Commissaire Marquanteur
und der Geköpfte: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Der Polizeichef von Marseille findet einen abgetrennten Kopf
auf dem Zaun vor seinem Anwesen. Es handelt sich um einen gesuchten
Mörder. Wer tötet schuldige Verbrecher und bedroht den
Polizeipräsidenten weiter? Die Ermittler Marquanteur und Leroc
kommen einer Todesschwadron auf die Spur, die lange verborgen
geblieben war.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Jack Raymond,
Robert Gruber, Neal Chadwick, Henry Rohmer, Conny Walden und Janet
Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
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lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
“Setzen Sie sich, Mademoiselle.”
Die junge Frau setzte sich. Sie hatte sich ziemlich
aufgedonnert. Ihr Kleid lang eng an und zeichnete die Kurven ihrer
perfekten Silhouette genau nach. Der Ausschnitt war tief und sie
sorgte durch ihre Körperhaltung nach Möglichkeit dafür, dass ihre
Brüste auch gebührend zur Geltung kamen.
Der Mann, der ihr gegenübersaß war doppelt so alt wie
sie.
“Wir sind hier allein in diesem Restaurant?”, fragte sie,
etwas irritiert.
“Anscheinend hat im Augenblick niemand Hunger, Mademoiselle",
sagte der Mann. “Aber das soll uns nicht stören. Der Koch kocht
notfalls ganz allein für uns.”
“Monsieur…”
Der Kellner kam. “Sie hatten vorbestellt, Monsieur
Fournier…"
“Ja. Sie können mit dem Menue beginnen.”
“Sehr wohl.”
Er deutete eine Verbeugung an und verschwand.
“Sie heißen Fournier?”, entfuhr es ihr. “Ich dachte…”
“Ja, ich habe Ihnen bisher einen falschen Namen genannt. Das
tut mir Leid. Ich heiße tatsächlich Fournier.”
“Aber…”
“Das soll Sie nicht weiter beunruhigen. Im Laufe des Abends
werden Sie verstehen, dass ich dafür gute Gründe hatte.”
Der Kellner brachte das Essen.
“Das sieht vorzüglich aus, Danglard!”, sagte Monsieur
Fournier.
“Danke, Monsieur. Ich hoffe, es wird Ihnen beiden
munden.”
“Davon bin ich überzeugt!”
“Wenn Sie noch etwas brauchen, dann rufen Sie mich
bitte.”
“Selbstverständlich, Danglard.”
Danglard entfernte sich wieder.
“Was ist das?”, fragte die junge Frau, als sie auf ihren
Teller blickte.
“Das Exquisiteste, was Sie je gegessen haben, Mademoiselle”,
versicherte Fournier.
“Sie hatten mir versprochen, dass ich Karriere als Model mache
und groß raus komme.”
“Ja, aber darüber sprechen wir, wenn wir gesessen
haben.”
Sie lächelte etwas verkrampft.
“Gut.”
Er sah sie an. Sie erschrak ein wenig. Sein Blick war
intensiv. Aber er zog sie nicht mit seinen Blicken aus, so wie sie
das von anderen gewohnt war. Sein Blick war durchdringend. Und er
schien viel tiefer zu gehen. Sie hatte das Gefühl, dass dieser
Blick nicht nur ihre Kleidung durchdrang, sondern noch weiter
vordrang.
Und er war eisig.
Nicht gierig, sondern eiskalt.
*
“Wie hat es Ihnen geschmeckt?”, fragte Fournier anschließend,
während er das Weinglas hob, um anschließend einen Schluck des
edlen Tropfens zu nehmen.
“Es war…sehr gut.”
“Behalten Sie es in guter Erinnerung.”
“Wieso?”
“Sie werden so etwas nie wieder erleben. können.”
“Ich verstehe Sie nicht.”
“Ich sollte Ihnen vielleicht doch erst einmal noch ein paar
Dinge erklären.”
“Sie wollten mit mir darüber sprechen, wie ich Model
werde.”
“Sie werden niemals Model werden.”
“Aber…”
“Sehen Sie: Mein Name ist Fournier. Das haben Sie schon
mitbekommen.”
“Ja.”
“Dr. Dr. Frédérik G. Fournier. Ich bin Naturwissenschaftler
und Forensiker. Ich arbeite beim Erkennungsdienst als Chemiker und
Physiker und helfe mit, Kriminelle zur Strecke zu bringen.”
“Ich dachte, Sie haben eine Agentur für Models!”
“Da war ich nicht ganz ehrlich zu Ihnen. Aber Sie,
Mademoiselle, waren ja auch nicht ganz ehrlich zu mir.”
“Ich?”
“Sie haben mir nicht gesagt, dass Sie früher mal anders
hießen.”
“Woher wissen Sie das?”
“Und Sie haben mir auch nicht gesagt, dass Sie als
zwölfjährige zusammen mit zwei anderen Mädchen eine andere
Zwölfjährige ermordet haben.”
“Ich…”
“Sie waren noch nicht strafmündig. Darum sind Sie dafür nicht
verurteilt worden. Die anderen beiden Mädchen waren älter. Die
kamen in den Knast. Zwar nach Jugendstrafrecht, aber sie haben eine
Strafe bekommen. Finden Sie das gerecht, Mademoiselle?”
“Ich kann nichts für die Gesetze! Die habe ich nicht gemacht.
Und wie zur Hölle haben Sie…”
“Wie ich das herausgefunden habe? Das spielt keine Rolle. Aber
ich war damals an dem Fall gutachterlich beteiligt und es hat mich
nie losgelassen. Ich finde, dass man der Gerechtigkeit etwas
nachhelfen sollte.”
Die junge Frau wurde blass.
“Ich glaube, ich gehe jetzt besser”, sagte sie.
“Gerade sagte ich, Sie würden niemals Model. Das liegt nicht
an ihrer Figur oder an irgendwelchen Äußerlichkeiten. Das liegt
daran, dass Sie vorher sterben werden. Es ist nicht mehr
aufzuhalten.”
Sie stand auf. “Was haben Sie getan?”, entfuhr es ihr.
“Haben Sie nicht gehört, was mit Ihren Freundinnen von damals
geschehen ist? Ihren Komplizinnen bei diesem Verbrechen, muss man
ja wohl sagen. Ich fand im Übrigen deren Jugendstrafen als viel zu
milde. Auch da musste ich korrigierend eingreifen, wenn mir diese
Bemerkung gestattet sei.”
“Was haben Sie getan?”
“Die beiden leben nicht mehr - richtig? Wissen Sie, ich habe
in meinem Beruf Zugang zu den raffiniertesten Gitften, die Sie sich
nur vorstellen können. Ab und zu probiere ich so ein Gift an
Menschen aus, die es nicht besser verdient haben. An Ihnen zum
Beispiel. Ich nehme nicht an, dass SIe den tödlichen Wirkstoff im
Essen schmecken konnten. Und nun ist es zu spät. Viel zu spät.
Gehen Sie ruhig. Sie kommen nicht weit. Und das Beste ist: Man wird
nichts nachweisen können. Gar nichts.” Fournir lächelte jetzt. Es
war das erste breite Lächeln, das die junge Frau bei ihm sah.
Sie stürmte hinaus.
Panisch.
Fournier sah ihr nach. Dann schenkte er sich noch etwas Wein
ein.
"Wie oft wollen Sie das noch machen?”, fragte der
Kellner.”
“So oft es notwendig ist, um die Menschheit zu ändern.”
“So ehrgeizig?”
“Sie kennen mich.”
“Allerdings.”
*
Monsieur Jean-Claude Marteau war Chef der FoPoCri, einer
Sonderabteilung der Kriminalpolizei. die für die besonders
schwierigen Fälle zuständig war. Über die Sprechanlage meldete
sich seine Sekretärin.
“Da möchte Sie jemand sprechen, Monsieur Marteau.”
“Ich weiß. Soll hereinkommen.”
Wenig später kam ein Mann im blauen Anzug herein.
“Setzen Sie sich.”
“Danke.”
“Sie wollten mich sprechen?”
“Monsieur Marteau, ich weiß nicht, ob sie davon gehört haben:
Eveline Grendel ist plötzlich verstorben. Der Gerichtsmediziner hat
den Verdacht, dass es Gift gewesen sein könnte. Er kann es aber
nicht nachweisen.”
“Nun, dann…"
“Eveline Grendel war mit zwölf an dem Mord an einer
Mitschülerin beteiligt. Da sie zu jung war, blieb sie straffrei.
