßen vier Senioren, zwei Herren und zwei Damen, die augenscheinlich kein Problem mit Mimis Plänen hatten, sondern die ganze Zeit fröhlich vor sich hin plauderten. Beim näheren Hinsehen sah ich zwar, dass alle gleichzeitig redeten, offensichtlich jeder mit sich selbst, aber das schien die Herrschaften nicht zu stören. Vermutlich war das sogar angenehmer, als sich mit den anderen rumschlagen zu müssen.

Am Tisch daneben saß unser Bürgermeister Laslo Müllerbeck-Albarese mit drei Arbeitskolleginnen von Mimi, allesamt alleinstehend, und allesamt äußerst attraktiv. Immer wenn ich zu ihnen rüberschaute, lachten sie entweder laut oder köpften eine neue Flasche Wein oder beides zusammen, was mich ziemlich neidisch machte. Nicht das mit dem Wein natürlich, sondern dass es hier anscheinend auch Leute gab, die trotz der fiesen Manipulation der Braut einen richtig netten Abend hatten. Die drei Mädels gackerten jedenfalls die ganze Zeit fröhlich vor sich hin, und der Bürgermeister hat italienische Vorfahren und damit von Haus aus ein sonniges Gemüt. (Seinen echten Namen benutzt eigentlich niemand, weil sich die Leute in unserem Ort einig sind, dass so ein alberner Name nicht zu so einem schönen Mann passt. Also heißt er bei allen nur der Bürgermeister.) Und genau wie die drei Damen schien auch er trotz der Kuppelei bestens gelaunt zu sein.

Im Gegensatz zu uns. Denn Mum und ich saßen zusammen mit einem gewissen Albert und seinem Sohn Albert junior am Tisch. (Mimi – genau wie meine Mum ein großer Fan von englischer Geschichte – dachte wohl, es sei besonders witzig, uns mit einem Vater-Sohn-Gespann zu verkuppeln, und speziell mich, Victoria, mit jemandem, der Albert hieß. Victoria und Albert, wie die frühere englische Königin und ihr Ehemann. Zum Totlachen.)

Albert und Albert allerdings waren von Mimis Verkupplungstaktik mehr als begeistert – gelinde ausgedrückt. Anscheinend waren Mum und ich für die beiden der Volltreffer, auf den sie ihr ganzes Leben lang gewartet hatten, weswegen sie uns ab dem Moment, in dem sie uns kennenlernten, nicht von der Seite wichen.

Albert senior war ein Mann um die fünfzig, hatte kaum noch Haare, dafür umso mehr schlechte Witze auf Lager. Und er hatte offensichtlich einen Narren an meiner Mum gefressen. So ließ er an diesem Tag nichts unversucht, sie um einen seiner dicken Wurstfinger zu wickeln. Er klebte an ihr wie ein angelutschtes Bonbon und tatschte an ihrem Arm rum, wenn er mal wieder etwas besonders witzig fand, was er gerade sagte (und er fand sich eigentlich die ganze Zeit witzig). Und als er merkte, dass Mum nicht anzubeißen schien, sank er sogar so tief, ihr seine Geldklammer aus Messing zu zeigen, ein Erbstück seines Urgroßonkels (oder seines Sparkassen-Beraters, da war ich nicht ganz sicher).

Seine komplette Lebensgeschichte kannten wir sowieso schon seit dem Kaffeetrinken: Er war geschieden und Bauunternehmer, seine Vorlieben bei Damen (hübsche brünette Frauen in blauen, knielangen Kleidern mit passenden Hütchen) und sein Hobby – wie Konrad war auch er Jäger. (Für mich war allerspätestens hier die Sache erledigt. Für Mum war es schon vorher vorbei, genau genommen als sie hörte, dass sein Sohn genauso hieß wie er selbst. Sie unterstellte ihm sofort, dass das vermutlich der einzige Name war, den er korrekt schreiben konnte.)

