: Frankreich Krimi
von Alfred Bekker
Die organisierte Müll-Mafia soll neu geordnet werden. So
jedenfalls sieht es aus, denn mehrere Tote und Explosionen sprechen
eine eindeutige Sprache. Doch was hat die Frau, deren DNA-Spuren
gefunden wurden, mit den Toten und den anschließenden Explosionen
zu tun? Die FoPoCri muss tief in die Hierarchie der Mafia
eintauchen.
Alfred Bekker ist ein bekannter Autor von Fantasy-Romanen,
Krimis und Jugendbüchern. Neben seinen großen Bucherfolgen schrieb
er zahlreiche Romane für Spannungsserien wie Ren Dhark, Jerry
Cotton, Cotton Reloaded, Kommissar X, John Sinclair und Jessica
Bannister. Er veröffentlichte auch unter den Namen Neal Chadwick,
Jack Raymond, Jonas Herlin, Dave Branford, Chris Heller, Henry
Rohmer, Conny Walden und Janet Farell.
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books,
Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress,
Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich
lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und
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Alles rund um Belletristik!
1
»Monsieur Marquanteur, ich würde Sie gerne unter vier Augen
sprechen«, sagte Kriminaldirektor Marteau, mein direkter
Vorgesetzter bei der Kripo Marseille.
»Ich geh dann schon mal«, meinte mein Kollege Commissaire
François Leroc.
»Okay«, meinte ich.
»Ich warte auf dem Flur.«
»Gut.«
»Bis gleich.«
»Bis gleich, Pierre.«
Monsieur Marteau wartete, bis François Leroc den Raum
verlassen hatte. Was die Geheimniskrämerei sollte, wusste ich
nicht. François und ich verbringen mehr Zeit miteinander als manche
Ehepaare. Und viele Geheimnisse voreinander haben wir auch nicht.
Monsieur Marteau weiß das eigentlich auch. Aber sei‘s drum. In
diesem Moment legte Monsieur Marteau nun mal Wert darauf, dass wir
unter vier Augen waren.
»Monsieur Marquanteur, es geht nochmals um diesen sogenannten
Albaner …«
»Ah ja …«
Der sogenannte Albaner war ein Profi-Killer, den irgendjemand
aus irgendeinem Grund auf mich angesetzt hatte und der seitdem
versuchte, mich zu töten. Bislang ohne Erfolg. Sonst könnte ich
darüber auch jetzt nichts berichten und sie könnten nun meinen
Nachruf lesen.
Die Frage war nicht nur, wer sich hinter diesem Decknamen
verbarg.
Die Frage war auch, wer den Albaner beauftragt hatte.
Bislang waren wir da einfach nicht weitergekommen.
Ich machte Dienst wie immer. Natürlich achtete ich darauf, ob
irgendetwas Eigenartiges in meiner Umgebung geschah. Ich war
ohnehin vorsichtig und hatte auch in letzter Zeit schon zweimal die
Wohnung gewechselt. Aber jede Vorsicht hat eben auch ihre Grenzen.
Man muss auch leben und kann sich nicht vor lauter Angst in
irgendeine Höhle am Ende der Welt zurückziehen. Die Frage wäre
ohnehin, ob ich da denn überhaupt sicherer wäre.
»Was die kalabrische ‘Ndrangheta ist, brauche ich Ihnen ja
nicht zu sagen, Monsieur Marquanteur.«
»Die mächtigste Mafia-Organisation Europas.«
»Richtig. Ein Haupterwerbszweig ist die illegale
Müllentsorgung.«
»Ja.«
»In letzter Zeit gibt es da allerdings Konkurrenz durch die
sogenannte Shanghai-Connection, die auf diesen Markt drängt.«
»Habe ich auch von gehört.«
»In Avignon wurde jetzt ein Mann gefunden, der für die
‘Ndrangheta gearbeitet hat. Erschossen. Wir nehmen an, dass es die
Chinesen waren. Der Spitzname dieses Mannes lautete der Albaner,
wie wir jetzt erfahren haben.«
»Oh …»
»Wussten Sie, dass es seit den Türkenkriegen ein paar uralte
albanische Sprachinseln in Kalabrien gibt?«
»Nein.«
»Das Albanisch, das die sprechen, ist natürlich noch auf einem
quasi spätmittelalterlichen Stand und unterscheidet sich stark von
dem Albanisch, das man in Albanien und dem Kosovo spricht.«
»Hm.«
»Aber dieser tote Killer stammt aus einem dieser albanischen
Dörfer. Daher seine Bezeichnung.«
»Denken Sie, dass das der Albaner sein könnte, der hinter mir
her ist?«
Monsieur Marteau hob die Schultern.