Die anderen beteiligten Mädchen bekamen Jugendstrafen. Der Fall hat
damals in ganz Frankreich für Schlagzeilen gesorgt und einige alte
Diskussionen aufgeworfen.”
“Ich erinnere mich. Ich habe das verfolgt.”
“Eveline Grendel wurde zuletzt in der Rue Cabrol gesehen - und
zur selben Zeit ist dort auch ein Mann gesehen worden, auf den die
Beschreibung von Dr. Dr. Frédérik Fournier passt.”
“Unserem Super-Forensiker!”
“Genau.”
“Aber Sie denken doch nicht…”
“Dass Fournier etwas damit zu tun hat? Auch die anderen
Beteiligten dieses Mordes sind inzwischen unter mysteriösen
Umständen verstorben. Fournier hatte sich damals in dem Fall
besonders engagiert.”
“Aber Sie denken doch jetzt nicht, dass Fournier auf seine
Weise für Gerechtigkeit gesorgt hat?”
“Ich würde das gerne ausschließen. Sonst bekommen wir alle ein
Problem.”
“Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun?”
“Setzen Sie Ihren besten Mann auf diesen Fall an.”
“Sie meinen Commissaire Pierre Marquanteur?”
“Ja.”
“Ich denke darüber nach.”
“Gut. Mehr kann ich nicht verlangen.”
Der Mann erhob sich und ging.
Wenn man schon das Gesetz in die eigene Hand nimmt, sollte man
vorsichtig dabei sein, dachte Monsieur Marteau, der Chef der
Abteilung FoPoCri. Und offenbar war Fournier nicht vorsichtig
genug. Vielleicht fühlt er sich auch zu sicher, dachte Marteau.
Auch das war denkbar. Fournier war überall für seine Arroganz
bekannt.
Aber zu dem Anliegen, dass Monsieur Marteau auf dienstlichem
Weg vorgetragen worden war, hatte er eine klare Meinung.
Ich werde den Teufel tun und meinen besten Mann auf die Sache
ansetzen!, dachte Monsieur Marteau. Erstens, so fuhr er in Gedanken
fort, hat Fournier der Gerechtigkeit vielleicht tatsächlich
gedient, falls er mit der Sache tatsächlich etwas zu tun haben
sollte.
Und davon abgesehen, so dachte Monsieur Marteau, brauchte er
Marquanteur für andere Fälle. Wichtigere Fälle.
Und wenn er Pierre Marquanteur auf die Sache ansetzen würde,
dann musste er befürchten, dass der die Wahrheit herausfand. Das
Ende vom Lied war dann, dass die Abteilung auch noch einen genialen
Forensiker verlor, dessen Arbeit von essentieller Bedeutung für den
Erfolg der FoPoCri war.
Sollen sich doch die normalen Flics darum kümmern, überlegte
Monsieur Marteau. Sollen die sich darum kümmern - und wie üblich
nichts finden!
*
»Bonjour, François!«, sagte ich. »Wie geht’s heute?«
»Bis gerade hatte ich noch gute Laune.«
»Wieso jetzt nicht mehr?«
»Erzähle ich dir gleich, Pierre.«
Ich holte meinen Kollegen François Leroc an der bekannten Ecke
ab, so wie jeden Morgen. Gemeinsam würden wir zum Marseiller
Polizeipräsidium fahren, wo sich die Büros unserer Abteilung
befanden.
François stieg ein und setzte sich auf den Beifahrersitz des
Dienstwagens. Ich fuhr los.
Morgens durch Marseille zu fahren, wenn gerade Rushhour ist,
kann eine Quälerei sein. Von freier Fahrt für freie Bürger kann man
nur träumen.
Mein Name ist Pierre Marquanteur. Ich bin Commissaire.
Zusammen mit meinem Kollegen Commissaire François Leroc gehöre ich
zu einer Sonderabteilung, die sich Force spéciale de la police
criminelle, kurz FoPoCri, nennt und in Marseille angesiedelt ist.
Wir kümmern uns um organisierte Kriminalität, Serientäter und
andere Fälle, die besondere Ressourcen erfordern.
Ich sah auf die Uhr.
Monsieur Jean-Claude Marteau, Commissaire général de police,
der Chef unserer Abteilung, kann Unpünktlichkeit nicht leiden.
Schon das war ein Grund, besser pünktlich zu sein.
»Hast du heute schon Zeitung gelesen, Pierre?«, fragte
François.
»Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen.«
»Ich aber.«
»So?«
»Ich hätte es besser lassen sollen.«
»Warum?«
»Wegen dem Interview unseres ehrenwerten Herrn
Polizeipräsidenten.«
»Ist das der Grund für deine schlechte Laune?«
»Ja.«
»Erklär mir das.«
»So viel Scheinheiligkeit sieht man selten auf einem Haufen.
Unsere Stadt soll sauberer werden – das ist die Quintessenz. Aber
in Wahrheit ist das alles nur eine Show, um sich in der
Öffentlichkeit darzustellen.«
»Ach, François … Das Spiel kennen wir doch!«
»Ja, aber ärgerlich ist es trotzdem. Findest du nicht?«
»Da bin ich drüber weg, François.«
»Echt?«
»Über sowas ärgere ich mich nicht mehr.«
»Deine Ruhe hätte ich gerne, Pierre.«
Vom Polizeipräsidenten sollten wir bald Neues erfahren.
Und das waren keine guten Nachrichten.
*
Irgendwo in Marseille.
Ein Hinterhof.
Der Killer hatte geduldig gewartet.
Aber es sollte sich lohnen.
»Ihr seid schon so gut wie tot«, murmelte er vor sich
hin.
Jetzt trafen sie der Reihe nach ein. Mit ihren Motorrädern.
Mit ihren Gang-Kutten. Mit ihren Waffen. Und vermutlich auch mit
Drogen, denn von dem Handel damit lebten diese Leute schließlich.
Einer der Gangkrieger nahm eine Pistole und ballerte in die
Luft. Andere lachten. Viele von ihnen waren noch sehr jung. Und
leichtsinnig.
Zu leichtsinnig.
Der Killer hatte sich vorgenommen, ihr Spiel hier und heute
ein für allemal zu beenden.
Er würde ihnen keine Chance lassen.
Ein bisschen musste er noch abwarten.
So lange, bis sie vollzählig waren. Schließlich wollte er
möglichst viele von ihnen auf einmal erwischen.
»Ferri! Baller hier nicht herum!«, rief einer von ihnen. »Hört
man sonst!«
»Hier hört das niemand!«, kam die Antwort.
Zwei weitere Gangmitglieder trafen noch ein. Beide auf
monströsen Trikes, die einen Höllenlärm machten. Die Gangmitglieder
ließen die Motoren aufheulen, wieder schossen ein paar von ihnen in
die Luft.
Jetzt war der Moment des Killers gekommen.
Er nahm die MP und feuerte. Dreißig Schuss pro Sekunde leckten
aus der Mündung heraus. Das ging so schnell, dass keinem von ihnen
eine Chance blieb. Die Maschinenpistole knatterte los.
Glücklicherweise waren diese Gangkrieger eitel. Sie trugen
natürlich keine Kevlar-Westen, weil man darin fett aussah. Und
davon abgesehen waren sie hier ja unter ihresgleichen. Wer hätte
sie bedrohen sollen?
Diese Kerle trugen ihre Kutten mit verschnörkelten
Gangsymbolen drauf. Und sie zeigten mit Vorliebe ihre Oberarme, die
auch mit Tattoos übersät waren. Von Helmen, die den gesetzlichen
Bestimmungen entsprachen, hielten sie auch wenig, und oft genug
trugen sie die auch nicht. Sie vertrauten einfach darauf, dass die
Polizei es vermied, sie zu kontrollieren.
Aber jetzt zuckten ihre Körper im Bleifeuer des Killers.
Einigen gelang es noch, die Waffe zu ziehen. Hier und da kam
es zu einem ungezielten Schuss. xxx
Aber das war nichts, was dem Killer gefährlich werden
konnte.
Die sind tot, ehe sie begriffen haben, woher eigentlich
geschossen wird!, ging es dem Killer durch den Kopf. In dem
Hinterhof herrschte ein Höllenlärm. Die Echos machten es fast
unmöglich, die Herkunft eines Schusses akustisch auch nur
einigermaßen zuverlässig zu lokalisieren.
Einer nach dem anderen sank zu Boden. In verrenkter Haltung
lagen sie in ihrem eigenem Blut. Hier und da gab es tückische
Querschläger, wenn Kugeln von den Metallteilen der Maschinen
abprallten.
