Zum Abschuss freigegeben - Thor Kunkel - E-Book

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Thor Kunkel

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Beschreibung

Gelobt - geschmäht - gecancelt
Das Medientagebuch eines »Gedankenverbrechers«


Mobbing, Cancel Culture und digitales Lynchen - neben falscher Berichterstattung sind dies die neuen Mittel eines postheroischen, »politisch korrekten« Deutschlands, das seine Kritiker auf dem Scheiterhaufen der veröffentlichten Meinung verbrennt.

Vom Hoffnungsträger der deutschen Literatur zum Gedankenverbrecher

Wie »hart, unerbittlich, um nicht zu sagen gnadenlos« (so die österreichische Volltext, 9/08, über den Fall Kunkel) es dabei zugehen kann, erfuhr der Literaturpreisträger Thor Kunkel 2004, als dem Spiegel Auszüge aus seinem nie zur Veröffentlichung bestimmten Werkstattbericht zugespielt wurden, womit einer der größten Skandale der Gegenwartsliteratur seinen Anfang nahm. Abgesehen von der totalen Verwüstung seines beruflichen Umfelds, führte der Feldzug des journalistischen Lynchmobs in der Konsequenz zu einem Veröffentlichungsbann in Deutschland und veranlasste Kunkel im Jahr 2009, in die Schweiz zu emigrieren.

Worin bestand eigentlich das Konfliktpotenzial von Kunkels »Gedankenverbrechen«, das Anstößige an seinem zum »Schandwerk« erklärten Roman Endstufe, den die FAS noch im Februar 2004 als »glänzend geschriebenes, ungeheuer interessantes Manuskript von einem der besten deutschen Autoren der jüngeren Generation« feierte?

Chronik eines Rufmords im Namen der Political Correctness

Erstmals veröffentlicht Thor Kunkel mit Zum Abschuss freigegeben nicht nur das umstrittene Medientagebuch und beschreibt den Ablauf des Skandals, sondern dokumentiert auch unbeschönigt die Phasen der Hexenjagd auf einen Unbeugsamen.

»Falls Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht darauf, den Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.« George Orwell, Farm der Tiere

»Eine gewonnene Schlacht ist noch kein gewonnener Krieg.« Euagrios Pontikos, ägyptischer Gelehrter

»So etwas wie moralische oder unmoralische Bücher gibt es nicht. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben. Weiter nichts.« Oscar Wilde

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Die in diesem Buch in Auszügen wiedergegebene Korrespondenz liegt dem Verlag im Original und vollständig vor. Falls nicht anders gekennzeichnet, wurden Hervorhebungen in den Originalzitaten durch den Verfasser dieses Buches vorgenommen. 1. Auflage September 2020 Copyright © 2020 bei Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Christina Neuhaus ISBN E-Book 978-3-86445-782-1 eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis Kopp Verlag Bertha-Benz-Straße 10 D-72108 Rottenburg E-Mail: [email protected] Tel.: (07472) 98 06-10 Fax: (07472) 98 06-11Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:www.kopp-verlag.de

Zitate

Es ist immer das Gleiche /

kaum sitzen wir bei Tisch / an der Eiche /

findet einer einen Nazi in der Suppe /

und statt der guten alten Nudelsuppe /

bekommen wir jeden Tag / die Nazisuppe auf den Tisch.

Thomas Bernhard (1931–1989),Der deutsche Mittagstisch

Wenn etwas eine Pop-Ikone wird wie die Nazis […] dürfen sie auch als solche benutzt werden.

Gabi Delgado-López (1958–2020),DAF,2017

Wie man einen mobbingbedingten Literaturskandal überlebt

Alles ist auch immer anders möglich.

Ágnes Heller (1929–2019), Philosophin

I.

»Schreiben Sie dieses Buch nicht, es dürfte nur Ihre Feinde bestärken!«

In den letzten Wochen, die der Vorbereitung dieses Buchs dienten, wurde mir so mancher Ratschlag von Freunden zuteil: Es sei in Deutschland »unklug, sich als Opfer zu outen«, man liefere den Medien damit nur »eine Steilvorlage, die neue Publikation als Ausdruck persönlicher Ressentiments abzutun«.

Diese Gefahr nehme ich gerne in Kauf. Wem die Mörderfackel der antifaschistischen Presse nie ins Gesicht leuchtete, wer nie »Zielperson« einer vom Spiegel und von den öffentlich-rechtlichen Medien befeuerten Rufmordkampagne war, kann sich nicht vorstellen, was es heißt, »zum Abschuss freigegeben« zu sein.

Es bedeutet mehr als nur den Verlust der gesellschaftlichen Existenz, permanente Ausgrenzung und berufliche Benachteiligung, es bedeutet, dass man von nun an das Leben einer Unperson führt. Nach fünf Jahren des sozialen Abstiegs vollzog ich 2009 den einzig richtigen Schritt: Ich emigrierte in ein anderes Land und begann noch einmal von vorne – kein allzu schönes Gefühl für einen Mann Mitte vierzig.

Mobbing gilt heute vor dem deutschen Arbeitsgericht als »Verletzung bestehender Menschenrechte«. Verliert ein Arbeitnehmer durch unfaire Angriffe – Schikanen oder »wahrheitswidrige Behauptungen« – seinen Arbeitsplatz, kann man die Mobber in der Regel regresspflichtig machen, das heißt, der Geschädigte erhält Schmerzensgeld oder Schadensersatz. Bezeichnend ist, dass – im Unterschied zu anderen europäischen Staaten – in Deutschland bis heute kein Anti-Mobbing-Gesetz verabschiedet wurde; es mangelt daher bislang an einer Definition.

Im Fall eines Schriftstellers scheint die Sache noch komplizierter zu sein. Das Kassieren von schlechten Kritiken gehört zum Metier, doch wann wird aus Literaturkritik ein »systematisches Anfeinden, Schikanieren und Diskriminieren«, was zumindest der vorläufigen Definition des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahre 1997 entspricht?

Und wie lassen sich hier Schäden – besser Folgeschäden – beziffern? Wessen Ruf als Autor ruiniert wurde, der sieht sich plötzlich überall in die Marge gedrängt. Seine berufliche Benachteiligung lässt sich ebenso schwer beweisen wie die rechts- und tatsachenfeindlichen Einstellungen der journalistischen Häscher. Public Shaming und »digitales Lynchen« sind die bewährten Waffen der Meinungsdompteure einer postheroischen Gesinnungsgesellschaft. Das Mobbing wird von den Medien so lange »bewirtschaftet«, bis die Erwerbsunfähigkeit der Zielperson als gesichert gilt.

Das Ausmaß des journalistischen Missbrauchs, dem ich im Jahr 2004 ausgesetzt war, lässt sich erst heute erfassen – dies auch wegen einer posttraumatischen Störung, wegen der ich mich einige Jahre in Behandlung befand. Ich schaffte es einfach nicht aus eigener Kraft, mich der Realität meiner eigenen Vernichtung zu stellen.

