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Im Jahr 2009 brach ich aus Deutschland auf, um den Jakobsweg zu gehen. Ich wollte den Alltag mit seinen Zwängen, der Enge der Zeit, den negativen Gedanken hinter mir lassen und aufbrechen in die Weite. Statt herumzusitzen und zu grübeln, wollte ich etwas tun, wollte einen Fuß vor den anderen setzen. Was mich auf meiner Wanderung erwarten würde? Davon hatte ich nur vage Vorstellungen. Über siebenhundert Kilometer lagen vor mir. Von Saint-Jean-Pied-de-Port führte mich meine Wanderung bis nach Santiago de Compostela. Dieses Buch erzählt von den kleinen Freuden, die mir auf dem Weg dorthin begegneten, von den Herausforderungen des Wanderns - von dem kleinen Ziepen in der Achillesferse bis hin zu den großen inneren Kämpfen - von überbordender Freude und stiller Einkehr, von flüchtigen und bereichernden Begegnungen, von dem Gefühl tiefer Verbundenheit zu den Menschen, die mir auf dem Weg begegneten, von weinseligen Abenden und den beeindruckenden Landschaften, durch die der Jakobsweg führt. Durchwirkt mit Aphorismen, Gedichten und Gedanken erzählt dieses Buch auch von dem sogenannten inneren Jakobsweg - von der positiven Kraft des Aufbruchs, der meditativen Qualität des Wanderns und von der Ruhe, die eintritt, wenn man ankommt bei sich selbst. Das Buch soll all jenen eine Inspiration sein, die aufbrechen wollen - ob sie sich nun auf den Weg nach Santiago de Compostela begeben oder auf den verschlungenen Pfad zu sich selbst.
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Seitenzahl: 145
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Toni M. Schneider
Zu Pferd, zu Fuß oder mit dem Fahrrad?
© 2019 Toni M. Schneider
Herausgeber: tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg
Autor: Toni M. Schneider
Umschlaggestaltung, Illustration: Daniela Fischer,
Toni M. Schneider
Lektorat, Korrektorat: Antje Röttgers
2. Auflage, 2021 Toni M. Schneider
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40-44,
22359 Hamburg
ISBN: 978-3-7497-7643-6 (Paperback)
ISBN: 978-3-7497-7645-0 (eBook)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zu Pferd, zu Fuß oder mit dem Fahrrad?
Es gibt ein Geheimnis, welches jeder von uns in sich trägt: den Weg zu einem Leben nach den eigenen Vorstellungen. Wie beschreite ich diesen Weg? Wohl indem ich herausfinde, wie ich die eigene Zeit sinnvoll und hingebungsvoll nutzen kann. Ich habe sehr lange gebraucht, um zu verstehen, dass diese Erkenntnis der erste Schritt auf dem Lebensweg ist.
Auf diesen ersten Schritt folgt der zweite. Es gilt, herauszufinden, wo ich hin will, mich zu fragen: Was berührt mich? Was erfüllt mich? Was macht mich in meinem Leben glücklich? Ist es ein Beruf? Ist es eine Partnerschaft? Oder ist es vielleicht finanzielle Unabhängigkeit?
All diese Wünsche und Ziele sollten stets Hand in Hand gehen mit Ehrgeiz, Hingabe und Ehrlichkeit. Diese inneren Vorgänge sind wie Richtungsweiser auf dem Weg zu einem erfüllten Leben. Sie bestimmen die Qualität dessen, was ich tue. Denn ohne ungehemmten Ehrgeiz, ohne aufmerksame Hingabe oder ungeschminkte Ziele bereitet eben alles nur noch halb so viel Vergnügen.
Der wichtigste Schritt aber lautet: Aufbrechen!
Ich gewinne dabei immer. Die investierte Zeit ist nicht verloren. Ich werde reicher durch die Erkenntnisse über mich selbst. Der Blick weitet sich für neue Wege. Wenn ich unzufrieden bin, ich mir von Herzen etwas anderes wünsche, sollte ich einen anderen Weg einschlagen und mich nicht damit zufriedengeben, faule Kompromisse einzugehen.
Gehe diesen Weg. Wenn Du wieder da bist, wirst Du ein anderer Mensch sein.
Das war mein erster Gedanke, bevor ich mich dazu entschied, den Jakobsweg nach Santiago zu gehen. Dann befielen mich Zweifel. Wollte ich das denn überhaupt? Ein anderer oder anders sein? Wusste ich denn, wer ich war? Wenn ich anders wäre, würde ich dann alles Schlechte einfach hinter mir lassen und nur noch das Gute sehen? Würde ich der, der ich wirklich bin? Würde ich bleiben, wer ich war? War ich mir wirklich sicher, dass ich diesen Weg überhaupt gehen wollte? Ja, ich war ganz sicher und musste in mich hineinlachen vor lauter Freude.