Vielleicht kriege ich es ja noch hin, einen Tank explodieren
zu lassen, dachte der Killer. Aber so etwas funktionierte meistens
nur im Film.
Schließlich war Ruhe.
Der Killer trat aus seiner Deckung.
Die MP hielt er in seiner Rechten.
Er ließ kurz den Blick schweifen.
Sein Handy klingelte. Er griff in die Innentasche seiner
Jacke.
»Hallo, Pascal«, sagte eine Stimme. »Ist alles
erledigt?«
»Ich kann mich nicht erinnern, jemandem wie Ihnen erlaubt zu
haben, mich Pascal zu nennen!«
»Ein Fall von Frühdemenz, Pascal? Wäre bedauerlich.«
»Wenn Sie mir so kommen, komme ich vorbei und erschieße
Sie!«
»Was ist jetzt Sache?«
»Es ist alles erledigt. Einen Moment …« Der Killer schaltete
die Kamera des Handys ein und richtete sie auf die Erschossenen.
»Die Aktion Unsere Stadt soll sauberer werden ist abgeschlossen«,
sagte der Killer dann.
»Das ist eine Daueraktion, Pascal.«
»Wenn Sie das sagen …«
»Keiner von uns sollte das je vergessen.«
2
»Besser wird das nicht«, sagte der Arzt. »Sie haben bei dieser
Schießerei mehrere Kugeln im Gesichtsbereich abbekommen.«
»Wenn Sie das sagen … Ich erinnere mich nicht.«
»Das ist normal. Sie können froh sein, dass Sie überlebt
haben.«
»Ob ich darüber froh sein kann, weiß ich noch nicht.«
»Die anderen sind tot. Alle.«
»Und ich habe den Knast vor mir!«
»Jedenfalls wird das Lachen schief bleiben. Das ist nicht zu
ändern. Aber wenigstens sieht Ihr Gesicht nicht so aus, dass sich
andere davor fürchten müssen.«
Er lachte.
Schief!
So wie von nun an immer.
»Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht«, meinte er.
Der Arzt hob fragend die Augenbrauen. »Was?«
»Wenn man sich vor meinem Gesicht fürchten würde.«
3
»Monsieur Dr. Herbreteau, weswegen sind Sie hier?«
»Das frage ich mich allerdings auch!«
»Es ist immer gut, wenn der Patient weiß, weswegen er zum
Therapeuten geht. Das erleichtert die gemeinsame Arbeit.«
»Ich bin kein Patient«, sagte Herbreteau. »Damit beginnt es
schon mal. Patient heißt Leidender. Ich leide aber an
nichts.«
»Aber möglicherweise leiden andere an Ihnen, Monsieur
Herbreteau.«
»Dann sollen die zum Therapeuten gehen und Gespräche führen.
Das sind dann ja auch tatsächlich Patienten im wahrsten Sinn des
Wortes. Ich aber nicht. Ich bin nur hier, weil man mich dazu
verdonnert hat.«
»Wir sprechen neuerdings durchaus auch von Klienten – insofern
gebe ich Ihnen recht, dass sich auch unsere fachliche Sichtweise in
dieser Hinsicht etwas verändert hat.«
»Das ist genauso verlogen. Ich bin nicht Ihr Klient! Ihr
Kunde!« Herbreteau lachte auf. »Ich bezahle Sie nicht, und Sie
handeln auch nicht in meinem Auftrag.«
»Nun, wir brauchen uns nicht über Begriffe zu streiten. Kommen
wir zur Sache – und damit zu dem Grund, weswegen Sie hier
sind.«
»Ich bin hier, weil mein Vorgesetzter das so will«, sagte
Herbreteau. »Und weil sich ein paar hypersensible, empfindliche
Seelen über mich beschwert haben.«
»Es ist von Mobbing die Rede.«
»Mobbing? Weil ich einer Mitarbeiterin, die saumäßige Arbeit
abgeliefert hat, das auch so deutlich gesagt habe? Weil eine andere
Mitarbeiterin, mit der ich gezwungen war, dieselben Räumlichkeiten
zu teilen, sich inzwischen versetzen ließ – was im Übrigen zu unser
aller Besten ist?«
»Hören Sie …«
»Nein, hören Sie mal: Ich bin Gerichtsmediziner. Ich habe es
mit Leichen zu tun und muss herausfinden, woran die gestorben sind.
Die Tatsachen liegen bei uns im Institut buchstäblich auf dem
Tisch. Da drückt man sich klar und deutlich aus.«
»Man hat Ihnen gesagt, dass Sie etwas achtsamer sein sollen.
Etwas sensibler.«
»Dafür bin ich der Falsche«, sagte Herbreteau.
»Monsieur Herbreteau, Sie haben ja schon zwei Kolleginnen
erwähnt, die sich explizit über Sie beschwert haben …«
»Weicheier!«
»In jüngster Zeit sind jetzt noch etwas schwerwiegendere
Vorwürfe eines Institutsmitarbeiters hinzugekommen.«
»Keine Ahnung, von wem Sie sprechen.«
»Ich spreche von Monsieur Salvieu.«
»Monsieur Salvieu hat fundamentale Regeln missachtet, die man
bei einer Obduktion einhalten muss. Wenn Gutachten so erstellt
werden, dann sind Fehlurteile vorprogrammiert. Ich habe ihm bei
mehreren Gelegenheiten sehr deutlich gesagt, dass für einen wie ihn
kein Platz an unserem Institut ist.«
»Monsieur Salvieu glaubt, dass Ihre fortgesetzte und massive
Kritik transphob motiviert ist.«
»Trans was?«
Herbreteau hob die Augenbrauen. Er schien überrascht zu
sein.
»Monsieur Salvieu war bis vor wenigen Jahren noch Madame
Salvieu, bevor er sich einer entsprechenden Behandlung unterzog.
Damals arbeitete er allerdings schon an der Akademie der Sûreté in
Marseille.«
»Ja, aber nicht in unserer Abteilung!«
»Wie gesagt, Monsieur Salvieu bestreitet die sachliche
Motivation Ihrer fortgesetzten, massiven Kritik und hat die
Personalvertretung eingeschaltet, weil er sich von Ihnen gemobbt
fühlt. Er wirft Ihnen transphobe Ressentiments vor.«
»Bis heute hatte ich keine Ahnung, dass Monsieur Salvieu mal
Madame Salvieu war. Glauben Sie, ich schaue mir alle Mitarbeiter
aller Abteilungen so genau an? Ich habe schon genug mit meinen
Leichen zu tun.«
»Ja, das ist ja vielleicht ein Teil des Problems, Dr.
Herbreteau.«
»Wie?«
»Dass Sie Ihren Mitmenschen nicht genug Aufmerksamkeit
zuwenden. Nicht genügend Achtsamkeit und Sensibilität! Und genau
deswegen sind Sie ja hier: Um diesen Missstand abzubauen und
Schwierigkeiten in der Kommunikation mit anderen Mitarbeitenden in
Zukunft zu vermeiden.«
»So ein Quatsch«, sagte Herbreteau. »Ich habe keine
Schwierigkeiten mit irgendwem. Und wer Schwierigkeiten mit mir hat,
der soll mir gefälligst aus dem Weg gehen! Dann gibt es auch keine
Probleme.«
»Monsieur Herbreteau, woher kommt diese Aggressivität?«
»Was für eine Aggressivität?«
»Die Aggressivität, die tief in Ihnen ist und immer wieder aus
Ihnen hervorbricht und den Umgang mit Kollegen
beeinträchtigt.«
»Ich bin nicht aggressiv! Und ich war immer der Sensibelste
von allen. Jedes Mal, wenn ich eine Leiche auf dem Tisch habe, dann
weine ich erst einmal etwas. Und dasselbe tue ich, bevor ich ein
Steak oder eine Weißwurst esse. Dann halte ich innere Zwiesprache
mit dem Schwein, das auf meinem Teller liegt und bitte es um
Vergebung dafür, dass ich Hunger habe.«
»Jetzt versuchen Sie, unsere gemeinsame Arbeit, die so
konstruktiv begonnen hat, ins Lächerliche zu ziehen.«
»Ich ziehe nichts ins Lächerliche! Das Ganze ist nämlich
einfach nur lächerlich. Da brauche ich nichts mehr zu
ziehen.«
»Monsieur Herbreteau, wann in Ihrem Leben hat diese Wut, die
Sie erfüllt, begonnen?«
»Jetzt wollen Sie mit mir über meine Kindheit sprechen?«
»Das wäre etwas, womit wir weiterarbeiten könnten.«
»Wissen Sie was? Um über meine Kindheit zu sprechen, dazu
kennen wir uns einfach nicht gut genug.«
»Also …«
»Aber es gibt in der Tat eine Sache, die mich wütend
macht!«
»Lassen Sie es ruhig heraus, Dr. Herbreteau!