Tatsache bleibt: Die Rufmordkampagne behindert bis heute sowohl die Fortsetzung meiner schriftstellerischen Arbeit als auch ein normales gesellschaftliches Leben. Selbst die Anmietung einer Wohnung unter meinem Namen ist in Berlin ein Problem. Viele einmalige und unwiederbringliche Chancen, die ich mir durch preisgekrönte Literatur erarbeitet hatte, wurden von journalistischen Neidern zunichte gemacht. De facto läuft das Ganze inzwischen fast auf ein Berufsverbot hinaus. In diesem Frühjahr wurde mir von der Berliner Filmproduktion Syrreal Entertainment mitgeteilt, ein französischer Partner habe darauf bestanden, dass mein Name von meinem Drehbuch entfernt werden müsse, ich könne ja unter Pseudonym schreiben. Selbstverständlich zog ich mich daraufhin von dem Projekt zurück. Verlust: 22 000 Euro. Nur, wen könnte ich hier zum Regress heranziehen? Es ist ja meine Schuld. Ich hätte ja meiner Entwürdigung zustimmen können.

Sicher, es hat schlimmere Fälle als meinen gegeben: Eva Herman wurde 2007 vom Antifa-Sender NDR wegen einer unglücklichen Formulierung geschasst, Akif Pirinçcis Bücher verschwanden 2015 infolge eines von Random House verhängten Boykotts aus dem Handel. Zwei Medienprofis hatten sich offensichtlich verspekuliert, was man in meinem Fall nicht sagen kann.

Vielleicht hatte ich einfach nur Pech: Als Schriftsteller aus der Hochliteratur war ich bei der Recherche im historischen Umfeld eines Romans auf Ungereimtheiten gestoßen; darüber machte ich mir Gedanken, die ich in einem »Werkstattbericht« notierte. Da ich bei Rowohlt unter Vertrag war, hatte auch der Verlag Einblick in diese Notizen, schließlich wurde so der Stand der Arbeit am Manuskript protokolliert.

Dieser Werkstattbericht – im Grunde ein Haufen fliegender Blätter – war dem Spiegel zugespielt worden. Ein LitLeak1, das war’s. Der Reporter-Populist Henryk M. Broder, der damals als schärfster Hetzhund der Linkspresse seine Brötchen verdiente, destillierte aus diesen Spänen einer Literaturwerkstatt eine skandalträchtige »Tatsachenphantasie«. Die Folge war ein Mobbing durch die antifaschistische Presse, das ein halbes Jahr in den Feuilletons tobte. Und nochmals: Es ging nicht um meinen Roman Endstufe, sondern um einen Subtext, den der Schmargendorfer Sozialpornograf aus vier, fünf ins Unreine notierten Sätzen konstruierte. Selbst Monate nach der Veröffentlichung des dann noch zusätzlich verrissenen Romans erfuhr ich über Monate hinweg eine feuilletonistisch verbrämte Form von Gewalt, die ich in Deutschland nicht für möglich gehalten hatte. Mein Platzverweis aus dem Klubsessel des literarischen Hochplateaus wurde zudem vom pseudointellektuellen Amüsierpöbel des Hauptslums Berlin noch höhnisch beklatscht. Viele Betreiber von Internetprangern prügelten wie gestört auf mich ein. Der Linke ist eben niemals dein Freund, sondern wartet nur auf seine Chance, den Richter zu spielen.

Obwohl die mir zugedachte existentielle Vernichtung misslang, hat sich am Hass der linken deep culture gegen meine Person nichts geändert. Daran konnten auch weitere erfolgreiche, sogar verfilmte Romane nichts ändern. Von den Leitmedien wurden und werden sie (wenn überhaupt) nur unter »Einbeziehung IhresRomansEndstuferezensiert«2, ein in der Literaturgeschichte wohl einmaliger Vorgang.

II.

Ich war nie ein politischer Schriftsteller. Fast alle meine Romane spielen in der Subkultur einer bestimmten Zeit – mal in den 1970er-Jahren, mal im Dritten Reich, mal im Hauptslum Berlin. Ich wüsste nicht, warum das eine verwerflicher sein soll als das andere.

Als ich anfing zu schreiben, faszinierte mich die Idee, ein literarisches Universum zu erschaffen, das vielleicht – im übertragenen Sinn – den ineinanderfließenden Bildzyklen von M. C. Escher entsprach: Alles hängt mit allem zusammen. Meine Absicht war es, meine innere Welt mit naturalistischen Mitteln zu beschreiben und dabei die denotative Achse der deutschen Schulbuchgeschichte als »Bedeutungsherstellung« und Elaborat der Postmoderne ad absurdum zu führen. Mein Eindruck, in einer US-amerikanischen Kolonie aufgewachsen zu sein, spiegelte sich schon in der ersten Werkskizze einer Trilogie namens »Restwelt« wider, die den Untergang der Frankfurter Familie Fußmann im Laufe von drei Generationen abbilden sollte. Das Ganze war für einen Anfänger ein dickes Brett, und würde ich dem jungen Schriftsteller, der ich damals war, heute begegnen, ich gäbe ihm wohl den Rat, nicht alle handwerklichen Tricks von vornherein zu verschmähen.

Der erste fertiggestellte Roman der Trilogie wurde von Rowohlt dann als »Frankfurt-Roman aus den Siebziger Jahren«3 beworben und von Journalisten als »deutsche Antwort auf Pulp Fiction« gehypt, indes die historische Dimension der Arbeit mit keiner Silbe erwähnt. Vielleicht wollte man die Leser nicht überfordern. Im Übrigen gibt es im Roman mehrere Protagonisten, und Anton Kuhlmann, der Anti-Held, hatte die Handlung nach fast tausend Seiten »an sich gerissen«. Der eigentliche Held (Karl Fußmann II.), der 1979 in den Ruinen der bürgerlichen Existenz seiner Großmutter vor sich hin vegetiert, bleibt zwar omnipräsent, doch seine innere Resignation und Antriebsschwäche lassen ihn eher wie eine graue Eminenz erscheinen. Nichtdestotrotz machte ich Journalisten, die nach Klagenfurt das Gespräch mit mir suchten, mit der ursprünglichen Werkskizze vertraut. Ohne Erfolg.

Das Missverständnis endete bekanntlich vier Jahre später mit dem Skandal um Endstufe, eine tragikomische »Schwejkiade«4 um den Großvater des Fußmanns aus dem ersten Roman. In Endstufe begegnen wir ihm in der Gestalt eines jungen SS-Hygiene-Offiziers, dessen primäre Interessen – chromgegerbte Reitstiefel, Opiumpastillen und Pornofilme – an die »Sex-Front« in Nordafrika führen, was (laut der FAZ vom 3.4.2004) »das Weltbild der Nazis salonfähig« gemacht habe, eine Einschätzung, die echte Nazis wohl kaum teilen würden.

Mit Subs (2011) kam die Trilogie dann endlich in der Gegenwart an. Claus Müller-Dodt, der sklavenhaltende Berliner Schönheitschirurg, ist kein anderer als der uneheliche Sohn des Fußmanns aus dem ersten Roman:

So wie sein unehelicher Vater, dieser belämmerte Chemielaborant namens Karl Fußmann, der 1979 auf einer winterlichen Autobahn in der Nähe von Frankfurt am Main verstarb, ohne je von der Existenz seines Sohnes zu erfahren.5

Der Kreis hatte sich geschlossen. Indessen nahm kein einziger Rezensent den Abschluss der Trilogie nach insgesamt 2000 Seiten auch nur zur Kenntnis.

Nun will ich mich nicht beschweren, aber die Feststellung, dass meine Romane noch nie professionell rezensiert wurden, dürfte zutreffend sein. Nichtsdestotrotz wurden sie oft auf brutalste Weise verrissen; dazu hat es dann immer gereicht. Man kann hier – nach mehr als 20 Jahren der kontinuierlichen Publikation – nicht von einem »epidemischen Versagen der Kritiker« sprechen, wenn sie offensichtliche Beziehungsgeflechte und Seelenverwandtschaften des Personals komplett ignorieren. Wenn psychologische Kohärenz, Konstanz und Kontinuität bislang als die wesentlichen Merkmale eines literarischen Werks galten, was geht dann nur in den neuen deutschen Feuilletons vor? Und wieso stürzten sie sich ausgerechnet auf den Teil der »Restwelt«-Trilogie, der vor dem Hintergrund des Dritten Reichs spielt?

