Zu erschöpft, um wütend zu sein - Helen Heinemann - E-Book

Zu erschöpft, um wütend zu sein E-Book

Helen Heinemann

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Beschreibung

Schluss mit dem Mama-Burn-out!

Die Burn-out-Expertin Helen Heinemann hat in ihren Seminaren in über 50.000 Stunden die Lebens- und Alltagsgeschichten von Tausenden Müttern kennengelernt, die sich ihr und den anderen Frauen oft unter Tränen anvertrauen. In ihrem Buch zeigt sie konkrete Wege aus der individuellen Erschöpfung und welche Veränderungen zum Wohle aller dringend notwendig sind: vom Umgang mit Familienleben & Beruf, Zeit & Partnerschaft, Wohnraum & Nachhaltigkeit bis hin zu betrieblichen, finanzpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Kleine Schritte mit großer Wirkung für mehr Erholung, Selbstbestimmung und Lebensqualität!

»Verlass dich nicht auf gesellschaftliche Hilfssysteme und politische Entscheidungen, damit es dir besser geht. Nimm dein gutes Leben selbst in die Hand! Jetzt!«

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Seitenzahl: 272

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Die Burnout-Expertin Helen Heinemann hat in ihren Seminaren in über 50.000 Stunden die Lebens- und Alltagsgeschichten von Tausenden Müttern kennengelernt, die sich ihr und den anderen Frauen oft unter Tränen anvertrauen. In ihrem Buch zeigt sie konkrete Wege aus der individuellen Erschöpfung und welche Veränderungen zum Wohle aller dringend notwendig sind: vom Umgang mit Familienleben & Beruf, Zeit & Partnerschaft, Wohnraum & Nachhaltigkeit bis hin zu betrieblichen, finanzpolitischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.

Kleine Schritte mit großer Wirkung für mehr Erholung, Selbstbestimmung und Lebensqualität!

Helen Heinemann ist Pädagogin mit einer psychotherapeutischen Ausbildung und seit mehr als vierzig Jahren im Bereich der Frauen- und Familiengesundheit tätig. 2005 gründete sie in Kooperation mit Krankenkassen das Institut für Burnout-Prävention in Hamburg. Seitdem liegt einer ihrer Arbeitsschwerpunkte in fünftägigen Intensivseminaren für erschöpfte berufstätige Frauen und Mütter. Helen Heinemann ist vierfache Mutter und Großmutter.

Carola Kleinschmidt ist Diplombiologin, zertifizierte Coach, Autorin und Co-Autorin zahlreicher Bücher. Sie ist eine gefragte Rednerin und Expertin zum Thema Burnout-Prävention und berufliche Entwicklung. Sie ist Mutter von zwei Söhnen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Dr. Katharina Theml, Büro Z, Wiesbaden

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagmotiv: Shutterstock.com (Natur19; Net Vector; Iryna Shek; mentalmind)

Innenabbildungen: Shutterstock.com (siehe hier: Iryna Shek; siehe hier: mentalmind; siehe hier: Natur19), stock.adobe.com (siehe hier: Good Studio)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-30853-7V001

www.koesel.de

Inhalt

Mütter am Limit – Meine Wut und mein Entsetzen

Teil IWarum Muttersein heute immer noch eine Falle ist

»Mit der Schwangerschaft hörte mein Körper auf, mir zu gehören« – Der Verlust körperlicher Selbstbestimmung

»Alles dreht sich nur noch ums Kind« – Der Verlust geistiger Selbstbestimmung

»Ich fühle mich wie eine Sklavin« – Der Verlust zeitlicher Selbstbestimmung

»Plötzlich war ich raus« – Der Verlust von Sichtbarkeit

»Ich komme in meinem Leben nicht vor« – Der Verlust von Teilhabe

»Beruflich bin ich erst mal abgehängt« – Der Verlust von persönlicher Entwicklung und Karriere

»Meine Rente? Da will ich gar nicht dran denken!« – Der Verlust von Ansehen, Geld und Macht

Teil IIWarum wir uns immer wieder fangen lassen

Kleine Vorteile für die Mütter

Doppelter und dreifacher Nutzen für die Väter

Üppiger Profit für die kapitalistische Gesellschaft

Teil IIIWie wir da gemeinsam rauskommen

Sich wieder gut fühlen – Kraftquellen für Mütter

Liebe leben – Zusammenstehen und Raum lassen

»Oh wie schön ist Panama« – Erholsame Familienzeiten

Gemeinsam statt einsam – Mit den Nachbarn Dörfer in den Städten schaffen

Change Management – Work-Life-Balancing neu gedacht

Nicht aufgeben! – Gesellschaftspolitische Forderungen

Teil IVDie neue Freiheit

Gelassene Mütter

Erfüllte Väter

Entspannte Kinder

Fröhliche Familien

Erfolgreiche Firmen

Eine friedliche, nachhaltige Gesellschaft

Epilog

Anmerkungen

Literatur

Mütter am Limit – Meine Wut und mein Entsetzen

Ich bin wütend. Ich bin wütend, weil für Mütter in den letzten fünfzig Jahren nichts besser geworden ist – auch wenn es oft so erzählt wird. Ich bin wütend, weil die Lebensbedingungen von Frauen und Müttern in allen Lebensbereichen nicht nur nicht besser, sondern tatsächlich schlechter geworden sind. Seit sechzehn Jahren biete ich in Kooperation mit Krankenkassen fünftägige Intensivseminare für erschöpfte Menschen an. Ihr Ziel ist es, die alltäglichen und letztendlich doch ganz individuellen Energieräuber ausfindig zu machen und gemeinsam passgenaue Lösungen für eine gesündere Work-Life-Balance zu entwickeln. Über die Jahre wanderten allein in diesem Krankenkassenkurs mehr als 1200 berufstätige Mütter durch die Gruppen und vertrauten mir und den anderen Frauen ihre Lebens- und Alltagsgeschichten an. Oft unter Tränen. Vierzig Stunden und mehr haben wir zusammengesessen, über ihr Leben gesprochen und zugehört. 1200 Mütter. Fast 50 000 Stunden deutsches Alltagselend gut gebildeter, kluger Mittelschichtmütter. Es ist kaum auszuhalten!