»Wäre möglich.«
»Das heißt, ich kann mich in Zukunft wieder beruhigt
zurücklehnen und brauche nicht jedes Mal nachzusehen, ob jemand
einen Sprengsatz unter meinem Wagen angebracht hat.«
»Nein, das würde ich nicht empfehlen, Monsieur Marquanteur.
Ich bleibe an der Sache dran. Aber wenn Sie Glück haben, dann hat
irgendein Handlanger der sogenannten China-Connection oder
Shanghai-Connection, ganz wie man will, Ihnen einen Gefallen
getan.«
*
Das Geräusch einer gewaltigen Detonation drang durch die
Nacht. Flammen schlugen aus dem Dach des großen Lagerhauses heraus.
Teile des Mauerwerks brachen heraus und wurden regelrecht
herausgeschleudert. Alarmsirenen schrillten, gingen aber im Lärm
weiterer Detonationen unter. Es dauerte nur Augenblicke, und die
Flammen griffen auf das nächste Lagerhaus über. Die Nacht wurde
beinahe taghell.
Ein beißender Geruch hing in der Luft.
Schreie gellten.
Ein Mann rannte als lebende Fackel durch die Nacht, brüllte
dabei vor Schmerz und wand sich verzweifelt.
Unweit der Einfahrt zum Firmengelände, in sicherem Abstand zu
der lodernden Flammenhölle stand eine junge Frau. Das blonde Haar
fiel ihr über die schmalen Schultern. Mitleidlos starrte sie auf
den brennenden Mann, der sich jetzt zu Boden warf. Er rollte sich
auf dem Asphalt herum, versuchte die brennende Kleidung zu löschen.
Ein weiteres Lagerhaus ging in diesem Augenblick mit einem
lauten Knall in Flammen auf. Verglasungen barsten, Trümmerteile
flogen durch die Luft. Ein Wellblechtor brach aus seinen
Halterungen heraus. Eine Flammenfontäne schoss heraus. Brennende
Flüssigkeit kroch wie ein heißer Lavastrom über den Asphalt bis zu
einem abgestellten Tankwagen hin.
Ein kaltes Lächeln erschien in dem fein geschnittenen Gesicht
der jungen Frau.
»Ja, brennen soll es«, flüsterte sie vor sich hin. »Es soll
brennen, brennen, brennen …«
Stakkatoartig wiederholte sie dieses eine Wort.
Sie atmete tief durch. Ihre Brüste drückten sich gegen den
dünnen weißen Stoff ihrer Bluse. Und ihre Lippen formten immer
wieder, wie in zwanghafter Wiederholung, dieses eine Wort.
»Brennen … brennen …«
Schon züngelten die Flammen an der Fahrerkabine des Tankwagens
empor. Der Kraftstofftank explodierte zuerst. Es wirkte wie eine
Initialzündung für die nächste Detonation, bei der die Ladung in
die Luft flog. Der Geruch war beinahe unerträglich.
Der Mann am Boden hatte es unterdessen geschafft, seine
brennende Kleidung zu löschen. Er kam auf die Füße, taumelte
vorwärts. Im Hintergrund waren die Sirenen der Einsatzwagen des
Feuerwehr zu hören. Bis sie hier draußen im Gewerbegebiet ankamen,
würden noch ein paar Minuten vergehen.