III.

Sie wollen dafür eine Erklärung? Ich habe lange gebraucht, um mir den Wahnsinn, der sich an mir entlud, zu erklären. Die Furcht vor der Rückkehr des Faschismus gehört heute zu den Urängsten – ja, dem phylogenetisch übermittelten Erbteil – der deutschen Kulturschaffenden. Sie ist die Eintrittskarte ins lukrative Mediengeschäft und wird zum Stallgeruch derjenigen, die in medienpolitische Machtpositionen aufsteigen. Dort angekommen, leben sie ihre »hystorisch« geerdete Paranoia dann ungeniert an ihren Mitmenschen aus.

Man könnte über diese »German Angst« vielleicht lachen, entspräche sie nicht auch jener paranoid-infantilen Phase, die die ersten Lebensmonate des Säuglings bestimmt und die sich bekanntlich durch »sirenenhaft anschwellendes Geheul« äußert, sobald das infantile Ich introjizierte Objekte als »Verfolger« identifiziert und sie mittels seiner Phantasie zu zerstören versucht. Die drastische Fehllesung meines Romans Endstufe, der mit den popikonografischen Seiten des Dritten Reichs spielt, ähnelte jedenfalls der Teufelsaustreibung eines »Phantasmas des Infantilen«6. Während die meisten Skandale eher kurzlebig sind, musste ich fast ein Jahr lang als Reflektorfigur eines antifaschistischen Hetzmobs herhalten, der seine ideologischen Wahnvorstellungen auf mich projizierte.

Die meisten Schriftsteller, die ich kenne, sind keine Krawallschachteln, sondern nachdenkliche, vielleicht auch überkritische Menschen. Sie tun ihre nicht immer gut bezahlte, doch erfüllende Arbeit und werden in Ländern mit einer ausgeprägten Kulturtechnik (wie etwa Frankreich) als Bereicherung der Debatte verstanden. Nicht so im Land der ewigen Nützlichkeitsdenker, wo kritische Schriftsteller mundtot gemacht und gesellschaftlich ausgegrenzt werden. In meinem Fall fehlt eigentlich nur noch die offen verhängte damnatio memoriae – die Tilgung meines Namens aus allen literaturwissenschaftlichen Publikationen und der Deutschen Nationalbibliothek.

Schlimmer als das Wissen darum, dass mir die Medien meine beruflichen Chancen zerstörten, habe ich die Verluste von Freunden, Kollegen und Familie empfunden. Ich stamme aus einer SPD-geprägten Arbeitersiedlung im Westen von Frankfurt am Main, mein »kleiner Sieg« beim Klagenfurter Wettlesen 1999 ging damals wie ein Lauffeuer durch unser Viertel. »Einer von uns hat es geschafft«, pflegte mein alter Friseur, Herr Hüttl, zu sagen. Meine Schwester verschenkte jahrelang meine Romane, meine Mutter sammelte und verschickte Zeitungsberichte über meine »tolle Karriere«. Sie war stolz auf mich. Nach mehreren Monaten der fortlaufenden Skandalisierung durch die Presse erlitt sie im Herbst 2004 einen Nervenzusammenbruch. Sie fragte mich damals am Telefon, was ich denn bloß getan habe, dass sie plötzlich »nur noch Schlechtes« über mich liest. Seitdem hat sie mit mir nie wieder über meine Arbeit gesprochen. Dieselbe Zäsur erlebte ich auch seitens meiner Geschwister. Bei meiner Schwester, die zeitweise einen engen Kontakt mit der hessischen SPD-Chefin Andrea Ypsilanti unterhielt, kann ich das noch verstehen, doch die Distanzierung meines Bruders bleibt mir bis heute ein Rätsel. Offenbar will man sich nicht mit einem dermaßen schlecht beleumundeten Menschen wie mir assoziieren. Paul Klee, der als einer der ersten deutschen Kulturschaffenden 1934 als »entarteter Künstler«7 seinen Lehrstuhl verlor, machte in seinem Selbstporträt Von der Liste gestrichen keinen Hehl aus dem Schmerz, den der Verlust menschlicher Kontakte bedeutet. Beleidigungen und Anfeindungen von Fremden sind zu verschmerzen, aber wenn einen die eigene Familie schneidet, dann tut das weh.

»Selbst schuld«, sagte mir voriges Jahr auf der Buchmesse ein Literaturagent, denn wer als Kulturschaffender in der »Besserungsanstalt Deutschland« die schreckliche Wahrheit verkündet, es sei auf dieser schönen Welt besser, Täter als Opfer zu sein, oder wer die deutsche Erinnerungsarbeit als »historische Bewusstseinsfehlbildung« bezeichnet, der konterkariert den Schuldkult der Deutschen und stellt »die Rolle des Verlierervolkes als Dünger für ein multi-ethnischen Europa« infrage. Mein Roman sei von der »Schamanenkaste aus Kulturpharisäern und philanthropischen Musterknaben« durchaus als »Erlösungsversuch von der ewigen Schuld« verstanden worden. Man hätte mein Stück maskierter Literatur also sehr wohl begriffen, so auch Sätze wie:

»Der Traum der Synkretisten kann nur der genetische Schmelztiegel sein. Alles muß sich mischen, vermengen, verquicken, einmal abgesehen von denen, die das Feuer der Schmelze betreiben. Am Ende der genetischen Gleichschaltung steht ein milchkaffeebrauner Plebejer mit platter Nase und bleichem Krusselhaar, das Produkt eines anderen politischen Willens: weiße Kohle eben. Genau richtig zum Verheizen, denn die Amerikanisierung des ganzen Planeten wird noch blutiger verlaufen als dieser letzte Krieg.«

Heute bin ich froh, diese Sätze geschrieben zu haben. Angesichts des gegenwärtigen Umbaus von Deutschland und der erzwungenen Kreolisierung wird man meinem zum »Schandwerk« erklärten Roman zumindest seine visionäre Qualität nicht absprechen können. Kein Mensch hatte damals eine Vorstellung davon, was 2015 auf Deutschland zukommen würde. Ich persönlich bin nicht der Meinung, dass es hilft, der neu-sozialistischen Missgeburt, die entstanden ist, einen schönen Namen wie Buntland zu geben. Die allgegenwärtige Degeneration, die wir wahrnehmen, entspricht der Selbstentwertung deutscher Geschichte, Kultur und Sprache.

Hätten die Gesinnungswächter mir Endstufe damals durchgehen lassen, eine Rückkehr zur geistigen Normalität und ein Ende des Schwindels wären wohl schon in den Nullerjahren denkbar gewesen: Denn Selbstbehauptung ist kein Faschismus, die Aufkündigung eines Knechtschaftvertrags kein Antisemitismus. Wer das Gegenteil behauptet, dürfte das nur tun, weil er von den gegenwärtigen Zuständen profitiert.