Ich bin so wütend, weil bisher kaum etwas von dem, was sich in meiner Jugend als hoffnungsvolle Entwicklung für Frauen und Mütter abgezeichnet hat, eingetreten ist. Im Gegenteil: Den Müttern geht es heutzutage oftmals seelisch und materiell schlechter als zu der Zeit, als ich mir meine vier Kinder gewünscht und bekommen habe. Ich selbst hatte Glück: Ich wurde in den 1970er-Jahren erwachsen. Die 1968er gaben die Richtung vor: Wir nahmen kein Blatt vor den Mund. Unterdrückungen und Ungerechtigkeiten wurden schonungslos benannt. Ganz gleich, ob in der Schule, im Studium oder im Freundeskreis. Es war die Zeit der sexuellen Befreiung. Es gab schon die Pille und noch kein Aids. Es galt das Lustprinzip, passend zur Hippiebewegung. Wir glaubten an das Motto »Make love, not war« oder auch »Ich bin okay, du bist okay«. Wir traten ein für Toleranz und Umweltschutz; Demonstrationen am Brokdorfer Bauzaun, Wasserwerfer mit Tränengas, Sitzblockaden – all das gehörte zu meinem Alltag. Ich lebte in einer Frauen-WG. Wir lernten uns in unserer Weiblichkeit kennen, tauschten uns über Sex und Regelschmerzen aus und experimentierten mit Menstruationsschwämmchen. Mit meinem Rucksack zog ich allein durch Europa. Schlief am Strand. Machte mein Ding. Selbstbestimmt.

Aber ich wollte auch eine Familie, viele Kinder, einen großen Garten, in dem sie spielen und toben konnten. Bullerbü eben. Ich traf den richtigen Mann zur rechten Zeit. Vier Kinder war die Verabredung, vierzehn Tage nach dem ersten Kuss. Die wesentlichen Dinge besprachen wir bereits vor der ersten Schwangerschaft. Hausgeburten und Stützräder fürs Radfahrenlernen unserer Kinder haben wir heiß und lang diskutiert. Rascher zum Ziel kamen wir mit der Arbeitsteilung in den nächsten Jahren. Ich wollte als Pädagogin gerne viel Zeit mit unseren Kindern verbringen. Familienarbeit sollte in den ersten Jahren also schwerpunktmäßig mein Job sein. Er übernahm die Erwerbsarbeit. Klar, dass bei dieser Arbeitsteilung sein Verdienst, und später auch die Rente, fraglos und vollständig auf unser gemeinsames Konto ging. Das war der Deal, der so lange gelten sollte, bis es einem von uns, oder auch beiden, nicht mehr passte. Klar entsprach diese Entscheidung der traditionellen Rollenverteilung. Doch sie lief nicht fraglos ab, sondern war Ausdruck meiner und unserer freien Entscheidung. Weder der Staat noch meine feministischen Freundinnen hatten mir in Bezug auf mein persönliches Lebensglück Vorgaben zu machen.

Man könnte sagen: Glück gehabt. Oder auch: Alles richtig gemacht. Doch auch mein Freigeist und die gute Planung schützten mich nicht vor den Problemen, die kamen und mit denen ich nicht gerechnet hatte: Die Kinder ließen sich länger bitten als erwartet. Ich wurde nicht sofort schwanger, und schon stellten sich erste Zweifel ein, ob ich überhaupt fähig wäre, Kinder zu bekommen. Zwei Fehlgeburten kamen hinzu. Mein Selbstwert sank, bis sich das erste Kind anmeldete und blieb.

Ich war mit Leidenschaft Mutter. Und dennoch vermisste ich den Austausch mit anderen Erwachsenen, intellektuelle Herausforderungen und Weiterentwicklungen. Die Anforderungen der Familienarbeit ließen mir dafür fast keinen Raum mehr. Mein Mann dagegen konnte seine Zeit mit Erwachsenen verbringen. Er konnte interessante Gespräche führen und auch die Themen in einem gewissen Rahmen selbst bestimmen. Es gab Pausen, in denen das Team gemeinsam Essen ging, und manche kreative Idee fand dort ihren Anfang. Ich erwischte mich dabei, dass ich neidisch auf ihn und sein Leben draußen in der Welt war. Neidisch, obwohl ich genau das tat, was ich mir immer gewünscht hatte. Dennoch war ich zuversichtlich, dass meine Zeit auch im Beruf kommen würde. Meine Mutter war mir ein gutes Vorbild. Nach intensiver Familienarbeit mit drei kleinen, durchaus herausfordernden Kindern ohne Unterstützung durch staatliche Betreuungsangebote startete sie zeitgleich mit unserem Übergang in die weiterführenden Schulen durch und ließ meinen Brüdern und mir Raum für ein wildes, freies Leben, an das wir uns bis heute gern erinnern. Wir übten uns im Kochen und Backen und genossen gemeinsam die mehr oder weniger geglückten Marmorkuchen. Sie selbst machte sich als Vertreterin für ausgewählt schöne Stücke im Kunstgewerbe selbstständig, machte den Führerschein, kleidete sich schick und fuhr täglich davon, um ihr Geschäft voranzutreiben. Sie wurde sehr erfolgreich und verdiente bald mehr als mein Vater. Ich vertraute darauf, dass mir das auch gelingen würde. Aber: Die Zeit bis dahin war lang. Ich hatte vier Kinder, geboren im Abstand von je drei Jahren ...

