Zimt und Zucker für die Liebe: Drei Romane in einem eBook - Stella Conrad - E-Book
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Zimt und Zucker für die Liebe: Drei Romane in einem eBook E-Book

Stella Conrad

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Beschreibung

Charmant, turbulent und immer herzerwärmend: Drei Feelgood- Romane in einem Band – »Zimt und Zucker für die Liebe« von Stella Conrad jetzt als eBook bei dotbooks. Während Konditorin Helene noch ihre Hochzeitstorte dekoriert, nascht ihr Verlobter bereits an anderen süßen Dingen. Und so flüchtet sie zu ihren Eltern aufs Land: Dort ist Helene wenigstens erst einmal vor neuem Herzschmerz sicher. Denkt sie zumindest … Maren hat dafür ganz andere Probleme mit ihrem Mann: Harald ist zwar eine treue Seele, doch als er einen Unfall hat, muss sich Maren auf einmal um alles kümmern – und so bringt die frischgebackene Familienunternehmerin mit ihrer unkonventionellen Art die Welt der Familie Behringer ganz gehörig durcheinander … Die Schauspielerin Melina hat hingegen gleich das ganz große Los gezogen: Sie bekommt die Rolle der Starköchin in einer neuen Fernsehserie. Dummerweise würde Melina aber auch Wasser anbrennen lassen! Ob ihr wohl der Koch Luke – der auch noch zum Anbeißen gut aussieht – aus dieser vertrackten Lage helfen kann? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Sammelband »Zimt und Zucker für die Liebe« von Stella Conrad enthält die drei Romane »Die Tortenkönigin«, »Die Glücksträumerin« und »Die Glücksköchin«. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 1276

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Über dieses Buch:

Während Konditorin Helene noch ihre Hochzeitstorte dekoriert, nascht ihr Verlobter bereits an anderen süßen Dingen. Und so flüchtet sie zu ihren Eltern aufs Land: Dort ist Helene wenigstens erst einmal vor neuem Herzschmerz sicher. Denkt sie zumindest … Maren hat dafür ganz andere Probleme mit ihrem Mann: Harald ist zwar eine treue Seele, doch als er einen Unfall hat, muss sich Maren auf einmal um alles kümmern – und so bringt die frischgebackene Familienunternehmerin mit ihrer unkonventionellen Art die Welt der Familie Behringer ganz gehörig durcheinander … Die Schauspielerin Melina hat hingegen gleich das ganz große Los gezogen: Sie bekommt die Rolle der Starköchin in einer neuen Fernsehserie. Dummerweise würde Melina aber auch Wasser anbrennen lassen! Ob ihr wohl der Koch Luke – der auch noch zum Anbeißen gut aussieht – aus dieser vertrackten Lage helfen kann?

Über die Autorin:

Stella Conrad, 1960 in Recklinghausen geboren, lebt an der Nordseeküste. Nach zehnjähriger Tätigkeit als Köchin (wobei sie backstage sogar Stars wie Tina Turner, Joe Cocker, Depeche Mode, Herbert Grönemeyer und Die Toten Hosen bekochte) arbeitete sie als Veranstalterin, Pressebetreuerin und in einer Schauspielagentur, bevor sie sich dem geschriebenen Wort zuwandte.

Stella Conrad veröffentlichte bei dotbooks bereits »Die Küchenfee«, »Die Tortenkönigin«, »Die Glücksträumerin«, »Der Feind an meinem Tisch« und »Die Glücksköchin«.

***

eBook-Sammelband-Originalausgabe April 2020

Copyright © der Originalausgabe von »Die Tortenkönigin« 2011 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe von »Die Glücksträumerin« 2009 by Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel »Blindflug« bei Diana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Copyright © der aktualisierten Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München.

Copyright © der Originalausgabe von »Die Glücksköchin« 2016 dotbooks GmbH, München. Dieser Roman erschien 2016 unter dem Titel Geständnisse einer Fernsehköchin bei dotbooks. Copyright © der Neuausgabe 2018 dotbooks GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Maya Kruchankova / Alina Ches / Irina Kaliukina / Miriam Doerr und Martin Frommherz

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-064-2

***

Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

***

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Stella Conrad« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)

***

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Stella Conrad

Zimt und Zucker für die Liebe

Drei Romane in einem eBook: »Die Tortenkönigin«, »Die Glücksträumerin«, »Die Glücksköchin«

dotbooks.

Stella ConradDie Tortenkönigin

Roman

KAPITEL 1

»Helene, du bist eine Göttin«, sagte Leon und grinste lüstern. »Und das Beste ist, du bist meine Göttin.«

Er lehnte sich zurück und leckte sich genießerisch einen Klecks Vanillecreme von der Unterlippe, den ich ihm liebend gern weggeküsst hätte.

»Ich muss wirklich aufpassen«, fuhr er fort und tätschelte sich den Bauch, »Marcel bringt mich um, wenn ich zunehme. Er sagt, ich werde zu fett, wenn ich so weitermache, aber ich kann dir einfach nicht widerstehen.«

Mein Gesicht wurde heiß – wie immer, wenn Leon mir ein Kompliment machte.

»Du hast mich in dein Bett gekocht«, sagte er immer, »das ist pure Verführung, was du auf den Tisch bringst – und deine Torten sind besser als jeder Orgasmus.«

Ich warf ihm eine Kusshand zu und begann, den Tisch abzuräumen. Plötzlich umfingen mich seine Arme von hinten, und er presste sich eng an mich.

»Du bist so süß wie deine Törtchen«, murmelte er in mein Haar, »du duftest so köstlich, hmmm ... und deine Haut ist wie Marzipan ...«

Er küsste mich seitlich auf den Hals, und sofort wurden mir die Knie weich. Seit unserem allerersten Kuss musste er mich nur berühren, und ich schmolz dahin. Und eines musste man ihm lassen: Leon wusste, wie und wo man eine Frau richtig berührt.

Seine Hände wanderten höher, während er weiter meinen Hals küsste. Ich wollte vor lauter Seligkeit gerade ohnmächtig werden, als das Dudeln seines Handys unser romantisches Intermezzo am Abend höchst unromantisch unterbrach, denn sofort ließ er mich los und zog sein Telefon aus der Hosentasche.

»Marcel«, murmelte er nach einem Blick auf das Display. Er drehte sich um und verließ die Küche, um mit seinem Manager zu telefonieren, während ich mich erst einmal sortieren musste.

Verdammter Marcel!, dachte ich wütend. Der Kerl hatte ein untrügliches Gespür für den unpassendsten Augenblick, um aufzutauchen oder anzurufen, kurz: um uns zu stören. Oder besser: um mich zu stören.

Eines hatte ich sehr schnell lernen müssen, seit Leon und ich ein Paar waren: Ich war die Nummer zwei in seinem Leben.

O nein, ich rede nicht von einer anderen Frau.

Ich rede von der Musik und Leons Ehrgeiz, ein Star zu werden. Dafür ließ er alles stehen und liegen. Bei einer Castingshow hatte er es immerhin auf den vierten Platz und damit zu einiger Aufmerksamkeit gebracht. Die Mädchen liebten ihn, und flugs war dieser Marcel auf der Bildfläche erschienen, hatte ihn unter Vertrag genommen und ihm eine große Karriere versprochen. Dafür musste Leon sich allerdings sieben Jahre jünger machen, als er in Wirklichkeit war – nämlich neunundzwanzig –, und vor allem musste er offiziell Single sein.

Ich war viel zu verliebt in ihn, als dass ich dagegen protestiert hätte, für die Öffentlichkeit nicht zu existieren. Trotzdem hasste Marcel mich und machte sich nicht einmal die Mühe, mir gegenüber höflich zu sein, wenn wir uns begegneten. Das äußerte sich allein schon dadurch, dass er mit mir nur französisch sprach, obwohl er genau wusste, dass ich diese Sprache gerade erst lernte – und obwohl er wie Leon gebürtiger Schweizer war und Deutsch beherrschte.

Mir war es egal.

Marcel war mir egal.

Für mich war nur wichtig, dass Leon und ich uns liebten und dass wir beschlossen hatten zu heiraten.

Als Marcel davon erfahren hatte – wir hatten ihn zu einem Abendessen zu uns eingeladen, um es ihm zu sagen –, war er auf mich losgegangen wie ein wild gewordener Stier und hatte mich beschimpft – auf Deutsch, damit ich auch ja keine seiner Beleidigungen verpasste. »Willst du seine Karriere zerstören?«, hatte er wütend gebrüllt. »Was soll er mit einer alten, fetten Kuh wie dir?«

Und während ich sprachlos und gedemütigt dagesessen hatte, hatte er Leon mit einem rasend schnellen französischen Wortschwall überschüttet, von dem ich kein einziges Wort verstand außer merde, das gefühlte viertausend Mal vorgekommen war. Leon hatte schweigend zugehört, und nachdem Marcel seine Tirade endlich beendet hatte, zuckte mein Geliebter nur mit den Schultern und sagte ungerührt: »Helene und ich werden im Mai heiraten.«

Ganz ehrlich – mir war in dem Moment ein Stein vom Herzen gefallen. Marcel war so heftig aufgesprungen, dass sein Stuhl umgefallen war. Er bebte vor Zorn, holte tief Luft und brüllte Leon an: »Das wirst du bereuen!«

Dann fuhr er zu mir herum, zeigte auf mich und zischte: »Und du auch. Du wirst noch an meine Worte denken, Helene.« Er sprach meinen Namen französisch aus – Älänn –, und ich glaube, es war bis dahin das einzige Mal, dass er mich überhaupt mit Namen angeredet hatte.