Im Rückblick betrachtet unterschied sich die Vorgehensweise des deutschen Kulturbetriebs gegen meine Person tatsächlich nicht sonderlich von der Art und Weise, wie unliebsame Schriftsteller von den Nationalsozialisten schikaniert wurden. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass ich nicht nachts abgeholt wurde. Vielmehr präferierte die Medienmischpoke die stalinistische Methode: Man verhindert die Teilnahme eines Menschen am Wirtschaftskreislauf und sieht scheinheilig dabei zu, wie derjenige in der Gosse verschwindet.

Meine von den Medien verhängte »Abwertung« ließ sich jahrelang an der Auslistung meiner Romane erkennen; das Label »Trash«, das mir die Linken verpasst hatten, und »Nazi-Porno-Autor« (eine Erfindung des BILD-Spezialisten für Diffamierung Dr. Florian Kain) hielt leider auch die meisten Konservativen auf Abstand. 2011 hatte mein Abstieg mit der Veröffentlichung bei Heyne seinen vorläufigen Tiefpunkt erreicht. Dessen durchlauchtes Publikum war von Subs, meiner 2018 von Oskar Roehler verfilmten Gesellschaftssatire, natürlich mehrheitlich überfordert. Dass Peter Sloterdijk, einer der renommiertesten Philosophen, eine Empfehlung beisteuerte, hatten sie wohl nicht als Warnung verstanden.

IV.

Wie kommt man nun dermaßen unter die Räder? Wie kam es zu diesem »Kultur-Debakel«, das 2004 von New York bis nach Adelaide in Australien für Schlagzeilen sorgte? Worin bestanden das eigentliche Konfliktpotenzial und das Anstößige an meinem Werkstattbericht?

Ohne dem Medientagebuch vorgreifen zu wollen: Es begann alles mit einer Hinterzimmerintrige im noblen Rowohlt Verlag, wie sie jährlich wahrscheinlich dutzendfach aus der Zusammenarbeit zwischen Lektor und Autor erwächst. In meinem Fall wurde ich von einer linksextremen Lektorin bei der Verlagsleitung denunziert. Ein neuer, überambitionierter Verleger (es handelte sich um den Sohn des Hitler-Biografen Joachim Fest), der meinen Roman gar nicht kannte, nahm die Sache allerdings ernst. Er suchte fortan nach einem Grund, mich zu feuern, und denunzierte mich seinerseits bei dem bereits erwähnten Berufsempörten vom Spiegel. Der Vorgang widersprach sämtlichen Usancen in der Branche, die auf einem engen Vertrauensverhältnis zwischen Verleger und Autor basieren.

Im Nachhinein hieß es, der neue Verleger habe sich mit einer »publizistischen Altlast« überfordert gefühlt, sodass ihm die Meldung seiner Lektoratsgouvernante, sie habe einen verkappten Rechten unter den Autoren entdeckt, ganz gelegen kam. Die taz-beseelte Lektorin schraubte dem Anschein nach über Monate still und heimlich unzählige Verdachtsmomente zu einer Strafanzeige zusammen. Womit ihr Verhalten wohl jener »bösen historischen Kontinuität der Vergewaltigung des Mitmenschen aus Gesinnung«8 entsprach, die zumindest in der alten Honecker-DDR salonfähig war. Introversion und Misstrauen in die fiktionalen Möglichkeiten von Literatur prägen zudem jene kulturelle Wüste, die vornehmlich die einst progressiven Alt-68er zu verantworten haben. Für diese neobolschewistischen Kulturlizenzträger war Lagerzugehörigkeit eben immer schon wichtiger als Sinn und Seele von Literatur.

Es ist auffällig und bezeichnend, dass weder Endstufe noch der vom Spiegel enthüllte Subtext im Zusammenhang mit Die Wohlgesinnten, einem Roman, der vier Jahre später erschien und ebenfalls aus der Perspektive eines Täters erzählt, mit keiner Silbe erwähnt wurden. Und zwar in keiner Tageszeitung. Dieses auffällige, erneut wie verabredet wirkende Beschweigen stieß allein Dr. Gunther Nickel, Lektor des Deutschen Literaturfonds, unangenehm auf. Seine Kritik konnte allerdings nur im deutschsprachigen Ausland publiziert werden:

»Nur vier Jahre haben genügt, damit sich im deutschen Feuilleton niemand mehr daran erinnern kann, dass eine Auseinandersetzung mit polit-pornografischer Rollenprosa schon einmal geführt wurde, nur ungleich härter,geradezu unerbittlich, um nicht zu sagen gnadenlos. Bleibt die Frage, wie es zu solcher Vergesslichkeit kommt? […] Noch erstaunlicher ist indes, dass nicht ein e i n z i g e r Rezensent an die vor vier Jahren emsig und heftig geführte Auseinandersetzung mit Kunkels Roman wenigstens am Rande erinnert hat oder sich zu erklären anschickte, warum es richtig war, Kunkel derart abzustrafen, Littell nun aber in einem Maße zu würdigen, das das Übliche weit übersteigt.«9

Abb.: Endstufe – Im Ausland gefeiert: Die ungarische Erstausgabe, die italienische Paperback-Ausgabe (2006) und die erste umfassende Exegese des Romans in Plots of War von Prof. Júlia Garraio (De Gruyter Berlin/Boston 2012)

Die Antwort auf diese Frage mag Sie als Leser vielleicht überraschen, aber es ist Deutschen – und nur Deutschen – untersagt, auch nur entfernt an dem fremdbestimmten deutschen Geschichtsbild zu rühren, ganz zu schweigen davon, eine affirmative Sichtweise auf das Dritte Reich zu vermitteln. Doch um das Weltgefühl der Deutschen in den 1940er-Jahren nachfühlbar zu machen, war es schlichtweg notwendig, aus Sicht der Täter zu schreiben. Und genau das habe ich – lange vor dem französischen Autor jüdischer Herkunft Littell – getan.

In seiner Quintessenz porträtiert Endstufe die Nazis als Paten des heutigen US-amerikanischen Geofaschismus. Im Roman begegnen wir technisch überlegenen, sittlich gebrochenen »Römern« – Furien einer missglückten Aufklärung und simplen Glücksrittern in SS-Uniform –, die sich an den Beutezügen des Reichs quer durch Europa gesundstoßen wollen. In diesem Beziehungsgeflecht einer korrumpierten Elite – Eugène Sues hätte wohl von »schrecklicher Verderbnis der im Überfluss Lebenden« gesprochen – galt die NS-Ideologie, an die sich das Volk halten musste, nur als sentimentale Sauce; ein realistisches Streben bestimmte den Kurs. Das Regime wurde daher von der breiten Masse nicht als Zivilisationsbruch erlebt, sondern als fortschrittliche völkische Spaßgesellschaft. Die Deutschen der 1940er-Jahre fühlten sich als die modernsten Menschen der Welt. Der wahre Zivilisationsbruch fand erst 1945 statt, mit der sogenannten Befreiung, die auf millionenfachen Massenmord an deutschen Kriegsgefangenen und Massenvergewaltigungen hinauslaufen sollte.

Letzteres bringt Endstufe wie kein anderer deutscher Roman zur Sprache:

Am 16. April 1945 erreichen die Spitzen der Roten Armee die östlichen Randgebiete der Reichshauptstadt, und was danach abläuft, lässt sich nur als gnadenlose Fließbandarbeit von samenden Automaten bezeichnen. […]

Es ist vielleicht hart, unsere »Befreier vom Nationalsozialismus« so zu bezeichnen, doch sie verkörperten nun einmal eine fürchterliche Wahrheit, die sich hinter dieser Metapher verbirgt und die dem Wirklichkeitssinn eines echten Kulturvolks und eben keinem Verhaltenskodex für Schrumpfgermanen entspricht.