Wie habe ich diese Durststrecke meiner persönlichen und beruflichen Entwicklung überbrückt? Ich hatte Glück – und eine große Wissbegierde. Intensives Lesen und mich Weiterbilden war schon immer mein Ding. Dazu kamen Freundinnen, die oftmals mit ihren Kindern nicht nur Tage, sondern auch Nächte bei uns verbrachten. Diese Stunden waren Kraftquellen und Inspiration für mich. Irgendwann fing ich an, mein Wissen und meine Fähigkeiten in Kursen an werdende Eltern weiterzugeben und sie in Krisenzeiten zu beraten. Mein vorangegangenes Studium war die Grundlage für eine professionelle Arbeit. Hier fanden meine Fähigkeiten, die weit über das Familienleben hinausreichten, einen vorläufigen Platz, der sich gut mit unserem Familienleben vereinbaren ließ. Bald schon wurde ich Ausbilderin für Frauen (und auch für einen Mann), die ebenfalls gern in die Familienbegleitung einsteigen wollten. Nun war ich ganze Wochenenden auf Achse, und mein Mann lernte die Familienarbeit von einer ganz anderen Seite kennen.

Dennoch reichte unser Einkommen vorn und hinten nicht. Dabei verdiente mein Mann mit seiner Führungsposition im sozialen Bereich recht gut. Und auch meine Honorare konnten sich sehen lassen. Aber das Geld war für unsere sechsköpfige Familie phasenweise so knapp, dass es zu Kontosperrungen kam. Oftmals alberten wir herum: Was wäre, wenn wir unsere Kinder in öffentliche Erziehung geben, »da weitere Verwahrlosung droht« und uns als Pädagogen für unsere eigenen Kinder als Betreuer anstellen lassen würden? Der Gewinn wäre enorm: Wir bekämen nicht nur zwei Gehälter mit der entsprechenden Rentenversicherung, sondern auch die Kosten für Haus und Garten erstattet, Haushaltshilfen und Vertretungskräfte für freie Zeiten und einen echten Urlaub zur Erholung. Selbstverständlich gäbe es auch jederzeit Beratungen, wenn es bei uns oder mit den Kindern mal kriselt, und nicht zuletzt bekämen wir als Profis sogar noch die öffentliche Anerkennung für unseren gesellschaftlichen Einsatz.

Um den Geldsorgen ein Ende zu bereiten, nahm ich eine Dreißig-Stunden-Stelle als Koordinatorin für die Vernetzung von sozialpsychiatrischen Einrichtungen an. Die Tätigkeit entsprach mir. Ich hatte nette Kolleginnen und Kollegen und konnte mein Potenzial entfalten. Aber: Ich wurde nach Tarif bezahlt. Da zählt vor allem die Dauer der Betriebszugehörigkeit mit den entsprechenden Aufstiegsetappen. Die harte Lehre, die zusätzlich zu meinem Studium durch das Leben mit unseren Kindern hinter mir lag, zählte in keiner Weise. Trotz meiner pädagogischen Erfahrungen war es eine immense kognitiv-emotionale Herausforderung, einen Menschen, der sich noch nicht verbal äußern kann, lesen zu lernen, angemessen auf seine Bedürfnisse zu reagieren, seine Gesundheit zu sichern, Entwicklungen zu ermöglichen und passgenaue Wachstumsreize zu setzen. Es interessierte schlicht niemanden, was »Mutti« so gemacht hatte. Und es zählte auch in keiner Weise meine Meisterschaft in Geduld, Organisation, planerischem Handeln, Streitschlichtung und Mediation, die durch die Anwesenheit mehrerer Kinder tagtäglich erforderlich war. Niemand stellte mir ein diesbezügliches Diplom aus, das ich bei meinen Bewerbungen vorweisen konnte. Stattdessen musste ich beschämt die »Lücken« in meinem Lebenslauf erklären. Und ich durfte dankbar sein, dass ich dennoch – wenn auch schlecht bezahlt – von meinem Arbeitgeber eingestellt wurde.

Die mangelnde Honorierung meines Einsatzes frustrierte mich. Doch ich hielt noch eine Weile durch, der Familie zuliebe. Aber langfristig wollte ich mehr, und so suchte ich mir eine Karriereberatung. Mir wurde klar, dass mir meine Herkunftsfamilie einiges mitgegeben hatte, was ich jetzt nutzen konnte. Ich stamme aus einer Familie, deren Motto über Generationen hinweg lautete: »Egal, womit du dein Geld verdienst: Hauptsache selbstständig.« Außerdem hatte ich einen Mann geheiratet, der mich in meiner beruflichen und auch persönlichen Entwicklung vorbehaltlos unterstützte. Ressourcen, auf die ich jetzt zugreifen wollte. Das Vorbild meiner Familie, die Unterstützung meines Mannes und externe Beratungen leiteten mich aus dem Status der abhängig Beschäftigten heraus. Mit dem Thema Stress, Erschöpfung und Burnout von Familien hatte ich mein Herzensthema gefunden. Ich fand große Auftraggeber, entwickelte Seminare, schrieb mehrere Bücher. Endlich war ich wieder die Bestimmerin: Persönliche und berufliche Entwicklung, so viel ich will, Anerkennung und Erfolg, Geld und Entscheidungsmacht. Von Tag zu Tag wuchs ich weiter über mich hinaus und kehrte zurück zu meiner alten Kraft. Bei allen Anstrengungen: Anders als viele andere Frauen meiner Generation hatte ich Glück und viele gute Geister um mich herum, die an mich glaubten und mich unterstützten.