Ich nehme Dich mit auf meine Reise durch Spanien. Du wirst lesen, was ich erlebt, gefühlt und gesehen habe und vielleicht auch auf die eine oder andere Erkenntnis stoßen, die Du selbst schon gewonnen hast. Es freut mich, wenn Du aus meinem Buch etwas lernst, wenn Du es als Abendlektüre mit ins Bett nimmst. Ich möchte Dich dazu ermutigen, eine Reise zu wagen, vor allem zu Dir selbst. Ob Du nun jung bist oder alt, Dich bereits gefunden hast oder noch auf der Suche nach Deinem Lebenssinn bist: Ich lade Dich ein, mich auf meiner Reise zu begleiten, auch dann, wenn Du nicht mehr die Kraft haben solltest, Dich selbst auf eine physische Reise zu begeben und Du Erfüllung in Büchern findest, unterwegs in den grenzenlosen Weiten der Fantasie.
Wenn du dieses Buch gekauft hast, wirst Du mit Sicherheit einen Grund dafür haben. Vielleicht willst Du es verschenken. Vielleicht leidest Du unter der Trennung von Deiner Partnerin oder Deinem Partner.
Ist es ein Neuanfang, den Du suchst? Treibt Dich die Abenteuerlust, und das Buch befriedet Dein Fernweh? Oder wünschst Du Dir, einen Menschen zu finden, der zu Dir gehört? Möchtest Du dem Alltagstrott für eine Weile entfliehen? Oder sehnst Du Dich danach, etwas Neues, Unbekanntes zu entdecken, außerhalb Deiner gewohnten Umgebung? Willst Du Deine Komfortzone für ein paar Stunden verlassen?
Ich habe Ja zu meiner Reise gesagt. Als ich mich dazu entschloss, den Jakobsweg zu gehen, hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, warum ich dies tun wollte.
Viele, die mich nur oberflächlich kannten, fragten mich, ob ich den Weg aus religiösen Gründen laufen wolle, oder ob es mir darum gehe, mich selbst zu finden. Sie fragten mich, ob ich mich allein auf die Reise begeben wolle oder mit anderen gemeinsam. „Hast Du Dich beim Arbeitsamt abgemeldet, und hast Du an Deine Rente gedacht?!“
Ich weiß, ich sollte nicht alles unbedacht stehen und liegen lassen, so wichtig eine Reise auch sein mag. In diesem Moment jedoch hatte ich meine Priorität gefunden, und ich behütete sie streng. Nichts weiter hatte ich im Sinn, als fünf Wochen lang durch Spanien zu pilgern. Dass es irgendwann mein Weg werden würde, davon konnte ich bis dahin nur träumen. Kein einziger Zweifel oder Angst waren präsent, was alles passieren könnte, was mich erwarten würde, wie ich mich fühlen würde, und ob ich es wirklich wollte.
Ich verspürte keine besondere Vorfreude, die ich übrigens nie großartig hatte, eine Tatsache, die meinen Bruder immer wieder aufs Neue zur Verwunderung veranlasste, doch der Entschluss aufzubrechen stand fest.
Heute, einige Jahre nach meiner Wanderung auf dem Camino weiß ich, dass diese Haltung das Beste war, was mir zu diesem Zeitpunkt passieren konnte. Ich kannte auf keine meiner Fragen eine konkrete Antwort, wusste kaum die grobe Richtung.
Die Antworten, die ich auf meinem Weg fand, haben mich ein gewaltiges Stück glücklicher und auch reicher gemacht. Heute weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn ich auf meine innere Stimme höre, die ich bis dahin des Öfteren vernommen, aber erfolgreich ignoriert hatte. Bis heute fällt es mir nicht immer leicht, sie aus den vielen anderen Stimmen herauszufiltern.
Im Jahr 2009 schloss ich das Gymnasium mit dem Abitur ab. Ich war einer der letzten Schulabgänger, die noch Zivildienst leisten durften. Die Bibliothek, bei der ich mich beworben hatte, meldete sich nicht, also folgte ich der Zusage aus der Landschaftspflege und trat eine Stelle als Gärtner in Berlin an, auf einer Insel mitten in der wunderschönen, idyllischen Havel.