Genau wie er war sein Sohn Albert junior einfach nur grauenhaft, auch wenn der nicht ganz so viel redete wie sein Vater. Dafür roch er unangenehm, nach einer Mischung aus ungewaschenen Achseln und angebratenen Zwiebeln. Außerdem bohrte er in der Nase, wenn er meinte, wir guckten gerade nicht hin, und schmierte seine Beute dann gedankenverloren irgendwohin, so dass man in seiner Nähe tierisch aufpassen musste, wo man hinfasste.

Gott, war mir schlecht.

Und ausgerechnet jetzt wurde auch noch das Dessert aufgetragen, auf das ich mich so gefreut hatte, weil wenigstens dieser eine Gang bestimmt ohne Fleisch sein würde. Ich wusste nämlich nicht, ob ich jemals wieder einen Bissen herunterkriegen würde, nachdem Albert senior uns in allen Einzelheiten erzählt hatte, wie man das Reh, das es zum Hauptgang gab, nach der Jagd fachgerecht ausweidete. Was dazu führte, dass Mum immer nur vor sich hin murmelte: »Ich kann doch nicht Bambi essen!«, und wir beide letztendlich von unseren Tellern nur die Spätzle mit Preiselbeeren aßen.

Zum Nachtisch stellte uns die Bedienung eine riesige Platte Apfelstrudel auf den Tisch, dazu eine von diesen schnörkeligen Porzellankännchen mit Vanillesoße. Aber ehe ich auch nur die Hand heben konnte, um mich zu bedienen, hatte Albert senior sich schon die Platte gegrapscht.

»Wartet, meine Schönen, lasst den Albert das mal machen!«

Und Albert machte – leider war er dabei so schwungvoll, dass die Hälfte der Soße danebenging und – wie konnte es anders sein – auf mir landete. Und meinem Kleid. Und meinem Dekolleté.

»Ach, du lieber Himmel, was ist denn da passiert?« Natürlich kam genau jetzt Clarissa Cloppenburg an unserem Tisch vorbei. Klar, bei meinem Glück musste es ja so sein. Wenn ich mich schon blamieren musste, dann bitte auch mit genügend Zuschauern.

Clarissa ist die Mutter von einem Mädchen aus meiner Klasse, Claire, die so ungefähr die größte Nervensäge unserer Schule ist, die man sich vorstellen kann – hochnäsig, oberflächlich, blondiert und viel zu stark geschminkt. Überhaupt sind die Cloppenburgs so was wie die Geissens von unserem Ort – bekannt, stinkreich und oft ein bisschen peinlich. Sie wohnen in einem riesigen Haus am Rande des Golfplatzes, und jeder, der sich für etwas Besseres hält, möchte mit ihnen befreundet sein. Warum, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen, denn meiner Meinung nach sind das einfach ziemlich arrogante, humorlose Snobs.

»Meg, du siehst ja mal wieder entzückend aus!« Clarissa hauchte meiner Mum Luftküsse auf die Wangen und begann, munter auf sie einzuschnattern, während ich versuchte, mit einer Serviette die schlimmsten Flecken von meinem Kleid zu wischen. Und von meinem Busen.

Clarissa unterbrach ihren Redeschwall und zeigte zu einem Tisch am anderen Ende des Saals.

»Seht mal, sieht unsere Claire nicht wieder ganz entzückend aus heute Abend?« Und als ob Claire geahnt hatte, dass es um sie ging, drehte sie sich auf ihrem Stuhl um und grinste mir hämisch zu, während ich gerade sogar Soße in meinen Haaren entdeckt hatte und mir verstohlen eine Strähne trockenrubbelte.

»Und ihr Freund ist so ein netter junger Mann. Die beiden passen so entzückend zusammen, findet ihr nicht auch?«

Das ist mir so was von egal, du blöde Schnepfe. Und wenn ich jetzt noch einmal das Wort entzückend höre, bekommst du auch gleich eine Ladung Vanillesoße ins Gesicht. Das wäre sicher auch ganz entzückend .