Viele meiner Freundinnen dagegen hatten Federn lassen müssen. Und das nicht zu knapp. Nach der Elternphase war ihr beruflicher Selbstwert in den Keller gesunken. Sie zweifelten an ihren fachlichen Fähigkeiten, kämpften mit den Lücken im Lebenslauf und ihren Gefühlen von Minderwertigkeit und mangelnder Zugehörigkeit zu einer interessanten Berufswelt. Sie bereuen es nicht, eine Familie gegründet und eine Zeit intensiver Fürsorge gelebt zu haben. Aber sie bereuen, dass sie große Teile ihres Potenzials nicht leben konnten, weil eine unaufgeklärte Gesellschaft Frauen, die Mütter geworden sind, den Zutritt zu Geld und Karriere systematisch versperrte.

Doch wie geht es den Frauen und Müttern heute? Müsste es für sie nicht eigentlich viel besser laufen? Wir sind viel weiter in der Gleichberechtigung – sagt man. Männer haben Anspruch auf Elternzeit, Mütter auf Teilzeitstellen. Es gibt mehr Kitaplätze und Ganztagsbetreuung. Aber wenn ich die Mütter in meinen Kursen höre, dann zeichnet sich kein optimistisches Bild ab. Im Gegenteil. Sie sind mehr belastet als ich damals. Nicht nur in meinen Kursen, fast jede junge Mutter, mit der ich ins Gespräch komme, fühlt sich grenzwertig überlastet. Leidet unter Stress und Erschöpfung bis hin zu deutlich depressiven Verstimmungen. Die Mütter gehen auf dem Zahnfleisch und versuchen gleichzeitig, es sich nicht anmerken zu lassen. Erholungszeiten gibt es kaum, und wenn, dann spüren sie, wie ihre Fähigkeit, sich zu erholen, zunehmend nachgelassen hat. Die alte Spannkraft lässt sich nicht so einfach wiederherstellen. Und auch längere Mutter-und-Kind-Kuren oder ein gemeinsamer Familienurlaub sind oftmals nur Alltag unter erschwerten Bedingungen.

Der Anspruch an das Wohl der Kinder, die Intensivierung von Elternschaft und damit die Performance der Mutter ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Dazu kommt: Die heutigen Kleinfamilien leben oftmals sehr isoliert und fühlen sich gezwungen, ihre Probleme im Privaten zu lösen – obwohl die Wurzel vieler Schwierigkeiten strukturell angelegt ist. Selbst wenn der Mann oder das Paar gemeinsam versucht, die Situation zu verbessern, kommen oftmals beide an die Grenzen ihrer Kräfte. Frauen sagen dann in den Kursen: Ich funktioniere nur noch (das ist dann schon gut aus ihrer Sicht), oder ich funktioniere nicht mehr (das wird dann als Scheitern gewertet). Aber: Funktionieren ist nicht Leben. Es gibt regalmeterweise Ratgeber, die Frauen Tipps geben, wie sie ihren Alltag effizienter und besser gestalten können. Es gibt haufenweise Anregungen, wie sie als Mütter besser performen und zugleich im Job »ihren Mann« stehen. Wahlweise sollen sie sich dann entspannen, den Anspruch runterschrauben, Nein sagen lernen, sich besser organisieren und überhaupt einfach mal loslassen. Aber hilft das wirklich? Die Frauen in meinen Kursen haben all das probiert. Sie sind Meisterin im Zeitmanagement, können Autogenes Training oder MBSR (oder beides). Sie machen Yoga und üben das Loslassen. Viele Frauen waren vor der Zeit als Mutter stolz auf ihre Leistungsfähigkeit. Sie waren supergut im Organisieren, konnten Prioritäten setzen und delegieren. Sie waren verlässliche Kollegin, zielorientierte Projektmanagerin, weitblickende Führungskraft. Es kann also eigentlich nicht an ihrem Unvermögen liegen, Aufgaben gut strukturiert abzuarbeiten. Doch am Ende des Familientages fühlen sie sich erschöpft und können nur noch alle Viere von sich strecken, statt sich an ihrem Tagewerk zu erfreuen oder den Feierabend zu genießen. Sie schlafen auf der Couch ein (oftmals sogar neben ihren Kindern) – und kritisieren sich selbst dafür, dass sie so energielos und offensichtlich schlecht organisiert sind. Die Aufgaben, die ihre Rolle als Mutter, Partnerin, Managerin der Familie und ihre Erwerbsarbeit mit sich bringen, sind ihnen offensichtlich einfach zu viel. Das schlechte Gewissen, das dieses Gefühl von Unzulänglichkeit mit sich bringt, macht es nicht besser.

Was ist hier los?