Danach hatte er Türen schlagend unsere Wohnung verlassen. Ich saß da, mit klopfendem Herzen, und wagte kaum, Leon anzusehen. Denn eigentlich hatte Marcel nur das Kind beim Namen genannt. Zugegeben, seine Worte waren nicht besonders freundlich gewesen. »Alte, fette Kuh« ist nicht gerade das, was man gern über sich hört. Aber ich war gerade dreiunddreißig geworden, und Leon war offiziell zweiundzwanzig. Und ja, ich hatte Übergewicht.

Nicht diese Art von »Übergewicht«, wenn eine Frau, die Größe 38 trägt, herumlamentiert, dass der Bund ihrer knallengen Jeans kneift.

Nein, ich spreche von saftigem Größe-44-Übergewicht, von dem, was man allgemein als Rubens-Figur bezeichnet. Von der Art Übergewicht, das Leute sagen lässt: »Immerhin hat sie ein schönes Gesicht«, wenn sie etwas Nettes über dein Äußeres bemerken wollen.

Nicht, dass ich mich dessen schämen würde, überhaupt nicht. Ich weiß, ich bin eine attraktive Frau. In meinem Leben haben viele Männer mich umworben, aber niemand so wie Leon, den ich vor einem Jahr auf einem Konzert in Bremen kennengelernt hatte, bei dem ich backstage für die Verpflegung der Künstler zuständig gewesen war. Er hatte nicht lockergelassen, bis er meine Telefonnummer hatte. Ich war geschmeichelt gewesen, dass dieser wunderschöne, umschwärmte, blonde Adonis mit mir geflirtet hatte, aber ich hatte nie damit gerechnet, dass er sich wirklich bei mir melden würde.

Seit drei Monaten wohnte ich jetzt bei ihm in Paris. Er lebte dort, weil Marcel über hervorragende Kontakte in der hiesigen Musikszene verfügte. In Frankreich war Leon bereits eine kleine Berühmtheit, und Marcels Plan war es, von hier aus die musikalische Welt zu erobern.

Mir war es egal, wo ich mit Leon wohnte, ich wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt Und außerdem: Konnte es Romantischeres geben, als in der Stadt der Liebe zu leben? In zwei Wochen wollten Leon und ich heiraten. In ganz kleinem Kreis und heimlich, denn die Medien sollten nichts davon erfahren, damit Leons Image keinen Kratzer bekam. Andere Frauen hätten vielleicht dagegen aufbegehrt – aber wozu hätte ich das tun sollen?

Ich hatte sowieso nicht vor, den Rest meines Lebens als Leons Anhängsel zu verbringen und hinter irgendwelchen Bühnen darauf zu warten, dass das Konzert endlich zu Ende war.

Ich hatte eigene Pläne.

Ich war eine hervorragende Konditorin, ich hatte meinen Meisterbrief in der Tasche, und mein Traum war es, eine kleine Patisserie zu eröffnen. Paris war der ideale Ort dafür. Ich hatte jahrelang jeden Euro gespart und verfügte über eigenes Startkapital.

Leon fand die Idee großartig. Er sah mich schon in einem nostalgischen Lädchen mit altmodischer Einrichtung, eine weiße Rüschenschürze umgebunden, umgeben von köstlichen Torten und bunten Petits Fours. Er hatte sogar schon ein Ladenlokal für mich gefunden, im 18. Arrondissement in der Nähe von Sacre Cœur, einen kleinen Eckladen mit dunkelgrün gestrichener Fassade in der Rue Chappe, ein paar Straßen entfernt von unserer hübschen Wohnung. Der jetzige Besitzer, ein Schuster, wollte sein Geschäft aus Altersgründen in Kürze aufgeben und suchte ab September einen Nachmieter.

Die Gegend war ruhig, lag aber an der Peripherie zu den Wegen der Touristen, die täglich zu Tausenden die Sehenswürdigkeiten dieser wunderschönen Stadt besuchten. In der Nachbarschaft lebten viele Künstler und Studenten, die tagsüber die Straßencafés bevölkerten. In der Rue Chappe gab es Weinhandlungen, Geschäfte für Maler- und Musikerbedarf und eine Ballettschule, aus deren geöffneten Fenstern häufig klassische Musik erklang.

In Gedanken hatte ich das Lädchen schon Hunderte Male eingerichtet.

Ich träumte von einer dunklen Holztheke, hinter der ich stehen würde, ein paar verschnörkelten Metalltischen und -stühlen, an denen Kunden sitzen und meine selbst gemachte heiße Schokolade genießen würden – eine Oase des Genusses, in der die Zeit stehen blieb, ein kleines, intimes Schlaraffenland für Menschen, die wussten, wie sinnlich das Vergnügen sein konnte, in aller Ruhe ein Stück Torte zu essen, die sich kaum entscheiden konnten zwischen all den Verführungen aus Sahne, Biskuit und Früchten, die hinter der Glasscheibe meines Tresen lockten ...

»Ich muss weg!«, rief Leon, der zurück in die Küche gekommen war und mich aus meinen Tagträumen weckte.

Na super, hatte Marcel also wieder mal einen Grund gefunden, Leon aus dem Haus zu locken.

Er umarmte mich ungestüm und sagte: »Du bist mir doch nicht böse, oder? Marcel hat kurzfristig einen Termin mit einem Typen von einer großen Plattenfirma bekommen. Er will uns in der Bar seines Hotels treffen, ganz zwanglos, um mal zu sehen, ob wir ...«

Er brach mitten im Satz ab und drehte sich von mir weg, um sich in dem großen Spiegel über unserem Esstisch zu mustern. Routiniert zupfte er seine Haare zu einer gewollt zerzausten Frisur, dann sah er mich an und fragte: »Sehe ich gut aus? Oder ...«

Was für eine Frage! Natürlich sah er gut aus.

»He«, sagte ich gespielt empört, »was ist mit unserem romantischen Abend?«

Er zauberte eine zerknirschte Miene in sein Gesicht – ein bisschen süßer Hundewelpe, ein bisschen unwiderstehlicher Herzensbrecher, dem man nichts übel nehmen konnte.

»Ich komme so schnell wie möglich zurück«, gurrte er, »und dann ...«

Ich tat verständnislos. »Und dann?«

Er zog mich an sich. »Dann liegst du im Bett, nackt, und wartest auf mich. Und ich werde den ganzen Abend an nichts anderes denken können, als endlich ...«

Seine Hände verschwanden unter meinem T-Shirt, während er mich lange küsste.

Ich entwand mich ihm und sagte: »Ach so, das meinst du.«

Er sah mich verwirrt an, und ich musste kichern. Manchmal verstand er meinen Humor einfach nicht – es war kinderleicht für mich, ihn auf die Schippe zu nehmen.

»Los, zisch ab, Marcel ist bestimmt schon ganz ungeduldig. Und je schneller du zu ihm gehst, desto schneller bist du wieder bei mir. Und vergiss nicht«, ich drehte mich einmal um mich selbst, »das alles hier wartet auf dich. Nackt.«

Für einen Moment schien er drauf und dran, sich doch gleich auf mich zu stürzen, aber dann gab er sich einen Ruck und stürmte zur Tür hinaus.

Ich ging auf unseren kleinen Balkon und beugte mich weit über das Geländer. Die Rue des Martyrs war, genau wie die Rue Chappe, eine schmale Kopfsteinpflasterstraße mit alten, mehrstöckigen Häusern mit hohen Fenstern und hölzernen Fensterläden. Würde aus dem Frisörladen im Erdgeschoss nicht immer die aktuellste Popmusik ertönen, könnte man glatt glauben, die Zeit wäre stehen geblieben.

Vor der Haustür stand mit laufendem Motor Marcels grüner Peugeot, laute Discomusik schepperte aus dem geöffneten Sonnendach bis zu mir hoch in den fünften Stock. Ich sah Leon aus der Haustür kommen, ameisenklein. Bevor er einstieg, blickte er hoch und warf mir eine Kusshand zu. Dann klappte die Autotür zu, und Marcel fuhr mit aufheulendem Motor los.

Ich sah dem Auto hinterher, bis es mit quietschenden Reifen um die nächste Ecke verschwand.

Ich ging zurück in unsere Puppenstubenwohnung, die im Großen und Ganzen aus einem riesigen Bett, einer altmodischen Badewanne mit verschnörkelten Löwenfüßen und einer erstaunlich großzügigen Küche bestand, die sogar Platz für ein kleines Sofa bot. Da hatte vor Jahren jemand bei der Einteilung der Wohnung klare Prioritäten gesetzt: baden, Liebe machen, essen. Perfekt für Leon und mich.

Da er viel unterwegs war, gingen wir uns auch nicht auf die Nerven. Während er Gesangs- oder Sportstunden hatte, Fotoshootings, Besprechungstermine oder immer wieder Strategiebesprechungen mit Marcel, lernte ich Französisch – womit ich mich sehr schwer tat –, kümmerte mich um den überschaubaren Haushalt und probierte neue Kuchenrezepte aus.