Nichts wird dann noch zu retten sein, ging es der jungen Frau
mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck durch den Kopf. Nichts!
Die werden noch Mühe haben, ein Übergreifen der Flammen auf andere
Grundstücke zu verhindern.
Die Augen tränten ihr durch die beißenden Gase, die bei der
Verbrennung der hier gelagerten Chemikalien entstanden waren. Als
schmutzig brauner Qualm zogen sie in den Nachthimmel.
Der Mann taumelte auf sie zu.
»Hey, Sie …« ächzte er, dann schüttelte ihn ein
Hustenkrampf.
Seine Worte rissen die junge Frau aus der Erstarrung. Ein Ruck
durchfuhr sie. Sie wich einen Schritt zurück.
»Bleiben Sie stehen!«, rief der Mann.
Er streckte die Hand in ihre Richtung aus, taumelte vorwärts.
Die Augen waren weit aufgerissen, das vom Schein der Flammen
beschienene Gesicht krebsrot. Die Flammen hatten ihn übel versengt.
Von seinen Haaren war nicht viel übrig geblieben, die Kleidung war
teilweise verkohlt.
»Bleiben Sie …«, krächzte er noch einmal.
Ein Schuss krachte. Er fuhr dem Mann genau zwischen die
Schulterblätter.
Ein zweiter folgte unmittelbar darauf. Sein Körper zuckte und
fiel dann reglos zu Boden.
Die junge Frau starrte mit weit aufgerissenen Augen erst auf
den Sterbenden, dann in die Flammenhölle. Jemand hatte den Mann von
hinten erschossen.
Ein zufriedenes Lächeln erschien auf dem Gesicht der jungen
Frau.
2
Als wir die Adresse Avenue Corot in Saint-Barthélemy an der
Grenze Marseilles erreichten, war es noch sehr früh. Ich hatte
meinen Kollegen François Leroc an der bekannten Ecke abgeholt, um
mit ihm zu unserem Dienstgebäude zu fahren. In den Radionachrichten
erfuhren wir von dem Brand im Industriepark Saint-Barthélemy, das
am Rande von Marseille lag.
Die Bewohner der Umgebung waren offenbar für einige Stunden
angewiesen worden, Fenster und Türen geschlossen zu halten.
Dann hatte uns der Anruf von Kriminaldirektor Marteau mit der
Order erreicht, unverzüglich zum Industriepark Saint-Barthélemy zu
fahren. Die örtliche Polizeidienststelle schloss einen Zusammenhang
mit dem organisierten Verbrechen nicht aus. Daher hatte man uns
angefordert.
Eine Rauchsäule schwebte noch immer über den offenbar bis auf
die Grundmauern ausgebrannten Lagerhäusern des Industrieparks.
Feuerwehr und die Kollegen des Saint-Barthélemyer
Polizeidienststelle waren mit zahlreichen Einsatzfahrzeugen am Ort
des Geschehens. Uniformierte hatten das Gebiet abgeriegelt.
Ich stellte den Sportwagen in einiger Entfernung an den
Straßenrand.
Wir stiegen aus.
François gähnte.
»Ist wohl noch nicht ganz deine Zeit?«, meinte ich.
»So weit ich weiß, gibt es keine Vorschrift, die besagt, dass
ein Commissaire auf ein Privatleben verzichten muss, Pierre!«
Ich grinste.
»Kommt immer darauf an, wie anstrengend sich das
gestaltet!«
»Sehr witzig!«
»Die Blonde, die du mir vorgestern vorgestellt hast, sah
jedenfalls so aus, als hätte sie keinerlei
Konditionsprobleme.«
François fuhr sich mit der Hand über die Augen und meinte
dann: »Verschone mich bitte mit deinen Anspielungen, bis ich
wenigstens eine Tasse von Mandys Kaffee bekommen habe!«
Auf den berühmten Kaffee der Sekretärin unseres Chefs würde
François wohl noch eine Weile verzichten müssen. Zunächst lag ein
Berg an kniffliger Ermittlungsarbeit vor uns.