Schon in jungen Jahren wollte ich Architekt werden, etwas später dann Schauspieler, dann wieder Architekt, Archäologe – auch eine Karriere als Psychologe oder Sänger zog ich ernsthaft in Erwägung. In viele dieser Berufe schnupperte ich hinein, um einen besseren Eindruck von der Arbeit zu gewinnen.
Gärtnern kam damals nicht für mich infrage.
Ich belächelte diejenigen, die am Samstagvormittag ihre Einfahrt von Laub befreiten und im Garten Unkraut aus den Fugen des grauen Rechteckpflasters kratzten. Was für eine lächerliche und langweilige Arbeit, dachte ich. Nun ja, diese Ansicht sollte sich noch ändern.
Es vergingen die ersten Wochen auf der Insel. Eines Tages, als ich Unkraut im Rosengarten der Pfaueninsel zog, schoss es mir wie ein Blitz durch den Kopf; etwas in mir sagte auf einmal, dass ich Gärtner sein wollte. Ich? Gärtner? Laub harken? Aber sicher! Atme mal tief durch, und dann wird das schon wieder, dachte ich.
Ab jenem Zeitpunkt vergingen einige Tage mit diesem Gedanken im Hinterkopf. Ich bemerkte, dass ich die anfallenden Arbeiten mit einer überraschenden Gelassenheit und Hingabe verrichtete. Ich war alles andere als gelangweilt. Die unglaubliche Ruhe der Natur, die mich umgab, hatte zu einer tiefgreifenden und nachhaltigen Veränderung in mir geführt. Ich war überrascht, wie schnell ich mich mit dem Gedanken anfreundete, Gärtner zu werden. Auf einmal gab es da einen Beruf, der möglicherweise später auch eine Art Berufung sein könnte. Ich schlug einen neuen Weg ein, den ich selbst bestimmte. Ich hatte etwas gefunden, das mich begeisterte, sodass ich mich um eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner bewarb. Einen Tag vor der Abreise auf den Jakobsweg erhielt ich erfreulicherweise die Zusage. Nach dem Zivildienst machte ich mich auf, den Jakobsweg durch Spanien zu laufen und trat danach meine Ausbildung im Schlossgarten von Sanssouci an. Diese Zeit war eine der besten, die ich je hatte, auch neben der Lehr- und Lernzeit! Auf die Ausbildung folgte der Abschluss des Studiums der Landschaftsarchitektur in Berlin.
Warum erzähle ich das? Ich denke, es ist wichtig zu wissen, dass mir oft Situationen aus der Vergangenheit einfallen, die anders nicht hätten passieren können. Widerfahren mir häufig nicht genau die Dinge, über die ich mich am meisten aufrege, die ich mit aller Kraft von mir stoße, genauso wie jene, die ich mir von Herzen wünsche? Sind es am Ende beides Wünsche, die ich habe?
Menschen, die mich am meisten aufregen, werden plötzlich meine besten Freunde. Hobbys, die mich langweilten, sind auf einmal interessant. Wir Menschen verändern uns ständig, doch oft genügt schon ein Aufhänger, eine positive Situation, die uns überzeugt, umstimmt und neugierig macht.
Den Wert des Weges bestimme ich für mich selbst. Ich kann ihn gehen und mich verändern. Ich kann ihn ebenso gehen, und bleiben wie ich bin. Es hängt von mir ab, mit welcher Intention ich ihn gehe. Die Antworten, die ich erhalte, können mich überraschen, mich bestätigen und sie können mich für immer verändern.
Mit Sicherheit wird sich meine Wahrnehmung spürbar wandeln. Der Weg lässt mich erst in Ruhe. Er prüft, ob ich es ernst meine. Egal, ob ich fluche, ob es seit Tagen regnet, die Sonne zu heiß auf meine Schultern brennt oder ich einfach nur glücklich bin. Jeder Schritt zeigt mir mehr und mehr, wer ich bin und wo ich hingehe.
Seit ich ihn gelaufen bin, denke ich nahezu jeden Tag an die Zeit auf dem Camino zurück. Ich schwelge nicht nur in Erinnerungen, sondern denke kritisch über meine Erlebnisse nach, um heute mein Leben so schön wie möglich zu gestalten und nach meinen eigenen Vorstellungen zu leben.
Aufbruch: Von Berlin nach Bayonne
Die Reise beginnt
Es ist vier Uhr am Morgen. Die Sonne erhellt das kleine Schlafzimmer in der Dreier-WG, die ich seit fünf Jahren bewohne. Mein Rucksack ist seit Tagen gepackt, doch eine Sache fehlt noch: eine Hose! „Typisch Toni“, brabbele ich verschlafen vor mich hin. Aufgeregt krame ich in meinem provisorisch aufgebauten Stoffschrank und finde eine blendend weiße Leinenhose. Der Stoff ist perfekt für diese Wanderung. Ich stopfe sie hektisch zwischen die anderen Kleidungsstücke in den Rucksack, denn es ist keine Zeit mehr, um alles platzsparend einzupacken. Dafür werde ich heute Abend sicher mehr Geduld haben.