Das steht aber auf einem anderen Blatt und soll den Leser hier nicht vom Thema ablenken – die Unterbreitung einer als Literaturkritik getarnten Hexenjagd durch die antifaschistische Presse, die ich als »Zielperson« nur knapp überlebte. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass jetzt endlich auch andere Schriftsteller den Mut aufbringen, sich öffentlich gegen das allgegenwärtige Klima der Intoleranz auszusprechen. Auch die Renommierten scheinen inzwischen den Druck der Denk- und Sprechverbote zu spüren. In einem kürzlich von 150 vorwiegend angloamerikanischen Autoren unterzeichneten Brief10 heißt es, man müsse sich »die Möglichkeit einer Meinungsverschiedenheit ohne schlimme, berufliche Konsequenzen erhalten«. In meinem Fall kommt dieser fromme Wunsch um mehr als 16 Jahre zu spät.

Um die Authentizität meiner Notizen von 2004 nicht zu gefährden – oder meine eigenen Fehler zu beschönigen –, wurde beim Abtippen der handschriftlichen Notizen auf Klitterung des Ausdrucks verzichtet. Leser, die meinen heutigen Schreibstil mögen, bitte ich im Voraus um Nachsicht für so manch grelles Wort. Mit einer Disney-Version des Skandals und einer anschließenden Haupt-Salbung von Mutter Teresa für meine Verfolger wäre aber niemandem gedient. Nur die Unterteilung in Kapitel oder erklärende Fußnoten wurden nachträglich eingefügt.

Aus meiner Sicht liest sich dieses Tagebuch wie die Chronik eines Verrats, ich möchte Sie daher warnen: Einiges, was Sie lesen werden, ist außerordentlich verstörend. Welche Lehre Sie letztendlich daraus ziehen, bleibt Ihnen überlassen.

Ich wünsche Ihnen allerdings von Herzen, dass Ihnen oder Ihrer Familie dergleichen niemals passiert.

Thor Kunkel, 9.7.2020

Abb.: Es begann mit einer Recherche: Thor Kunkel, 2003, mit den »Sachsenwand-Filmen«, im Filmarchiv Werner Nekes, Mülheim a. d. Ruhr.Die Faktizität einer nationalsozialistischen Pornofilmproduktion empfandendie altlinken Medienfürsten wohl als Kontradiktion zum offiziellenNarrativ von der »sexuellen Befreiung« Deutschlands durch die 68er-Revolution. Für dieses Sakrileg sollte ich büßen.Foto: Norbert Guthier

Medientagebuch

2.2.2002– 31.12.2004

Dokument einer politischen Verfolgung in Deutschland

I.

Zeitgeschichtliche Spurensuche – für Deutsche verboten?

2. Februar 2002. Vielleicht ist heute, an meinem ersten Tag in Berlin, der ideale Zeitpunkt, einen Schlussstrich zu ziehen. Ein Umzug ist immer eine Zäsur. Man hat die Möglichkeit, mit schlechten Gewohnheiten zu brechen, Überflüssiges abzuschütteln und neue Wege zu gehen. Die sechshundertseitige Rohschrift von Endstufe steht – der Roman ist im Grunde fertig, alles, was ich weiß, beginnt sich jetzt als Schreibbremse auszuwirken. Wem nützt es eigentlich, dass ich über anrüchige Umwege die Adresse des SS-Hygiene-Instituts (Spanische Allee 10, Berlin-Zehlendorf) in Erfahrung gebracht habe und dass ich weiß, dass dort am Eingang, schräg gegenüber der Pförtnerloge, ein Cola-Automat stand? Oder dass ich die Fahrpläne des Nachtzugs Berlin – München kenne, wohlgemerkt die von 1941?

Allein über den Afrika-Krieg habe ich im vergangenen Jahr nebenbei 42 Sachbücher gelesen, um ein Gefühl für die außergewöhnlichen Umstände zu entwickeln. Details habe ich mit Angehörigen der Afrika-Korps Bruderschaft Paderborn abgeklärt.

Ich habe Listen mit » Nazi-Wörtern« angelegt, um authentisch klingende Rollenprosa schreiben zu können – Frontstadt Frankfurt, Blitzmädel, V-Waffen, Kulturplasma, Minus-Krieger, Almabtriebsfarbe Gold, aufgenordete Haare, Keimplasmazersetzung, Volksschädlinge etc. Aus heutiger Sicht waren die Nazi-Texter einsame Spitze.

Frage: Ist der Roman durch meine Recherchen wirklich besser geworden? – Schwer zu sagen. Das Fiktionalisieren von Fakten gehörte aber immer schon zur Form meiner Literatur.

Von meinem Ziel, die Hintergründe eines geheimnisumwitterten Tauschgeschäfts zu ermitteln, bin ich allerdings auch nach drei Jahren weit entfernt. Das Puzzle bleibt, selbst wenn die fiktive Summe dessen, was ich in den zurückliegenden Jahren gedacht habe, stimmt.

Ich spiele daher mit dem Gedanken, mein Tagebuch der Recherche nach den Produzenten der sogenannten Sachsenwald-Filme zur Rahmenhandlung des Romans umzuschreiben, denn das Material scheint als Erzählung einer Gewissenskrise besser zu funktionieren. Viel ändern muss ich eigentlich nicht. Es wäre ein Spiel mit zwei Fiktionen auf zwei Zeitebenen – eine Art epischer Roman (Vergangenheit) im Nukleus einer Kurzgeschichte (Gegenwart).

In einem Punkt bin ich mir sicher: Die Mehrzahl der »Nazis« genannten Deutschen, diese uns heute wie Aliens erscheinenden Bewohner des ausgebombten Hitler-Planeten, verhielten sich einfach konform der Vorgaben des Systems. Was für jeden Psychologen ein Riesenunterschied ist. So wie heute werden » Regieanweisungen« von oben, ohne Wenn und Aber befolgt. Die lohnabhängigen Menschen (die Mehrheit von uns) passen sich den gesellschaftlichen Denkmustern und Spielregeln an. Was bleibt ihnen auch anderes übrig?

Die Verbrechen dieser kurzlebigen Diktatur mit dem Charakter der »Deutschen« gleichzusetzen dürfte eher das Ergebnis der Umerziehungsmaßnahmen der Alliierten sein. Es ist beschämend, dass die deutsche Presse Goldhagens Hasstiraden kritiklos belobhudelt hat, als handele es sich bei diesen Diffamierungen um »wissenschaftliche Erkenntnisse«. Wie differenziert dagegen die Beobachtung, die Edward Bernays, ein Neffe von Sigmund Freud und Begründer der modernen Public Relations, 1965 in einem Buch formulierte.

»Ich wusste, dass jede menschliche Aktivität zu sozialem Zwecke benutzt oder im umgekehrten Sinne missbraucht werden kann. Offenbar war die Attacke gegen die deutschen Juden kein emotionaler Ausbruch der Nazis, sondern eine gut durchdachte, geplante Kampagne.«11

Als jemand, der sein halbes Leben in internationalen Werbeagenturen zugebracht hat, weiß ich ziemlich genau, dass viele altgediente Kampagneros ihre Arbeit mit dem »Auffüllen von Behältern mit Inhalt« vergleichen. Behälter? Damit sind Köpfe gemeint. Das mag hart klingen, aber es stimmt.