Ehrlich gesagt, geht oft schon vor der Familienwerdung etwas schief: Familie wird meist weniger geplant als jeder Wochenendausflug. Kaum ein Paar redet vor dem ersten Kind darüber, wer welchen Beitrag zur Familie leisten möchte. Klar: Über die Verteilung der Elternzeit wird gesprochen, die lässt sich auch noch ganz gut planen. Doch welche Aufgabenvielfalt und Verantwortlichkeiten das Leben mit einem Kind letztendlich mit sich bringt, ist kaum vorstellbar. Da hoffen viele, dass es sich schon irgendwie zurechtruckeln wird. Der Effekt: Alle wollen die liebevoll funktionierende Familie, aber die Verantwortung dafür trägt am Ende die Mutter. Manche Frauen übernehmen diese Aufgabe gern, andere eher widerwillig. Aber am Ende sind es so gut wie immer die Frauen, die sich in die Rolle der Kümmernden einfinden und dafür sorgen, dass von der Windel bis zum Urlaub alles organisiert ist. Dass Schultüten gepackt und Geschenke geplant sind. Dass die Familie glückliche Zeiten miteinander hat und die Kinder mit ihren Freunden gut zurechtkommen. Emotionale Arbeit bei gleichzeitigem Mental Load. Unsichtbar. Fordernd. Erschöpfend. Warum liegen die meisten dieser Arbeiten in der alleinigen Verantwortung der Frauen?

Arbeiten, die ja nun mal die Basis einer liebevoll funktionierenden Familie sind. Ein gutes Familienleben, das sich nicht nur die Frauen wünschen. Die Antwort ist schlicht: Weil Care-Arbeit traditionell Frauen zugesprochen wird und gesellschaftlich nicht als Arbeit anerkannt ist. Damit ist dieser 24/7-Job nicht nur nicht sichtbar, sondern folglich auch kaum besprechbar. Allein wie viel Arbeit notwendig ist, damit das Weihnachtsfest, der Kindergeburtstag oder die Familienfeier gelingt, ist nur denjenigen vermittelbar, die selbst schon mal solche Veranstaltungen zusätzlich zum normalen Alltag gestemmt haben.

Sogar die Frauen selbst sind häufig überrollt von der nicht enden wollenden To-do-Liste, die der Job »Mutter« mit sich bringt. Doch sie fügen sich. Sie übernehmen fast reflexhaft und meist klaglos all die Arbeiten, die zwangsläufig mit der Entwicklung der Kinder einer Familie zuwachsen. Im Rausch der Anforderungen kommen sie kaum dazu innezuhalten, um die anstehenden Aufgaben sichtbar zu machen und fair neu zu verteilen. Und sie geben sich selbst die Schuld, wenn sie sich überlastet oder ausgelaugt fühlen.

Und ihre Männer, die Väter der gemeinsamen Kinder? Die wundern sich über die Erschöpfung ihrer Frauen. Auch weil sie all die nervenaufreibenden Details nicht kennen und oftmals auch nicht wissen wollen. Und so schwingen sie sich ein in den Chor der Ratgeber: Ist das denn alles unbedingt nötig? Lass doch einfach mal was liegen. Du bist doch frei. Kannst Pausen machen, wann immer du willst. Früher bekamen die Frauen das doch auch hin, und die hatten noch nicht mal eine Waschmaschine. Die Soziologin und Autorin Franziska Schutzbach beschreibt diesen Zustand in ihrem Buch DieErschöpfungderFrauen sehr treffend: »In unserer Gesellschaft wird Weiblichkeit gleichgesetzt mit Fürsorglichkeit. Frauen sind, ob in der Familie, in Beziehungen oder im Beruf, zuständig für emotionale Zuwendung, für Harmonie, Trost und Beziehungsarbeit – für Tätigkeiten also, die unsichtbar sind und kaum Anerkennung oder Bezahlung erfahren. Sie ›schulden‹ anderen – der Familie, den Männern, der Öffentlichkeit, dem Arbeitsplatz – ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe, ihre Zuwendung, ihre Attraktivität, ihre Zeit. Und kämpfen jeden Tag gegen emotionale und sexuelle Verfügbarkeitserwartungen.«1

Viele Männer verstehen ihre Frauen nicht. Sie verstehen die emotionale Erschöpfung nicht, die die ständige Aufmerksamkeit für die Befindlichkeiten aller Familienmitglieder und die prompte Beantwortung ihrer Bedürfnisse mit sich bringt. Sie sehen nicht das Ungleichgewicht, das durch einen hohen Einsatz entsteht, dem keine angemessene Anerkennung folgt. Für die Kinder ist das alles selbstverständlich. Das ist normal bei Kindern und muss mehr oder weniger ertragen werden. Viel belastender ist, dass die meisten Männer den hohen Einsatz ihrer Partnerin nicht angemessen schätzen. Sie kennen es nicht anders.

Dieses Ungleichgewicht wird in der Fachsprache Effort-Reward-Imbalance genannt und als eine von vielen Erklärungen für die Entstehung von Stress, Erschöpfung und Burnout herangezogen. Burnout selbst ist ein tiefgreifender psychosomatischer Erschöpfungszustand, verbunden mit dem Verlust der Erholungsfähigkeit; Ursache und zentrales Merkmal ist eine emotionale Erschöpfung. Womit wir bei unserem Thema sind.

Viele Frauen fühlen sich durch die Auswirkungen von Schwangerschaft und Geburt und nicht zuletzt durch einen dauerhaften Schlafmangel physisch erschöpft. Kognitiv müssen sie eine Lehre im Schnelldurchlauf machen, um die Bedürfnisse ihres Kindes erfassen zu können und zu wissen, wie sie es – bei entsprechender Impulskontrolle – angemessen trösten, beruhigen und nähren können. Bei diesem hohen Einsatz stellt sich bei den meisten Müttern bald das Gefühl einer Effort-Reward-Imbalance ein, eine der zentralen Ursachen für eine emotionale Erschöpfung.