Aber obwohl weder Mum noch ich antworteten, war sie richtig in Fahrt. »Ihr kommt doch zu unserer kleinen Geburtstagsparty?«

»Natürlich, wie jedes Jahr. Das können wir uns nicht entgehen lassen.« Mum lächelte tapfer und nahm einen großen Schluck aus ihrem Weinglas. Und noch einen. Bis es leer war.

»Und denkt daran – eure Einladung gilt jeweils für zwei Personen.« Clarissa zwinkerte den Alberts zu, die sofort anfingen, dämlich zu grinsen. Das fehlte gerade noch. Lieber bleib ich zu Hause, als noch einmal freiwillig mit diesen beiden Hirnis zusammenzutreffen.

»Ich geh mich mal kurz frisch machen«, murmelte ich und flüchtete von unserem Albtraumtisch. Sorry, Mum, aber Clarissa und die beiden Alberts und Vanillesoße in den Haaren sind mir leider gerade ein bisschen zu viel.

Wie gern hätte ich jetzt meine beste Freundin Pauline bei mir gehabt! Die würde mich auch in so einer Situation zum Lachen bringen und diesem blöden Albert junior mal ordentlich den Kopf waschen. Aber leider hatte ihre Oma heute siebzigsten Geburtstag, weswegen sie mich nicht auf die Hochzeit begleiten konnte, und damit war ich völlig auf mich alleine gestellt. Ich fühlte mich hundeelend, als ich mich auf den Weg zu den Waschräumen machte.

 

Ich brauchte tatsächlich eine halbe Ewigkeit, um mich wieder einigermaßen sauberzumachen. Und natürlich kam die entzückende Claire genau in dem Moment herein, als ich die feuchten Flecken auf meinem Kleid unter dem Händetrockner bearbeitete, indem ich unter ihm herumtänzelte wie unter einer Limbostange. Was ziemlich dämlich ausgesehen haben muss.

»Na, hast du dich mal wieder bekleckert wie eine Dreijährige? Oder versteckst du dich vor deinem neuen Verehrer?«, kicherte Claire und warf abwechselnd ihrem Spiegelbild kokette Blicke zu und mir spöttische. Das musste man erst mal hinbekommen.

»Ich hab das Essen nicht vertragen«, murmelte ich, zugegeben wenig einfallsreich, aber mir war über den Tag meine jugendliche Spontaneität komplett abhandengekommen. Ich fühlte mich mürbe wie Omas scheußliche Heidesand-Plätzchen.

Claire holte währenddessen einen erstaunlich großen Lippenstift aus ihrer erstaunlich kleinen Handtasche und begann, sich im Zeitlupentempo die Lippen nachzumalen, in Knallrot.

»Das kommt davon, wenn man Fleisch isst. Also, ich muss sagen, für mich als Vegetarierin war es ein ganz schön harter Tag – das Menü war eine Zumutung!«

Ach, und für mich war der Tag so viel besser, oder was? Blöde Kuh.

»Du musstest ja nichts vom Fleisch essen.«

»Hab ich auch nicht. Ich hatte nur die Gemüsesuppe und heute Nachmittag auf dem Empfang etwas Erdbeerkuchen«, sagte sie und presste die Lippen aufeinander.

Ach Gott. Da konnte ich mir jetzt aber einen kleinen Spruch nicht verkneifen.

»Die Suppe war aus Fleischbrühe. Und der Guss vom Erdbeerkuchen war Gelatine. Du weißt schon, das Glibberzeug aus Rinderknochen.«

»Du lügst doch!«, fauchte sie mich an und warf ihren Lippenstift zurück in ihre Tasche.

»Wieso sollte ich?« Ich ließ mich auf das wackelige Höckerchen fallen, auf dem sonst die Toilettendame saß. Das Leben meinte es heute nicht besonders gut mit mir, und für einen kurzen Moment spielte ich mit dem Gedanken, einfach hier sitzen zu bleiben, bis dieser unglückselige Tag vorbei war.