»Es macht mich wütend, dass ich die Kühlfächer in unserem
Institut voller Leichen habe, die ich alle obduzieren müsste, die
alle mutmaßliche Opfer von Gewaltverbrechen sind, und bei denen es
Angehörige gibt, die wissen wollen, wer diese Menschen umgebracht
hat – aber stattdessen sitze ich hier, um über eine Wut zu
schwadronieren, die gar nicht vorhanden ist, und über Probleme, die
nur in der Einbildung von Menschen wie Ihnen existieren.«
Herbreteau sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. Er sagte nach
einer Pause und mit hochrotem Gesicht: »Eine Dreiviertelstunde
sollte das hier dauern.«
»Richtig.«
»Die ist jetzt vorbei.«
»Nun, wir …«
»Was bedeutet, ich gehe jetzt.« Herbreteau erhob sich. »Und
jetzt beklagen Sie sich nicht, dass ich aggressiv geworden bin! Ich
bin nämlich die Ruhe selbst!«
Die Tür knallte ins Schloss.
Herbreteau war fort.
Und der Therapeut machte ein betroffenes Gesicht – und sich
dann ein paar Notizen.
Da haben wir noch einen langen Weg vor uns, dachte er.
4
Marseille, am frühen Morgen
Das Anwesen von Gerard Bornette, dem Polizeipräsidenten von
Marseille, lag direkt am Fluss. Nebel war über Nacht vom Fluss aus
über den Rasen gezogen und hatte den Bereich zwischen dem Haupthaus
aus Sandstein und der mannshohen Begrenzungsmauer mit dem
gusseisernen Tor eingehüllt. Man konnte kaum ein paar Meter weit
sehen.
»Na komm schon! Ich bin der Polizeichef und habe es zu sagen!«
Bornette war fast zwei Meter groß, und selbst in dem ausgeleierten
Jogging-Anzug, den er um diese Zeit trug, eine imposante,
respekteinflößende Erscheinung. Sein Hund schien davon kaum
beeindruckt. In der Regel gehorchte er nicht, und Bornette hatte
den Eindruck, dass sich das Tier von jedem was beibringen ließ –
nur von ihm nicht.
Der Hund bellte und rannte ein Stück zum Tor.
»Ja, was willst du mir denn zeigen?«, knurrte Bornette.
Das Tier konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Immer wieder
verschwand es in der grauen Nebelwolke und kehrte dann zu Bornette
zurück.
»Jetzt hast du mich erzogen, was?«, knurrte er und ging hinter
seinem Hund her.
Dann war er nahe genug am Tor, um es auch sehen zu
können.
»Oh, mein Gott«, flüsterte er, als er zu den gusseisernen
Spitzen hinaufsah.
Blut tropfte auf den Boden.
5
Gerard Bornette hatte für einen Moment das Gefühl, als ob ihm
jemand einen Faustschlag in die Magengrube versetzt hätte.
Der Hund schnüffelte an dem Blut, das entlang der gusseisernen
Gitterstäbe entlanggelaufen war. Blut – und noch etwas anderes.
Gerard Bornette wusste genau, was es war. Er hatte es an Dutzenden
von Tatorten selbst gesehen, kannte das Aussehen, die Konsistenz
und den Geruch von …
… Hirnmasse!
Gerard Bornette hatte bei der Marseiller Streifenpolizei
angefangen und sich später nach und nach hochgearbeitet.
Mordkommission, Abteilung für Organisiertes Verbrechen, später war
er in die Leitungsebene gewechselt und hatte es schließlich ganz an
die Spitze gebracht. Der Polizeipräsident einer Großstadt wie
Marseille kam an Ansehen und Popularität für manche Bürger noch vor
dem Bürgermeister.
Und dass viele seiner Kollegen ihn schätzten, hatte mit
Sicherheit auch etwas damit zu tun, dass Bornette diesen Beruf
wirklich von der Pike auf gelernt hatte. Niemand hatte das Gefühl,
dass da einer von oben herab mit seinen Untergebenen redete.
Schließlich war Bornette mal einer von ihnen gewesen und wusste, wo
den Polizisten der Schuh drückte.
Bornettes Gedanken wirbelten in diesem Augenblick nur so
durcheinander. Sie begannen förmlich in seinem Hirn zu rasen. Der
Hund winselte und blickte nach oben, zu den Spitzen auf dem
gusseisernen Tor.
Ein menschlicher Kopf war dort zu sehen. Er war auf die
mittlere und somit höchste Spitze aufgespießt worden. Ein Auge war
nur noch eine klaffende Wunde. Vermutlich durch einen Schuss. Die
Austrittswunde war vermutlich viel größer. Bornette brauchte sie
gar nicht zu sehen, um sich das vorstellen zu können. Für lange
Jahre war so etwas für ihn schließlich Routine gewesen.
»Schweine«, murmelte er nur. »Diese Schweine!«
6
Der Kopf auf dem Tisch des Gerichtsmediziners sah nicht gut
aus. Das war genau das Bildmaterial, aus dem schlechte Träume
gemacht sind, aber François und ich hatten keine andere Wahl, als
uns die Details anzusehen.
»Tja, mehr ist von dem Kerl anscheinend nicht übrig
geblieben«, sagte Gerard M. Herbreteau in seinem charakteristischen
Bretonen-Akzent. Der Gerichtsmediziner unseres Ermittlungsteams
Erkennungsdienst der Akademie wischte sich die Hände ab. Er trug
Latexhandschuhe, Kittel, Schutzkleidung, Mundschutz und eine
Brille, die ihn möglicherweise davor bewahrte, dass infektiöse
Flüssigkeitsspritzer mit den Schleimhäuten seiner Augen in Kontakt
kamen. Irgendetwas Undefinierbares klebte an seinen
Latexhandschuhen. Ich wollte gar nicht näher wissen, was das war.
»Eine Obduktion unter diesen Umständen als vollständig zu
bezeichnen, widerstrebt mir irgendwie, ganz egal, zu welchem
Zeitpunkt man das sagt«, meinte Herbreteau.
»Sie meinen, weil die Leiche nicht vollständig ist?«, schloss
ich.
»Sie müssen das Gemüt eines Schlachtergesellen haben,
Pierre.«
Ich war perplex.
»Ich?«, vergewisserte ich mich.
»Ja, sicher!«
»Sie sprechen wirklich von mir?«
»Sie sprechen kaltherzig von einer Leiche. Nennen Sie ihn ein
Opfer! Dann erweisen Sie ihm den nötigen Respekt.«
In diesem Moment fragte ich mich ernsthaft, ob Herbreteau
irgendwelche Substanzen genommen hatte, die geeignet waren, die
Persönlichkeit zu verändern. Normalerweise war Herbreteau für sein
Schlachtergemüt bekannt. Einer mit rauen bretonischen Manieren, der
wenig Rücksicht auf Befindlichkeiten anderer zu nehmen pflegte.
Schon gar nicht auf die einer Leiche – beziehungsweise eines
Kopfes, denn genau genommen war von dem Toten ja nicht mehr übrig
geblieben, was uns für unsere Ermittlungen als Ausgangspunkt zur
Verfügung stand.
Herbreteau sah zuerst mich an, dann François. Und dann wieder
mich.
»Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass Ihre Reaktion etwas
heftiger ausfallen würde«, sagte er.
»Worauf? Auf die Gehirnwäsche, die Ihnen anscheinend angetan
worden ist?«, fragte ich.
»Wir sind es gewohnt, unsere Emotionen hinter der Fassade
kühler Sachlichkeit zu verbergen«, ergänzte François. »Was ist
passiert? Hat FGF alias Monsieur Fournier Sie zur verspäteten
Teilnahme in einem Bootcamp für gutes Benehmen überredet, und wir
erleben jetzt das Ergebnis?«
FGF – so nannten wir Frédérik G. Fournier, den aus Marseille
stammenden Naturwissenschaftler des Ermittlungsteams
Erkennungsdienst, dessen Hilfe François und mir seit einiger Zeit
zur Verfügung standen. Und Fournier war mit seinem distinguierten,
unverkennbar südfranzösisch geprägten Auftreten so etwas wie der
perfekte Gegenpart zu dem hemdsärmeligen Bretonen Herbreteau.