Die uniformierten Kollegen ließen uns passieren, nachdem wir
ihnen unsere Dienstausweise hingehalten hatten.
Wir sahen uns ein bisschen um.
Auf dem Gelände von Trifeau & Valporé sah es aus wie nach
einem Krieg. Von den Lagerhallen standen nur noch Grundmauern, in
einem Fall nicht einmal mehr die. Nur noch wenige Stahlträger
ragten wie Skelette empor. Mehrere ausgebrannte Fahrzeuge, darunter
auch ein Tankwagen, befanden sich auf dem Grundstück.
Und dann war da die weiße Kreidemarkierung auf dem rußigen
Asphalt. Eine Markierung, die anzeigte, dass dort ein Toter gelegen
hatte. In der Nähe hielten sich einige Beamte in Zivil auf.
Ein Mann mit dickem schwarzen Schnauzbart und gelocktem, tief
in die Stirn hängendem Haar begrüßte uns.
»Commissaire Georges Clermont, Chef der Mordkommission von
Saint-Barthélemy«, stellte er sich vor und lockerte dabei die
grellbunte Krawatte.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri«, erwiderte ich und deutete dann
auf meinen Partner. »Dies ist mein Kollege François Leroc.«
»Man hat mir gesagt, dass Sie auch Spurensucher
schicken.«
»Die Kollegen sind noch unterwegs«, erklärte ich.
Und François ergänzte: »Sie müssten jeden Augenblick hier
eintreffen.«
Ich deutete auf die Kreideumrisse.
»Es hat hier einen Toten gegeben?«
Commissaire Georges Clermont nickte.
»So ist es. Der Mann heißt Adam Calvaire und gilt als
Strohmann für einige Größen in der Müll-Mafia.«
Monsieur Marteau hatte uns am Telefon bereits ein paar
Andeutungen in diese Richtung gemacht.
»Ist Calvaire Eigentümer dieses Grundstücks?«
»Nein, es gehört einem gewissen Louis F. Trappeur aus
Marseille, der es vor drei Jahren aus der Konkursmasse von Trifeau
& Valporé herauskaufte. Leider war Monsieur Trappeur bislang
nicht zu erreichen.«
»Und was hat Calvaire mit diesem Grundstück zu tun?«, fragte
François.
Commissaire Clermont zuckte die Achseln.
»Das wissen wir nicht.« Clermont trat etwas vor und kniete
dann vor der Kreidemarkierung nieder. »Calvaires Leiche wies
Verbrennungen auf, aber daran ist er nicht gestorben.« Der Chef der
Mordkommission deutete in Richtung der ausgebrannten Ruinen.
»Calvaire kam von dort, war offenbar auf der Flucht vor den Flammen
… Dann wurde er von schräg hinten erschossen.«
»Der Name Calvaire ist uns durchaus ein Begriff«, meinte ich.
»Leider hatten wir bislang nicht genug gegen ihn in der Hand, um
ihn festzusetzen.«
»Vermutlich ist er nur ein kleines Licht gewesen«, war
Clermonts Auffassung.
Das Geschäft lief immer nach derselben Methode ab.
Chemiefirmen wurde für viel Geld die Entsorgung von Giftmüll
versprochen. Aber die teure Entsorgung fand nie statt. Der Müll
wurde einfach irgendwo abgeladen. Zumeist auf Grundstücken, die von
Strohmännern erworben wurden. Wenn die Gefahr bestand, dass die
Sache aufflog, verschwanden die Strohmänner und die Behörden fanden
dann ein Grundstück mit hochbrisanten Altlasten vor. Dass dabei
Gifte ins Grundwasser gelangten oder Menschen durch giftige
Dioxin-Dämpfe gefährdet wurden, wenn sich beispielsweise ein
illegales Plastiklager selbst entzündete, war den Hintermännern
dieser Machenschaften völlig gleichgültig. Müll war schon seit
Langem ein Zweig des organisierten Verbrechens, der es an Umsatz
und Brutalität mit dem Rauschgift oder dem Waffenhandel aufnehmen
konnte.