Ich hatte schon mehrere dicke Kladden gefüllt mit Rezept- und Dekorationsideen für Torten und Törtchen und Cremerollen, gefüllte Waffeln und Plätzchen. Besonders gelungene Exemplare fotografierte ich und klebte die Bilder in die Kladden.

Ganze Tage verbrachte ich damit, mit Marzipan zu arbeiten. Kaum eine Blüte oder ein Blatt, die ich noch nicht aus der süßen Masse geformt hatte. Natürlich stellte ich mein Marzipan selbst her, auf die gute, altmodische Methode, die ich wie ein Ritual zelebrierte. Die ganzen Mandeln ließ ich quellen, dann zog ich die Haut ab und mahlte die Nüsse mit einer alten Küchenmaschine zu Brei. Die Masse wurde mit Puderzucker und Rosenwasser angereichert und dann so lange geknetet, bis sie geschmeidig genug war, um sie zu verarbeiten. Ich liebte es, Teige mit der Hand zu kneten, kräftig und sanft zugleich, ich liebte die aufsteigenden, süßen Düfte, die mich immer wieder in Hochstimmung versetzten. Das war meine Art, zu meditieren und zu entspannen. Ich fühlte mich am wohlsten, wenn in der Luft Mehlpartikel schwebten, wenn es nach Schokolade, Zimt und den Gewürzen, mit denen ich experimentierte, duftete. Ich genoss die Überraschung auf den Gesichtern meiner »Testesser«, wenn die Marzipanrose nicht, wie von ihnen erwartet, nach Zucker und Mandeln, sondern nach Orange oder Rosmarin schmeckte.

Besonders gern dachte ich mir neue Hochzeitstorten aus. Warum sollte eine drei-, vier- oder fünfstöckige Hochzeitstorte immer nur mit roten oder weißen Marzipanrosen geschmückt sein? Warum nicht mal blassblaue Hortensien oder zart gefiederte Farnblätter, winzige Maiglöckchen, Stiefmütterchen oder schillernde Orchideen, die von bunten Seidenschmetterlingen auf haarfeinen Golddrähten umflattert wurden? Warum sollte die Torte immer weiß oder cremefarben sein? Ich träumte von Fantasiegebilden in Pink, Türkis oder Sonnengelb.

Und warum sollten die Stockwerke immer übereinander stehen – warum nicht nebeneinander? Oder warum sollte die traditionelle, mehrstöckige Torte nicht mal aus vielen winzigen Törtchen bestehen, die auf einer schönen Etagere arrangiert waren?

Und ganz nebenbei arbeitete ich an unserer Hochzeitstorte, Leons und meiner. Dreistöckig sollte sie werden, das stand bereits fest. Jede Etage würde eine andere Füllung bekommen: Vanille-Buttercreme mit frischen Erdbeeren, Cassis-Mascarpone und Schokoladenmousse. Zwar würde die Heirat selbst nur ein schlichter, formeller Akt sein, aber ich wollte Leon mit einer romantischen, intimen Feier und einer spektakulären Torte überraschen.

Und den erotischsten Dessous, die er je an mir gesehen hatte.

KAPITEL 2

Je näher unsere Hochzeit rückte, desto aufgeregter wurde ich. Die Frequenz meiner Telefonate und Mails mit Marie, meiner besten Freundin aus Jugendtagen, wuchs stetig. Ach, Marie wenn ich dich nicht hätte ... Sie war meine Vertraute, sie kannte jedes meiner Geheimnisse, jedes Detail meiner Liebesgeschichte mit Leon. Sie hatte schon gewusst, dass ich mich in ihn verliebt hatte, als ich selbst mich noch strikt geweigert hatte, es mir einzugestehen.

Meine Familie dagegen ahnte nichts von meinen Plänen – aus gutem Grund, denn keiner von ihnen hatte besonders begeistert reagiert, als ich sie beim Familienkaffeetrinken an Omas Geburtstag damit überrascht hatte, zu Leon nach Paris ziehen zu wollen. Unisono hatten sie das Scheitern unserer Beziehung prophezeit, wenn auch mit unterschiedlichen Worten.

Peter, mein Vater: »Bist du verrückt geworden, diesem windigen Schnulzenheini hinterherzulaufen? Und wer übernimmt jetzt mein Geschäft? Habe ich dir dafür die Meisterschule bezahlt? Wenn du von hier weggehst, kannst du dein Erbe vergessen, hörst du?« (Das war ein ungewohnt emotionaler Ausbruch meines Vaters, so hatte ich ihn noch nie erlebt.)

Waltraud, meine Mutter: »Dein Vater hat recht. Wozu haben wir all die Jahre geschuftet? Für dich, damit du ein gut gehendes Geschäft übernehmen kannst. Wenn du jetzt gehst und uns mit dem Laden allein lässt, brauchst du nicht mehr wiederzukommen, hörst du? Was kann dieser ... dieser ... Leon dir schon bieten? Was ist er schon – ein brotloser Künstler. Und seinetwegen willst du in ein fremdes Land gehen, nach allem, was wir für dich getan haben? Wie willst du dich denn da verständigen? Kannst du überhaupt Französisch?« (Bei aller Aufregung immer noch pragmatisch, meine Mutter. Die Möglichkeit, Französisch zu lernen, existierte für sie nicht. Entweder man kann Französisch, oder man kann es nicht. Ein waltraudsches Naturgesetz.)

Cäcilie, meine Oma: »Ach, Kind, bist du wirklich sicher? Der Junge hat listige Augen – auf so einen Süßholzraspler musst du als Frau ständig aufpassen. Aber wenn du mit ihm glücklich bist, freue ich mich für dich.« (Leon hatte mich einmal bei meinen Eltern besucht und sofort eine Charme-Offensive gestartet, was ihn in den Augen meiner Sippschaft nur noch suspekter machte.)

Susanne, meine Schwester: »Der will doch nur ein Muttchen, das ihm zu Hause das Bett warm hält und ihn bekocht, wenn er von den Groupies gelangweilt ist. Wie kannst du nur so dumm sein, dafür eine gesicherte Existenz aufzugeben? Wenn ich so denken würde, wäre ich nicht das, was ich heute bin!« (Und was war sie? Die Gattin eines Dorfbürgermeisters, die sich für Jackie Kennedy hielt.)

Lutz, mein Schwager: »Du kannst nicht glauben, dass dieser Typ ernsthaft in dich verliebt ist, Helene. Sag selbst: Warum sollte er dich nehmen, wenn ihm schöne Frauen in Scharen hinterherlaufen?« (Und das ausgerechnet von Lutz mit seinem Schmerbauch und seiner Halbglatze. Irgendwann werde ich Susanne erzählen, dass er mich in angetrunkenem Zustand angebaggert hat – an ihrem Polterabend. »Noch ist es nicht zu spät für uns, Helene«, hatte er mir damals ins Ohr gelallt, »lass uns zusammen durchbrennen!« Ich habe ihn natürlich ausgelacht, und seither nutzte er jede Gelegenheit, mich zu beleidigen.)

Niemand aus meiner Familie wäre von unseren Hochzeitsplänen begeistert gewesen. Im Gegenteil. Jeder Einzelne hätte nichts unversucht gelassen, mich davon abzubringen, niemand hätte sich mit mir oder auch nur für mich gefreut. Nicht aus Missgunst, o nein, nur aus Sorge um mein Wohlergehen, selbstverständlich.

Dass ich nicht lache.

Susanne, zwei Jahre älter als ich, hatte schon als Kind keine Gelegenheit ausgelassen, mich zu übertrumpfen und mir ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Bis heute hatte sie nicht begriffen, dass sie diesen Konkurrenzkampf gegen sich selbst führte, da ich mich strikt weigerte, ihr Spiel mitzuspielen.

Deshalb war Marie so wichtig für mich – sie war nicht nur meine Freundin, sondern auch so etwas wie Familienersatz. Sie würde nach Paris kommen und meine Trauzeugin bei der kurzen Zeremonie im Rathaus sein. Die Vorbereitungen dafür mussten in aller Heimlichkeit abgewickelt werden, denn sie arbeitete ausgerechnet für meinen Schwager.

Ich konnte mich noch genau an das Telefonat erinnern, in dem Marie mir von Lutz' Reaktion auf ihr Ansinnen, ein paar Tage Urlaub zu nehmen, erzählt hatte.

Wir nannten ihn Majestix, nach dem Häuptling des kleinen, gallischen Dorfes in den Asterix-Comics. Das war der dicke – und ziemlich dumme – Kerl, der sich immer auf seinem Schild quer durchs Dorf tragen ließ. Die Ähnlichkeit mit Lutz – oder umgekehrt – war frappant.

»Es war großartig!«, kiekste Marie vergnügt. »Seine Hoheit wollte natürlich wissen, wozu ich Urlaub brauche.«

»Wie bitte? Das geht den doch einen Dreck an. Das darf der dich gar nicht fragen.«

»Na und? Als ob den das jemals gestört hätte! Er glaubt, es steht ihm dienstgradmäßig zu, über alles und jeden in unserem Kaff Bescheid zu wissen, das kennst du doch.«

Und ob ich das kannte. Aus eigener, leidvoller Erfahrung.

»Und was hast du ihm gesagt?«, wollte ich wissen.