»Schlimmer«, sagte Herbreteau.
»Noch schlimmer?«, fragte ich. »Wie kann das sein?«
»Wir hatten hier eine neue Kollegin, mit der ich mir für kurze
Zeit auf Grund gewisser organisatorischer Unzulänglichkeiten
unserer Akademie-Führung ein paar Räumlichkeiten teilen
musste.«
»Ich ahne Schlimmes«, gestand ich.
»Um es kurz zu machen: Es gab eine Beschwerde, und ich wurde
zu einem Gespräch gebeten.« Das Wort Gespräch sprach er auf eine
Weise aus, als ob es sich dabei um etwas Unappetitliches handelte.
Vielleicht war es das ja auch gewesen.
»Und?«, fragte ich.
»Das Ergebnis haben Sie gerade mitbekommen. Ich versuche jetzt
achtsamer und sensibler zu sein.«
»Und Ihre diesbezüglichen Bemühungen haben wir gerade
erlebt?«, hakte ich nach.
»So ist es.«
»Wissen Sie was: Bleiben Sie besser, wie Sie sind!«, sagte
ich.
»Dann weiß jeder, woran er ist«, ergänzte François.
»Auf Ihre Verantwortung«, meinte Herbreteau.
»Was hat denn der Kollege Fournier zu Ihrem ausgewechselten
Charakter gesagt?«
Herbreteau lächelte.
»Zitat unseres geschätzten Dr. Doppelkopf: Ich hasse
Veränderungen, selbst wenn sie positiv sind!«
»Das klingt in der Tat nach ihm«, gab ich zu.
»Wo ist denn die Kollegin, mit der Sie sich die Räumlichkeiten
teilen müssen?«, fragte jetzt François. »Ich habe niemanden
gesehen.«
»Hat sich kurzfristig versetzen lassen. Und ich habe jetzt ein
zweites Gespräch vor mir.«
Ich hob die Augenbrauen.
»Weil Sie mutmaßlich die Ursache dieser Versetzung
sind?«
»Ja, so in diese Richtung wird das Ganze wohl laufen, fürchte
ich. Aber warum soll ich mich beklagen?« Er deutete auf den Kopf.
»Der da hat es definitiv schlechter getroffen, würde ich
sagen.«
»Weiß man inzwischen schon, wer er ist?«, fragte ich.
»Also ich würde sagen, er ist schon mal richtig. Es handelt
sich definitiv um ein Männergesicht. Madame Fouquet ist derzeit
noch dabei, das Gesicht mit den Archiven abzugleichen. Leider ist
unser Monsieur Unbekannt etwas ramponierter, als es die
Toleranzschwellen der üblichen Gesichtserkennungssoftware
verzeiht.«
»Madame Fouquet hat da sicher ihre Tricks«, war ich
zuversichtlich.
Dr. Lin-Tai Fouquet war die Mathematikerin und IT-Spezialistin
des Teams. Wenn der Kerl in den Archiven zu finden war, dann würde
sie auch herausfinden, wer er war. Und danach durchsuchte sie
vermutlich mit den Profil-Fotos sämtliche soziale Netzwerke.
Allerdings war in diesem Fall zunächst einmal die
Einschränkung auf vorbestrafte Kriminelle durchaus sinnvoll.
Genauer gesagt auf vorbestrafte Kriminelle, die in irgendeinem
Zusammenhang zu Gerard Bornette, dem Polizeipräsidenten von
Marseille standen. Auf das gusseiserne Tor seines Anwesens hatte
man diesen Kopf nämlich aufgespießt, und so lag der Schluss nahe,
dass das irgendetwas mit Bornettes beruflicher Tätigkeit zu tun
hatte. Vielleicht wollte ihm jemand eine sehr deutliche Warnung
zukommen lassen. Jemand, der noch eine Rechnung mit Bornette offen
hatte.
Aber anzunehmen, dass der Polizeipräsident einer Großstadt nur
Freunde hatte, war natürlich abwegig. Da gab es mehr als genug
Personen, die aus ihrer Sicht allen Grund hatten, ihm nur das
Schlechteste zu wünschen. Allen voran natürlich die Angehörigen des
organisierten Verbrechens. Gerard Bornette war immer bekannt dafür
gewesen, gegenüber dem organisierten Verbrechen einen harten,
kompromisslosen Kurs zu fahren. Und tatsächlich hatte es während
seiner Amtszeit als Polizeipräsident von Marseille einige
aufsehenerregende Erfolge für die entsprechenden Abteilungen
gegeben. Natürlich prädestinierte Bornette das als potentielles
Opfer von Rache-Akten.
Aber hier lag der Fall wohl etwas komplizierter.
Und genau deshalb hatten wir ihn auf den Schreibtisch
bekommen. Unser Vorgesetzter hatte uns schon am Morgen über die
wesentlichen Fakten informiert. Es hatte mal eine interne
Ermittlung der Kripo Marseille gegeben. Diese Ermittlungen betrafen
Unregelmäßigkeiten im großen Stil und hätten Bornette leicht seinen
Posten kosten können, wenn etwas dabei herausgekommen wäre.
Allerdings war der Ermittler, der sich in dieser Sache
besonders engagiert hatte, ermordet worden, und der Fall war im
Sande verlaufen.
Aber jetzt war das Grund genug, weder die Kripo Marseille noch
die dortige Abteilung für interne Ermittlungen in dem Fall noch
einmal alleine ermitteln zu lassen. Es schien einfach notwendig zu
sein, dass den Kollegen dabei jemand auf die Finger sah und ein
paar Vorgaben gemacht wurden. Genau das war jetzt unser Job.
Davon abgesehen hatte der Fall natürlich inzwischen schon
erhebliches Aufsehen in den Medien erzeugt.
Dass abtrünnige Mafia-Angehörige Schweineköpfe ins Bett gelegt
bekamen, war aus diversen Gangsterfilmen bekannt. Aber dass der
Kopf eines Menschen auf die Gitterspitze eines Tores gespießt
wurde, war selbst für die sensationsgierigen Medien etwas
außergewöhnlich Abscheuliches.
»Also, was die Todesursache des Geköpften angeht, so ist das
nicht weiter schwer«, sagte Herbreteau. »Er bekam einen Schuss
direkt ins Auge – und zwar aus nächster Nähe, wie die
Schmauchspuren beweisen. Man könnte also sagen: Er blickte dem Tod
direkt ins Auge, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«
»Ich fürchte, auch ein drittes Gespräch wird Ihnen kaum
erspart bleiben, Gerard«, vermutete François.
»Das werde ich auch noch überleben«, meinte Herbreteau und
fuhr dann in seinen Ausführungen fort: »Die Kugel drang durch Auge
und Hirn. Anschließend ist sie am Hinterkopf wieder ausgetreten.
Die Austrittswunde ist typisch für eine großkalibrige Waffe.«
»Mit anderen Worten: Wir haben kein Projektil und damit keinen
ballistischen Abgleich«, stellte ich fest.
»So ist es leider«, bestätigte Dr. Herbreteau.
»Könnte sein, dass das auch die Absicht des Täters war.«
»Was ich gerade über eine großkalibrige Waffe sagte, ist
übrigens nur meine persönliche Einschätzung. Sicher ist auch das
nicht, denn es wurde durch das Auge geschossen. Da hätte auch eine
kleinkalibrige Waffe eine Austrittswunde verursacht. Wir können
noch nicht einmal Teilmantelgeschosse ausschließen, die sich ja
beim Eintritt in den Körper verformen und keinen Durchschuss
zulassen. Theoretisch zumindest. Es gibt leider genug Idioten an
Polizisten im ganzen Land, die sich darauf verlassen und dann von
mehreren Seiten auf einen Verdächtigen schießen – mit dem Ergebnis,
dass sie sich gegenseitig treffen.«
Teilmantelgeschosse waren eigentlich typisch für
Polizeiwaffen. Sie dienten dazu, zu verhindern, dass bei einer
Schießerei Unbeteiligte durch Durchschüsse in Mitleidenschaft
gezogen wurden. Und wenn Dr. Herbreteau ein solches Geschoss hätte
ausschließen können, wäre das für uns natürlich eine wichtige
Information gewesen.
»Können Sie irgendwas über die Todeszeit sagen?«, fragte
François.
»Also erst mal noch ein paar Worte zur Todesursache.«
»Wir lauschen gespannt«, sagte ich.