Claire hatte diese Probleme offensichtlich nicht.

»Ich muss wieder zurück. Mein Date wartet auf mich.« Das Wort Date betonte sie dabei so affektiert, dass ich ihr am liebsten die kleine Seifenschale an den Kopf geworfen hätte, in die man seine Münzen legen sollte.

Und mit einem letzten fiesen Grinsen auf den knallroten Lippen schwebte sie leider sehr elegant auf ihren hohen Hacken wieder zur Tür hinaus.

Entzückend.

 

Ich vertrödelte noch ein paar Minuten, wusch mir umständlich die Hände und zupfte meine Haare zurecht, was aber praktisch gar nichts half. Und irgendwann bekam ich doch ein schlechtes Gewissen, Mum so lange mit dem Grapscher und dem Stinker alleine zu lassen, so dass ich mich wohl oder übel auf den Rückweg machen musste.

Doch ehe ich mich wieder an den anderen Tischen vorbeischieben konnte (bildete ich mir das ein, oder guckten mich die Leute schon ein bisschen mitleidig an?), hatte Mimi mich von hinten unbemerkt an den Schultern gepackt.

»Liebes, du kommst genau rechtzeitig zum Brautstraußwerfen«, sagte sie und schob mich durch die Menge auf die Tanzfläche. Dort standen schon Mum mit einem müden Lächeln und keine zehn Schritte weiter die Alberts mit glühenden Augen.

Es wurde tatsächlich immer schlimmer. Natürlich entdeckte ich nicht weit von uns schon wieder Claire, die mich überheblich angrinste und dabei demonstrativ ihre Hand auf die ihres Dates legte, der regungslos neben ihr stand.

Jetzt erkannte ich ihn auch. Es war dieser neue Junge aus der Klasse über uns, Konstantin irgendwas, in den die Hälfte der Mädels in unserer Schule verknallt ist, seit er letztes Jahr hierhergezogen war. Die andere Hälfte steht auf seinen besten Freund Nikolas. Der ist halber Grieche und sieht mit seinen braunen Knopfaugen so niedlich und harmlos aus wie ein Teddybär – was allerdings ziemlich täuscht, wie man so hört.

Pauline und ich fielen komplett aus dem Raster, was die Schwärmerei betraf. Weder sie noch ich fanden einen von beiden auch nur ansatzweise gut. Pauline verliebte sich prinzipiell nicht, und ich war der Ansicht, dass es jemand noch viel Tolleres gab. (Sein Name ist David. Der aus meinen Tagträumen. Er gehört zwar auch zu Konstantins Clique, aber er ist viel, viel cooler als er und Nikolas zusammen.)

Dass dieser Konstantin tatsächlich mit Claire ausging – und noch dazu auf eine Hochzeit –, disqualifizierte ihn schon mal grundsätzlich für jedes normale Mädchen bis zu seinem Schulabschluss, mindestens. Denn Claire ist – nun ja, sie ist eben einfach Claire.

Aber wenn ich ehrlich war: So wie der gerade guckte, war er wahrscheinlich auch nicht besonders helle. Claire schnatterte nämlich ohne Punkt und Komma auf ihn ein, kicherte immer wieder und warf ihr Haar kokett über ihre Schultern zurück – sie zog ihr komplettes Programm ab, doch Konstantin verzog maximal einen Mundwinkel ein bisschen nach oben, nickte und zeigte sonst keine Regung. Aber vielleicht hatte er ja nur faulige Zähne und wollte deswegen nicht lachen, denn ich kenne tatsächlich keinen Jungen an unserer Schule, der gegen Claire und ihre Flirtkünste immun ist. Ja, das musste es sein. Und bei so fiesen Zahnproblemen nutzte einem auch kein schicker dunkler Anzug oder ein auf den ersten Blick zugegeben gutes Aussehen was. Ich meine, nur weil er groß und sportlich ist und so ein ebenmäßiges, ausdrucksvolles Gesicht hat mit diesen dichten, kastanienbraunen Haaren, die ihm lässig in die Augen fallen, braucht er sich noch lange nichts einzubilden.

