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Mit Herz & Humor gegen die Widrigkeiten des Lebens: ein Wohlfühl-Roman zum Lächeln und Lachen von Spiegel-Bestsellerautorin Gabriella Engelmann. »Wenn etwas kaputt ist, muss man es reparieren!« 45 Jahre lang hat Caro Oldendorff nach diesem Motto ihr Leben ausgerichtet – bis die Hamburgerin ausgerechnet am Tag ihrer Silber-Hochzeit urplötzlich vor den Scherben ihrer Ehe steht. Und das Leben hat noch mehr in petto: Caro verliert nach dem Mann auch noch ihren Job, ihr 15-jähriger Sohn Felix baut ordentlich Mist und Caros esoterisch angehauchte Hippie-Mutter kommentiert all das mit nervigen Kalendersprüchen. Zum Glück sind Caros beste Freundin Sylvia und die Lotsenwitwe Hedwig zur Stelle, um mit Humor und guten Ratschlägen Caros Kampfgeist zu wecken. Denn wenn etwas unwiderruflich kaputt ist, muss frau es schließlich irgendwann ersetzen, oder nicht? Spiegel-Bestsellerautorin Gabriella Engelmann schreibt warmherzige Wohlfühl-Romane über Frauen, die wir gern zur besten Freundin hätten – in »Zu wahr, um schön zu sein« kommt auch noch eine gute Portion Humor dazu. Denn das Leben ist einfach viel zu kurz, um Trübsal zu blasen. Entdecken Sie die zauberhaften Roman-Welten von Gabriella Engelmann: Die »Büchernest«-Serie (Sylt): Inselzauber Inselsommer Wintersonnenglanz Strandkorbträume Die Föhr-Serie: Sommerwind Schäfchenwolkenhimmel Die Villa-Serie: Eine Villa zum Verlieben (Hamburg) Apfelblütenzauber (Altes Land) Weitere Wohlfühl-Romane von Gabriella Engelmann: Wolkenspiele (Amrum) Wildrosensommer (Vierlande) Strandfliederblüten (Halligen) Anthologien: Sommerfunkeln – Geschichten in Sonnengelb und Meeresblau (Hrsg.)
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Seitenzahl: 409
Gabriella Engelmann
Zu wahr, um schön zu sein
Roman
Knaur e-books
»Wenn etwas kaputt ist, muss man es reparieren!« 45 Jahre lang hat Caro Oldendorff nach diesem Motto ihr Leben ausgerichtet – bis die Hamburgerin ausgerechnet am Tag ihrer Silber-Hochzeit urplötzlich vor den Scherben ihrer Ehe steht. Und das Leben hat noch mehr in petto: Caro verliert nach dem Mann auch noch ihren Job, ihr 15-jähriger Sohn Felix baut ordentlich Mist und Caros esoterisch angehauchte Hippie-Mutter kommentiert all das mit nervigen Kalendersprüchen.
Zum Glück sind Caros beste Freundin Sylvia und die Lotsenwitwe Hedwig zur Stelle, um mit Humor und guten Ratschlägen Caros Kampfgeist zu wecken. Denn wenn etwas unwiderruflich kaputt ist, muss frau es schließlich irgendwann ersetzen, oder nicht?
Hey du, dreh dich doch mal um!«, fordert eine raue männliche Stimme. Gleichzeitig berührt eine Hand meine nackte Haut, heute ist es warm genug, um mal wieder etwas Schulterfreies zu tragen.
Sylvia und ich sitzen – den Rücken zur beliebten Hamburger Strandbar Ahoi-Kiosk – auf den großen Steinen, die das Elbufer säumen. Nackte Füße im kalten Wasser, in der Hand coole Drinks, dieser Abend ist beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Ich wende meinen Kopf und schaue direkt in die Augen eines jungen, äußerst attraktiven Typen. Wow! Nicht schlecht! Geschützt durch die dunklen Gläser meiner Sonnenbrille, die mir die Aura einer geheimnisvollen Diva verleiht, begutachte ich ihn eingehend. Alles in allem fühle ich mich fast ein bisschen sexy, was sonst eher selten der Fall ist.
Doch das Glück ist manchmal ein mieser Verräter.
»Oh Mann, wie schade«, stammelt der junge Kerl, offensichtlich schockiert von meinem Frontalanblick. »Das mit uns beiden hätte was krass Großes werden können.« Dann flüchtet er so schnell in Richtung seiner Kumpels, als sei eine Horde Orks hinter ihm her.
Verwirrt schaue ich ihm nach.
»Das ist jetzt nicht wahr, oder?«, feixt Sylvia und leert ihren Gin Tonic in einem Zug. »Hat dieser Youngster gerade versucht, dich anzubaggern?«
»Scheint so«, murmle ich, schwer damit beschäftigt, die Worte Das mit uns beiden hätte was krass Großes werden können zu entschlüsseln. Was dachte er denn, wie alt ich bin? Mitte zwanzig? Sorry, aber da kommt er zwanzig Jahre zu spät.
»Von hinten Lyzeum, von vorne Museum«, kichert Sylvia.
»Haha, das ist nicht witzig«, brumme ich. »Der wird auch noch so alt wie wir, und zwar schneller, als er denkt. Außerdem – was soll das heißen, vorne Museum? Sehr charmant.«
Ich ärgere mich gerade dermaßen, dass ich beinahe den tollsten Moment dieses Tages verpasst hätte: Wie eine goldglänzende Kugel versinkt die Sonne zwischen den Elbkränen, die vor uns steil in den Hamburger Himmel ragen. Dann verwandelt sie sich in einen Feuerball, der blaue Fluss ergießt sich in ein purpurnes Farbenmeer.
»Sei nicht genervt«, unterbricht Sylvia meine Bewunderung des gigantischen Sonnenuntergangs. »Du weißt ganz genau, dass du attraktiv bist und außerdem sehr, sehr liebenswert. Kein Grund, sich diesen grandiosen Abend vermiesen zu lassen. Ein heißer Typ hat versucht, mit dir zu flirten, das ist doch super. Dass er sich ein bisschen im Alter verhauen hat, ist piepegal. Schließlich bist du glücklich verheiratet und feierst am Freitag deine silberne Hochzeit mit Matthias.«
Stimmt auch wieder!
Ein warmes, wohliges Gefühl durchströmt meinen Bauch, wenn ich an meinen Mann und meinen Sohn Felix denke. Und an die Party, die ich anlässlich der Silberhochzeit geplant habe. Ein Fest unter dem Sternenzelt des Elbstrands.
Gibt es etwas Schöneres?
1.
Schatz, denkst du daran, heute früher Schluss zu machen?«
Müde schiele ich zur angelehnten Badezimmertür – die schlechte Angewohnheit, nachts Schlaflos an der Elbe zu spielen und zu überlegen, was am nächsten Tag alles ansteht, sollte ich mir dringend abgewöhnen – und quetsche mich stöhnend in meine viel zu enge Jeans. Kleidergröße 38 war gestern, ich brauche wohl künftig 40. Oder 42.
Mist, der Reißverschluss klemmt. Liegt hier irgendwo eine Sicherheitsnadel?
Die Antwort auf meine Frage (nicht auf die nach der Sicherheitsnadel) ist ein gemurmeltes »Hrglmpphhhh«. Matthias ist ein echtes Morgenmufflon.
Dafür, gelassen zu sein wie Buddha persönlich oder meinetwegen auch wie Yoga-Queen Ursula Karven, würde ich dem Dalai Lama ein Denkmal setzen oder ersatzweise ein Jahr auf meine heiß geliebten Chips verzichten. Obwohl Letzteres … nun ja, vielleicht eher nicht. Man soll sich ja nicht zu viel vornehmen. Mein zweiter Vorname lautet eindeutig Liste, denn als liebende Ehefrau und Mutter gehört es seit jeher zu meinen Pflichten, bei uns daheim alles zu organisieren und im Blick zu haben, sonst drohen Chaos und Anarchie. Vater und Sohn sind sich nicht nur optisch ähnlich – wobei Felix natürlich mehr Haare hat als sein Vater –, sondern neigen auch beide zu Bequemlichkeit und zu Vergesslichkeit, was Dinge angeht, die in ihren Augen unwichtig sind, wie: TÜV (Matthias), Zahnarzttermine (beide) oder die Anmeldung für den Ferienpass (Felix).