»Ich kann natürlich nicht sagen, was man vielleicht dem Rest
des Körpers vorher noch angetan hat, aber dieser Schuss durchs Auge
ist ganz bestimmt sofort letal gewesen. Zur Todeszeit: Dieser Mann
muss, kurz bevor sein Kopf aufgespießt wurde, erst ermordet und
geköpft worden sein. Und zwar schließe ich das aus
Folgendem.«
Er winkte uns zu einem Rechner, der sich im Sektionsraum
befand. Die Tastatur war durch einen transparenten Plastikbezug
gegen Flüssigkeitsspritzer aller Art geschützt, wie man das auch
aus Zahnarztpraxen kennt. Dr. Herbreteau ließ auf dem
Flachbildschirm Bilder vom Fundort des Kopfes erscheinen. Er wählte
eins aus und zoomte es heran. Die Aufnahmen waren von
hochauflösender Qualität. Man konnte wirklich jede Einzelheit
erkennen.
Herbreteau interessierte sich allerdings offenbar weniger für
den Anblick des Kopfes selbst. Den hatte er schließlich ja auch auf
dem Tisch liegen. Ihn interessierten die Gitterstäbe des
gusseisernen Tors.
»Sehen Sie das da? Blut und einige andere Anhaftungen, von
denen Sie sicher gar nicht wissen wollen, was das im Einzelnen so
alles ist. Im Kopf selbst ist nur wenig Blut. Aber auch wenige
Tropfen können sehr dramatisch aussehen, wenn sie Spritzflecken
verursachen. In diesem Fall spricht die Tatsache, dass überhaupt
noch Blut geflossen ist, dafür, dass der Kopf erst kurz vorher
abgetrennt worden sein kann.«
»Klingt einleuchtend«, meinte ich.
»Sie sehen hier die Spuren am Gitter. Das Blut ist
heruntergelaufen und war offenbar noch flüssig.«
»Wir wissen, wann Gerard Bornette auf den Kopf aufmerksam
wurde«, sagte ich.
»Also die Fotos sind gemacht worden, als das Blut schon
getrocknet war«, stellte Herbreteau klar. »Meine Anmerkungen
bezogen sich auf den Moment, in dem der Kopf aufgespießt
wurde.«
»Wenn der Tote unmittelbar davor erst geköpft wurde, muss das
in unmittelbarer Nähe des Anwesens geschehen sein«, stellte
François fest.
»Ja«, nickte Dr. Herbreteau. »Aber die alles entscheidenden
Fragen sind: Wer war er, und wo ist der Rest von ihm?«
In diesem Augenblick klingelte ein Telefon. Herbreteau ging an
den Apparat und nahm das Gespräch entgegen. Ohne auch nur ein
einziges Wort zu sagen, beendete er das Gespräch nach ein paar
Augenblicken wieder.
»Das war Madame Fouquet«, berichtete Herbreteau.
»Hat sie was herausgefunden?«, fragte ich.
»Sie glaubt, die Identität des Killers herausgefunden zu
haben. Aber alles Weitere will sie Ihnen beiden selber sagen.« Er
zuckte mit den Schultern, während sein Blick auf den Kopf gerichtet
war. »Keine Ahnung, weshalb sie nicht einfach hier herunter in
diese gastliche Stube kommt, um darüber zu reden.«
»Ist ihr vielleicht nicht gemütlich genug«, meinte ich.
»Ich hatte nie den Eindruck, dass Madame Fouquet solche
Äußerlichkeiten wichtig sind, Pierre.«
François hob die Augenbrauen.
»Vielleicht liegt es ja auch einfach nur am Geruch«, vermutete
mein Kollege.
7
»Da sind Sie ja!«, sagte Dr. Lin-Tai Fouquet, als wir ihren
mit Rechnern und Flachbildschirmen vollgestellten Arbeitsraum
erreichten. »Ich dachte schon, Sie hätten sich noch länger bei
Herbreteau aufgehalten.«
»Ist er das?«, fragte ich und deutete auf das Gesicht eines
Mannes, dessen Foto in überlebensgroßem Format auf einem der
Flachbildschirme zu sehen war.
»Das ist er«, betätigte Madame Fouquet.
»Ich habe den Kopf unten im Sezierraum gesehen, aber ich
musste zweimal hinsehen, um den Kerl wiederzuerkennen«, gab ich
zu.
»Ein Schuss durchs Auge kann ein Gesicht schon mal etwas
verändern«, meinte François dazu.
»Es sind nicht die Verletzungen durch den Schuss«, erklärte
Madame Fouquet. »Das Alter dürfte auch eine Rolle spielen. Das
Bild, das Sie sehen, ist fast zwanzig Jahre alt und aufgenommen
worden, als dieser Mann zum ersten Mal wegen einer Bagatelle
erkennungsdienstlich behandeln lassen musste. Er heißt Pascal
Aubrere. Zumindest wurde er unter diesem Namen geboren.«
»Das klingt nach jemanden, von dem es nicht einfach eine
Adresse gibt, bei der man vorbeischauen könnte.«
»Sie sagen es. Der Mann ist ein mutmaßlicher Profikiller«,
meinte Madame Fouquet in ihrer unnachahmlich nüchtern beiläufig
klingenden Art und Weise. »Es gibt ein Dossier über ihn. Er hat mit
kleinen Delikten angefangen, meistens Körperverletzung oder Drogen,
und sich dann irgendwann nicht mehr erwischen lassen. Ihm werden
Dutzende von Auftragsmorden zur Last gelegt, und man kennt
mindestens drei verschiedene Tarn-Identitäten, unter denen er eine
Weile gelebt hat.«
»Der Kopf eines Killers – aufgespießt vor dem Haus eines
Polizeipräsidenten«, murmelte François. »Das hat was.«
»Fragt sich nur, wo der Zusammenhang zwischen Bornette und
diesem Pascal Aubrere zu suchen ist«, ergänzte ich.
»Der ist so leicht zu finden, dass sogar jemand wie ich sofort
darauf gekommen ist«, sagte Madame Fouquet. »Und das, obwohl ich
mich weder mit Gerard Bornette noch mit den Verhältnissen innerhalb
der Polizei von Marseille bisher schon näher beschäftigen
konnte.«
»Und?«, fragte ich.
»Einer der Morde, die Pascal Aubrere mutmaßlich begangen hat,
ist der an Commissaire Daniel Drageaux.«
Der Name erinnerte mich an etwas. Ich sah François an.
»Ist das nicht der Ermittler, der sich seinerzeit besonders
intensiv darum bemüht hat, in der Marseiller Polizei auszumisten,
François?«
»Und Gerard Bornette war ganz besonders in seinem Visier«,
bestätigte François.
»Auf jeden Fall wird Ihnen Bornette ein paar Fragen zu
beantworten haben«, meinte Lin-Tai. »Und ich glaube nicht, dass das
eine angenehme Plauderei wird.«
8
Wir fuhren etwa zwanzig Minuten nach La Canebière. Der
Feierabendverkehr in der Hauptstadt fiel vergleichsweise harmlos
aus und so erreichten wir ohne allzu große Verzögerungen das
Polizeipräsidium, wo wir unsere Büros hatten.
Wir begaben uns geradewegs zum Büro unseres Vorgesetzten.
Darum hatte er uns gebeten. Schließlich mussten wir mit ihm noch
das weitere Vorgehen absprechen. Unsere Mission war nämlich
durchaus heikel. Es ging schließlich auch um einen der wichtigsten
Beamten der Stadt. In den Augen vieler war das Ansehen des
Polizeipräsidenten sogar noch deutlich höher anzusetzen als das des
Bürgermeister dieser Metropole. Der wurde viel eher mit der
Verschwendung von Steuergeldern in Verbindung gebracht. Gerard
Bornette hingegen galt als Musterbeispiel absoluter Integrität und
Rechtschaffenheit. Es gab offenbar nicht wenige, denen es ganz
grundsätzlich ein Dorn im Auge war, dass da nun Commissaires kamen
und buchstäblich jeden Stein noch einmal umdrehten.
Wir hatten also mit Widerstand zu rechnen. Aber das waren wir
gewohnt.
»Gehen Sie einfach durch, Monsieur Marteau erwartet Sie
schon«, begrüßte uns die Sekretärin unseres Chefs. Melanie hatte
bereits ihre Jacke angezogen und die Handtasche über die Schulter
gehängt. Der kurze Blick, den sie der Anzeige ihrer Armbanduhr
widmete, machte sofort klar, dass sie wohl eigentlich schon
Dienstschluss hatte.
So wie wir auch. Von Monsieur Marteau ganz zu schweigen. Aber
von unserem Vorgesetzten waren wir nie etwas anderes gewöhnt
gewesen, als dass er morgens der Erste im Büro war und abends der
Letzte, der ging.