Die Band spielte einen kurzen Tusch, was mich in die böse Wirklichkeit zurückholte. Mimi hatte sich das Mikro geschnappt und war voll in ihrem Element.

»So, meine Lieben, jetzt kommt einer der Höhepunkte des Abends – das Brautstraußwerfen! Alle alleinstehenden Damen bitte auf die Bühne!«

Ich bewunderte in diesem Augenblick meine Mum einmal mehr. Sie hatte bis jetzt ihre königliche Haltung nicht verloren, sondern sah trotz des schlimmen Tages immer noch wunderschön aus. Sogar ihr Hut saß noch perfekt. Kein Wunder, dass Albert senior schon wieder beinahe anfing zu sabbern.

Was meinen Dad damals geritten hatte, sie zu verlassen, als ich noch ganz klein war, war mir nach wie vor ein absolutes Rätsel. Und würde es wohl auch bleiben, weil es sowohl bei Dad als auch bei Mum und meinen Großeltern als großes Tabuthema gilt.

Mit uns war nur eine Handvoll anderer Mädels auf der Tanzfläche. Davon waren zwei über siebzig und drei unter zehn, so dass es für Mum und mich noch erniedrigender war, als es sich jetzt vielleicht anhört. Von den Schnepfen, die am Tisch vom Bürgermeister saßen, war allerdings weit und breit nichts zu sehen. Vermutlich waren die schon zu viert durchgebrannt und feierten irgendwo privat weiter.

»Ich werde ihn ganz bestimmt nicht fangen«, raunte Mum mir zu und verschränkte demonstrativ ihre Hände auf dem Rücken. Das konnte ich nur zu gut verstehen – ich wollte diesen bescheuerten Brautstrauß auch nicht. Ich wollte einfach nur nach Hause.

»Wenn sie sich umdreht, um sich das Teufelsding über die Schulter zu werfen, hauen wir ab, okay?«, zischte sie und versuchte mit letzter Kraft, ihre Lippen zu einem Lächeln zu verziehen.

»Aber Mum, das würde Mimi uns nicht verzeihen!«

»Was sie hier heute abgezogen hat, werde ich ihr auch nie verzeihen.« Ja, da war allerdings was Wahres dran.

Tja, und was, denkt ihr, könnte für die liebe Vicky noch blöder und peinlicher in dieser Sekunde sein, als den Strauß zu fangen?

Richtig.

Den Strauß mit voller Wucht an den Schädel gedonnert zu bekommen.

Was natürlich bei der kompletten Hochzeitsgesellschaft noch mal für einen dicken Lacher auf meine Kosten sorgte. Tiefer konnte ich heute wirklich nicht sinken.

»Und jetzt wird getanzt!«, schrie Mimi, und während alle um mich herum grölten und auf die Tanzfläche drängten, wollte ich einfach nur in ein Erdloch versinken und nie, nie wieder auftauchen.

3.

Ich erspare euch lieber die unschönen Details. Denn Tanzen ist eine tolle Sache, sagt zumindest Mum immer, und etwas, was jeder beherrschen sollte. Man könne es bei vielen gesellschaftlichen Anlässen gebrauchen, und es gehöre genauso zur Allgemeinbildung wie Dreisatz-Rechnen. (Ich für meinen Teil tanze auf jeden Fall besser, als ich rechne. Mein Mathelehrer würde Mums Meinung also nicht teilen.) Aber nicht jedes Tanzsportgerät sei gleich gut geeignet (also quasi der jeweilige Partner), und manchmal passe man einfach nicht so gut zusammen.