Grillfeste oder das Anschauen von Meisterschaften irgendwelcher Trendsportarten im TV gehören natürlich nicht in diese Kategorie. Genauso wenig wie die Besuche des Fußballstadions, wenn der FC St. Pauli spielt, oder der Hamburger Cyclassics.
Keine Frage: Ich bin die blöde Spießerin, die hinter beiden herrennt und sie manchmal sogar daran erinnern muss, sich die Schnürsenkel zuzubinden und das fleckige Shirt in die Wäsche zu werfen. (»Mama, wo steht noch mal der Wäschekorb?«) Oder eben Karten für das Spiel zu besorgen.
»Muss das wirklich sein? Es ist echt schwierig, mich früher aus dem Laden loszueisen.« Matthias – der personifizierte Vorwurf – baut sich vor mir auf und rubbelt sich das vom Duschen nasse Haar trocken. Oder vielmehr das, was von seiner ehemals hellblonden Lockenpracht übrig ist.
Ich sage nur: siebenundvierzig …
Doch er braucht gar nicht so zu schauen, mein dritter Vorname lautet nämlich hartnäckig.
»Hedwig hat uns zum Essen eingeladen, und das bedeutet, dass wir da hingehen, ob du nun magst oder nicht. Schließlich ist sie unsere Vermieterin, und dank ihr können wir hier günstig wohnen.« Matthias macht ein Gesicht, als würde ich ihn zwingen, in eine Nacktschnecke zu beißen.
Was er nicht weiß, ist, dass wir gar nicht zu Hedwig gehen, sondern dass stattdessen unsere Party am Elbstrand steigt.
»Ich mag die alte Dame ja, aber das wird ganz sicher furchtbar öde«, mault Matthias und kramt hektisch in der Kommode herum, die zwischen zwei Fenstern unseres Schlafzimmers steht. »Die lebt doch fast nur noch in der Vergangenheit.«
Mein Blick wandert an seinem nackten, mit Wassertropfen besprenkelten Körper auf und ab.
Matthias ist für sein Alter immer noch attraktiv und gut in Form, was ich von mir leider nicht behaupten kann, egal was Sylvia sagt. Wohliges Prickeln macht sich in mir breit. Ich hätte ausnahmsweise mal wieder Lust, über ihn herzufallen.
»Wo sind eigentlich meine Unterhosen?«
Das heiße Prickeln weicht schlagartig kalter Ernüchterung.
»Auf der Leine im Hof. Ich hatte noch keine Zeit, die Wäsche abzunehmen.«
Das darf doch jetzt nicht wahr sein! Da habe ich ausnahmsweise mal spontan morgens Lust auf Sex, und dann sprechen wir über Baumwollwäsche, anstatt in heißen Dessous Dirty Talk zu treiben. Hat mein Mann denn gar keine Ahnung, welcher Tag heute ist?
Seit Wochen schon bin ich die Großmeisterin der Anspielungen und deute so ziemlich auf alles, was silberfarben ist oder irgendwie mit dem Thema Hochzeit zu tun hat.
Ich lese demonstrativ die Silber-Trilogie von Kerstin Gier, schniefe sehnsüchtig, als Vier Hochzeiten und ein Todesfall im Fernsehen läuft, und lasse tagelang einen Katalog mit Romantik-Reisen auf dem Küchentisch herumliegen. Doch nichts davon zeigt auch nur den leisesten Hauch von Wirkung. Die Broschüre hat mittlerweile Fettflecken, weil Felix sich darauf ein Brot geschmiert und das Nutella über das Wort Romantik verteilt hat.
Sylvia würde jetzt sagen: »That’s life, besser, du gewöhnst dich dran.«
Apropos Leben: Bis Matthias sich auf den Weg zur Arbeit in seinem kleinen Fahrradladen in Eimsbüttel macht, verläuft der Morgen nach einer Choreografie, an der sich nichts, aber auch rein gar nichts je ändert: Irgendwann ist Matthias (»Was soll ich anziehen?«) endlich bekleidet, und ich reiche ihm zur Belohnung für die gemeisterte Herausforderung einen Becher frisch gebrühten Kaffee. Männer soll man bekanntlich loben, damit sie motiviert bleiben. Diese Regel scheint nur dummerweise nicht umgekehrt zu gelten. Den Kaffee trinkt er in der Küche im Stehen, während er das Hamburger Abendblatt überfliegt, dessen Abo er schon längst kündigen wollte, weil es auf Dauer einfach zu teuer ist. Wie ich die Sache sehe, bleibt die Aufgabe wieder an mir hängen.
Im Radio dudelt Musik vor sich hin, immer wieder unterbrochen von Werbespots und einem überbordend gut gelaunten Moderator (Kokain? Zuckerrausch? Manische Phase?). Ich schwöre, irgendwann pfeffere ich das Radio in die Elbe. Und sei es nur, um GEZ-Gebühren zu sparen. Felix ist sowieso der Ansicht, dass Internetradio State oft the art ist und alles andere Steinzeitscheiß.
Kurz bevor ich in sein Zimmer stürmen will, um ihn zu wecken – falls Alexa einen Programmierausfall hat oder gemeinsam mit Siri ins Schweigekloster für virtuelle Assistentinnen gegangen ist –, erscheint unser Sohn auf der Bildfläche: fünfzehn Jahre alt, blass, chronischer Langschläfer.
»Mogggähn«, tönt es durch den Raum, und der blonde Schlaks schlurft halb blind Richtung Küchentisch.
»Guten Morgen, Großer, hast du gut geschlafen?«, grüße ich zurück und gebe ihm ein Küsschen auf die vom Schlaf erhitzte Wange. (Kann es ein, dass er mal wieder nicht geduscht hat?) »Kakao oder lieber Saft?«
»Nicht dein Ernst, oder? Der Junge bekommt noch einen Zuckerschock!«, knurrt Matthias. »Und seine Haut wird dadurch auch nicht besser. Kannst du nicht etwas trinken, das einen Tick gesünder ist, Sohnemann?«
Felix hebt nur kurz seine schweren Augenlider und greift dann nach dem Glas kaltem Kakao, das ich ihm hinhalte. Er leert es mit geschlossenen Augen.
»Also Felix, echt jetzt! Hast du wieder bis morgens um vier vor dem Computer gehockt und mit deinen Kumpels gezockt? Wenn das so weitergeht, schmeiße ich die Kiste auf den Müll. Kannst du nicht mal an die frische Luft, Sport treiben oder zumindest Rad fahren, so wie ich? In deinem Alter …«
Felix und ich schalten an dieser Stelle auf Durchzug, denn wir kennen beide die Litanei in- und auswendig.
»Na gut, dann eben nicht«, knurrt Matthias beleidigt und schnappt sich seine Jacke sowie den Fahrradhelm von der Garderobe im Flur, der an unsere Wohnküche anschließt. »Bis später dann.« Mit einem Rums fällt die Tür hinter ihm ins Schloss.
Kein »Tschüss«, kein »Habt einen schönen Tag«. Na ja, muss ja auch nicht sein …
»Alter, ist der heute übel drauf«, brummelt Felix und schultert dann seinen Rucksack. »Hat er doch mitbekommen, was du vorhast?«
Ich schüttle den Kopf und gebe ihm die Schulbrote mit Tomaten und Karotte als Zugabe, die er sowieso nicht isst. Mich würde mal interessieren, wo das Gemüse landet, aber das erfahre ich garantiert nie. Doch es gibt mir ein gutes Gefühl, wenn ich zumindest versucht habe, ihm Vitamine zuzuführen.