Marie bekam einen Kicheranfall.

»Gynäkologischer Eingriff«, verkündete sie triumphierend, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte.

»Und? Wie hat er reagiert?«

»Wie alle Männer reagieren, wenn sie so etwas hören«, prustete Marie, »Kopp so rot wie ein Himbeerlolli und zentimeterdick Schweiß auf der Stirn. Ich habe so getan, als hätte ich es nicht bemerkt, und was von Uterus erzählt und Infektion ...«, sie brach ab, weil sie vor Lachen nicht mehr weiterreden konnte.

»Das hast du nicht getan!«

War Marie nicht einfach göttlich?

»Doch!«, kreischte sie zurück. »Und ich hätte noch endlos so weitermachen können, wenn er mich nur gelassen hätte! Aber er wurde grün im Gesicht und fragte mich, warum ich ihm nicht einfach einen Krankenschein bringen würde.«

Sie machte eine Kunstpause, um mich ein bisschen zappeln zu lassen.

Ich tat ihr den Gefallen und sagte: »Komm, spann mich nicht auf die Folter. Was hast du geantwortet?«

»Ich habe ihm den Todesstoß versetzt. Ich habe gesagt, ich wäre nach dem Eingriff ein bisschen wund untenrum und könnte dann bestimmt nur breitbeinig laufen, und beim Pinkeln würde es schrecklich brennen. Er sah aus, als würde er sich stehenden Fußes auf seinen Angeberschreibtisch übergeben!«

Bei der Erinnerung daran seufzte sie selig.

»Und er hat nicht bemerkt, dass du ihm da unglaublichen Unsinn aufgetischt hast?«

»Ich bitte dich!«, rief Marie. »Welcher Mann, der nicht Gynäkologe ist, würde das bemerken? Die schalten doch alle ab, sobald die Worte Arzt und Unterleib in einem Satz genannt werden, und wollen nur noch, dass du aufhörst, darüber zu sprechen! Das funktioniert todsicher.«

»Hast du keine Angst, dass er Susanne danach fragt und die ihm dann klarmacht, dass nicht jede Entzündung gleich eine Operation erfordert?«

»Du machst wohl Witze. Er mag ja dumm wie ein Stück Pappe sein, aber er weiß sehr wohl, dass er dann Gefahr läuft, zu erfahren, dass auch seine kostbare Gattin einen Unterleib hat, der ab und zu mal zum Arzt muss.«

Und so hatte Marie sichergestellt, dass ihr kleiner Urlaub für ihren Chef fortan ein absolutes Tabuthema war.

Ich freute mich wahnsinnig auf sie.

Ein Zimmer in einer kleinen Pension in der Nähe unserer Wohnung war bereits gebucht, und ich zählte die Tage, bis ich sie am Aéroport Charles-de-Gaulle abholen konnte. Wie kleine Kinder erzählten wir uns bei jedem Telefonat, wie oft wir noch schlafen müssten, bis wir uns endlich sahen. Noch zehn Mal, noch neun Mal, noch acht Mal ...

Mittlerweile waren wir bei »noch drei Mal« angelangt, und ich saß summend an meinem Küchentisch und bastelte die Lilienblüten, mit denen ich die Hochzeitstorte schmücken wollte. Nach langen Telefonaten und Dutzenden Fotos von Torten, die ich an Marie gemailt hatte, stand endlich fest, wie sie aussehen sollte: glänzend pink und gekrönt mit Feuerlilienblüten aus Marzipan.

Die Blüten hatte ich bereits gestern geformt und über Nacht trocknen lassen. Jetzt war ich dabei, sie mit Lebensmittel-Farbspray orange zu färben, um dann mit einem hauchfeinen Pinsel lebensechte Strukturen und Flecken aufzutupfen.

Als plötzlich das Telefon klingelte, fuhr ich vor Schreck derart zusammen, dass ich kurzzeitig die Kontrolle über meine Spraydose verlor und meine linke Hand orange ansprühte. Mit der Rechten griff ich nach dem Telefon. Die Nummer auf dem Display kannte ich nicht.

»Hallo?«

»Helene, Liebling, ich bin's. Du, ich komme später, die Besprechung dauert länger als geplant«, sagte Leon.

»Lass dir Zeit«, antwortete ich geistesabwesend und betrachtete den orangefarbenen Umriss meiner linken Hand, den mein kleiner Unfall auf der Tischplatte hinterlassen hatte. Je mehr Zeit ich hatte, die Blüten zu vollenden, desto besser.

»Ich komme so schnell wie möglich«, versicherte Leon, »wir werden höchstens noch ...«

Das, was er sagte, wurde von einer Lautsprecherdurchsage übertönt. Eine weibliche Stimme rief nach einem Docteur Picard, der bitte auf dem schnellsten Weg zum Operationssaal 4 kommen solle. Welch ein Glück, dass die letzte Lektion meines Französischkurses auf CD sich mit dem Thema »Arzt und Krankenhaus« beschäftigt hatte – eine Woche zuvor hätte ich vielleicht noch nicht verstanden, was die Durchsage zu bedeuten hatte.

Ich erstarrte.

Leon war in einem Krankenhaus?

»Wieso bist du im Krankenhaus, Leon? Was ist passiert?«, rief ich, während ich schon nach meinen Schlüsseln suchte und in meine Jacke schlüpfte.

»Wir hatten einen kleinen Auffahrunfall, nicht weiter schlimm«, murmelte er, »ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Ich komme sofort. Wo bist du?«

Mit gezücktem Stift wartete ich auf seine Antwort.

Er lachte. »Unsinn. Ich bin schon so gut wie raus hier. Die haben mein Handgelenk geröntgt, aber das ist bestimmt nur verstaucht. Marcel wird mich später nach Hause fahren. Mach dir keine Sorgen, hörst du, Liebling? Ich bin bald wieder bei dir.«

»Bist du sicher? Dann bis später«, antwortete ich und notierte mir schnell die Nummer auf dem Display.

Als er aufgelegt hatte, wählte ich diese Nummer, und eine weibliche Stimme meldete sich mit: »Ici Hôpital Saint Joseph, bonsoir.«

Ich legte auf, ich wusste, was ich wissen wollte.

Ich rief mir ein Taxi, knallte die Wohnungstür hinter mir zu und rannte die Treppen hinunter.

KAPITEL 3

Nach einer halsbrecherischen Fahrt durch das nächtliche Paris lieferte der Fahrer mich endlich vor dem Krankenhaus ab.

Ich war schweißgebadet, und mir war übel, hätte aber nicht sagen können, ob die Furcht einflößende Angewohnheit des Fahrers, kaum auf die Straße zu gucken und stattdessen – mir zugewandt – wie ein Maschinengewehr auf mich einzuschnattern, der Grund war oder meine Sorge um Leon.

Ich raste zur Rezeption und radebrechte mich dann bis zur Notaufnahme durch, wo ich schließlich vor einer verschlossenen, blickdichten Glastür mit einem Klingelknopf landete.

Ich hämmerte auf die Klingel ein.

Nach kurzer Zeit riss eine Schwester die Tür auf. Sie wirkte genervt. Aus den Räumlichkeiten hinter ihr drangen Geschrei und Gezeter. Es hörte sich an, als würden ein paar Frauen miteinander streiten.

Die Schwester bellte ungehalten: »Oui?«

Schlagartig schien ich meine mühsam erworbenen, rudimentären Französischkenntnisse verloren zu haben. Verzweifelt kramte ich in meinem scheinbar komplett gelöschten Gedächtnis nach Möglichkeiten, mich verständlich zu machen, und stammelte: »Leon Leblanc? Äh ... victime d'un accident ... äh, moi«, ich tippte mir auf die Brust, »la fiancée!«

Die Schwester seufzte, zog die buschigen Augenbrauen hoch und musterte mich von oben bis unten. Dann schüttelte sie langsam den Kopf.

Wie bitte?

Hatte sie mich vielleicht nicht verstanden? Fiancée hieß doch Verlobte, oder etwa nicht?

Ich erwog kurz die Möglichkeit, sie einfach aus dem Weg zu rempeln, rechnete mir aber keine besonders hohen Chancen aus. Mit ihrer massigen Figur – gegen sie war ich eine Gazelle – füllte sie die Tür fast komplett aus. Ohne mindestens zehn Meter Anlauf würde ich sie keinen Millimeter bewegen können, und vermutlich würde sie mich einfach packen und wie einen läppischen Diskus von sich schleudern.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und spähte über ihre Schulter in die Notaufnahme.

Und richtig, wen sah ich da stehen?

»Marcel!«, schrie ich und winkte hektisch mit beiden Armen. »Marcel, sie will mich nicht reinlassen!«

Er blickte von seinem Handy hoch, auf dem er gelangweilt herumgetippt hatte. Seine Mimik sprach Bände, als er mich erkannte: zuerst Erstaunen, dann Ärger, schließlich Resignation.

Er stieß sich von der Wand ab, an der er lässig gelehnt hatte, und kam zögernd auf die Tür zu.

»Helene«, sagte er über die Schulter der Schwester, die mit verschränkten Armen noch immer wie ein Felsmassiv zwischen Marcel und mir stand, »du hättest nicht herkommen sollen.« Er seufzte.

Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Sah ich da Mitleid?