Und sagen wir mal so: Weder Albert junior und ich noch Albert senior und Mum passten in irgendeiner Weise auch nur ansatzweise zusammen. Ich fühlte mich jedenfalls die ganze Zeit, als ob ich mit einem Fahrrad Walzer tanzen würde. Aber Mum und ich brachten auch diese Tortur mit so viel Würde hinter uns, wie es in dieser Situation möglich war.

Dabei versuchte ich außerdem, Claire so gut es ging zu ignorieren, die weiterhin am Rand der Tanzfläche stand und jeden meiner Schritte mit hochnäsiger Miene beäugte. Aber immer, wenn ich hinguckte, hatte ich das Gefühl, dass sie selbst auch gerne tanzen würde. Allerdings machte Faulzahn-Konstantin nicht die geringsten Anstalten, sie aufs Parkett zu führen, und erst jetzt sah ich auch, wieso: Er hatte einen dick eingebundenen Fuß und in jeder Hand eine Krücke.

Ha! Das geschah ihr recht, denn Claire tanzte bestimmt ganz hervorragend. Und entzückend.

Nach fünf Songs machte die Band endlich eine Pause, und Mum und ich konnten uns für einen Augenblick von den beiden Blödmännern losreißen – entnervt, schweißgebadet, Mum mit einem feuchten Handabdruck auf ihrem Kleid und ich mit total zertrampelten Ballerinas.

Und dann taten wir endlich das, was jeder vernünftige Mensch an unserer Stelle schon längst getan hätte.

Wir schickten die Alberts zur Bar, um uns etwas zu trinken zu holen – und verdrückten uns in der Zwischenzeit schnell durch die Küche und den Lieferanteneingang des Lokals nach draußen.

Und rannten los, so schnell wir konnten.

 

»Zwing mich bitte niemals wieder, mit auf eine Hochzeit zu gehen!«, keuchte ich, als wir nach drei Straßenkreuzungen endlich langsamer wurden. Meine Füße brachten mich beinahe um, obwohl ich noch nicht mal Schuhe mit Absatz trug, im Gegensatz zu Mum. Aber die war sogar in ihren Pumps noch schneller gerannt als ich.

»Dass es so wird, war leider vorher nicht abzusehen.« Sie wurde langsamer und zupfte sich dabei ein paar Falten aus dem Kleid.

»Und Claire, diese doofe Kuh. Jetzt hat sie endlich wieder was, womit sie mich aufziehen kann. Mir wird schon ganz schlecht, wenn ich an diese doofe Cloppenburg-Party nächsten Monat denke.«

Okay, okay, es war keine doofe Party. Da brauchte man sich nichts vorzumachen. Die Partys von Claire und ihren Eltern sind nämlich in Wirklichkeit riesige, rauschende Feste und absolut legendär in unserem Städtchen, das muss ich leider zugeben. Die drei Cloppenburgs – also Vater, Mutter und Claire – haben nämlich alle am gleichen Tag Geburtstag, was natürlich jedes Jahr gefeiert wird, und zwar komplett übertrieben. (Auf die meiner Meinung nach berechtigte Frage, ob Claire denn wirklich zufällig an diesem Tag zur Welt gekommen sei oder ob nicht doch durch einen geplanten Kaiserschnitt nachgeholfen wurde, reagiert Claires Mutter bis heute jedes Mal wieder empört. Wie käme man denn nur auf diese Idee? Natürlich war es eine spontane Geburt, ein totaler Zufall!!! Nee, ist klar …)

Außerdem stand die Party jedes Jahr unter einem anderen Motto. Dieses Jahr war es Die goldenen Zwanziger – Let’s party like Gatsby, was Mum total begeisterte, auch wenn es nicht wirklich was mit England zu tun hatte. Aber sie liebt es einfach, sich zu verkleiden und stundenlang am perfekten Outfit zu feilen. Ich allerdings hasse es. Und ich hasste jetzt schon diese Party.