»Nein, er denkt, wir sind heute Abend bei Hedwig zum Essen eingeladen. Also, mein Schatz, verpass den Bus nicht. Und viel Glück bei der Deutscharbeit, bis später.«
Nachdem meine Männer weg sind, lasse ich mich auf einen der sechs Küchenstühle sinken, die wir – wie vieles andere – auf dem Flohmarkt gekauft haben. Normalerweise mag ich es, dass alle unterschiedlich sind, weil ich sie in bunten Farben lackiert habe. Doch heute ist irgendetwas anders. Plötzlich sehen diese individuellen Schmuckstücke aus, als hätte ich sie vom Sperrmüll geholt und einen Totalausfall an der DIY-Front hingelegt.
Was ist denn nur los?
Das sollte doch der schönste Tag seit Langem werden …
Um Punkt zwei Uhr kommt Sylvia, dynamisch wie immer. »Hier sind die Baguettes und die Salate«, sagt sie und wuchtet zwei schwere Keramikschüsseln auf den Küchentisch, der sich schon unter diversen Leckereien biegt. »Ich hoffe, deine Mutter denkt an die Desserts. Puh, es war gar nicht so einfach, das alles hinzubekommen, weil heute eine meiner Kundinnen durchgedreht ist. Sie verlangt allen Ernstes einen Begleit- und Security-Service für ihr erstes Date. Aber bei dir ist hoffentlich alles gut?«
Ich antworte: »Ja, alles bestens. Danke, dass du heute so früh Schluss gemacht hast«, und stelle die Baguettes aufrecht zu den anderen Broten in den geflochtenen Weidenkorb. »Na? Wie viele hast du heute wieder verkuppelt?«
»Fünfunddreißig Neuanmeldungen diesen Monat, ein Drittel mehr als im letzten Jahr. Bin ich toll, oder bin ich toll?« In Sylvias Augen glänzt Triumph, um ihren kurzen blonden Bob hat sie heute ein türkisfarbenes Tuch gebunden. Eine wirklich hübsche Frau, der man ihr Alter von einundfünfzig nicht ansieht.
Wir beide könnten kaum unterschiedlicher sein: Sylvia ist groß, blond und lässt sich die Haare vom Profi stylen. Ich bin klein und habe wirre rotbraune Locken, die ich meist mithilfe eines Haargummis bändige, weil ich es nur selten zum Friseur schaffe. »Wenn das so weitergeht, werde ich noch Unternehmerin des Jahres oder bekomme irgendeinen Verkupplungsorden«, freut Sylvia sich. »Gibt’s für so was eigentlich auch das Bundesverdienstkreuz?«
»Hey, das ist ja super, aber Bundesverdienstkreuz? Wohl eher nicht.« Ich gönne ihr den Erfolg von ganzem Herzen, denn sie hat ihn sich hart erarbeitet und wahrlich verdient. »Sag mal, weiß Merle eigentlich, was für eine coole Mom sie hat?« Merle ist Sylvias knapp achtzehnjährige Tochter. Sie lebt bei ihrem Vater und ist nur jedes zweite Wochenende bei Sylvia.
»Sie wird es spätestens dann feststellen, wenn ich ihr den gesamten Beitrag zum Work-and-Travel-Jahr in Kanada schenke«, erwidert Sylvia. Immer wenn sie über Merle spricht, schimmern ihre blauen Augen in einem tiefen Türkis. »Kommst du jetzt eigentlich mit zum Abiball?«
»Ich … ich …« Mist! Wie mache ich ihr klar, dass es nicht ganz so einfach für mich ist, mal eben sechzig Euro für die Eintrittskarte auszugeben?
Felix braucht neue Klamotten, er geht im Herbst auf Klassenfahrt nach Rom, unser Auto macht’s nicht mehr lange, und Matthias ist seit Neuestem Mitglied in einem Gym, keine besonders preiswerte Angelegenheit. Wir sind nicht arm, aber wohlhabend sieht irgendwie anders aus.
»Bevor du protestierst: Du bist natürlich eingeladen«, fährt Sylvia fort. »Merle würde sich riesig freuen. Und ich natürlich auch. Außerdem brauche ich dich als Puffer, damit ich Karen auf der Feier nicht auf die Nase haue.«
»Okay, wenn das so ist«, lenke ich ein. Die Vorstellung, dass Sylvia, bislang die Contenance in Person, ausgerechnet auf dem Abiball ausrastet und sich für alles rächt, was Karen und Dirk ihr angetan haben, hat zugegebenermaßen ihren Reiz – auch wenn so eine Aktion natürlich vollkommen deplatziert wäre. Viel zu viele Augenzeugen. »Natürlich stehe ich dir im Kampf gegen diese Viper bei, ist ja wohl klar. Aber nur, wenn ich mich später dafür revanchieren kann, okay?«
Sylvia grinst: »Versprich mir einfach, dass du jede dir bekannte Hamburger Single-Frau, die auf der Suche nach der wahren Liebe ist, zu mir schickst, damit ich Geld verdiene wie Heu und es Dirk so richtig zeigen kann.«
Oje, sie hat es selbst vier Jahre nach der Trennung immer noch nicht verwunden, dass Dirk sie wegen einer Jüngeren verlassen hat und nun mit seiner Holden namens Karen in Hamburgs Nobelstadtteil HafenCity residiert. In einem Wohnturm, den Sylvia und ich Mordor nennen und aus dessen Fenster Karen sicher regelmäßig ihr rotes Haar herunterbaumeln lässt, damit es mal an die frische Luft kommt. Für uns heißt Dirk nur noch Sauron, und wir sprechen so wenig wie möglich von ihm.
Wäre diese Geschichte ein Buchmanuskript, würde die Lektorin garantiert in anklagendem Rot Klischee, holzschnittartig oder Stereotyp als Kommentar danebenschreiben.
»Ich kenne zwar kaum Singles, aber wenn mir so jemand begegnet, ist das ja wohl Ehrensache. Deine Dating-Plattform wäre übrigens auch die einzige, die für mich infrage käme, weil sie seriös ist und du einen echt coolen Job machst. Ich bin wirklich stolz auf dich.«
»Hab ich da wieder ›Dating-Plattform‹ gehört? Das ist doch purer Unsinn. Wenn das Universum zwei Menschen zusammenführen will, dann tut es das auch.«
Auftritt Flora von Waldenfels, meine Mutter. Wallender, flaschengrüner Kaftan, das rot gefärbte Haar versteckt unter einem bunten Turban. An den Füßen mit Pailletten bestickte Sandaletten, in den Ohrläppchen Creolen, viel zu groß für ihr schmales Gesicht. »Wo soll ich den Nachtisch hinstellen? Hallo, Sylvia, du siehst heute mal wieder großartig aus.«
Ich verkneife mir ein »Na, wohin wohl?« und nehme meiner Mutter das silberne Tablett ab, auf dem orientalische Leckereien drapiert sind, nur notdürftig bedeckt von Frischhaltefolie. Schön, dass meine Mutter Sylvia begrüßt, ihr Aussehen lobt und mir lediglich einen Blick schenkt, der sagt: Du ziehst dich doch noch um, oder?
»Du ziehst dich doch noch um, oder?« Floras grüne Augen verengen sich zu Schlitzen, während sie jeden Zentimeter meiner Erscheinung abmisst, als sei sie Heidi Klum und ich eine potenzielle Kandidatin von GNTM. Zurzeit passe ich allerdings eher in das neue Showformat dieser Curvy-Mädels. Sylvia würde jetzt sagen, das ist Quatsch. Oder: »Das ist alles nur in deinem Kopf!«
»Aber natürlich wird sie das, mal abgesehen davon, dass deine Tochter sowieso alles tragen kann und immer eine gute Figur macht, aber das weißt du ja selbst.«
Sylvia, edle Kämpferin für Gerechtigkeit und tollste Freundin der Welt, hakt sich bei Flora unter. Für meine Mutter scheint sie die Tochter zu sein, die sie nie hatte. »Erzähl doch mal, wie war dein Urlaub auf Ibiza?«
Meine Lippen formen ein lautloses Danke!, dann checke ich die Cateringliste. Seit Wochen feile ich daran – schlaflos an der Elbe eben.