»Wieso? Was ist mit Leon? Geht es ihm schlecht? Ich will zu ihm!«, zeterte ich schrill.

Marcel schüttelte den Kopf. »Fahr nach Hause, Helene«, sagte er beschwörend, »glaub mir, es ist besser so.«

»Ich will zu dem Mann, den ich in drei Tagen heiraten werde«, fauchte ich, mittlerweile echt wütend. Was glaubte dieser Kerl eigentlich?

Marcel hob beide Hände in einer Du-hast-es-so-gewollt-Geste und sprach ein paar Worte mit der Schwester, die daraufhin widerstrebend den Weg freigab.

Ich schoss an ihr vorbei.

»Wo ist Leon?«

Marcel deutete mit dem Daumen auf eine halb geöffnete Tür. »Da drin«, murmelte er und fuhr fort: »Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Je mehr ich mich dem Behandlungszimmer näherte, desto lauter wurde das Geschrei, das ich draußen schon gehört hatte.

Ich stieß die Tür mit einem energischen Tritt auf und blieb wie angewurzelt stehen.

Leon lag mit selbstgefälliger Miene auf einer Liege, sein rechtes Handgelenk war verbunden. Am Fußende standen zwei Mädchen, die sich wütend anschrien. Eins der Mädchen trug einen frischen Kopfverband. Beide waren filigrane, hübsche Geschöpfe mit langen, glatten Haaren, eine blond, die andere rothaarig.

Zuerst verstand ich nicht, was hier ablief. Leon hatte mich noch nicht bemerkt. Was wollten diese Mädchen hier? Und worüber stritten sie sich? Ich drehte mich zu Marcel um, der mir gefolgt und in der offenen Tür stehen geblieben war. Meinen fragenden Blick beantwortete er mit einem Achselzucken.

Ich wandte mich wieder den streitenden Mädchen zu, die mittlerweile Handgreiflichkeiten austauschten – und da fiel mir plötzlich ein Detail auf: Beide trugen den gleichen, auffälligen Ring mit einem großen, pinkfarbenen Kristall in Herzform. Diesen Ring kannte ich nur zu gut. Leon hatte ihn mir zur Verlobung geschenkt.

»Leon!«,schrie ich, um das Gekreische der Damen zu übertönen, die daraufhin abrupt verstummten und mich anglotzten.

Leon zuckte erschrocken zusammen, sah in meine Richtung und wurde kreidebleich. »Helene ...«, keuchte er, und das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Was ist hier los?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort längst kannte.

Seine Augen irrten hektisch durch den Raum.

»Was ... was machst du denn hier?«, stammelte er. »Ich ... ich hatte dir doch gesagt, du sollst zu Hause auf mich warten.«

Die beiden Mädchen waren aus ihrer Starre erwacht und redeten auf Leon ein, während sie immer wieder auf mich zeigten. Er sagte fassungslos: »Warum bist du nicht zu Hause geblieben, Helene?«

»Weil ich das hier sonst verpasst hätte«, gab ich schnippisch zurück. »Und jetzt schick die Damen weg, ich will mit dir reden.«

Ich wunderte mich, wie cool ich blieb, obwohl sich gerade meine Zukunft in Luft auflöste.

Marcel kam in den Raum und sagte ein paar Worte zu den Mädchen, die bei ihnen wütenden Protest auslösten, aber er ließ sich nicht beirren und drängte sie unerbittlich in Richtung Tür. Die mit dem Kopfverband sträubte sich mehr als die andere, aber Marcel ergriff ihr Handgelenk und zerrte sie hinter sich her aus dem Raum.

Die Tür wurde mit einem lauten Knall geschlossen.

Ich ging auf Leon zu, der noch immer um Fassung rang. Vor der Liege blieb ich stehen.

»Und?«, herrschte ich ihn an.

»Helene«, sagte er beschwörend, »ich liebe dich, das glaubst du mir doch?«

Beinahe hätte ich gelacht.

»Ich glaube dir überhaupt nichts mehr«, antwortete ich. »Wer sind diese Mädchen?«

»Gute Bekannte«, beeilte er sich, zu versichern. »Nicht mehr, ehrlich. Du bist die einzige Frau, die ich liebe.«

Ich hielt ihm meine Hand mit dem Verlobungsring unter die Nase. Er zuckte erschrocken zurück.

»Ach, und deshalb hast uns allen den gleichen Ring geschenkt? Gab es die im Sonderangebot? Nimm drei, zahl zwei? Ein bisschen mehr Fantasie hätte ich dir eigentlich zugetraut.«

Sein Mund, den ich so gern geküsst hatte, ging auf und zu, ohne dass er ein Wort hervorbrachte. Was hätte er auch sagen sollen?

Ich zog mir den Ring vom Finger und warf ihn Leon an den Kopf. Der Kristall riss die Haut an seiner Stirn auf, und ein dünnes Rinnsal Blut lief an seinem Gesicht herunter. Ich hoffte inständig, dass eine Narbe zurückbleiben würde, die ihn immer an mich erinnern sollte.

»Ich will dich nicht mehr sehen, hörst du?«, schrie ich ihn an.

Er rang nach Luft. »Ja aber, Helene ... unsere Wohnung ... wo soll ich denn ...«

»Mir doch scheißegal«, fauchte ich, »ich gebe dir Bescheid, wenn ich ausgezogen bin. Und bis dahin wird dir sicherlich eine der Damen ein Bettchen anbieten. Mit Freuden, möchte ich wetten.«

Damit drehte ich mich um und stürmte aus dem Zimmer. Ich stieß die Mädchen zur Seite, die direkt vor der Tür standen.

Nur schnell raus hier, dachte ich, denn ich spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen. Diese Blöße wollte ich mir vor versammelter Mannschaft nun wirklich nicht geben.

Halb blind vor Tränen prallte ich in Marcel, der mich festhielt und sagte: »Ich fahre dich nach Hause, Helene.«

Das war der Moment, als alle Dämme bei mir brachen.

Nach Hause?

Ich hatte kein Zuhause mehr.

KAPITEL 4

Ich schluchzte hemmungslos, als Marcel mich in sein Auto verfrachtete und mir den Sicherheitsgurt anlegte.

Er schwieg, während er mich – deutlich zivilisierter und vorsichtiger, als ich es von ihm gewöhnt war – nach Hause chauffierte.

Ich weinte während der gesamten Fahrt, und irgendwann beugte Marcel sich über mich, öffnete das Handschuhfach und gab mir eine Packung mit Papiertüchern.

Vor meiner Haustür parkte er ein und stellte den Motor ab.

»Kommst du klar, Helene? Ich leiste dir gern noch Gesellschaft, wenn du das möchtest.«

Trotz meines Kummers war ich erstaunt.

War das der Marcel, der mich gehasst und immer ignoriert hatte? Ich verstand die Welt nicht mehr.

Ich nickte schniefend, und er stieg aus, kam um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür für mich.

Mit bebenden Händen versuchte ich vergeblich, den Haustürschlüssel ins Schloss zu manövrieren, und war froh, als Marcel das für mich übernahm. Im Hausflur nahm er mich an der Hand und zog mich hinter sich her die Treppen hinauf bis zu der kleinen Dachwohnung, die bis vor ein paar Stunden noch mein kuscheliges Liebesnest gewesen war.

Jetzt blieb ich im Eingang stehen und zögerte.

»Komm«, sagte Marcel, legte mir den Arm um die Schultern, bugsierte mich vorsichtig in die Küche und platzierte mich auf das kleine Sofa. Ich vermied den Blick zum Küchentisch, auf dem noch immer die Lilienblüten für meine Hochzeitstorte lagen, an denen ich gearbeitet hatte – zu einem Zeitpunkt, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.

Moment mal, Helene – auch da war die Welt nicht in Ordnung gewesen.

Du hast es nur nicht gewusst.

Ein Teil von mir war wie betäubt von dem Schock, von der Erkenntnis, dass Leon mich betrogen hatte – und das ausgerechnet mit diesen Mädchen, die ausgesehen hatten, als wären Paris Hilton und Victoria Beckham ihre modischen Vorbilder. Muss ich extra erwähnen, dass Leon mir immer sagte, er fände meine weibliche Ausstrahlung (ha!) besonders sexy?

Der andere Teil brannte förmlich darauf, jedes noch so schmerzhafte Detail von Leons Betrug zu erfahren, als hätte das jemals in der jahrtausendelangen Geschichte des Fremdgehens irgendeinem betrogenen Menschen auch nur das Geringste gebracht – außer noch mehr Schmerzen.

»Kanntest du die Mädchen?«, fragte ich Marcel, der mittlerweile dabei war, uns Wein aus der angebrochenen Flasche im Kühlschrank einzugießen.

Er stellte mein Glas auf den Tisch und nickte.

»Hatte Leon was mit denen?«

Er nickte wieder.

»Mit beiden?«

Nicken.

»Schon lange?«

Achselzucken.

Ich schauderte und war kurz davor, Marcel anzuschreien, warum er mir nie etwas davon gesagt hatte. Wie konnte er das alles mit ansehen und mir trotzdem noch ins Gesicht gucken? Aber vielleicht war genau das der Grund, weshalb er sich mir gegenüber immer so seltsam verhalten hatte.

»Wollte Leon mich wirklich heiraten?«

»Ja«, sagte Marcel.