Mütter brauchen also dringend eine Gemeinschaft, die sie schützt und nährt. Wie es das bekannte afrikanische Sprichwort so schön sagt: Um ein Kind großzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Doch wie kann das eine Partnerschaft leisten, die in unserem Kulturkreis zum überwiegenden Teil nicht in einer gewachsenen dörflichen Gemeinschaft lebt?

Die Frauen sind erschöpft und wünschen sich Anerkennung und Unterstützung. Da vor Ort meist nur die Väter der Kinder ansprechbar sind, landet der Auftrag bei den Männern, sich angemessen und möglichst auch freudig um Mutter und Kind zu kümmern. Darauf sind die Männer nicht vorbereitet. Weder können sie das Problem in seiner Ganzheit erfassen – auch deshalb, weil der sogenannte Mental Load nicht sichtbar ist –, noch wissen sie, was genau zu tun ist. Und vor allem wissen sie oftmals nicht, welche emotionalen Bedürfnisse von Mutter und Kind gestillt werden wollen. Sie fühlen sich hilflos, sind genervt und ziehen sich zunehmend in die vertraute Erwerbsarbeit zurück. So hatten sich das die Frauen bei der Familiengründung meist nicht vorgestellt. Und oft war es auch anders verabredet. Aus ihren Wünschen werden nun Forderungen. Damit fühlen sich viele Männer zu Dienstleistern degradiert. Und jetzt hört der Spaß auf. Als wenn sie nicht schon genug für ihre Familie leisten würden. Da nehmen sie doch lieber die nächste Beförderung mit, bekommen Anerkennung, Geld und Macht. Schön blöd, wenn sie unter diesen Umständen noch mehr von der Familienarbeit übernehmen würden – ein 24/7-Job, der nicht einmal bezahlt wird.

Ein individuelles Problem? Brauchen wir mehr Paarberatungen, um den zunehmenden Entfremdungen und Scheidungen vorzubeugen? Ich glaube nicht. Die Überlastung der Mütter mit all ihren unsäglichen Folgen hat strukturelle Ursachen, die dort gelöst werden müssen, wo sie entstehen. Weil das nicht (oder nur kaum) geschieht, wird die Lösung der unhaltbaren Situation auf der individuellen Ebene innerhalb der Partnerschaft gesucht. Ein erschöpfendes Unterfangen – nicht nur für die Mütter, sondern auch für die Väter.

Was belastet die Mütter denn so?

Im Mai 2009 durfte ich mit auf dem Podium sitzen, als die Techniker Krankenkasse (TK) ihre Stress-Studie vorstellte. Diese Studie ergab unter anderem, dass Mütter zu der Personengruppe in Deutschland gehören, die am meisten unter Stress leidet. Ich saß auf dem Podium und konnte mit ansehen, wie die Journalistinnen und Journalisten sich darüber wunderten: Warum die Mütter? Was belastet die denn so? Weder der TK-Vorstand noch die Soziologin konnten gute Antworten für diesen Befund liefern. Ich aber konnte die Geschichten der Mütter aus meinen Gruppen erzählen.

Die Geschichten sind vielfältig und im Kern doch immer die gleichen. Alle berichten von großen Verlusten durch die freiwillig eingegangene und oftmals ersehnte Mutterschaft. Sie beschreiben das Gefühl von Heimatlosigkeit, entstanden durch den Verlust von körperlicher Selbstbestimmung während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Sie beschreiben den Verlust geistiger Selbstbestimmung, weil die Erfordernisse, das Kind mit seinen vielfältigen basalen Bedürfnissen zufriedenstellen zu müssen, jegliches weitere Denken absorbiert. Sie fühlen sich fremdbestimmt durch den Verlust auch nur minimaler zeitlicher Freiheit. Sie fühlen sich unsichtbar und einsam – trotz der Fülle an Aufgaben, die sie jeden Tag meistern, trotz all der Menschen, die sie im Laufe des Tages treffen. Sie werden zunehmend unsicherer, wenn es um gesellschaftliche Teilhabe geht. Im Beruf sind sie weniger gefragt, für Kultur haben sie weniger Zeit, öffentlich äußern sie sich kaum noch. Die Rolle des Mutterseins überdeckt alle anderen gesellschaftlichen Rollen. Sie verzweifeln an der Stagnation ihrer persönlichen Entwicklung und beruflichen Karriere. Und nicht zuletzt führt sie der Verlust von Ansehen, Geld und Macht zunehmend in eine erlernte Hilflosigkeit.

Das, was ich im Folgenden als Problem von Müttern und Frauen beschreiben werde, trifft übrigens auf alle Menschen zu, die hierzulande die fürsorgende, kümmernde Rolle übernehmen. Allerdings sind dies immer noch meistens die Frauen, weshalb ich hier ihre Geschichte erzähle, um dann zu schauen, wie es für die Mütter in unserer Gesellschaft weitergehen kann, damit sie ein wenig aufatmen, abgeben und aufleben können.