2.
Doch, ich habe an alles gedacht. Matthias’ Mutter bringt nachher drei selbst gebackene Kuchen mit. Am liebsten hätte sie zehn Torten gemacht, aber wir wollen ja keine Konditorei eröffnen. Maria ist eine begeisterte Hausfrau und begnadete Bäckerin, was mir mein Göttergatte mit schönster Regelmäßigkeit unter die Nase reibt. Meinen Vorschlag, sich doch das Backen von Schwiegermonster beibringen zu lassen, überhört er ebenso geflissentlich wie meine Bitte, sich endlich an die Steuererklärung zu setzen.
»Ibiza war mal wieder grandios«, schwärmt Flora. Hinter jedem Buchstaben von grandios stehen gefühlt fünf Ausrufezeichen. »Caro, Schatz, ich wünschte wirklich, du würdest mal mitkommen. Das würde dir so guttun. Yoga, meditieren, gesund essen, die innere Mitte finden …«
Den Rest höre ich gar nicht mehr, denn meine Jeans kneift dermaßen, dass ich kaum Luft bekomme, obwohl ich den Reißverschluss nicht einmal ganz geschlossen habe. Meine Mitte hat in den letzten Jahren ganz schön gelitten. Chips und Erdnüsse sind nun mal Gift für die Taille, aber sooooo lecker und außerdem Balsam fürs Gemüt.
»Ich finde wirklich, dass du dir mal eine Auszeit gönnen solltest«, fährt Flora unbeirrt fort und fächelt sich mit einem lilafarbenen Fächer Luft zu. »Du kümmerst dich so rührend um Felix und Matthias, um den Laden und vor allem um die alte Dame Hedwig. Und dann hast du ja auch noch den Job in der Bücherei in Altona. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du ein bisschen mehr darauf achten solltest, was positiv für dich ist.«
Sylvia steht hinter meiner Mutter, die sich mittlerweile auf den pinkfarbenen Stuhl gesetzt hat und Limonade aus frisch gepressten Zitronen und geriebenem Ingwer aus der Karaffe einschenkt – die eigentlich für später gedacht ist –, und schneidet Grimassen. »Du weißt doch: Man kann anderen am besten zur Seite stehen, wenn man gut für sich selbst gesorgt hat.«
Gut für sich selbst sorgen ist eine Disziplin, die Flora von Waldenfels beherrscht wie keine Zweite. Sie nennt es Selbstfürsorge. Ich nenne es puren Egoismus.
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, stimmt Sylvia ihr zu, schnappt sich die Karaffe und stellt sie in den Kühlschrank. »Und da du gerade so blendend erholt bist, macht es dir sicher nichts aus, mir beim Aufhängen der Lampions zu helfen. Dann hat Caro genug Zeit, sich frischzumachen. Kommst du mit an den Strand? Ich brauche dein Dekotalent.«
Klasse, Sylvia, du bist spitze!
Wie gut, dass Sylvia meine Mutter und ihre Neurosen seit über zehn Jahren kennt und sie abblocken kann wie ein Starkeeper gefährliche Torschüsse.
Sylvia, Merle und Dirk Marquardt waren damals unsere Nachbarn, als wir zu Hedwig Ahrens in das malerische Lotsenhaus in Oevelgönne gezogen sind. Sylvia und ich haben uns von Anfang an blendend verstanden. Flora meint, dass wir sicher schon in einem früheren Leben miteinander verbunden waren. Ich für meinen Teil bin einfach nur froh, dass es Sylvia gibt.
Nachdem die beiden abgezwitschert sind, gönne ich mir eine heiße Dusche und widme mich meinem Aussehen. Schließlich soll Matthias heute stolz auf mich sein, fünfundzwanzig Ehejahre sind schließlich kein Pappenstiel. Kaum zu fassen, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir uns bei einem Grillfest von Freunden am Leuchtturm von Blankenese kennengelernt haben.
Wie wohl die nächsten fünfundzwanzig werden?
»Hast auch schon mal ein bisschen besser ausgesehen«, sage ich zu meinem vom Wasserdampf vernebelten Spiegelbild, strecke mir die Zunge raus und rubble den vom Duschen beschlagenen Badezimmerspiegel mit einem Handtuch trocken.
Mit jedem Wischen wird mehr vom Gesicht einer Frau erkennbar, die noch nicht alt, aber auch schon lange nicht mehr jung ist. »Du bist ja ganz hübsch – zumindest an guten Tagen –, aber du kannst auch bald zu deiner Haut passende Faltenröcke tragen, wenn du so weitermachst«, murmle ich mir zu, und meine Gedanken streifen kurz kosmetische Wundermittel wie Botox und Hyaluron. Aber wirklich nur ganz kurz. (Obwohl: Gab’s da nicht neulich so eine Groupon-Gutscheinaktion?)
Oje, oje, ich muss mir das mit den Selbstgesprächen dringend abgewöhnen. Wenn ich so weitermache, mutiere ich noch zum weiblichen Pendant vom Autor Axel Hacke, der sich laufend mit seinem alten Kühlschrank unterhält. Allerdings heißen meine Dialoge weder Nächte mit Bosch, noch werden sie zum Buchbestseller.
Für gewöhnlich halte ich auch nicht mit meinem Spiegelbild Zwiesprache, sondern mit Renato Bialetti. Der aus dem Piemont stammende Mann wurde immerhin dreiundneunzig und war ein Sprössling des Erfinders der achteckigen Espressokanne, deren Inhalt regelmäßig dafür sorgt, dass ich den Tag überlebe. Ich stehe der Kaffeesucht von Lorelai Gilmore aus meiner Lieblingsserie Gilmore Girls in nichts nach. Renato ist mein persönliches Gegenstück zu Luke, Lorelais Käppi tragendem Kaffeedealer und Besitzer von Luke’s Diner. Signor Bialetti und ich sind ein Dream-Team, seit Sylvia mir den Herdkocher aus seinem La Moka-Imperium geschenkt hat. Er ist ein geduldiger, wunderbarer Zuhörer, egal welchen Blödsinn ich ihm erzähle, ob ich weine oder lache. Mit erhobenem Zeigefinger, imposantem Schnauzbart und ganz in Schwarz gekleidet, zeigt er mir, dass er für mich da ist – und es immer bleiben wird, solange ich nur regelmäßig die Dichtungsringe der silbernen Kanne erneuere, die ansonsten so furchterregend faucht wie der Drache aus dem Film Smaugs Einöde, wenn er in Wallung gerät.
Apropos Wallung: Ich muss ja noch mein Kleid bügeln!
»Soll ich das eben machen? Ich weiß doch, wie sehr du Bügeln hasst«, fragt meine Mutter, die plötzlich in der Tür meines Schlafzimmers steht, nachdem ich seufzend das Bügelbrett ausgeklappt habe. Wie gut, dass ich meinen Bademantel anhabe.
»Das wäre wirklich super«, erwidere ich, zugegebenermaßen ein bisschen misstrauisch. Was ist mit meiner Mutter los? Hat Sylvia sie einer Gehirnwäsche unterzogen?
»Allerdings sind die Dampfdüsen des Bügeleisens verstopft, ich fürchte, du musst das da benutzen.« (Mit dem Plätteisen gehe ich nicht so sorgfältig um wie mit Renato Bialetti.) Mit einem Hauch Schuldbewusstsein – aber wirklich nur einem Hauch, schließlich habe ich Wichtigeres zu tun, als Düsen zu entkalken – strecke ich ihr eine blaue Flasche entgegen, mit der ich sonst Hedwigs Rosen mit Lavendelwasser besprühe, wenn die mal wieder von heimtückischen Blattläusen befallen sind.
Wie erwartet, zieht Flora die rechte Augenbraue so weit hoch, dass ich kurz befürchte, sie könnte da oben kleben bleiben.