»Gibt es irgendwelche Zeugen?«, erkundigte sich
François.
»Ein Nachtwächter. Jonas Colon, 47 Jahre alt,
Ex-Armeeangehöriger. Er war uns gegenüber ziemlich einsilbig. Aber
ich kann Ihnen gerne die Personalien geben. Im Moment ist er
allerdings in ärztlicher Behandlung. Er hat ein paar
Brandverletzungen davongetragen, vielleicht auch einen Schock. Im
Moment befindet er sich in der Uniklinik.«
»Hat der Mann irgendeine Aussage gemacht?«, hakte ich
nach.
Georges Clermont schüttelte den Kopf.
»Nein. Er war dazu wohl auch gar nicht in der Lage.«
»Sie sollten ihn bewachen lassen. Er wäre nicht der erste
Zeuge, den die Müll-Mafia aus dem Weg räumt.«
»Wie Sie meinen.«
Inzwischen trafen die ersten Kollegen ein. Wir begrüßten
Doktor Chevalier aus unserem Chemie-Labor und Wilfred Loubet,
unseren Chef-Feuerwerker. Wenig später erreichten auch unsere
Erkennungsdienstler Jean-Luc Duprée und Daniel Beauville den Ort
des Geschehens. Eine Menge Kleinarbeit lag jetzt vor ihnen. Wie uns
Clermont berichtete, hatte allerdings selbst die Feuerwehr bereits
Hinweise auf eine Brandstiftung gefunden. Das Feuer war an mehreren
Stellen gleichzeitig ausgebrochen. Das allein war schon ein Indiz.
Die Explosionen waren vermutlich durch die gelagerten Chemikalien
verursacht worden – und nicht durch Sprengstoff.
Commissaire Clermont gab uns ein paar Polaroid-Abzüge von den
Tatort-Fotos. Auf den Bildern war deutlich zu sehen, dass Adam
Calvaire schwere Verbrennungen davongetragen hatte.
Gemeinsam mit Commissaire Clermont folgten wir der
vermutlichen Schusslinie, die sich wie ein gerader Strich über das
Firmengelände zog. Ganz am Rand befand sich ein Flachdach-Bungalow,
der ursprünglich wohl mal für Büroräume genutzt worden war. Im
Gegensatz zu den anderen Gebäuden hatte dieser Bungalow
verhältnismäßig wenig von der Wucht der Detonationen
mitbekommen.
Clermont deutete mit der ausgestreckten Hand.
»Der Killer muss dahinten an der Ecke gestanden haben.«
»Was hat Calvaire hier mitten in der Nacht zu suchen gehabt?«,
fragte ich. »Ich meine, dass der Nachtwächter da war, lässt sich
erklären, aber Calvaire muss einen besonderen Grund für seine
Anwesenheit gehabt haben.«
»Vielleicht kann dieser Jonas Colon etwas dazu sagen, wenn er
wieder beieinander ist«, war François‘ Ansicht.
3
Adam Calvaire hatte einen schmucken Bungalow im Außenbezirk
von Saint-Barthélemy bewohnt. François und ich fuhren dorthin, um
mit der Witwe des Ermordeten zu sprechen. Die Kollegen von der
Saint-Barthélemyer Polizeidienststelle hatten uns bereits die
unangenehme Aufgabe abgenommen, Madame Calvaire die Nachricht vom
Tod ihres Mannes zu überbringen.
Wir klingelten an der Tür.
Ein breitschultriger Mann öffnete uns.
Sein Blick wurde starr, als wir ihm die Dienstweise
zeigten.
»Pierre Marquanteur, FoPoCri. Und wer sind Sie?«
Der Mann im T-Shirt zögerte kurz. Dann sagte er: »Etienne
Grandmichel. Ich sorge hier für die Sicherheit.«
»Wir möchten gerne mit Madame Calvaire sprechen.«
»Madame Calvaire ist im Moment in keiner guten Verfassung.