Beginnen werden wir mit der Bestandsaufnahme ›Warum Muttersein heute immer noch eine Falle ist‹, um anschließend zu prüfen ›Warum wir uns immer wieder fangen lassen‹. Wir brauchen eine klare Benennung dessen, was ist, und das Erkennen der lockenden Köder, um im dritten Teil dieses Buches Ideen zu entwickeln. Ideen dazu, ›Wie wir da gemeinsam rauskommen‹, beziehungsweise gar nicht erst in die Falle laufen. Das Kapitel ›Die neue Freiheit‹ zeigt abschließend, warum sich all die Anstrengungen lohnen – für alle: die Mütter, die Väter, die Kinder, die Familien, die Firmen und nicht zuletzt für unsere ganze Gesellschaft.

Teil I

WARUM MUTTERSEINHEUTE IMMER NOCHEINE FALLEIST

Der berühmte Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902–1994) beschreibt die Aufgabe des Erwachsenenalters in seinem Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung des Menschen so: »Ich bin, was ich bereit bin zu geben.« Das eigene Leben im Fluss der Generationen zu begreifen, selbst empfangen zu haben und nun weitergeben zu können, ist ein wesentliches Stadium der persönlichen Reife. Dem gegenüber steht die ichbezogene Stagnation, die in diesem Entwicklungsschritt überwunden werden muss. Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen, ist das Thema. Diese Verantwortung kann in sozialem Engagement gelebt werden, in Naturerhalt, Wissenschaft und Forschung, Kunst und Pädagogik oder auch darin, Kinder großzuziehen. Es geht darum, Liebe in die Zukunft zu tragen. Die Herausforderung dieser speziellen Entwicklungsaufgabe besteht nach Erik Erikson und seiner Frau Joan Erikson (1903–1987) darin, Fürsorge zu geben, ohne sich selbst dabei aus den Augen zu verlieren. Wie schwer diese Aufgabe für Mütter bei uns in der heutigen Zeit ist, soll in den folgenden sieben Kapiteln gezeigt werden.

»Mit der Schwangerschaft hörte mein Körper auf, mir zu gehören« – Der Verlust körperlicher Selbstbestimmung

Wenn eine Frau in der Vorstellungsrunde in einem meiner Kurse sagt »Ich fühle mich nicht gut«, werde ich direkt hellhörig. Denn dieser kleine, fast banale Satz weist meist auf eine tief sitzende Schwierigkeit hin. Fast immer kommt im Laufe der Seminartage ans Licht, dass diese Frau sich generell nicht gut fühlt, und zwar in dem Sinne, dass sie sich selbst kaum noch spürt. Sie bekommt gar nicht mehr mit, wie es ihr geht, spürt deshalb auch kaum ihre Grenzen – und hat sich so über Monate und Jahre in eine tiefe Erschöpfung manövriert. Wenn wir dann tiefer in ihre Biografie einsteigen, finden wir nicht selten den Anfang dieser seltsamen Körperlosigkeit: Sie fing in der Schwangerschaft, unter der Geburt oder in der Stillzeit des Kindes an. In diesen Phasen machen viele Frauen die Erfahrung, dass sie plötzlich nicht mehr ausschließlich über ihren eigenen Körper bestimmen können. So schleicht sich neben der frohen Erwartung mit dem Sichtbarwerden der Schwangerschaft und der Geburt des Kindes auch ein Unbehagen ein, ausgelöst durch die Gewissheit: Das kann ich jetzt nicht mehr rückgängig machen.  

»Ich stand vor dem Spiegel und sah, wie sich mein Bauch von Woche zu Woche mehr rundete. Keine Diät konnte jetzt noch helfen. Ich spürte die Bewegungen des Kindes und begriff: Da hat nun ein anderer Mensch von mir und meinem Leben Besitz ergriffen.«Annalena, 29

Fast noch schwerer wiegt allerdings der unweigerlich folgende Eintritt in die Sprechzimmer der Ärztinnen und Ärzte. Denn bereits die noch nicht selbstständig lebensfähige Leibesfrucht einer Frau hat Anspruch auf den Schutz des Staates. Mit Eintritt der Schwangerschaft gehört der Körper der Frau nicht mehr ihr allein. Er gehört jetzt auch dem Ungeborenen. Ärzte und Ärztinnen betasten und untersuchen den Körper der Frau nicht mehr nur um ihrer Gesundheit willen, sondern weil sie den Entwicklungs- und Gesundheitszustand des ungeborenen Kindes untersuchen. Die werdende Mutter wird angehalten, ihre Ernährung umzustellen, bestimmte Sportarten einzustellen, für das werdende Kind einen gesunden Lebensstil zu pflegen. Dieses Gefühl, den eigenen Körper mit einem anderen Menschen zu teilen, bleibt häufig auch nach der Schwangerschaft bestehen. Denn die Milch ihrer Brüste scheint ein selbstverständlicher Anspruch ihres neugeborenen Kindes zu sein. Frauen erleben immer wieder, dass sie gegen Windmühlen kämpfen, wenn sie anfangen, gewisse Normen rund um Mütterlichkeit zu hinterfragen.

»Ich wollte nicht stillen. Ich wollte bald wieder arbeiten gehen und auf keinen Fall mit einer Milchpumpe wie eine Kuh die Nahrung für unser Kind bereitstellen müssen. Aber die Hebamme und die anderen Mütter und Väter in unserem Geburtsvorbereitungskurs machten solch einen Druck: Etwas Besseres als Muttermilch gibt es für die körperliche und emotionale Entwicklung eines Kindes nicht! Mit Muttermilch wird der Grundstein für eine gesunde Darmflora gelegt! Übergewicht kann auf diese Weise schon frühzeitig verhindert werden! Eine gute Mutter stellt ihre eigenen Bedürfnisse zurück und stillt ihr Kind! Ich habe mich breitschlagen lassen. Aber unserer Beziehung hat es nicht gutgetan. Mein Mann war frustriert, weil er sich schon so auf das Füttern gefreut hatte. Nun stand ich zwangsläufig immer an erster Stelle, wenn unser Kind beruhigt werden wollte.«Mareike, 34

Dass es sich so anfühlte, als wäre ihr Kleines nicht mehr nur ihres, sondern als hätte plötzlich auch die Ärztin einen Anspruch auf ihr Kind, erzählt Judith – auch sieben Jahre nach der Geburt immer noch sichtlich erschüttert.