»Kein Problem. Aber du weißt schon, dass das mit dem empfohlenen destillierten Wasser nicht passiert wäre«, sagt sie und macht sich ans Werk. Doch Flora wäre nicht Flora, wenn sie die Gunst der Stunde nicht für sich nutzen würde: »Sag mal, Schätzchen, wie geht es eigentlich mit dem Laden voran? Hat Matthias endlich Thorsten auf die Straße gesetzt?«
»Leider nein«, antworte ich. Tiiiieeeef durchatmen, nicht aufregen. »Ich habe dir doch neulich erst erklärt, dass das nicht so einfach ist, weil Matthias ihn in einem Anfall von …« – ja, was eigentlich? –»… zum Teilhaber gemacht hat.«
»Blödheit ist das Wort, nach dem du gerade suchst«, sagt Flora. Ihre Creolen wippen vorwurfsvoll bei jeder Bewegung, die ihre bügelnde Hand macht.
»Nein, so ist das nicht«, halte ich dagegen, fest entschlossen, die Entscheidung meines Mannes trotz allem zu verteidigen. »Es ist Mitleid. Du weißt doch, dass Thorsten sein bester Freund ist und es nicht besonders leicht hat. Erst die Pleite seines Arbeitgebers, dann der Rauswurf aus seiner Wohnung wegen Eigenbedarfs. Da konnte Matthias einfach nicht tatenlos zusehen.«
»Kennst du den Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid?«
Floras Augen funkeln wie Smaragde, und sie blickt mich so streng an, dass ich mich schlagartig fühle wie fünf. Kein Wunder, dass ihre Schüler früher viel Respekt, manchmal sogar Angst vor ihr hatten. Vor ihrer Pensionierung war meine Mutter nämlich Lehrerin für Sozialwissenschaften und Sport. Ich traue mich nicht, Nein zu sagen, aber das ist auch gar nicht nötig. Flora wird mich sowieso gleich belehren.
»Im Falle von Mitleid leidet man mit, und das unnötigerweise. Es genügt vollkommen, wenn man mitfühlt. Leiden tut man in seinem Leben ohnehin schon genug.«
Manchmal klingt meine Mutter wie ein Spruchweisheiten ausspuckender Tageskalender. Allerdings muss ich ihr diesmal recht geben: Hätte Matthias lediglich Mitgefühl gehabt, stünden wir finanziell weitaus besser da. Hätte, hätte, Fahrradkette …
»Thorsten kümmert sich gerade um einen Zusatzjob«, erkläre ich und weiß gar nicht, wen ich eigentlich überzeugen will: Flora oder mich selbst. »Wenn er den hat, wird Matthias mit ihm über die Teilhaberschaft sprechen.« Oder vielmehr über die Beendigung derselben.
Eine Viertelstunde später nehme ich den duftend-dampfenden Renato Bialetti vom Herd und tänzle mit ihm durch die Küche. Im Radio läuft Good Day, Sunshine von den Beatles, Sylvia und Flora sind wieder draußen beschäftigt, und Felix ist auch noch nicht aus der Schule zurück. Hoffentlich hat er unsere Feier nicht vergessen oder begeht spontan Fahnenflucht.
Momente wie dieser sind einfach unbezahlbar: Keiner will etwas von mir, keiner wartet auf mich. Renato, der wunderbare Espresso, die gut gelaunten Beatles und ich sind allein. »Siehst hübsch aus, cara«, sagt der alte Herr und reckt den Zeigefinger. »Du solltest dich öfter zurechtmachen.«
»Aber du weißt doch, dass mir dafür meist die Zeit fehlt«, entgegne ich und schenke den Kaffee in meinen Lieblingsbecher. Ein wenig Milch, ein Schuss heißes Wasser, und schon bin ich im Himmel. »Außerdem ist es mir tausendmal wichtiger, dass Felix anständig aussieht, als mir selbst schöne Kleider zu kaufen. Er wächst immer noch wie verrückt. Wenn er so weitermacht, kann er ins Basketballteam eintreten, aber dummerweise hat er’s nicht so mit Sport.«
»Na, sprichst du wieder mit Renato?«, fragt Sylvia, die unbemerkt in die Küche gekommen ist.«
»Ja, denn ich arbeite an dem zukünftigen Bestseller Tage mit Bialetti, der mich reich und berühmt machen wird«, erwidere ich. »Auch einen?«
Sylvia nickt, und ich schenke ihr ein. Im Gegensatz zu mir trinkt sie den Espresso pur.
»Wie weit seid ihr?«
»Ich würde sagen, voll im Plan. Es ziehen zwar gerade ein paar Wolken auf, aber die machen sich laut der Wetter-App bald wieder davon. Toll siehst du aus. Freust du dich auf die Party?«
»Und wie. Ich hoffe, Matthias auch.«
»Ach was, das wird schon. Die meisten finden so etwas großartig, wenn sie sich vom anfänglichen Schock erholt haben.«
»Na super, das mit dem Schock hättest du dir ruhig sparen können.« Der starke Kaffee rinnt meine Kehle hinab, passiert dabei die Geschmacksknospen, und zack!, bin ich hellwach, Kopf und Körper laufen auf Hochtouren. »Bin gespannt, ob Maria und Hartmut wieder Streit mit Flora anfangen«, murmle ich in Erinnerung an die Duelle, die sich die drei bei Familienfeiern in schönster Regelmäßigkeit liefern.
»Du meinst, Flora mit den beiden?«, korrigiert Sylvia und streicht mir liebevoll über den Arm. »Ich halte sie von der Erdbeerbowle fern, fordere Hartmut zum Tanzen auf, und alles wird ganz wunderbar. Hauptsache, du hast dein Ehegelöbnis parat.«
3.
Matthias, du bist mein bester Freund fürs ganze Leben.
Ich verspreche, dich zu ehren, dich zu ermutigen und zu unterstützen auf unserem gemeinsamen Weg.
Auch wenn dieser Weg manchmal schwierig wird, will ich immer an deiner Seite sein, denn gemeinsam sind wir stärker als allein.
Ich verspreche, an unserer Liebe zu arbeiten und dich immer zu meiner Nummer eins zu machen.
Mit jedem Schlag meines Herzens werde ich dich lieben, auch in den kommenden fünfundzwanzig Jahren.
Das verspreche ich dir feierlich.
Diesen Text übe ich nun schon seit Tagen. Er ist eine Mischung aus einem Vorschlag, den ich im Internet gefunden habe, und einem Filmtitel.
»Irgendwie will mir der vollständige Wortlaut nicht ganz in den Kopf, also werde ich notfalls improvisieren müssen.«
Tja, mit fünfundvierzig lernt es sich eben nicht mehr so leicht wie früher.
»Weißt du eigentlich, wie romantisch das alles ist?«, sagt Sylvia plötzlich, und ich frage mich, ob sie draußen schon heimlich mit Flora einen gepichelt hat. Ihre Augen sind leicht verschleiert, Tränen glänzen darin. »Die Party an der Elbe, die Überraschung, die Band und vor allem die Tatsache, dass ihr – vor allen anderen – noch einmal euer Eheversprechen erneuern werdet.«
Mir schießt der Gedanke an Heidi Klum und den Sänger Seal durch den Kopf. Die haben das insgesamt sieben Mal getan, immer an verschiedenen Orten, immer in unterschiedlichen Outfits und immer mit viel Presse-Tamtam. Als hätten sie sich selbst beweisen müssen, dass sie sich wirklich lieben, und brauchten den Rest der Welt als Zeugen dafür. Doch dann kam das verflixte siebte Jahr, mittlerweile sind die beiden längst geschieden.