Von den Kampagnen gegen das »Weltjudentum« (ein damals gebräuchlicher Begriff und ebenso unsinnig wie das heutige Wort »Alltagsrassismus«) versprachen sich die Verantwortlichen schätzungsweise eine Milliarde Reichsmark, was dem Bruttosozialprodukt der gesamten Volkswirtschaft Großdeutschlands entsprach.

Es soll auf Erden schon für weniger gemordet worden sein. Den meisten wird ihre Armut irgendwann zum Verhängnis, hier war es eben real existierender Reichtum. (Die Reichsten der Reichen hatten sich zu ihrem Glück aber bereits 1933 aus dem Staub gemacht.) Und dennoch war das System noch immer gezwungen, auch »Ausnahmen« zu machen. Ein jüdischer Buchdrucker wie der in Sachsenhausen internierte Anton Burger fälschte bis zuletzt britische Pfundnoten im Auftrag der SS.

Wer heute über den Antisemitismus der Nazis schwadroniert, vergisst auch, dass Bernays’ Buch Propaganda tatsächlich von Joseph Goebbels in die Praxis umgesetzt wurde. Mehr noch, dass es einen Briefwechsel zwischen Bernays, dem jüdisch-österreichischen Migranten, und Goebbels, dem Antisemiten, gibt, der noch immer – wahrscheinlich aufgrund seiner Brisanz – von der Library of Congress12 unter Verschluss gehalten wird. Es ist nicht das einzige Tabu, auf das ich in den vergangenen drei Jahren stieß. Beide Männer waren nüchterne Konsenstechniker, und das, was Stuart Even in seinem Buch PR!: A Social History of Spin über den alten »Eddie« schrieb, dürfte auch auf den jungen Reichspropagandaminister zugetroffen haben:

»Dieser Mann war der Maler der mentalen Szenerien, der Hersteller bezaubernder ›Pseudo-Umgebungen‹, die das öffentliche Bewusstsein schnell auf die Agenda der Freizügigkeit lenken sollten. Er war ein Meister der Bühnenkunst und formte ›Nachrichten‹ und ›Ereignisse‹ mit versteckter Hand […], ein Demagoge, ein flinker Meister der Illusionen, ein Mann, der daran dachte, die Öffentlichkeit zu kolonisieren, um das Interesse der Führungskräfte zu stärken.«13

Demnach würde man Goebbels heute wohl einen Spindoktor nennen, sein Fachgebiet: die »Täuschertechnik« (Stefan Zweig) und ihre Perfektionierung.

Und wenn der deutsche Faschismus in seiner Umsetzung nichts anderes war als ein von der rohstoffhungrigen Großindustrie vorangetriebener Korporatismus, dann war das Dritte Reich nichts weiter als eine erste Scheinwelt – und Archetyp der heutigen Medienrealität. Die Sprücheklopferei vom totalen Krieg war nur Hypertrophie und das Ende eines fünf Jahre anhaltenden globalen Werbefeldzugs, der in den Augen der beteiligten Konzerne seine Kosten längst nicht mehr deckte.

Bezeichnend ist hier die eidesstaatliche Aussage von Dr. Waldemar Hoven, dem Lagerarzt im KZ Buchenwald, am 3. Oktober 1947 vor dem Nürnberger Tribunal.

»Es dürfte allgemein in deutschen wissenschaftlichen Kreisen bekannt gewesen sein, dass die SS über nennenswerte Wissenschaftler nicht verfügte. Es ist offensichtlich, dass es sich bei den in den Konzentrationslagern mit I.G.-Präparaten durchgeführten Versuchen nur um das Interesse der I.G. (Farben) handelte, die mit allen Mitteln bestrebt war, die Wirksamkeit ihrer Präparate festzustellen beziehungsweise die – ich möchte sagen – Schmutzarbeit in Konzentrationslagern durch die SS machen zu lassen. Die I.G. (Farben) war darauf bedacht, diese Tatsache nach außen hin nicht in Erscheinung treten zu lassen, sondern die näheren Umstände ihrer Versuche zu verschleiern, um aber dann […] den Gewinn daraus für sich zu ziehen.«14

In Endstufe arbeitet der Protagonist für die I.G. Sein Abteilungsleiter Dr. Gernot Böhme wird schon auf Seite 34 als inoffizieller Mitarbeiter der I.G. vorgestellt:

Inzwischen war er auf koffeinhaltige Limonade umgestiegen und versorgte die I.G. und das Robert-Koch-Institut mit Expositions-Prophylaxen, die seit der Landung deutscher Truppen in Tripolis am 14. Februar 1941 im »Testfeld Libyen« ausprobiert wurden.

Und auch die Rolle des Protagonisten wird bereits zwei Seiten weiter definiert:

»Ach ja. Offiziell forschen Sie für die I.G. Farben, so wird das auch in Ihrem Arbeitsvertrag stehen. Wir vermieten sozusagen Ihre Birne, das bringt dem Institut gewisse Steuervorteile.«

Auf dem ausführlich dargestellten Sommerfest der Industrie- und Handelskammer (Seite 141) kommen die Hintergründe dann erstmals zur Sprache (Seite 194):

»Hören Sie mal, Karl. Warum gehen Sie nicht an meiner Stelle? Das Büfett wird von der I.G. Farben spendiert. […]

Er machte Fußmann mit einem Prokuristen der Behring Werke bekannt und verdrückte sich mit einer schnuckligen Mieze vom Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Institut.

»Ich hörte, Sie haben ein neues Therapeutikum entwickelt«, sagte Fußmanns Gesprächspartner. Er erinnerte an ein gemästetes Hausschwein und stopfte unablässig Fleischsalat- und Lachsbrötchen in sich hinein. Seine von einer rosa Bauchbinde gezierte Gravitas wiegte er im Rhythmus des Schlagers Schirokko, zu dem die Combo in der Lounge gerade aufspielte.

»Das Verfahren ist noch nicht ausgereift. Es fehlen einfach Probanden.«

»Na, das ist doch heute kein Problem mehr.« Der Dicke tupfte sich den Mund ab. »Wir leben in einer modernen Gesellschaft. Wussten Sie, wie man in Dachau Phlegmone zur Prüfung von allopathischen Heilmitteln züchtet?«

Fußmann schüttelte den Kopf. »Auf polnischen Geistlichen«, grunzte der Schweinskopf.

Der Dialog soll keine »Absicherung« für mich sein, er entwickelte sich sozusagen aus einer Szene, in der die »Wochenscheuen«, eine Clique von jungen Nazi-Bonzen vom Typ des Reichjugendführers Baldur von Schirach, völlig die Fassung verlieren.

Ich bin gespannt, ob der Verlag meine ikonografische Umformung des Dritten Reichs von einer kasernierten Gesellschaft zu einem turbo-kapitalistischen Erotik-Tempel versteht.

7. Februar. Jede Metamorphose ist ein schwindsüchtiger Zustand; ich fühle mich seit Tagen erschöpft. Aber Endstufe entwickelt sich in eine Richtung, die mir stets besser gefällt. Etwas Ähnliches wurde in Deutschland noch nie geschrieben. Der Verlag ist allerdings von ersten Manuskriptproben irritiert. Dass ich den Untergang des Reichs nicht als Befreiung, sondern als Raubüberfall und Notzuchtfinale darstelle, hat sich bereits herumgesprochen und stößt den linken Klemmschwestern auf. Meine Agentin rät mir, pro Kapitel eine »kurze Passage zur agitatorischen Absicherung« einzufügen. Als Fußnote. Meine Hauptfigur, »dieser sympathische Dussel in SS-Uniform, ich komm jetzt gerade nicht auf seinen Namen …«, dürfte viel Argwohn erwecken. »Antihelden, okay – aber in SS-Uniform? Und Lotte, seine Geliebte, ist zwar Hure – was gut ist –, aber sie ist auch überzeugte Nationalsozialistin. Könnte sein, dass du Mitleid für sie erweckst.«

Das verstehe ich noch weniger: Verdienen Menschen, die von einer falschen Ideologie fehlgeleitet waren, kein Mitleid? Es entbrennt eine kurze Diskussion, denn auch eine Mitarbeiterin der Agentin mischt mit.