»Ein Kaiserschnitt war unvermeidbar. Wegen einer Plazentainsuffizienz wuchs unser Kind nicht mehr richtig, und es war klar, dass ich es bald nicht mehr über die Nabelschnur ernähren konnte. Deshalb verbrachte ich die letzten Tage vor dem Geburtstag unseres winzigen Kindes in der Klinik unter der gewissenhaften Kontrolle einer erfahrenen Neo-natologin. Jeden Tag, manchmal auch zweimal, fand eine aufwendige Ultraschalluntersuchung statt, um die Entwicklung unseres Sohnes einschätzen und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen einleiten zu können.

Ich hatte wahnsinnige Angst um unser Kind und fühlte mich elend und schuldig an seinem schweren Schicksal. Meine Gefühle spielten auf der Station allerdings überhaupt keine Rolle. Wie es mir, der Mutter, ging, war völlig unwichtig. Es ging nur um das Kind. Auch beim Ultraschall wurde nicht mit mir geredet, geschweige denn etwas erklärt. Die Ärztin sprach nur mit sich selbst. ›Heute hole ich ihn mir noch nicht‹, sagte sie mit Blick auf den Monitor. Mein Kind! Wollte sie sich holen! Ich fühlte mich wie die Königin aus Rumpelstilzchen, der man das Kind rauben wollte. Natürlich bin ich dankbar, dass sich alle so gut um unseren wunderbaren kleinen Kerl gekümmert haben. Und ich bin so froh und glücklich, in einer Gesellschaft leben zu dürfen, in der sich so viele Menschen so aufmerksam um das Wohl jedes und jeder Einzelnen sorgen. Und dennoch: Ich fühlte mich wie eine Versagerin, die es nicht wert zu sein schien, eine Mutter zu sein.«Judith, 40

Bald schon nach dem positiven Schwangerschaftstest geht es los: Es gibt den berühmten Mutterpass. Für viele Frauen, die sich die Schwangerschaft gewünscht haben, ist er fast wie ein Orden, und sie tragen das kostbare Dokument immer bei sich. Gewissenhaft wird jede Vorsorgeuntersuchung wahrgenommen und jede Eintragung aufmerksam verfolgt. Doch mit jeder Untersuchung steigt neben dem Glück auch die Sorge: Bewege ich mich noch in der Norm? Mache ich alles richtig? »Zur Sicherheit« schauen die Mediziner:innen per Ultraschall in die Körper der Frauen, viele sind dabei ganz mit ihren Geräten und dem Blick auf das Ungeborene beschäftigt. Bei Unklarheiten werden weitere Kontrolluntersuchungen empfohlen. Oft jedoch ohne genaue Aufklärung, um wessen Sicherheit es hier geht. Um die des Kindes? Der Eltern? Der Gesellschaft vor Kindern mit kostspieligen Behinderungen? Die Erfahrung, dass sich das Gesicht der Ärztin nach der vermeintlichen Routine-Untersuchung in sorgenvolle Falten legt, hat schon viele Schwangere überrumpelt und extrem verunsichert. Die oftmals mangelnde ruhige Aufklärung durch das Medizinpersonal zeigt schlicht: Die Meinung und die Bedürfnisse der werdenden Mutter sind hier kaum gefragt. Im Fokus steht jetzt das Kind.

»Es war furchtbar. Die Ärztin strich immer wieder mit dem Schallkopf über meinen Bauch und murmelte vor sich hin: ›Wo sind denn die Füße? Ich finde die Füße nicht.‹ Meine ganze schöne, pralle Schwangerschaft fiel von einem Moment auf den anderen in sich zusammen. Ich lag da, stumm vor Entsetzen und sah ein Kind ohne Füße heranwachsen. Irgendwann zeigte sich unser Kind dann ganz, und das elende Vermessen hatte ein Ende. Diese Tochter liebt Schuhe, seit sie denken kann.«Helena, 36

Der Verlust der körperlichen Selbstbestimmung der werdenden Mutter ist wie ein roter Faden, der sich bei vielen Frauen durch Schwangerschaft und Geburt zieht. Viele Frauen haben das Gefühl, sich möglichst gefügig einpassen und alle Anordnungen befolgen zu müssen, damit die Akteure ihren Job im Sinne des Kindes machen können. Sie vermissen die ehrliche Frage nach ihren ganz persönlichen Bedürfnissen, manchmal auch Respekt vor ihren körperlichen Grenzen oder Ängsten.

Sich dagegen zu wehren kommt den Frauen meist nicht in den Sinn. Schließlich wollen sie das Wohl ihres Kindes auf keinen Fall gefährden. Weil von Seiten der Ärzt:innen häufig nicht viel erklärt wird, haben Frauen oft nicht das Gefühl, dass sie fachlich mitbestimmen könnten. Viele denken deshalb, sie müssten all das klaglos ertragen. Und schweigen.

So passiert es, dass Geburten – manchmal wie zufällig – eingeleitet werden, weil es einfach besser passt.

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