Um sechs Uhr in der Frühe fährt mich mein Vater zum Flughafen nach Berlin Tegel. Bevor es losgeht, gönne ich mir noch einen Kaffee und etwas zu Essen, dann verabschieden wir uns und tauschen Umarmungen aus. Im Gehen winke ich ein letztes Mal, drehe mich um und verschwinde durch den Sicherheits-Check. Das erste Ziel ist der Flughafen Paris Orly. Im Flugzeug angekommen, suche ich meinen Platz am Fenster und setze mich. Die Tür schließt, der Flieger hebt ab. Er kreist eine großzügige Runde über Berlin. Wie schön und grün die Stadt von hier oben aussieht, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Gebäude goldgelb erleuchten und der Nebel sich langsam lichtet.
Meine Gedanken stehen still, ich bin im Jetzt und Hier, 10.000 Meter über der Erde.
Von Paris aus soll es mit dem Zug Richtung Südfrankreich weitergehen. Bayonne, mein Tagesziel, liegt an der äußersten Spitze des Landes in unmittelbarer Nähe zu den Pyrenäen und dem atlantischen Ozean.
Der Flug vergeht zügig, und so sitze ich bereits am frühen Vormittag in einer lebendigen Pariser Patisserie, trinke einen großen Pott Kaffee und bestelle mir noch ein Schokocroissant dazu. Schöner kann die Reise doch nicht beginnen, denke ich und beobachte das rege Getümmel auf den Straßen.
Ein paar Stunden später trifft mein TGV ein und bringt mich in die geschichtsträchtige Stadt Bayonne. Die Fahrt dorthin dauert knapp sechs Stunden und bringt mich meinem Traum immer näher. Es ist bereits später Nachmittag geworden, als ich Bayonne erreiche. Die Türen öffnen sich mit einem leisen Zischen, und ich verlasse den Bahnhof in Richtung Süden. Es riecht nach Eisen, kaltem Fett und Essen. Der gleiche Duft, wie er aus den Schächten der U-Bahnhöfe in Berlin aufsteigt.
Der Fluss Adour fließt gemächlich Richtung Meer, dem rot schimmernden Sonnenuntergang entgegen, und trennt die Stadt in zwei Hälften. Schon auf den ersten Blick erkenne ich, wie schön sie ist. Auf der Suche nach einer Unterkunft für heute Nacht überquere ich den Fluss in der Hoffnung, in den ansteigenden und abfallenden Gassen der Altstadt eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. In einem Modegeschäft wird mir schließlich geholfen. Entgegen meiner Annahme, dass ich ohne Französischkenntnisse nicht sehr weit kommen werde, hilft mir die strahlende, aufgeschlossene Verkäuferin in fließendem Englisch weiter und lotst mich zurück auf die andere Seite des Flusses. Dort soll es mehrere Hotels geben, die ganz sicher noch ein Bett für mich frei haben. Das klingt wunderbar! Ich bedanke mich bei ihr und sehe mir noch ein paar Straßenzüge an, bevor ich einchecke. Ich passiere eine alte Kathedrale, flaniere durch die verwinkelten Gässchen, vorbei an unzähligen Bars, Geschäften, Konditoreien. Ich verliebe mich in französisches Gebäck – Baguette, Croissants, Eclairs.
Die ganze Stadt ist sehr gepflegt, zwar ordentlich, aber nicht spießig. Ich freue mich über die Eindrücke, doch eine Sache bereitet mir Sorgen. Mir drückt der Schuh! Und das meine ich nicht im übertragenen Sinne. Na wunderbar, das geht ja gut los! Ich versuche, den Schmerz zu ignorieren und laufe weiter. Am gegenüberliegenden Ufer des Flusses sehe ich schon eines der empfohlenen Hotels, das Loustau. Zwar hat das Hotel drei Sterne und ist dementsprechend teuer, aber bevor ich mit meinem bedrückenden Schuh weiterlaufe, gönne ich mir lieber eine Nacht für achtzig Euro und genieße wahrscheinlich zum letzten Mal auf meiner Reise die Ruhe eines Einzelzimmers. Das ist es wert! Wer weiß, was mich während der nächsten fünf Wochen erwartet. Ich bezahle, bedanke mich bei der charmanten Rezeptionistin und gehe auf mein Zimmer. Der Ausblick auf den Fluss Adour und die Stadt macht den Preis wieder wett. Ich verweile am offenen Fenster, halte inne, genieße die Abendstimmung.