Was hätte Jesus an meiner Stelle getan? Habe ich das gerade laut gedacht?

»Was Jesus getan hätte, ist jetzt nicht so wichtig. Wir müssen uns eher mit der Frage beschäftigen, was Jehova tun wird, wenn er das liest.«

Diesen Satz werde ich mein Leben lang nicht vergessen, denn eigentlich kann man ihn nur so verstehen: Mein Roman könnte beim Zentralrat – manche würden sagen, bei der deutschen Schattenregierung – Missfallen erregen. Doch so dumm ist nicht mal Friedman, um sich an einem Libertin in SS-Uniform abzuarbeiten.

Ein freier Lektor, dem ich eigentlich mehr Verstand zugetraut habe, spricht auch von »affirmativer Tonalität«. Er verspüre beim Lesen »ein wachsendes Unbehagen«.

II.

Die unsichtbare Klammer

12. Februar 2002. Habe ein neues Notizheft begonnen. Der erste Eintrag lautet:

»Berlin, Hochburg der Scheinmoralisten und Heuchler, Plattform des nackten Existierens, das sich weder zu Vergangenem noch Zukünftigem in Beziehung setzen will. Sie sind einfach nur da, und sie gehen mir auf den Geist.

PS: Schlimmer noch als die falschen Fressen sind die falschen Töne. Ich schwöre, ich betrete nie wieder das ›Literarische Colloquium‹. Diese Sich-gegenseitig-gut-Finder und Neiddackel öden mich an.«

Ich bin jetzt erst zwei Wochen in Berlin und spüre überall in den Medien die Klammern einer Gruppenzensur. Zehn Jahre Amsterdam haben mich gegen latente Bevormundung empfindlich gemacht. Es ist fast so, als hätte man hier sämtliche freien Geister »mit den spröden Binsen einer vom Wahnwitz versengten Gesinnung« gebunden … (Bin sprachlich offenbar noch immer im Endstufe-Modus …)

Noch wahnwitziger: die eklige Aufpasser-Mentalität all dieser schnüffelnden Pseudo-Schriftsteller, die immer und überall dem »Nazi« nachwittern. Ich warte geradezu auf einen Hetzartikel in der Süddeutschen, es sei aus historischen Gründen geboten, Autobahnen nicht mehr rechts zu befahren.

Wie dem auch sei, was man hier in den Zeitungen liest, ist grotesk. So wurde Anfang der Neunzigerjahre noch nicht in Deutschland geschrieben. Wieso passt hier neuerdings jeder auf jeden auf? Absurd. Selbst die einfältigsten Geister schreiben mit erhobenem Zeigefinger. Bei linken Reizthemen hagelt es Tüttelchen. Meine holländische Frau wiederum empfindet die drei bis vier wöchentlichen Holocaust-Selbstbeschmutzungssendungen im deutschen Fernsehen als bedrückend. Man nehme nur einmal eine normale TV-Zeitschrift und suche nach Sendungen, die entweder den sogenannten Vernichtungskrieg oder die Judenverfolgung thematisieren. Bei der Sendefrequenz würde jeder Media Buyer leuchtende Augen bekommen! Was ist das nur für ein mutloses Land … Über allem das blinde Auge eines geist- und herzlosen Wirtskörpers, Profite ausschwitzend, aber künstlich beatmet. Alle wollen nur in Ruhe so weitermachen, einkaufen, Spaß haben, feiern … Und ich habe Berlin ein Pfund Dynamit mitgebracht! Historischen Sprengstoff in Form eines 600-Seiten-Romans!

15. Februar. Bedingt durch meinen Umzug von Amsterdam nach Berlin und der stets intensiveren Arbeit am Feinschliff von Endstufe habe ich die zurückliegenden Monate meine Werkstattberichte vernachlässigt. Es gab auch nichts mehr zu schreiben – die Recherche ist abgeschlossen. Oder? Der Vollständigkeit halber muss ich erwähnen, dass es hier in Berlin ein paar merkwürdige Vorkommnisse gab.

Zuerst wurde mein Computer gehackt. Da ich kein vollständiges Backup des Romans hatte, musste der Inhalt meiner Festplatte von der Münchner Firma VOGON in einem Reinraum Bit für Bit wiederhergestellt werden. Kostenpunkt: 4000 Euro.

Der wohl seltsamste Zufall: Nach unserem Umzug landeten wir für einige Wochen in einer Privatwohnung in der Giesebrechtstraße 8, quasi schräg gegenüber des berühmt-berüchtigten »Salon Kitty«, des wohl bekanntesten Bordells des Regimes. Manche Nacht stand ich am Fenster und sah hinüber zu dem grau angestrichenen Altbau mit dem ratzekahlen Balkon. Es war ein merkwürdiges Gefühl, denn in Gedanken hatte ich die vergangenen Jahre hier mit Karl und Lotte, meinen Protagonisten, verbracht.

18. Februar. Ich muss nicht aufhören, sondern konzentrierter an Endstufe schreiben. Vor allem sollte ich weniger grübeln. Was sich natürlich nicht vermeiden lässt, denn hier liegen die Erkenntnisse, um die es geht. Vor dem Hintergrund einer verfälschten Erinnerungskultur an die Zeit zwischen 1933 und 1945 wirken die Deutschen der Berliner Bananenrepublik wie Blinde. Ihr drittes Auge (die innere Vision des Kulturvolks) wurde geblendet, damit sie nie verstehen mögen, dass man ihr Land zur besetzten Kolonie degradierte. Es ist der Grund, warum ein Spaßmacher wie der David-Letterman-Epigone Harald Schmidt über alles und jeden in Deutschland seinen Spott ausschütten darf: Es ist ja alles nichts wert, weil das Deutsche nichts wert ist. Es ist ja alles Scheiße, weil Deutschland Scheiße ist. Deswegen zahlen die Amis und Briten auch so wenig für deutsche Bestseller.

20. Februar. Am Nachmittag zum Tee in Reinbek, mit Thomas Überhoff, dem Rowohlt-Fiction-Chef, den ich schriftlich gebeten hatte, eine englische Synopsis von Endstufe an Thomas Pynchon weiterzuleiten. Ich fand, ein paar salbungsvolle Worte von Pynchon, der bisher den ungewöhnlichsten Roman über das Dritte Reich geschrieben hat, könnten nicht schaden. Mir fällt kein deutscher Kritiker ein, dem ich Verständnis für meine »Science-Fiction-Behandlung des Dritten Reichs« ohne Entree durch einen renommierten Wächter der Alt-68er zutrauen würde. Im Cliquen-Betrieb des deutschen Literaturunwesens bin ich bestenfalls eine Kuriosität, ein »Hüter des Unschicklichen«, der durch Zufall und nicht durch die üblichen Karriereförderungsmaßnahmen beim Bachmann-Wettlesen den 2. Platz gemacht hatte. Thomas Hettche, Schreiber unverkäuflicher Romane, der seit Ewigkeiten von Fördermitteln lebt, hat mir das vor drei Jahren deutlich zu verstehen gegeben. Im Grunde ist hier alles Gemauschel, und letztendlich geht es nur darum, wer wem eine Auszeichnung gönnt. Hätte ich in meinem Leben auch nur einen einzigen Fürsprecher gehabt, es stünde heute anders um mich. Umgekehrt würde ich zugeben: Die meisten etablierten deutschen Schriftsteller langweilen mich. Ihr wahres Metier scheint mir das Austherapieren von narzisstischen Depressionen zu sein.