»Sie sehen aus, als hätten Sie noch was vor«, sagte ich.
»Habe ich auch«, meinte Melanie lächelnd. »Und Sie anscheinend
auch.«
»Danke«, sagte ich.
»Sie haben eine Mail mit allen Daten auf Ihre Handys bekommen.
Ich hoffe, die ist nicht im Spam-Ordner gelandet.«
»Werden wir schon finden, Melanie«, sagte ich.
»Außerdem ist ein Dienstfahrzeug für Sie beide
eingeteilt.«
»Aber …«
»Monsieur Marteau bittet nämlich darum, dass Sie davon
absehen, mit Ihrem Porsche zu fahren«, unterbrach sie mich, ehe ich
auch nur meinen Einwand hatte formulieren können. »Und sagen Sie
jetzt nicht, dass Sie das nicht auch bei anderer Gelegenheit schon
getan haben.«
»Seit wann hat man Ihnen Gedankenlesen beigebracht?«, fragte
ich etwas verblüfft zurück.
»Ihr Porsche ist einfach zu auffällig, Pierre. Und bei dieser
ohnehin schon ziemlich heiklen Mission, die viel diplomatisches
Fingerspitzengefühl verlangt, ist es besser, nicht mit einem Wagen
vorzufahren, der auch nur einen Anflug von Protz und Glamour
besitzt.«
»Hat Monsieur Marteau das gesagt?«, wunderte ich mich.
»Das hat Monsieur Marteau so gesagt«, bestätigte Melanie und
nickte bekräftigend. »Es sieht so aus, als müssten Sie ein paar
sehr wichtigen Leuten auf die Füße treten, Pierre.«
»Ja, so könnte man das sagen«, bestätigte ich.
»Und es wäre sicher hilfreich, wenn Sie nicht auch noch
diejenigen verstimmen, auf deren Unterstützung Sie am Ende
angewiesen sein werden.«
»Wie auch immer. Einen schönen Abend noch.«
»Wenn ich Ihnen dasselbe wünsche, würde das vermutlich nicht
so gut klingen, oder?«
»Nein. Würde es nicht.«
Wir fanden uns einige Augenblicke später im Büro unseres
Chefs. Monsieur Marteau telefonierte noch. Mit der einen Hand hielt
er den Apparat am Ohr, mit der anderen bedeutete er uns mit seiner
Gestik, die an einen Dirigenten erinnerte, uns zu setzen.
Wenige Augenblicke später hatte Monsieur Jean-Claude Marteau
das Gespräch beendet. Seine Hände wanderten in die weiten Taschen
seiner Flanellhose. Die Hemdsärmel waren hochgekrempelt, der
oberste Knopf offen. Die Krawatte hing ihm wie ein Strick um den
Hals, und es war selbst ihm ausnahmsweise mal anzusehen, wie
anstrengend der Tag gewesen war, den er hinter sich hatte.
»Das war Dienststellenleiter Gaspard, der Chef der
Kriminaldienststelle, die Sie zu unterstützen hat, wenn es
notwendig wird«, berichtete er. »Ich habe ein paar organisatorische
und rechtliche Einzelheiten mit ihm abgesprochen, die den Fall
Bornette betreffen.«
Interessant, dass er vom Fall Bornette sprach. Meistens wird
im Sprachgebrauch ein Fall entweder nach dem Opfer oder, sofern
bekannt, nach dem mutmaßlichen Täter benannt. Polizeipräsident
Gerard Bornette war nichts davon. Wir hatten Monsieur Jean-Claude
Marteau zwar schon von unterwegs aus darüber informiert, dass die
Identität des Opfers inzwischen bekannt war, aber wenn sich intern
eine bestimmte Bezeichnung für einen Fall erst mal eingebürgert
hat, ändert sich das meistens nicht mehr.
Für die Medien gilt das natürlich umso mehr. Für die war die
Angelegenheit von Anfang an ein Fall Bornette gewesen, und genau
daraus resultierten jetzt einige Schwierigkeiten, mit denen wir zu
tun haben würden.
»Sie bekommen von den Kollegen natürlich jede denkbare
Unterstützung«, sagte Monsieur Jean-Claude Marteau. »Kollege
Patrice Gaspard ist in solchen Fällen immer sehr kooperativ. Und er
hat auch gute Verbindungen in der Marseiller Polizeibehörde, so
dass es für Sie beide mit seiner Hilfe vielleicht etwas leichter
ist, wenn Sie auf gewisse Widerstände stoßen und diese überwinden
müssen. Darüber, dass organisatorisch bereits alles für Sie
geregelt ist, hat Sie Melanie hoffentlich schon informiert«, fuhr
Monsieur Jean-Claude Marteau fort. »Zumindest hatte ich sie
entsprechend instruiert.«
»Und auf Melanie ist Verlass«, sagte ich. »Wir wissen
Bescheid.«
Monsieur Jean-Claude Marteau blickte auf die Uhr.
»Normalerweise würde ich sagen: Fangen Sie so schnell wie
möglich an, damit Sie baldmöglichst den Fall abschließen können.
Aber ich muss Sie bitten, sich noch circa eine Stunde zu
gedulden.«
Ich hob die Augenbrauen. Da kommt doch noch was Wichtiges,
dachte ich.
»Wir bleiben natürlich. Aber was passiert denn in einer
Stunde, was nicht bis morgen früh warten kann?«
»Dienststellenleiter Gaspard war so freundlich, Commissaire
Gina Duchesse herzubeordern. Sie war die Dienstpartnerin von
Commissaire Daniel Drageaux.«
»Dem Kollegen, der sich so intensiv mit den Verfehlungen im
Polizeipräsidium von Marseille beschäftigt hat?«, meinte
François.
»Exakt.«
»Nachdem wir wissen, dass der aufgespießte Kopf mal auf den
Schultern eines Profi-Killers namens Pascal Aubrere gesessen hat,
dem unter anderem zur Last gelegt wird, Commissaire Drageaux
ermordet zu haben, bekommt das natürlich eine besondere Brisanz«,
stellte ich fest.
»Zu dem Zeitpunkt, als Dienststellenleiter Gaspard mir
mitteilte, dass die Kollegin Gina Duchesse auf dem Weg zum
Polizeipräsidium ist, hatten Sie mich über die Identität des
Geköpften noch nicht aufgeklärt«, stellte Monsieur Jean-Claude
Marteau klar. »Aber jetzt gewinnt die Sache natürlich an Brisanz.
Ich glaube, es ist sehr gut, wenn Commissaire Duchesse Sie über die
Ermittlungen von Commissaire Drageaux umfassend in Kenntnis setzt,
bevor Sie sich eventuell in die Nesseln setzen.«
»Keine schlechte Idee.«
»Sie müssen sich also noch etwas gedulden, dann ist
Commissaire Duchesse hier und steht Ihnen Rede und Antwort.«
9
Die Kollegin Commissaire Gina Duchesse war zierlich und
brünett. Der Blick ihrer blauen Augen verriet Entschlossenheit.
Wir empfingen sie in unserem gemeinsamen Büro, nachdem wir
noch einige wichtige Telefonate geführt hatten. Unter anderem mit
Lin-Tai Fouquet, die uns noch einige Informationen über Pascal
Aubrere und den Mordfall Daniel Drageaux zusammengetragen hatte.
Außerdem erfuhren wir, dass unser Naturwissenschaftler Fournier
bereits unterwegs gewesen war, um sich das Tor und die Umstände,
unter denen der Kopf aufgefunden worden war, genauer
anzusehen.
Wir hatten unterdessen eine großangelegte Aktion der Kollegen
aus Marseille veranlasst, an der mehrere Dutzend Ermittler
beteiligt waren. Es ging darum, herauszufinden, wo und unter
welchen Umständen genau Pascal Aubrere seinen Kopf verloren hatte.
Da wir ja wussten, dass zwischen diesem barbarischen Akt und dem
Zeitpunkt, an dem Gerard Bornette auf den Kopf aufmerksam wurde,
nur wenig Zeit vergangen sein konnte, war klar, dass das Verbrechen
sehr wahrscheinlich in der näheren Umgebung verübt worden sein
musste. Alle Gebäude und Orte, die dafür infrage kamen, wurden von
unseren Kollegen näher unter die Lupe genommen. Darüber hinaus
wurden alle zur Verfügung stehenden Informationsquellen
ausgewertet. Passanten und Anwohner, die als Zeugen etwas
beobachtet hatten, was ihnen im Nachhinein seltsam vorkam, Webcams,
öffentliche und private Video-Überwachungsanlagen,
Parkscheinautomaten, U-Bahn-Terminals und so weiter. Es war in
einer urbanen Umgebung mittlerweile ziemlich schwierig, sich
fortzubewegen, ohne dabei irgendwelche Spuren zu hinterlassen.