»Aber das hätte nichts an der Existenz dieser Mädchen geändert, richtig? Oder irgendwelcher anderer Mädchen.«

»Vermutlich nicht, Helene. Leon ist eben so. Soweit er dazu imstande ist, liebt er dich wirklich.«

»Soll mich das trösten?«, fauchte ich aufgebracht.

Marcel schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass dich jetzt nichts trösten kann.«

Er setzte sich zu mir auf das Sofa und beobachtete mich, wie ich mein Glas mit einem Zug leerte.

»Hast du die gemacht?«, fragte Marcel und deutete auf die Blüten.

»Die kannst du alle essen, wenn du willst. Oder wegwerfen. Ich brauche sie nicht mehr«, sagte ich und sah angestrengt an den Blüten vorbei.

»Wie – essen? Ich dachte, die wären aus Stoff oder so.« Er griff nach einer Lilienblüte und leckte daran. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er biss ein Blütenblatt ab und lutschte darauf herum.

Ich begann wieder zu weinen. »Die sollten für unsere Hochzeitstorte sein«, schluchzte ich.

»Ach, Helene«, sagte Marcel, »das tut mir alles unheimlich leid. Auch wenn du mir das nicht glaubst – ich mag dich wirklich.«

»Warst du deshalb immer so fies zu mir?«

»Was hätte ich denn machen sollen? Erinnere dich, ich habe dir prophezeit, dass du es bereuen wirst, als ihr mir von der Hochzeit erzählt habt.«

»Du hast mich eine alte, fette Kuh genannt«, rief ich empört.

»Das habe ich getan?«, fragte er erstaunt. »Wow. Dann entschuldige ich mich dafür.«

»Warum hast du mir nie die Wahrheit gesagt?«

»Weil Leon mich dann sofort gefeuert hätte«, antwortete er leise. »Er hatte mich natürlich zu Stillschweigen verdonnert. Die anderen Mädchen sind gekommen und wieder gegangen, aber du warst die Konstante in seinem Leben, Helene.«

Na, vielen Dank. Eine glückliche Ehe hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt. Glaubte Leon wirklich, ein Recht auf eine Hauptfrau und zahllose Nebenfrauen zu haben?

Und das Schlimmste an der Sache war: Meine Schwester Susanne hatte recht gehabt!

»Und das Mädchen mit dem Kopfverband? War sie bei ihm, als der Unfall passierte?«

»Ja.« Marcel sah mich an. »Ist das wirklich noch wichtig für dich? Du solltest dich nicht unnötig quälen.«

»Du hättest dafür sorgen können, dass ich mich nicht so quälen muss, indem du mir reinen Wein eingeschenkt hättest. Deine Fürsorge kommt also reichlich spät«, gab ich zurück.

Er zuckte mit den Achseln. »Wie du willst.«

Mein pampiger, kleiner Angriff war wirkungslos an ihm abgeprallt, denn er hatte nicht einmal die Miene verzogen.

»Ja, Madeleine ... äh ... das Mädchen war bei ihm«, sagte er beiläufig und stopfte sich eine ganze Blüte in den Mund.

Zu beiläufig für meinen Geschmack. Madeleine ... komischerweise alarmierte mich die Tatsache, dass er zuerst ihren Namen genannt hatte und dann zurückgerudert war, indem er die betont neutrale Bezeichnung das Mädchen benutzte.

»Was ist mit dieser Madeleine? Du verschweigst mir doch was!«, rief ich.

Ich war aufgeregt, hatte Angst vor seiner Antwort und wollte sie trotzdem unbedingt wissen.

Marcel kaute hektisch an der Marzipanlilie. Er hob entschuldigend die Hände und zeigt dann auf seine wohlgefüllten Backen. Tut mir leid, ich kann mit vollem Mund nicht sprechen, sollte das wohl heißen. Ein kläglicher Versuch, Zeit zu schinden.

Aber nicht mit mir, mein Freund.

»Lass den Quatsch«, keifte ich und boxte ihn gegen den Arm. »Was ist mit dieser Madeleine?«, wiederholte ich.

Er kaute noch schneller, würgte den Rest herunter, verschluckte sich, hustete krampfhaft, rang röchelnd nach Luft und tastete panisch nach seinem Glas, während ich mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte und ihn wütend anstarrte.

Als er sich gegen die Sofalehne zurückfallen ließ und nur noch ein bisschen röchelte, setzte ich sofort nach.

»Ehe wir den Faden verlieren – du wolltest mir etwas über Madeleine erzählen.«

Gleichzeitig fragte ich mich permanent, warum ich so fanatisch auf eine Antwort erpicht war, die mich – und das wusste ich ganz sicher – entweder extrem wütend oder extrem traurig machen würde.

Marcel resignierte. »Sie ist schwanger von ihm«, sagte er, ohne mich anzusehen.

Man konnte also gleichzeitig extrem wütend und extrem traurig sein. Dieser kleine, kurze, lakonisch dahingesagte Satz von Marcel raubte mir buchstäblich den Atem, seine Ungeheuerlichkeit füllte mein gesamtes Denken aus.

Ich weiß nicht, wie lange ich völlig bewegungslos dagesessen hatte, als in mein Bewusstsein drang, dass Marcel mich sachte an der Schulter rüttelte.

»Helene? Alles in Ordnung mit dir?«

Ich hörte seine Stimme wie durch Watte, hatte auch keinerlei Bedürfnis, ihm zu antworten.

»Helene?«

Ich wandte mich ihm zu, ganz langsam, und sah ihn an. »Was ist?«

Er versuchte ein schiefes Lächeln und sagte: »Leon ist nicht gut für dich. Du würdest mit ihm sehr unglücklich werden. Er macht alle Menschen unglücklich, die ihn lieben. Und wenn du bis jetzt noch ein Argument für eure Trennung gesucht hast ...«

Er hatte natürlich recht.

Ich konnte mir Leon nicht einfach so aus dem Herzen reißen. Wer weiß, vielleicht könnte er mich sogar überzeugen, dass er ab jetzt immer treu sein würde, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Er hätte genau gewusst, welche Knöpfe er bei mir drücken muss.

Aber die Tatsache, dass dein zukünftiger Ehemann eine andere Frau geschwängert hat, während du selbst dir ein Kind von ihm wünschst, lässt keine andere Entscheidung zu als die Trennung.

Nicht, wenn du auch nur das geringste Fünkchen Selbstachtung im Leib hast.

»Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn verlassen. Einen Gefallen kannst du mir noch tun«, bat ich.

»Welchen?«

»Halte Leon von mir fern. Ich gebe dir Bescheid, wann er wieder in die Wohnung kann. Wenn er etwas braucht, rufst du mich an und kannst es dann hier abholen. Ich will ihn keinesfalls sehen oder sprechen.«

»Wie soll ich das denn machen?«, begehrte er auf.

»Lass dir was einfallen. Das bist du mir schuldig. Allein schon für die fette, alte Kuh.«

Er grinste kurz. »Also gut. Ich versuche mein Bestes.«

Gut so.

Ich konnte nur hoffen, dass er sein Versprechen hielt, denn ich konnte nicht dafür garantieren, Leon nichts zu tun, sollte er mir noch einmal vor die Flinte laufen.

Der Morgen dämmerte gerade, als ich mit schmerzenden Gliedern aufwachte – zusammengekrümmt auf dem kleinen Küchensofa. Für einen Moment war ich völlig verwirrt. Wieso hatte ich denn auf dem Sofa ...?

Die schlagartig einsetzende Erinnerung an die Ereignisse der vorangegangenen Nacht fühlte sich wie ein Tritt in den Magen an. Mir entfuhr ein schmerzerfüllter Laut, als die Szene im Krankenhaus vor meinem geistigen Auge erschien. Diese beiden Mädchen, die um Leon gestritten hatten, eine davon schwanger von ihm – und Leon mittendrin als Hahn im Korb, selbstgefällig und auch noch geschmeichelt!

Nun, seine Selbstgefälligkeit war geplatzt wie eine Seifenblase, als ich plötzlich im Krankenzimmer gestanden hatte.

Immerhin ein schwacher Trost.

Ich hatte es nicht über mich gebracht, mich in unser Bett zu legen, nachdem Marcel sich verabschiedet hatte. Ich könne ihn jederzeit anrufen, falls ich Hilfe brauchte, hatte er zum Abschied noch gesagt und mich umarmt.

Ich richtete mich in eine sitzende Position auf und bewegte vorsichtig meine steifen Schultern. Ich fröstelte, während ich mich in der Küche umsah. Mein kleines, kuscheliges Liebesnest hatte sich über Nacht in eine lebensfeindliche Umgebung verwandelt – allein durch die Erkenntnis, hier eine Lüge gelebt zu haben.

Mein Blick fiel auf den großen Kühlschrank, der mit kleinen Liebesbotschaften übersät war, die Leon und ich uns gegenseitig dort hinterlassen hatten, und mein Schmerz schlug so abrupt in Wut um, als hätte ich einen Schalter umgelegt.

Ich sprang auf, stürzte zum Kühlschrank, riss all die kleinen, bunten Zettelchen ab, die von Magneten gehalten wurden, und stopfte alles in einen Müllsack.