Vielleicht kommen Sie ein anderes Mal wieder.«
»Tut mir leid …«
»Ach, wirklich?«
»Wir müssen Madame Calvaire jetzt sprechen.«
Er zuckte die Achseln. Mit einer Handbewegung bedeutete er
uns, ihm zu folgen. Grandmichel führte uns in ein weiträumiges
Wohnzimmer. Auf der linken Seite befand sich ein Steinway-Flügel,
rechts war die Sitzecke. Madame Calvaire war offensichtlich nicht
allein. In einem der Sessel saß ein Mann mit völlig haarlosem Kopf.
Sein Gesicht wirkte aufgeschwemmt. Er trug einen teuren Anzug in
dunkelgrau. Sein Alter schätzte ich auf Mitte vierzig. Der
Leibwächter stellte uns vor.
Madame Sabrina Calvaire war eine attraktive Mittdreißigerin.
Sie saß in sich zusammengesunken auf der Couch, strich sich mit
einer flüchtigen Geste das lange, brünette Haar zurück. Die Augen
waren rotgeweint, das Make-up etwas verlaufen.
»Madame Calvaire, es tut mir leid, aber wir müssen Ihnen ein
paar Fragen stellen«, erklärte ich vorsichtig.
Der Kahlköpfige sprang auf, umrundete den niedrigen Tisch und
blieb dann stehen.
»Sehen Sie nicht, dass meine Mandantin überhaupt nicht in der
Lage ist, auch nur einen Ton herauszubringen? Sie steht unter
Schock.«
Ich wandte mich in seine Richtung.
»Mandantin?«, echote ich.
Er reichte mir eine Visitenkarte.
»Fernand Lafitte, ich gehöre der Kanzlei Lafitte, Jarreau
& Partner an und vertrete die Interessen von Madame Calvaire.«
»Entspricht das den Tatsachen?«, erkundigte sich François an
die Witwe gewandt.
Sabrina Calvaire nickte.
»Ja«, flüsterte sie mit belegter Stimme.
»Ich denke, Ihnen liegt genauso wie uns daran, den Mörder
Ihres Mannes zu finden. Darum sollten Sie uns helfen.«
»Ich wüsste nicht, wie.«
»Haben Sie eine Ahnung, was Ihr Mann mitten in der Nacht auf
dem Gelände von Trifeau & Valporé wollte?«
»Nein, nicht die Geringste.«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
Fast hilfesuchend blickte Sabrina Calvaire zu ihrem Anwalt
hin. Dann sagte sie: »Am Morgen, als er zu einem Geschäftstermin
aufbrach.«
»Ihr Mann war Immobilienkaufmann?«
»Ja.«
»Er hatte sein Büro hier im Haus?«
»So ist es.«
François wandte sich an den Leibwächter.
»Könnten Sie mir das Büro zeigen?«
Fernand S. Lafitte nickte Grandmichel zu, woraufhin dieser
François aus dem Raum führte.
Ich wandte mich an Sabrina Calvaire.
»Sagt Ihnen der Name Louis Trappeur etwas?«
»Nein, wer soll das sein?«
»Der Besitzer des Grundstückes, auf dem Ihr Mann ermordet
wurde.«
»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.«
»Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber Sie leisten sich einen Bodyguard.«
»Monsieur Grandmichel ist …« Sabrina brach ab, so als hätte
sie Angst, etwas Falsches zu sagen. Sie blickte kurz zu Lafitte
hinüber.
»Ich habe Madame Calvaire die Dienste von Monsieur Grandmichel
vermittelt«, erklärte der Anwalt dann.
»Gab es dafür einen konkreten Anlass?«
»Monsieur Calvaire fragte mich nach einem guten Security-Mann,
und da habe ich ihm Grandmichel empfohlen«, erklärte Lafitte etwas
ungeduldig. »Nach dem Grund habe ich nicht gefragt. Aber jemand,
der reich und erfolgreich ist, wie Monsieur Calvaire es zweifellos
war, ist immer in der Gefahr, Opfer eines Verbrechens zu werden.