»Ich will auch mal entzückend sein. Und nicht die, der die Vanillesoße in den Haaren und überall sonst hängt.« Ich wollte nicht so weinerlich klingen, aber für den Moment konnte ich mich echt kaum noch zusammenreißen.

»Du bist entzückend. Viel entzückender als Claire!« Mum blieb stehen und umarmte mich spontan.

»Und warum hatte ich dann den ganzen Abend diesen widerlichen Nasenpopler an der Backe und keinen wirklich coolen Jungen?«

So wie David zum Beispiel.

»So cool war der von Claire heute auch nicht«, sagte Mum. »Ich wette, der hatte nur die Krücken dabei, damit er nicht mit ihr tanzen musste.«

»Vielleicht. Außerdem hat er faulige Zähne«, murmelte ich, und meine Stimme zitterte verdächtig.

Mittlerweile waren wir an unserer Gemeindewiese angekommen, ein kleiner, parkähnlicher Marktplatz, in dessen Mitte das Denkmal des Gründers unserer Stadt prangt: Sigismund der Schöne (ob er wirklich so hieß, kann heute allerdings niemand mehr beweisen). Leider war das Abbild des guten Sigismund nicht ganz ideal getroffen – beziehungsweise hoffte ich für ihn, dass er in echt ein wenig besser ausgesehen hatte. Wegen seines unglücklich abgebildeten Profils meint meine Tante Polly nämlich immer, er sehe aus wie eine Mischung aus Ozzy Osbourne und Taylor Swift. Ursprünglich hatte Sigismund der Schöne ein Schwert in der Hand, aber jemand war anscheinend der Meinung, das passe nicht so gut zu unserem Ort, und hatte das Ding kurzerhand entfernt. Seitdem hat Sigismund jedes Mal etwas anderes in der Hand, wenn ich an ihm vorbeikomme. Heute war es ein kaputter Blümchenregenschirm.

Mum nahm meine Hände. »Okay, du hast recht. So kann es nicht weitergehen.« Sie sah mir in die Augen. »Dann müssen wir beide eben ein bisschen nachhelfen, damit uns das nicht noch einmal passiert.«

»Nachhelfen?«, fragte ich schniefend.

»Ja, genau. Wir sind doch zwei starke Frauen. Wir haben was viel Besseres verdient als diese beiden Hampelmänner von vorhin.« Sie lächelte. »Weißt du, was? Wir beide schwören uns jetzt, dass wir beim Fest der Cloppenburgs den perfekten Begleiter haben werden. Du und ich.« Sie legte eine Hand auf ihr Herz und die andere an ihr Hütchen. »Komm, mach mit! Hiermit schwören wir –«

»Aber das ist doch schon so bald!«, unterbrach ich sie.

»Es sind noch fünf Wochen bis dahin, das wird doch wohl zu schaffen sein. Also los, Vicky, zusammen.« Sie räusperte sich. »Hiermit schwören wir, dass wir zur Cloppenburg’schen Party den perfekten Begleiter haben werden«, sagte sie feierlich.

Ich blinzelte die aufwallenden Tränen zurück, aber wiederholte den Schwur murmelnd. Obwohl mir eigentlich überhaupt nicht danach war.

»Das funktioniert nie im Leben.« Ich bin von Natur aus Skeptikerin. Habe ich das schon erwähnt?

Aber Mum blieb optimistisch.

»Warum denn nicht? Und wenn es nicht klappt, können wir immer noch die Alberts fragen, ob sie mit uns hingehen. Kleiner Scherz!«, fügte sie schnell hinzu, als ich jetzt beinahe wirklich anfing zu heulen. Normalerweise habe ich überhaupt nicht nah am Wasser gebaut, nur heute war mir einfach alles zu viel.

Aber die Umarmung meiner Mutter tat in dem Moment einfach gut, und Arm in Arm schlenderten wir schließlich durch die laue Frühlingsnacht nach Hause.