»Solange Matthias das auch so sieht«, erwidere ich lahm. Mir ist gerade ein bisschen schwindlig, wahrscheinlich vor Aufregung. »Wir müssen übrigens gleich los, die Band kommt jeden Augenblick zum Soundcheck.«
Die Band heißt Summer in the City und hat auch bei dem Grillfest gespielt, auf dem Matthias und ich uns kennengelernt haben. Aus der ehemaligen Schülerband ist eine Combo aus gestandenen Herren geworden, die fast nur noch Coverversionen im Repertoire hat, seit Frontman Tom, kreativer Kopf und eindeutig der Talentierteste von allen, nach Nashville gegangen ist, um dort für ein Musiklabel zu arbeiten. Ich habe Tom nie zu Gesicht bekommen. Alles, was ich von ihm weiß, ist, dass er ein umschwärmter Frauenliebling war – im Gegensatz zu seinem zwei Jahre älteren Bruder. Alexander ist in Hamburg geblieben, steuert Barkassen durch den Hamburger Hafen und macht heute Abend netterweise den Grillmeister, wenn die Musik pausiert. Keiner der Musiker will ein Honorar haben, lediglich Fleisch auf den Teller und jede Menge Bier.
»Ich habe schon ewig nicht mehr getanzt und gedenke, das heute die ganze Nacht lang zu tun«, sagt Sylvia mit verzücktem Gesichtsausdruck. »Dass jeder Partygast sich drei Songs wünschen durfte, ist super, so ist für jeden etwas dabei.«
Angesteckt von Sylvias Vorfreude, folge ich ihr über den schmalen Pfad, der an der rechten Seite von Hedwig Ahrens’ Villa vorbei zu dem gepflasterten Weg führt, der die Häuser am Elbhang von ihren Gärten trennt. Diese Vorgärten führen bergab zum Strand, es ist also nicht ganz einfach, hier Rasen zu mähen, falls man Koordinationsprobleme oder Höhenangst hat.
Die alte Dame sitzt, wie meistens, eingehüllt in eine Decke auf ihrem Schaukelstuhl und liest oder beobachtet von der überdachten, an den Seitenwänden verglasten, kunstvoll gestalteten Veranda aus die auf dem Strandweg vorbeiflanierenden Fußgänger. Zu ihren Füßen watschelt Daisy, Hedwigs betagte Hausente, umher und pickt nach den Körnern, die ich ihr heute Morgen hingestreut habe.
Ich versorge Hedwig und Daisy und sehe mehrmals täglich nach, ob es der alten Dame gut geht. Zu meinen Aufgaben gehören kleine Botendienste, einkaufen, sie zum Arzt bringen, ab und zu auch mal kochen. Als Gegenleistung dafür, dass ich das übernehme und Matthias sich um den Garten und kleinere Reparaturen kümmert, können wir hier preisgünstig wohnen.
»Na, geht’s los?«, fragt Hedwig, Daisy hört auf zu futtern und hebt neugierig ihr hübsches schwarz-weißes Köpfchen. Mit ihren dunklen Knopfaugen erinnert die Witwenpfeifente ein wenig an eine Möwe.
»Die Band kommt gleich, und in einer halben Stunde treffen dann die Gäste ein«, antworte ich. »Wirklich schade, dass Sie nicht dabei sein wollen.«
»Ach was, ich habe in meinem Leben mehr als genug gefeiert und getanzt«, winkt Hedwig ab und streichelt Daisys gefiedertes Köpfchen. »Wir zwei alten Witwen machen es uns hier auf der Veranda gemütlich und feiern in Gedanken mit. Ich habe einen Piccolo kalt gestellt, den ich nachher auf Ihr Wohl trinke. Viel Spaß und liebe Grüße an den werten Gatten.«
Mit den Worten »Tschüss, Frau Ahrens«, verabschiedet Sylvia sich und dirigiert mich nach links zu einem kaum sichtbaren Trampelpfad, der vom Strandweg hinunter zum Elbufer führt.
Normalerweise nehme ich die offizielle Treppe des Schulbergs, eine der steilsten und schmalsten Straßen Hamburgs, zur Strandbar. Doch an einem schönen Tag wie diesem kommt man da kaum durch, das ist ähnlich schlimm wie die Mönckebergstraße kurz vor Weihnachten.
»Echt nett von den Ahoi-Leuten, dass wir nebenan feiern und die Gäste deren Toilette benutzen dürfen«, sagt Sylvia, während ich in Gedanken noch einmal alles durchgehe.
Habe ich auch wirklich nichts vergessen?
Man könnte denken, ich sei ein Kontrollfreak, aber das stimmt nicht. Ich mag es nur gern, wenn ich die Dinge im Blick und im Griff … na ja, also unter Kontrolle habe.
»Dachte ich’s mir doch!«, entfährt es mir, als ich Flora vor der Bar sitzen sehe, vertieft ins Gespräch mit einem deutlich jüngeren Mann und mit einer Flasche Bier in der Hand. Wann wird meine Mutter endlich einsehen, dass sie achtundsechzig und keine zwanzig mehr ist?
»Ich schnappe mir Flora lieber, bevor sie so angeschickert ist, dass sie Matthias’ Mutter ins Gesicht sagt, wie spießig sie sie findet.«
»Viel Erfolg, ich kümmere mich solange um die Jungs«, erwidert Sylvia und steuert auf die Mitglieder von Summer in the City zu, die gerade dabei sind, ihre Instrumente auf einem Holzpodest aufzubauen.
»Caro, Schätzchen, hier bin ich«, flötet Flora, als sie mich entdeckt, und wedelt hektisch mit dem linken Arm. Mit der rechten Hand umklammert sie der Hamburger liebstes Hipster-Bier, die Astra-Knolle, als hätte sie Angst, die Flasche fallen zu lassen. »Ich muss dir unbedingt jemanden vorstellen.« Sie deutet auf einen gut aussehenden Mann, geschätzt Mitte fünfzig, Typ gelackter Affe aus den reichen Elbvororten. Ich denke nur Nein, nicht schon wieder!, denn meine Mutter ist eine wahre Könnerin darin, die seltsamsten Menschen um sich zu scharen, weil die in ihren Augen tausendmal spannender sind als normale Leute. Diesem Umstand habe ich es zu verdanken, dass sie vor sechsundvierzig Jahren, damals Anfang zwanzig, auf Ibiza mit einem bekifften Schmuckkünstler geschlafen hat, den sie auf dem Hippie-Markt in Las Dalias kennenlernte. Am nächsten Morgen war der Typ verschwunden und meine Mutter schwanger, auch wenn sie das zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht wissen konnte.
Deshalb werde ich auch nie erfahren, wer mein Vater ist.
»Das ist Ulf, er ist Finanzberater. Ulf, das ist meine Tochter Caro.« Flora legt eine kunstvolle Pause ein, was zweierlei bedeuten kann: Erstens, dass ich bei dem Wort Finanzberater vor Ehrfurcht auf die Knie fallen soll. Und/oder zweitens, dass Flora fieberhaft überlegt, mit welcher Bezeichnung sie mich schmücken kann – außer Hausfrau, Mutter, Mitarbeiterin der Bücherei und Betreuerin von alten Damen. Dass ich mal Kindererzieherin war und Pädagogik studiert habe, scheint niemand mehr auf dem Zettel zu haben. »Ulf ist aber nicht irgendein Finanzberater …«, fährt Flora schließlich fort, während Ulf mich aufmerksam (oder abschätzend?) mustert und ihre Stimme sich beinahe vor Begeisterung überschlägt, »… sondern er ist spezialisiert auf die spirituelle Vermehrung von Geld. Ist das nicht aufregend?«
Bitte was?!
»Das klingt furchtbar spannend und interessant, aber ich habe eine Party vorzubereiten, so leid es mir tut«, erwidere ich. Mist, wieso entschuldige ich mich immer wieder? Ich muss mir das dringend abgewöhnen. »Viel Spaß noch.« Ohne mich noch einmal umzudrehen, mache ich auf dem Absatz kehrt, oder was man so Absatz nennt, wenn man Sneaker trägt.