Es lohnt sich nicht, für eine Nacht mein Hab und Gut im Schrank zu verstauen. Deshalb lege ich meinen Rucksack in eine Ecke des Zimmers, erfrische mein Gesicht mit kaltem Wasser und gehe los, um mir noch etwas zu Essen für den Abend zu besorgen. Viele der kleinen Läden haben bis weit nach 18:00 Uhr geöffnet. Das frische Obst und Gemüse in den alten Weinkisten beeindruckt mich - wie akkurat die Verkäufer es gestapelt haben! Es erinnert mich an meine Schulzeit, an den Kunstunterricht und die unzähligen Stillleben, die wir in dieser Zeit zeichneten.
Aus den Küchen der Hotels und Restaurants strömen verheißungsvolle Gerüche, die der warme Abendwind durch die Gassen des französischen Städtchens weht. Auf dem Rückweg zum Hotel setze ich mich auf eine Bank am Wasser und verträume die letzte halbe Stunde, bevor die Sonne untergeht. Ich rieche die frische, salzige Brise, die vom Atlantik her in die Stadt weht. In meinem Kopf ertönt Musik: mein Jakobsweg-Soundtrack. Er soll von nun an mein stetiger Begleiter und Stimmungsverstärker sein.
Nicht weit von mir amüsieren sich Kinder auf ihre ganz eigene Art. Sie haben kleine Tütchen aus einem Spender für Hundehalter gezogen und sie mit Wasser gefüllt. Ausgelassen bewerfen sie einander. Was für eine Freude sie ausstrahlen! Das ist mal kreativ, werde ich später am Abend in mein Tagebuch schreiben. Zurück im Hotel sehe ich mir meine Füße an.
Ich bin überrascht, denn obwohl ich nur fünf magere Kilometer zurückgelegt habe, zeigt sich die erste Blase am Zeh. Bachblütenspray drauf und ab ins Bett. Mal sehen, ob es hilft. Angeblich soll es Wunder wirken.
Die erste Etappe: Von Saint-Jean-Pied-de-Port nach Honto
Zu Pferd, zu Fuß oder mit dem Fahrrad
Die Blase ist verschwunden. Meine Wanderung kann beginnen. Ich bin etwas aufgeregt, aber auch zuversichtlich. Dass ich in Anbetracht eines so großen Vorhabens trotzdem entspannt bleiben kann, hätte ich nicht gedacht.
Bevor es wirklich losgeht, frühstücke ich im Saal des Hotels. Ich esse so viel ich kann, trinke zwei Tassen Kaffee mit Milch und Zucker und mache mich dann auf zum Bahnhof. Rasch kaufe ich mir ein Ticket am Schalter und erkenne schon die ersten Pilger an ihrer Wanderkluft und der Muschel am Rucksack. Für sie beginnt heute ebenfalls die Reise auf dem Camino. Die Muschel galt bis zu Beginn des Spätmittelalters als Erkennungszeichen, dass ein Pilger den Weg bestritten hatte, und bis heute dient die Muschel als Schutzsymbol für Pilger. Ich bin so glücklich, hier zu sein, dass ich es kaum in Worte fassen kann. Während ich geduldig auf die Bahn warte, kommt eine Frau auf mich zu. Sie lächelt bis über beide Ohren, ist sich aber offenbar nicht ganz sicher, ob sie mich ansprechen soll. Ich lächele ihr ermutigend zu, was sie in ihrem Vorhaben bestärkt: „Excuse me. Do I have to stamp my ticket ?“
Ich bin nicht ganz sicher, was sie möchte, weil ich nur „Ticket“ verstanden habe, sage ihr aber, dass es bereits entwertet ist und sie nur noch einsteigen muss. Hoffentlich war das die Antwort auf ihre Frage.
Um kurz vor zwölf Uhr am Mittag fährt unsere Bahn gemächlich in den Bahnhof ein. Zwei kleine Waggons mit großen Fenstern und weinroten, abgewetzten Kunstledersitzen darin kommen am Bahnsteig zum Stehen.
Im Waggon hält mir die Frau von vorhin einen Platz frei. Schweigend sitzen wir einander gegenüber, bis die Bahn anfährt. Die anderen Pilgergruppen unterhalten sich schon angeregt, da bricht die Frau das Schweigen:
„My name is Andrea. “
„I´m Toni. Nice to meet you.“