Weiter ging es mit den zahllosen, getrockneten Rosen, die überall in Bündeln hingen, den – neben den Zettelchen sorgsam konservierten Beweisen von Leons Liebe (ha!). Ja, genau, eine Rose für meine Rose, dachte ich wütend, du blöder, verlogener Schwätzer. Die Rosen befanden sich in ganz unterschiedlichen Trocknungsstadien; viele hingen schon lange, und ihre Blüten zerbrachen mit leisem Knistern unter meinem Griff. Dunkelrote, noch schwach duftende Fetzen rieselten zu Boden und sahen auf dem alten Holz wie Blutspritzer aus. Bei anderen waren die Blütenblätter noch weich, weil sie erst einige Tage alt waren.

Als ich mit den Rosen fertig war, war die gesamte Wohnung rot gesprenkelt, und ich hatte einige beeindruckende Kratzer an den Händen.

Die restlichen Marzipanblüten, die Marcel nicht geschafft hatte, knetete ich zu einem Ball zusammen und pfefferte ihn mit einem Schrei in den Müllsack.

Im Schlafzimmer zerrte ich den geheimen Karton unter dem Bett hervor, in dem meine Hochzeitsüberraschungen für Leon warteten: die verspielte Dekoration für unser Schlafzimmer und vor allem das sexy schwarze Ensemble aus Seide, Spitze und Chiffon für unsere Hochzeitsnacht. Allein diese Handvoll raffinierter Erotik, die jetzt zusammen mit meterlangen Rosenranken, Kerzen und Pfauenfedern in den Müllsack wanderte, hatte mich ein Vermögen gekostet.

O ja, ich hatte mich und unser Schlafzimmer für die Hochzeitsnacht herausputzen wollen. Es tat weh, daran zu denken. Meine Wut verpuffte angesichts dieses Müllsacks, aus dem sich ein Stück Rosenranke schlängelte.

Eine unvergessliche Nacht hatte ich mir ausgemalt, eine bleibende, romantische Erinnerung. Leon sollte in der Nacht vor der Hochzeit bei Marcel übernachten, und das hätte mir die Zeit verschafft, das Zimmer zu dekorieren und Leon später damit zu überraschen. Nachmittags war der Termin auf dem Standesamt, danach wollten wir mit Marcel und Marie, unseren Trauzeugen ...

Marie! Ich fuhr auf. Marie – ich musste sie anrufen, sofort. Sie dachte doch immer noch, sie würde am nächsten Tag in ein Flugzeug steigen und zu meiner Hochzeit fliegen!

Ich erwischte sie noch bei sich zu Hause; sie frühstückte gerade.

»Na?«, rief sie aufgeräumt. »Da hast du aber Glück, ich wollte gerade los. Was gibt es denn, das nicht bis morgen warten kann?« Sie biss krachend in ihr Brötchen.

»Genau darum geht es«, sagte ich und zögerte. Es wollte nicht über meine Lippen. Ich würde jetzt zum ersten Mal offiziell bekannt geben, dass es aus war zwischen mir und Leon, und damit wurde es endgültig zur Realität. Plötzlich merkte ich, dass ich den Atem angehalten hatte, und holte tief Luft.

»Helene? Alles in Ordnung?«, kam es besorgt aus dem Hörer.

»Nein, nichts ist in Ordnung«, gab ich zurück, »die Hochzeit findet nicht statt. Du solltest deinen Flug sofort stornieren, vielleicht klappt das noch ohne größere Verluste. Leon und ich haben uns getrennt.«

Es auszusprechen führte dazu, dass ich zu weinen anfing. Marie schwieg einen Moment und sagte dann: »Ich komme trotzdem. Du brauchst jetzt eine Freundin.«

»Nein!«, schluchzte ich.

»Red keinen Unsinn, ich höre doch, dass es dir miserabel geht. Ich kann dir wenigstens ein paar Tage zur Seite stehen. Was ist mit deinen Plänen in Paris? Was ist mit eurer Wohnung?«

»Ich will hier nicht bleiben«, heulte ich, »ich will weg hier, so schnell wie möglich!«

»Wohin denn?«

»Am liebsten nach Hause«, wimmerte ich wie ein kleines Kind, »ich kann hier nicht mehr bleiben.«

»Du ziehst zu mir«, bestimmte Marie sofort, »ich kann mir kaum vorstellen, dass du Lust hast, bei deinen Eltern zu wohnen. Gut, dass ich eine Woche Urlaub habe.«

Ich beruhigte mich langsam. »Bist du sicher?«

»Natürlich bin ich sicher! Du kannst das große Esszimmer haben, das benutze ich sowieso nie. Da hast du sogar eine Tür direkt in den Garten. Das wird schön mit uns beiden!« Ich hörte, wie sie scharf die Luft einsog.

Dann sagte sie: »Tut mir leid, Helene. Ich führe hier ein Freudentänzchen auf, und dir geht es schlecht.«

»Ach, weißt du – ich freue mich auch auf dich. Aber ich muss dich warnen. Ich werde vermutlich keine besonders gute Laune in dein Häuschen bringen.«

»Ist mir egal. Du bist mir willkommen. Du – ich muss mal langsam los, sonst reißt Majestix mir den Kopf ab. Wann darf ich dich erwarten? Und was ist mit deinen Möbeln?«

»Mir reichen zwei Koffer«, sagte ich, »die Möbel sind mir schnurz. Damit kann er machen, was er will. Ich packe nur etwas Kleidung und mein Konditoren-Werkzeug ein, das ist alles.«

»Was ist denn überhaupt passiert, seit wir das letzte Mal telefoniert haben? Das war ... warte mal ... vor zwei Tagen. Und da war doch noch alles in Ordnung, oder nicht?«

Ich wollte jetzt nicht darüber sprechen, das war zu schmerzhaft für mich.

»Denk dran, Majestix wartet«, wich ich aus. »Ich werde morgen kommen. Ein paar Dinge habe ich hier noch zu erledigen. Ich steige spätestens morgen Mittag in den Zug. Schon morgen Abend sitzen wir zusammen in deiner Küche, und dann erzähle ich dir alles, ja?«

»Okay. Und ruf mich einfach an, wenn du weißt, wann ich dich am Bahnhof abholen kann.«

Damit war der Bahnhof der nächstgrößeren Stadt, Jever, gemeint – unser Kaff hatte natürlich keinen eigenen.

»Das mache ich. Und, Marie ... bitte erzähle niemandem, dass ich komme, ja? Ich ... ich brauche ein paar Tage, bis ich meinen Eltern alles sagen kann.«

»Großes Indianer-Ehrenwort«, versicherte Marie. »Bis morgen dann. Und wenn du heute Abend jemanden zum Reden brauchst, rufst du mich an.«

»Mache ich, tschüss«, verabschiedete ich mich von ihr und legte auf.

Entschlossen stopfte ich die Rosenranke komplett in den Müllsack und öffnete unseren Kleiderschrank.

KAPITEL 5

An diesem Tag erledigte ich alles, was notwendig war: Ich löste mein Konto auf und überwies mein Guthaben auf mein altes Heimatkonto, sagte beim Standesamt unseren Termin ab und fuhr zum Bahnhof, um mir eine Fahrkarte zu holen.

Ausgerechnet die erste Bewährungsprobe meiner frisch erworbenen Französischkenntnisse bestand darin, meine Abreise aus Frankreich zu organisieren, was einer gewissen Ironie nicht entbehrte, wie mir später bewusst wurde. An diesem Vormittag allerdings war ich weit davon entfernt, die Komik der Situation zu erkennen. Mit einem Wörterbuch und einem Sprachführer mit »Redewendungen für die wichtigsten Alltagssituationen« bewaffnet, kämpfte ich mich durch die Dinge, die es zu regeln galt.

Die Zugfahrt würde zehn Stunden dauern, ich musste vier Mal umsteigen – kein Vergnügen mit zwei großen Koffern, aber jede Minute und jeder gefahrene Kilometer würden die Entfernung zwischen mir und Leon vergrößern.

Dafür wäre ich zur Not auch getrampt oder zu Fuß gelaufen.

Mein Handy hatte ich stumm gestellt, aus gutem Grund. Bereits mittags hatte Leon dreiundzwanzig Mal vergeblich angerufen und siebzehn Textnachrichten geschickt.

Als ich nachmittags wieder in unserer Wohnung eintraf, hatte sich die Anzahl verdoppelt, und ich löschte alles, ohne etwas zu lesen oder die Mailbox abzuhören.

Um ehrlich zu sein, ich hatte nach wie vor Angst, schwach zu werden.

Kurz entschlossen wählte ich Marcels Nummer. Er ging sofort ans Telefon, murmelte »Warte kurz«, und dann hörte ich, wie er ein Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss, denn die laute Musik, die im Hintergrund dröhnte, wurde deutlich leiser.

»Helene, wie geht es dir?«, fragte er sofort.