Das brauche ich Ihnen ja wohl nicht näher auseinanderzusetzen,
Monsieur Marquanteur.«
4
Wenig später saßen wir wieder in unserem Sportwagen. Die
Durchsuchung des Büros hatte keine neuen Erkenntnisse
ergeben.
»Schon merkwürdig, dieses Büro«, meinte François. »Der
Computer zur Reparatur, kein Terminplaner vorhanden …«
»Da hatte jemand gründlich aufgeräumt!«
»Das kannst du laut sagen. Ich habe übrigens Grandmichels
Waffe überprüft. Eine 7.65er Automatik. In letzter Zeit ist nicht
damit geschossen worden.«
»Wäre auch zu einfach gewesen!«
»Jedenfalls sollten wir eine Personenabfrage über Grandmichel
starten. Ich kann dir nicht sagen, warum, aber ich traue ihm nicht
über den Weg, Pierre.«
»Dasselbe gilt für diesen Anwalt.«
»Ich könnte schwören, dass ich den Namen schon mal gehört
habe!«
5
Unsere Kollegen Stéphane Caron und Boubou Ndonga waren von
unserer Dienststelle zu einer Adresse in La Vilette geschickt
worden. Dort stand ein mehrstöckiges Gebäude mit Apartments und
Büros. Unter anderem befand sich hier die Residenz von Louis
Trappeur, dem das Trifeau & Valporé-Grundstück in
Saint-Barthélemy gehörte.
Das Gebäude war durch martialisch wirkende private
Security-Leute völlig abgeschottet. Videoüberwachungsanlagen
zeichneten das Geschehen in der Eingangshalle und auf den Fluren
auf.
Die Residenz von Louis Trappeur lag im obersten Stock.
Stéphane und Boubou standen vor einer gläsernen Tür, die
Trappeurs Residenz vom Rest des Gebäudes trennte. Dahinter befand
sich ein Vorraum, von dem aus entsprechend beschriftete Türen
sowohl zu den Privaträumen, als auch zum Büro führten.
»Wenn einer sich hier ein Büro leisten kann, muss er was vom
Geschäft verstehen«, meinte Boubou. Der Kollege rückte sich die
dunkelrote Seidenkrawatte zurecht.
»Bin wirklich gespannt, mit wem wir es zu tun haben«, sagte
Stéphane.
Er betätigte die Gegensprechanlage. Die Stimme einer Frau
meldete sich.
»Ja, bitte?«
»Caron, FoPoCri Marseille«, antwortete Stéphane. »Wir müssen
Monsieur Louis Trappeur sprechen.«
»Monsieur Trappeur ist leider nicht im Hause«, erwiderte die
Frauenstimme.
»Dann machen Sie bitte trotzdem die Tür auf. Wir haben einen
richterlichen Durchsuchungsbeschluss.«
Einige Sekunden lang geschah gar nichts.
Boubou grinste.
»Vielleicht bist du nicht der Typ dieser Dame«, witzelte
er.
»Ha, ha.«
Schließlich öffnete sich die Tür zu den Privaträumen.
Eine junge Blondine trat heraus. Das gelockte Haar fiel ihr
bis über die Schultern. Durch die hochhackigen Schuhe, die sie
trug, wirkten ihre Beine noch länger, als sie ohnehin schon
waren.
Stéphane hielt seinen Dienstausweis hoch und presste ihn gegen
die Glasscheibe. Die junge Frau näherte sich, musterte die beiden
Kollegen misstrauisch und öffnete schließlich.
Boubou und Stéphane traten ein.
»Wo befindet sich Monsieur Trappeur jetzt?«, fragte
Stéphane.
»Ich habe keine Ahnung«, erklärte die junge Frau und
verschränkte die Arme unter den Brüsten.
Boubou wandte sich inzwischen der Tür mit der Aufschrift BÜRO
zu, öffnete sie mit der Hand an der SIG Sauer P 228, die er am
Gürtel trug. Im nächsten Moment entspannte sich seine
Körperhaltung.