»Na, Jungs, alles klar?«, frage ich und begrüße reihum die Bandmitglieder. Von Jahr zu Jahr werden die Haare auf ihren Köpfen weniger, die Rundungen der Bäuche nehmen zu, die Gesichtskonturen sacken ein bisschen ab. Aber das denken die garantiert auch alle über mich. (Ja, auch meine Haare haben seit Kurzem einen fatalen Hang dazu, sich von mir zu trennen. Die zulässige Höchstgrenze von hundert ausgegangenen pro Tag überschreite ich locker.)
Anstelle einer detaillierten Antwort ernte ich ein kollektives »Jo!«, so sagen die Norddeutschen, wenn alles im Lot ist. Im Allgemeinen heißt das heute läuft, aber diese Info hat es vielleicht noch nicht bis über die Elbe zu meinen Musikern geschafft.
»Huhu, Caro«, flötet es über den Strand.
Maria und Hartmut Oldendorff sind im Anmarsch. Wie immer im beigefarbenen Partnerlook, sodass sie optisch mit dem Elbsand verschmelzen.
»Ich habe den Kuchen oben in der Küche abgestellt«, sagt Maria in einem derart verschwörerischen Tonfall, als planten wir gemeinsam einen Putsch. »Das war doch in Ordnung so?«
»Du brauchst nicht zu flüstern, dein Sohn ist noch nicht hier«, erwidere ich betont laut und hauche meinen Schwiegereltern Küsse auf die Wange. Einen links, einen rechts – so gehört sich das in ihren Augen.
»Übrigens, Caro: Du weißt schon, dass die Türe da oben offen ist, also jeder …«
»Das ist äußerst fahrlässig«, stimmt Hartmut in die Angstfantasien seiner Gattin ein. »Seit wir diese Flü– äh, Personen mit Migrationshintergrund im Land haben, ist die Kriminalität rapide gestiegen, gerade im Bereich der Einbruchsdelikte.«
Oh nein, bitte nicht dieses Thema!
Ich habe Lust, den beiden einen Schwinger zu verpassen oder ihnen den Mund mit Sekundenkleber zu versiegeln. Wie kann man nur so einen Unsinn von sich geben?! Ein einziges Mal wurde bei Hedwig eingebrochen, als sie ein paar Tage im Krankenhaus war. Die Täter waren gelangweilte reiche Jugendliche aus der Gegend. Und die wollten in erster Linie einen draufmachen und in Ruhe ihre Saufrunden veranstalten, haben aber nichts geklaut.
»Danke für den Kuchen, da wird sich Matthias freuen«, sage ich und starte ein lahmes Ablenkungsmanöver. »Welche Sorten hast du denn gebacken?« (Natürlich hat Maria mir das schon vor drei Monaten gesagt, als ich begonnen habe, die Party zu planen.)
»Den gedeckten Apfelkuchen, den mei Weckle so mag«, antwortet Maria, leuchtenden Mamastolz in den Augen.
Als gebürtige Schwäbin nennt sie ihren Sohn von Geburt an Weckle. Matthias hatte angeblich die Form eines Brötchens, als er das Licht der Welt erblickte. Dass er spätestens seit der Einschulung alles andere als begeistert von diesem Kosenamen ist, interessiert Maria etwa so sehr wie der Dow Jones.
»Und dann noch Zitronenrolle und Marmorkuchen.«
»Klingt fantastisch«, mischt sich Flora ins Gespräch, die sich zum Glück von Ulf trennen konnte. »Du weißt, wie sehr ich deine Backkünste schätze. Hallo, ihr beiden, lange nicht gesehen.«
Stimmt, das tut meine Mutter wirklich, vor allem die Zitronenbiskuitrolle hat es ihr angetan, genau wie mir. Mit dem Unterschied, dass ihr Bauch flach wie ein Brett ist und man meinem jedes genossene Stück Biskuitrolle ansieht.
»Wie geht’s euch denn so? Habt ihr schon Urlaubspläne? Also, ich war ja gerade wieder auf Ibi–«
Der Rest rauscht durch mich hindurch, auch Maria und Hartmut sehen nicht so aus, als wollten sie weitere Details dieser spirituellen Reise ins Ich hören. Im Fall von Maria bin ich mir auch nicht ganz sicher, ob sie nicht glaubt, das hätte etwas mit Spiritus zu tun. Frauen, die bei Akupunktur an Akkus denken, ist alles zuzutrauen.
Ein Blick auf die Uhr macht klar: Es ist höchste Zeit, Matthias oben im Haus abzufangen und zu beichten, dass die wahre Party hier unten steigt und nicht bei Hedwig Ahrens. Ich bete inständig, dass Thorsten, den ich ebenfalls eingeladen und natürlich entsprechend instruiert habe, auch wirklich die Klappe halten konnte. Für einen Mann ist Thorsten erstaunlich quasselig und kichert auch gern mal albern. Darum nennt Felix ihn nur das Mädchen.
»Hübsch siehst du aus. Aber wieso hast du dich denn so herausgeputzt?«, fragt Matthias, als ich ihn oben im Haus antreffe.
Er ist tatsächlich pünktlich, jetzt fehlt nur noch der Herr Sohn.
»Wir gehen doch nur zu Hedwig.«
»Nein, tun wir nicht«, erwidere ich, gebe Matthias einen Kuss und nehme dann seine Hand. »Wir feiern gleich eine Party am Elbstrand. Los, komm, alle warten auf dich.«
»Wie, was …?« Matthias steht voll auf der Leitung, Verwirrung pur. »Was ist denn los? Habe ich irgendwas verpasst?«
»Wenn du dich beeilst, hast du die einmalige Chance, gemeinsam mit mir und unseren Gästen zu feiern, dass wir heute auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre verheiratet sind.«
»Shit, die Silberhochzeit!«
»Wusstest du das etwa nicht?« Plötzlich steht Thorsten vor uns.
Womöglich sollte ich die Tür doch öfter mal absperren.
Matthias schaut von einem zum andern, den Mund leicht geöffnet, sichtlich überfordert mit der Situation.
»Komm, lass uns nach unten gehen, sonst werden der Sekt und die Erdbeerbowle warm«, sage ich, da Thorsten überhaupt nicht merkt, dass er stört. Das mit dem Shit vergesse ich mal lieber.
Matthias folgt mir wie in Trance, und Thorsten dackelt uns hinterher, als gehörte er zur Familie. Vor dem Haus treffen wir auf Felix, den ich ebenfalls einkassiere. In einer Viertelstunde erneuern mein Mann und ich unser Eheversprechen in Anwesenheit des Pastors, der uns vor einem Vierteljahrhundert getraut hat. Und nichts und niemand wird mich daran hindern, diesen Plan in die Tat umzusetzen.
Als wir am Strand ankommen, applaudieren alle Gäste wie auf ein geheimes Kommando (hatte Sylvia da ihre Finger im Spiel?), und die Band spielt Be My Lover von La Bouche, den Nummer-eins-Hit aus dem Jahr unserer Hochzeit. Sonst gab es nur Songs wie Sie ist weg von den Fanta 4, Mief! von den Doofen, pathetisches Zeugs von Vangelis und den Earth Song von Michael Jackson, wobei ich Letzteren sehr liebe.
Matthias wirkt ein bisschen neben der Spur, aber ich weiß ja, dass er Überraschungen nicht so besonders mag.
Das wird sich schon geben, spätestens nach dem zweiten Bier.
Nachdem der Song verklungen ist und die Gäste – bis auf meine Schwiegereltern – im Takt wippend ihre Sektgläser geleert haben, kommt der Moment, auf den ich mich seit Wochen freue wie ein kleines Kind: Pastor Fiete Anders sagt ein paar einleitende Worte, lobt uns für unser Durchhaltevermögen (zwinker, zwinker) und stellt dann die Frage, die in Filmen stets für spannende Momente sorgt: »Wenn jemand einen Grund vorbringen kann, warum dieses Paar sein Eheversprechen nicht erneuern sollte, dann möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.«
»Ich habe einen«, ruft Thorsten lautstark, stellt sich neben meinen Mann und nimmt dessen Hand.