»Gut«, erwiderte ich knapp, »ich will mich nur versichern, dass Leon hier nicht auftaucht.«

Marcel lachte leise. »Das ist nicht zu befürchten, der säuft sich hier gerade ins Koma, während er sich zum hundertsten Mal seine eigene CD anhört und lautstark sein Schicksal beweint.« Er seufzte. »Er geht mir furchtbar auf die Nerven.«

»Er beweint sein Schicksal? Er geht dir furchtbar auf die Nerven? Was seid ihr eigentlich für Jammerlappen?«

»Na ja, er ist schon ganz schön besoffen und lallt mir die Ohren voll damit, wie toll du bist und dass er den größten Fehler seines Lebens gemacht hat und nie wieder untreu sein wird, wenn du ihm verz...«

»Stopp, sprich es nicht aus«, fuhr ich ihm ins Wort. »Dann wird es dich freuen zu hören, dass deine Leidenszeit morgen Mittag schon vorbei sein wird.«

»Was ... was hast du vor?«

»Ich nehme meine Sachen, steige in einen Zug und fahre weg von hier. Er kann dann wieder in die Wohnung. Ich nehme alles mit, was mir wichtig ist, mir muss nichts nachgeschickt werden. Ich wünsche keinerlei Kontakt, sag ihm das.«

»Okay«, meinte Marcel kleinlaut.

»Und schließ ihn ein. Nicht, dass er mitten in der Nacht wach wird und sich auf den Weg hierher macht. Dann gibt es ein Unglück. Wenn er hier auftaucht, rufe ich die Polizei, und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das willst.«

»He ...«, begann er, aber ich ließ ihn nicht ausreden.

»Mach's gut, Marcel. Danke, dass du mir gestern Gesellschaft geleistet hast.«

Ohne seine Erwiderung abzuwarten, legte ich auf. Mir war gerade nicht nach Höflichkeit und Verständnis Marcel gegenüber. Wenn ich ehrlich war, nahm ich ihm doch übel, dass er mir nie etwas gesagt hatte.

Ich kochte mir eine Kanne Tee, und dann packte ich meine Koffer. Den größeren füllte ich mit der Kleidung, die ich nicht in den Müllsack geworfen hatte, den anderen mit Küchenutensilien.

Den Abend und die Nacht verbrachte ich damit, mich von der Wohnung zu verabschieden. Ich saß, in eine dicke Decke gewickelt, lange auf unserem winzigen Balkon und lauschte den vertrauten Geräuschen der Nacht: hupenden Autos, Gesprächsfetzen von anderen Balkonen, Musik aus geöffneten Fenstern. Später lag ich zusammengerollt auf dem Bett. Ich weinte die ganze Nacht.

Am Morgen ging ich zur Bäckerei drei Häuser weiter und kaufte mir ein paar Croissants. Jede Sekunde lang war mir bewusst, dass ich dies zum letzten Mal tat, unser Treppenhaus hinunterlaufen, durch die große, altmodische Flügeltür auf die Straße treten, dann links ein paar Meter bis zum Schaufenster der kleinen Boulangerie, bei dessen appetitlicher Auslage mir immer sofort das Wasser im Mund zusammenlief, durch die Ladentür mit der Bimmel hinein in den warmen Duft frischer Backwaren, der mir seit frühester Kindheit so vertraut war.

Zu Hause machte ich mir eine große Schale Milchkaffee und setzte mich an den Tisch. Während ich die köstlichen Croissants in den Kaffee tunkte und aß, sah ich mich um. Die Wohnung wirkte unbewohnt und tot, seit ich gestern alle äußerlichen Zeichen unserer Liebe vernichtet hatte.

Meine Koffer standen gepackt und verschlossen an der Tür, meine Umhängetasche lag auf dem Sofa, das Taxi war bestellt.

Als ich mit meinem Frühstück fertig war, wischte ich die Blätterteigkrümel vom Tisch und spülte die Kaffeeschale, die ich dann abgetrocknet zurück in den Schrank stellte. Wenn Leon in diese Wohnung kam, würde er keine Spur von mir finden. Den prallvollen Müllsack hatte ich im Hinterhof zu den Mülltonnen gestellt.

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass der Taxifahrer jeden Moment klingeln würde. Es konnte nichts schaden, schon auf die Straße zu gehen, fand ich.

Ich zog meine Jacke an, legte meine Schlüssel für dieses Haus auf den Küchentisch und überprüfte noch einmal den Inhalt der Umhängetasche: Fahrkarte, Portemonnaie, Handy, Papiere – alles da. Dazu all die Kleinigkeiten, die sonst noch in dieser Tasche wohnten, von Papiertaschentüchern bis zu Pfefferminzpastillen. Ich war gerüstet.

Als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fiel, war ich erleichtert und erschrocken zugleich. Ich war draußen, die Schlüssel waren drinnen. Ich blieb einen Moment lang an der Tür stehen, dann nahm ich die beiden Koffer und schleppte sie ächzend die fünf Stockwerke herunter.

Eine halbe Stunde später verließ mein Zug den Bahnhof.

KAPITEL 6

Als ich zehn Stunden und viermal Umsteigen später aus dem Zug taumelte, war ich am Ende meiner Kräfte. Ein freundlicher Schaffner stellte mir die Koffer auf den Bahnsteig, nachdem er gesehen hatte, wie ich mich mit ihnen abmühte.

»Helene!«, kreischte es von links, und Marie kam auf mich zu gerannt und fiel mir um den Hals.

Sofort, als ich ihre Umarmung spürte, wollte ich losweinen, nur noch weinen und mich anlehnen, mehr wollte ich nicht.

»Komm«, sagte sie, »lass uns von diesem ungastlichen Ort so schnell wie möglich verschwinden.« Sie schnappte sich meine Koffer, sagte: »Uff! Hast du den Blödmann zersägt und mitgebracht?«, und marschierte los, aus dem kleinen Bahnhof hinaus zu ihrem Auto, einem klapprigen Kombi. Ich konnte nur noch hinter ihr hertrotten. Gemeinsam wuchteten wir mein Gepäck in den Kofferraum, stiegen ein und fuhren los.

Sie ließ mich vollkommen in Ruhe, stellte mir keine Fragen, außer: »Musik?«, und als ich nickte, drückte sie den Startknopf des CD-Spielers und verkündete stolz: »Habe ich selbst gebrannt!« Madonna, Kylie, George Michael, Pink ... sie alle sangen von Liebe, während wir uns Middelswarfen näherten, dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war.

Die Fahrt führte uns über schmale, kurvige Landstraßen, an Bauernhöfen vorbei und an Weiden mit Kühen und Pferden, und durch Dörfer, die nur aus ein paar Häusern rechts und links der Straße bestanden. Eine Zeit lang hingen wir hinter einem Traktor fest und krochen mit zwanzig Stundenkilometern durch die Landschaft, die mir so vertraut war – und die so ganz anders war als die Umgebung, die ich vor wenigen Stunden verlassen hatte.

Mein Herz tat einen Sprung, als wir in unser Dorf hineinfuhren, und ich duckte mich unwillkürlich tiefer in den Sitz. Noch wollte ich niemandem begegnen, und ich wusste, unser Weg führte an der Konditorei meiner Eltern vorbei. Zwar war es bereits lange nach Ladenschluss, aber ...

Und richtig: Meine Mutter, in Glockenrock und Blümchenkittel, stand vor dem Geschäft und unterhielt sich mit Fräulein Behrens, meiner ehemaligen Grundschullehrerin, oder besser gesagt: jedermanns ehemaliger Grundschullehrerin, zumindest, was sämtliche Dorfbewohner zwischen sechs und knapp vierzig Jahren betraf.

Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich den Eimer sah und die Utensilien zum Fensterputzen, mit denen meine Mutter sich bewaffnet hatte. Es kam zwar regelmäßig jemand, der die beiden Schaufenster reinigte, aber meine Mutter putzte grundsätzlich noch einmal hinterher, wenn der Mann wieder gegangen war. Sie traute es einem Mann – nicht unbedingt diesem speziellen Mann, sondern ganz allgemein Männern nicht zu, »ordentlich« zu putzen. Noch ein waltraudsches Naturgesetz.

Ich hatte sie einmal gefragt, warum sie sich nicht einfach die Kosten für den Fensterputzer sparen würde, wenn sie doch sowieso noch selbst ...? Und außerdem, meines Wissens habe es doch nie einen wirklichen Grund zur Beanstandung gegeben, oder?

Diese Frage hatte bei meiner Mutter für helle Empörung gesorgt. Das käme selbstverständlich nicht infrage, auf die Dienste des Mannes zu verzichten, wurde ich belehrt, man habe schließlich einen Ruf zu verlieren, wie das denn aussähe, wenn die Chefin selbst die Fenster putzen würde?

Mein Einwand, dass sie doch genau das täte, wurde ungläubig zur Kenntnis genommen. Sie sah mich an, als wäre ihr erst in diesem Moment klar geworden, dass sie eine minderbemittelte Tochter hatte.

Man könne es sich schließlich leisten, einen professionellen Fensterputzer zu beschäftigen, sagte meine Mutter streng, und was sollten denn die Leute denken, wenn der plötzlich nicht mehr käme? Womöglich, dass man sich den Mann nicht mehr leisten könne! Diese Schande! Also wirklich. Sie schüttelte den Kopf. Ich würde aber auch wirklich dumme Fragen stellen!

In diesem Moment war mir klar geworden, dass dieses Fensterputz-Ritual eine perfekte Inszenierung war: Waltraud Bernauer, emsigste aller Frauen, steht den ganzen Tag im Geschäft, immer freundlich, immer fleißig, hat sich Wohlstand und eine gewisse Position im Dorf erarbeitet und ist sich doch nicht zu fein, selbst den Putzlappen in die Hand zu nehmen. Nach Feierabend.