Meistens bestand das Problem nicht darin, dass keine derartigen
Daten vorlagen, sondern das Gegenteil war der Fall. Sehr häufig
hatten wir so viel davon, dass die größte Herausforderung darin
bestand, die berühmte Spreu vom Weizen zu trennen.
»Stellen Sie Ihre Fragen«, sagte Commissaire Gina Duchesse.
»Ich stehe Ihnen auch weiterhin jederzeit zur Verfügung. Nur morgen
früh nicht.«
»Was ist dann?«, hakte ich nach.
Gina Duchesse seufzte.
»Ich habe noch einen zweiten Gesprächstermin«, eröffnete sie.
»Sie sind nämlich nicht der einzige, der mit mir über diesen Fall
reden will.«
»Wer noch?«, fragte ich.
Sie hob die Augenbrauen.
»Es scheint, als wäre man an allerhöchster Stelle an diesem
Fall interessiert. Und ich werde wohl nicht umhin können, da Rede
und Antwort zu stehen. Um genau zu sein, das Treffen wird unter
Leitung des Staatssekretärs im Justizministerium
stattfinden.«
Etwas in der Art hatte ich schon vermutet. Wenn der
Polizeipräsident einer der größten Städte Frankreichs in so eine
Sache verwickelt war, dann hatte das immer auch eine politische
Dimension. Zweifellos trug auch das Aufsehen in den Medien dazu
bei, das der aufgespießte Kopf eines Killers erregt hatte.
»Unseren Job wird es nicht gerade leichter machen«, sagte
ich.
Gina Duchesse zuckte mit den Schultern.
»Jetzt interessiert sich wenigstens jemand dafür«, sagte sie.
»Leider war das nicht immer so.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
»Ich meine die Zeit, in der mein Kollege Daniel Drageaux und
ich versucht haben, einige Machenschaften in der Marseiller Polizei
aufzudecken. Der Bürgermeister, der Ministerpräsident, das
Justizministerium – niemand war wirklich begeistert davon, dass wir
Jagd auf vermeintlich rechtschaffene Polizisten machten. Was den
berüchtigten Corpsgeist im Polizeipräsidium angeht, brauche ich
Ihnen ja wohl nichts zu erzählen.«
»Das gibt es vermutlich überall«, sagte ich.
»Ja, aber wir arbeiten noch nicht lange an dem Fall«, sagte
François. »Bei einer flüchtigen Durchsicht der Unterlagen habe ich
nichts gefunden, was die Verdächtigungen gegenüber Mitgliedern der
Marseiller Polizei untermauern könnte.«
»Es gab mehrere offizielle Vermerke«, widersprach Gina
Duchesse. »Aber sie sind verschwunden, wie ich feststellen musste.«
»Wie ist das möglich?«, fragte ich.
»Das ist dann möglich, wenn jemand sehr mächtige Freunde hat.
Und dazu vielleicht noch ein Netzwerk von Personen, die einem
verpflichtet sind.«
»Sie sprechen von Gerard Bornette?«
»Von wem sonst?«, gab Gina Duchesse zurück.
»Konkret scheint bei den Ermittlungen von Ihrem Kollegen
Daniel Drageaux und Ihnen nicht viel herausgekommen zu sein«,
meinte François.
»Sie wissen doch selbst, wie das ist. Es gibt Dinge, die man
nicht gerichtsfest beweisen, aber trotzdem als ziemlich gesichert
ansehen kann.«
»Und was kann als gesichert angesehen werden?«
»Dass das Marseiller Polizeipräsidium offenbar einigen
Kriminellen quasi in gewissen Grenzen freie Hand gegeben hat. Es
wurden Mordermittlungen verschleppt und Beweise vernichtet. Es gibt
Dutzende von Tötungsdelikten, in denen nie mit der nötigen
Intensität ermittelt wurde. Alles Fälle, in denen sich Kriminelle
mutmaßlich gegenseitig umgebracht haben.«
»Was kein Grund sein sollte, so etwas nicht aufzuklären«,
meinte François.
Gina Duchesse nickte.
»Sie sagen es, Monsieur Marquanteur! Aber anscheinend gab es
im Marseiller Polizeipräsidium dazu auch andere Ansichten. Nach
Meinung meines Kollegen Daniel Drageaux wäre das ohne
Mitwisserschaft und Duldung durch den Polizeipräsidenten nicht
möglich gewesen.«
»Und wie ist Ihre Ansicht?«, fragte ich.
»Bornette muss die Hand darüber gehalten haben. Anders macht
das alles keinen Sinn.«
»Aber konkret konnte Bornette nichts nachgewiesen werden?«,
vergewisserte ich mich.
»Das ist leider richtig. Oder sagen wir so: Dazu ist es leider
nicht mehr gekommen nach Daniels Ermordung.«
»Wo besteht da der Zusammenhang?«, fragte ich.
»Daniel wurde von einem Unbekannten erschossen, als er seine
Wohnung verließ. Er hatte Dienstschluss, hat sich noch einmal
umgezogen, und ich weiß, dass er sich am Abend noch mit einem
wichtigen Informanten treffen wollte.«
»Was für ein Informant?«
»Das hat er mir nicht gesagt. Und das Ganze war auch nirgendwo
offiziell vermerkt.«
»Wusste der Dienststellenleiter Bescheid?«
»Dienststellenleiter Gaspard sagte mir gegenüber, dass er
davon nichts gewusst habe. Ich denke, Daniel hat ganz bewusst nur
mich überhaupt über dieses Treffen informiert. Wir hatten immer ein
besonderes Vertrauensverhältnis.«
»Sie haben das einfach so akzeptiert, dass Commissaire
Drageaux Ihnen nicht gesagt hat, wer der Top-Informant ist?«
»Ich habe natürlich nachgefragt. Er meinte, es sei besser,
wenn ich nichts weiter dazu wüsste.«
»Wollte er Sie schützen oder …«
»… den Informanten?« Gina Duchesse hob die Augenbrauen. »Ich
vermute Letzteres. Jedenfalls hat er mir gesagt, dass nach diesem
Treffen die Bombe hochgehen würde.«
»So hat er sich tatsächlich ausgedrückt?«, wunderte ich mich.
»Genau diese Worte hat er verwendet«, bestätigte Commissaire
Duchesse. »Und er hat auch wörtlich gesagt: Du wirst sehen, morgen
ist Bornette fällig!«
»Er scheint sich sehr sicher gewesen zu sein.«
»Ja, das sehe ich auch so. Und für mich liegt auf der Hand,
dass man ihn deshalb vorher umgebracht hat. Immerhin wissen wir
wenigstens ziemlich sicher, wer der Täter ist.«
»Pascal Aubrere«, sagte ich.
»Er verwendete eine Waffe, mit der er vor Jahren die Nummer
zwei eines kriminellen Libanesen-Clans umgebracht hat«, erklärte
Gina Duchesse. »Dieses Verbrechen konnte ihm auch anhand eines
Ohrabdrucks an der Tür zweifelsfrei zugeordnet werden.«
»Ungewöhnlich, dass man von einem Profi-Killer den Ohrabdruck
hat«, stellte ich fest.
»Pascal Aubrere ist als junger Mann wegen eines Einbruchs
festgenommen und anhand eines Ohrabdrucks an der Tür auch überführt
worden.«
»Verstehe.«
»Anscheinend hat er später gemerkt, dass man mit
Auftragsmorden mehr Geld verdienen kann«, meinte Gina
Duchesse.
Ich lehnte mich etwas zurück und ließ mir Gina Duchesses
Schilderungen noch einmal durch den Kopf gehen.
»Was ich nicht verstehe, ist Folgendes: Pascal Aubrere war ein
Profi-Killer, aber wie kann es sein, dass ein Profi zweimal
denselben Fehler macht und ein Ohr an eine Tür drückt und damit
einen Abdruck hinterlässt, von dem er doch inzwischen gewusst haben
muss, dass der genauso unverwechselbar ist wie ein Fingerabdruck.
Schließlich hat es wegen des Einbruchs ja einen Prozess gegeben, in
dem ihm das doch wohl eindrücklich vor Augen gehalten wurde.«
»Deswegen ist er ja verurteilt worden.«