Verdammt, was tut er da?
Das ist nicht witzig!
»Matthias und ich sind seit fünf Jahren ein Liebespaar, und es wird höchste Zeit, dass alle das wissen.«
4.
Die Zeit steht still, mein Herz trommelt so laut gegen meine Brust, dass man es sicher auch am Burchardkai hören kann.
Das ist doch ein Scherz!
Versteckte Kamera?
Ich schließe die Augen, atme einmal tief ein und dann wieder aus. Dann öffne ich sie, in der Hoffnung, dass sich das Trugbild in Wohlgefallen aufgelöst hat und alles wieder ist wie vorher.
Matthias zittert, ein leichter Schweißfilm überzieht sein Gesicht. Los, sag was! Sag, dass das nicht stimmt!
»Sohn, ist das wirklich wahr?« Hartmuts strenge Stimme lässt keinen Zweifel zu: Dies hier ist die Realität und kein böser Traum, aus dem ich irgendwann erwache. Aus den Augenwinkeln kann ich erkennen, dass Matthias und Thorsten einander umklammern wie Ertrinkende. Maria hat den Mund weit aufgerissen. Edvard Munchs Schrei lässt grüßen. »Ob das wahr ist, will ich wissen.« Hartmut klingt wie ein Feldwebel und sieht dermaßen bedrohlich aus, dass ich mir einen Moment lang Sorgen um meinen Mann mache.
Doch dieser hält den Kopf gesenkt.
Schuldbewusster und feiger geht es kaum.
Sein Schweigen sagt mehr als tausend Worte, und plötzlich dämmert es mir: die Innigkeit der beiden Freunde, ihre regelmäßigen Rad- und Angeltouren (so oft war ich nicht mal mit Matthias im Urlaub), die Ernennung Thorstens zum Teilhaber.
Dessen häufige Besuche bei uns, weil er sich an den Wochenenden so einsam fühlt und mein Essen so liebt.
»Ist das denn hier so eine Brokeback-Mountain-Kacke oder was?«, brüllt es aus mir heraus.
Wie konnte ich nur so dämlich sein.
Blind und taub.
»Es tut mir leid«, flüstert Matthias derart leise, dass nur ich es hören kann. »Ich wollte dir nicht wehtun. Du bist eine tolle Frau und Mutter und hast das nicht verdient.«
Das stimmt allerdings.
Und überhaupt – so was verdient keiner.
Nun steht Hartmut vor uns beiden, in den Mundwinkeln kleine Schaumbläschen. Verpasst er seinem Sohn jetzt eine?
Maria schluchzt lautstark, Flora reicht ihr ein mintfarbenes Taschentuch, und Sylvia streichelt mitfühlend meinen Rücken. Felix sieht aus, als wolle er sich am liebsten in einer seiner Computerspielwelten verkriechen.
Ich fühle mich wie eine Schauspielerin in einem dramatischen Kammerspiel. Regie: Kann ich die Rolle bitte abgeben? Danke.
»Du bringst das wieder in Ordnung, hörst du?«, zischt Hartmut. Seine von Altersflecken übersäte, knochige Hand krallt sich in Matthias’ Hemdkragen fest. »Du schmeißt diesen Trottel sowohl aus dem Laden als auch aus deinem Leben. Und zwar sofort! Haben wir uns verstanden?«
Spinnt der Mann? Meint er allen Ernstes, die Dinge unter den Teppich zu kehren und so zu tun, als sei nie etwas passiert, ist die Lösung für alles?
Nein, mein despotisches Freundchen, so nicht!
»Habe ich da vielleicht auch noch ein Wörtchen mitzureden?«, empöre ich mich lautstark. »Du glaubst doch nicht, dass ich auch nur eine Sekunde länger unter einem Dach mit einem Mann lebe, der mich seit Jahren hintergeht?«
»Das machst du auf gar keinen Fall. Papa muss abhauen, und zwar sofort«, kommt es nun von Felix.
Wow, mein Sohn ist auf meiner Seite.
»Des isch a Kataschtrophe«, heult Maria derart dramatisch, als sei sie gerade schändlich betrogen und verlassen worden. Immer wenn sie emotional aufgewühlt ist, fällt sie wieder ins Schwäbische zurück.
»Liebe Gäste«, ergreift nun Sylvia das Wort. »Wie ihr seht, sind die Dinge gerade etwas in Unordnung geraten, und daher …«
»Ich bleibe mit Thorsten zusammen, egal, was ihr dazu sagt«, erhebt nun Matthias seine Stimme. »Bitte entschuldige, Caro, ich möchte dich auf gar keinen Fall verletzen, aber es ist, wie es ist. Ich liebe Thorsten und hätte mich schon viel früher zu dieser Liebe bekennen sollen – unabhängig davon, ob dir das passt oder nicht, Vater.«
Hartmut setzt zum Faustschlag an, erstarrt dann aber in der Bewegung. Offensichtlich ist ihm gerade eingefallen, dass wir nicht im Krieg sind und jede Form von körperlicher Gewalt inakzeptabel ist.
»Schatz, des isch kei Lösung«, jammert Maria, wirft sich mit vollem Körpergewicht von geschätzten achtzig Kilo bei einer Größe von eins zweiundsechzig ihrem Mann in den Arm – wild entschlossen, ihr Weckle zu beschützen, koschte es, was es wolle.
Oder möchte sie nur ihren Mann davor bewahren, eine Dummheit zu begehen, die er später bitter bereut?
»Na, na, na, wir sollten uns alle wieder beruhigen und wie Erwachsene miteinander reden«, meldet sich nun Pastor Anders zu Wort. Das wurde aber auch Zeit.
»Also, ich bin ja dafür, dass jeder den lieben soll, der für ihn bestimmt ist, unabhängig vom Geschlecht. Wir leben schließlich nicht mehr in den Neunzehnhundertfünfzigern.«
»Mama, halt die Klappe«, zische ich, am Rand meiner Kräfte.
»Los, komm mit«, sagt Sylvia, packt mich sanft bei der Schulter und dreht sich dann zu Flora um: »Kümmere dich um die Gäste und um deinen Enkel, Caro fährt jetzt erst mal mit zu mir.«
Ohne Floras Antwort abzuwarten und ohne dass ich mich noch einmal umdrehe, gehen wir hinauf zu unserer Wohnung.
Ach nein, das stimmt ja gar nicht mehr.
Zu unserer ehemaligen gemeinsamen Wohnung.
»Nanu, wie sehen Sie denn aus, Kindchen?«, fragt Hedwig, die immer noch mit Daisy auf der Terrasse sitzt. »Haben Sie geweint?« Bislang noch nicht, aber gleich ist es so weit.
»Es gab einen … Vorfall auf der Party«, erklärt Sylvia an meiner Stelle. »Können Sie Caro übers Wochenende entbehren? Ich würde sie gern mit zu mir nach Hause nehmen.«
»Aber sicher doch, dann … dann gebe ich dem Pflegedienst Bescheid, dass er jemanden schicken soll, der nach mir schaut. Oder bleiben Sie länger weg?« Diese Frage ist eindeutig an mich gerichtet, und ich muss sie beantworten, so schwer es mir auch fällt.
Immerhin wird sich ab sofort einiges hier ändern, denn Matthias kann hier weder wohnen bleiben noch sich um Hedwigs Garten kümmern. Mist, die Regenrinne müsste dringend gereinigt werden … ob Felix weiß, wie so etwas geht?
»Matthias hat mir eröffnet, dass er schwul – pardon, homosexuell ist und seit fünf Jahren seinen Geschäftspartner Thorsten liebt«, erkläre ich, Diskretion hin oder her.
Das fühlt sich immer noch alles schräg und unwirklich an, womöglich träume ich doch.
»Aber ich dachte, das wussten Sie«, erwidert Hedwig stirnrunzelnd und legt ihr Strickzeug beiseite.
»Wie bitte?!« Sylvia und ich sind beide gleichermaßen entsetzt.