Auf meine Bitte geht Überhoff mit keinem Wort ein, wohl aber noch einmal auf meinen ursprünglichen Arbeitstitel American Nazi und darauf, dass Diskurse über die USA – als die neue gestaltende Weltmacht der Erde –»auf polemisch gewürzte Analogien« hinauslaufen. So neu sei das alles nicht.

Stimmt. Nur verdankt Deutschland seinen pathologischen Zustand ganz klar der nach Kriegsende einsetzenden chauvinistischen Glorifizierung des American Way of Life.

Oder wie David Pichaske einst schrieb:

»Was die goldenen Fünfziger [in den Staaten] wirklich gewesen sind, war eine unnatürliche Verlängerung des Heroismus und der Geisteshaltung des Zweiten Weltkrieges – beides engstirnig und rückschrittlich barbarisch während der Kriegsjahre, beides borniert und anachronistisch in den 50er-Jahren.«15

Konformismus wurde unter McCarthy zum Sozialverhalten und mithin auch von den geschlagenen Nazis, den »neuen Niggern Europas«, erwartet. Dafür wurden sie mit der Aussicht auf individuelle Freiheit und grenzenlosen Hedonismus beschenkt.

Das wesensmächtige Deutschland von einst, die führende Hightech-Nation der Vierzigerjahre, die schon 1942 von einer Mondlandung träumte, musste dagegen verschwinden. Warum eigentlich?

Neben der moralinsauren Vorstellung vom angeblichen Zivilisationsbruch fallen einem nur handfeste wirtschaftliche Gründe ein: Hitlers Deutschland war nicht nur die mitteleuropäische Zentralmacht, es war die erste Nation, die aus der Schlafwagengesellschaft des alten Europas ausscherte, um den aufstrebenden USA das 21. Jahrhundert streitig zu machen. Nazi-Deutschlands Wirtschaftskraft war enorm, die Stützpfeiler seiner Überseekolonien standen bereit für einen globalen Wirtschaftsverband unter deutscher Führung. Jenseits des populistischen Säbelrasselns ging es dem NS-Korporatismus um Handelsabkommen, Zollbestimmungen und die Harmonisierung von Märkten. Dummerweise stand der deutschen Elite eine von den Anglo-Amerikanern errichtete Front gegenüber. Zwischen Nazi-Deutschland und den USA – mit ihrem Freimaurer-Präsidenten Franklin D. Roosevelt16 – herrschte bald eine unüberbrückbare Grundrivalität. Nicht »Freiheit und Demokratie«, sondern der Plan, vom Zerfall des Alten Europas zu profitieren, hatten die USA auf die weltpolitische Bühne getrieben. Der Utilitarismus der NS-Gesellschaft begünstigte den enormen Fortschritt, von dem die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg erst recht profitierten.

Abb.: Der SS-Sturmbannführer Wernher von Braun gilt heute als »Vater der amerikanischen Raumfahrt«. Foto: NASA/MSFC, wikipedia.org

Nicht nur die Kriegstechnologie wurde gestohlen, sondern auch an die 400 000 Patente, darunter medizinische Patente der I.G. Farben17. Die Entschädigung der menschlichen Meerschweinchen überließen die USA selbstverständlich den geschlagenen Krauts. Bis heute bleibt der Zweite Weltkrieg der größte wirtschaftliche Fischzug der USA und das größte Fiasko der Deutschen, die so um die Früchte ihrer Arbeit gebracht wurden. Selbst der Northrop B-2 Tarnkappenbomber der USA Air Force geht auf das Patent eines aus Peenemünde gestohlenen Horten-Nurflüglers zurück.18

Meine »subversive Welterkundung des Dritten Reichs« bleibt dem Fiction-Chef nicht geheuer. »Pop-Ikonografie hin oder her«, im Fall eines deutschen Autors gebe es die Gefahr, dass der Schuss nach hinten losgehe. Außerdem sei Rowohlt nun mal der amerikanischste aller deutschen Verlage, die der alte Profi »Tendenzbetriebe« nennt. Ein »antiamerikanischer Roman« passe mithin weder zur Tendenz noch zum Profil. Ich frage ihn, ob er den alten Rowohlt-Roman Fuck Amerika von Eduard Limonow kennt, aber der wurde tatsächlich nicht bei Rowohlt, sondern bei Kiepenheuer & Witsch verlegt. Mein Fehler also. Trotzdem empfinde ich Rowohlt als »geistige Heimat«. Wenn jemand den Lebenslauf eines Auslanddeutschen vorweisen kann, dann ich. Mit einem Stipendium in San Francisco fing alles an. Dann London und Amsterdam. Mehr als 18 Jahre habe ich im Ausland gelebt. Ich bin sicher, Rowohlt ist mein Verlag.

Die Unterredung war kurz und im Grunde nur ein Austausch von unverrückbaren Positionen. Und da Fiktion keine Scheuklappen braucht, darf ich all diese Bedenken ignorieren. Ein Roman ist schließlich kein Sachbuch, sondern eines der letzten Gebiete künstlerischer Autonomie. Einmal gedruckt, bleibt er in diesem unveränderlichen und in sich abgeschlossenen Zustand. Es geht um Kunst und nicht um das katechetische Abschreiben von gesicherten Fakten, entlang derer sich der Autor zur einzigen erlaubten Erkenntnis durchhangelt: Gut, dass wir den Krieg verloren haben! Danke für die Lektion!

Andererseits – mir ist klar, dass man diesen Roman tatsächlich auch als Politikum auffassen kann. In einer Zeit, in der selbst der Kauf von Bio-Gurken politische Aussagekraft hat, dürfte das erst recht für Bücher gelten. Es ist einfach eine Frage, ob man will – oder nicht.

10. Mai. Meine Agentin bittet mich zum Kaffee. Es ist eine Art Vorladung. Man hat mitbekommen, dass es im Verlag jemanden gibt, der angesichts meiner Recherchen »Bauchschmerzen« bekommen hat. (Das kann eigentlich nur der Fiction-Chef sein.) Irgendeine Verlags-Gutmaus hat herausgefunden, dass Hippler nicht nur Reichsfilmintendant war, sondern auch den Film Der Ewige Jude inszenierte.

Wir sitzen im Hinterhof der Agentur, auf einem spärlich begrünten Patio, unter einem Sonnenschirm.

»Mit Nazis spricht man nicht. Vielleicht ist das in Holland anders, aber in Deutschland gibt man sich mit solchen Typen nicht ab.«

Auch wenn sie für eine Recherche notwendig sind?

»Welche Recherche? Sprechen wir jetzt von einem Enthüllungsroman?«

Keine Ahnung. Was hätte ich zu enthüllen? Ich lasse meinen Figuren nur freien Lauf: Wenn sie etwas finden, bin ich manchmal selbst überrascht. Was mich mehr beunruhigt, ist die lauernde Aufforderung zur Selbstzensur hinter all diesen Fragen: Geh nicht zu weit! Aber ist es dafür nicht schon zu spät?