»Niemand da!«, brummte er. »Ich nehme mir jetzt den
Privatbereich vor.«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, maulte die Blondine. »Was
ist überhaupt los? Was wollen Sie von Louis?«
»Wir stellen hier die Fragen«, sagte Stéphane bestimmt. »Wer
sind Sie?«
»Mona Saint-Juste. Sie können meinen Führerschein und meinen
Personalausweis sehen, wenn Sie daran irgendwelche Zweifel
haben.«
»Arbeiten Sie für Monsieur Trappeur?«
»Ich halte hier für ihn die Stellung, während er seinen
Terminen nachgeht.«
Stéphane hob die Augenbrauen.
»Sie kamen gerade aus dem privaten Bereich …«
Mona lächelte kühl.
»Sie sind ein guter Beobachter. Aber ich würde sagen, dass
dieser Umstand Sie nichts angeht, Monsieur Caron!«
»Ihr Arbeitgeber war Besitzer des ehemaligen Firmengeländes
von Trifeau & Valporé in Saint-Barthélemy. Wissen Sie, was dort
heute Nacht passiert ist?«
»Es kam in den Nachrichten.«
»Haben Sie mit Monsieur Trappeur heute Morgen darüber
gesprochen?«
»Nur kurz, Monsieur Trappeur hatte zahlreiche auswärtige
Termine.«
»Wo ist sein Terminplaner?«
Ihr Blick wurde eisig.
»Der befindet sich in Monsieur Trappeurs Aktenkoffer.« Sie sah
auf die Uhr an ihrem Handgelenk und wirkte zunehmend nervös.
Boubou kehrte in diesem Moment aus dem Privatbereich von Louis
Trappeurs Residenz zurück. Er zuckte die Achseln.
»Die Wohnung sieht wie abgeleckt aus«, meinte er. »Als ob da
nie jemand gewohnt hat!«
»Monsieur Trappeur war viel unterwegs und selten zu Hause«,
erklärte Mona Saint-Juste.
In diesem Augenblick ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Stéphane wirbelte herum. Er sah durch die geöffnete
Bürotür.
Eine Feuerwand flammte grell auf, schoss aus der Tür heraus.
Die Scheiben der Glastüren barsten unter der Druckwelle. Die Hitze
war mörderisch. Stéphane taumelte zurück, warf sich zu Boden.
Glasscherben regneten auf ihn nieder. Rauch breitete sich
aus.
Beißender Qualm, der einem den Atem raubte. Stéphane versuchte
sich aufzurappeln. Sein erster Gedanke galt Boubou. Er blickte sich
um, schützte die Augen notdürftig mit der Hand vor dem beißenden
Qualm.
Boubous Körper lag reglos auf dem Boden.
Mona Saint-Juste befand sich in der Nähe der zerborstenen
Glastür. Sie hustete, krümmte sich, kam dann aber mühsam auf die
Beine.
Stéphane rang nach Luft. Er kämpfte sich durch die
Rauchschwaden.
Viel Zeit blieb ihm nicht. Innerhalb von wenigen Augenblicken
konnte die Bewusstlosigkeit einsetzen. Und das war angesichts der
immensen Rauchentwicklung ein Todesurteil.
Das gesamte Büro glich einer Flammenhölle.
Als Stéphane Boubou erreichte, fasste er ihn unter den
Achseln, zog ihn mit sich.
Augenblicke später hatte er ihn hinaus auf den Flur
geschleift. Noch war die Rauchkonzentration hier geringer, aber das
würde sich bald ändern. Stéphane hustete, blickte sich um. Von Mona
Saint-Juste war nirgends eine Spur. Sie hatte sich offenbar in
Sicherheit gebracht.
Dann dröhnten Schritte durch den Flur.
Einige der Security-Leute rannten im Laufschritt den Korridor
entlang, ausgerüstet mit Gasmasken und Feuerlöschern. Gegen die
Feuersbrunst im Büro hatten sie damit allerdings kaum eine Chance.
Bis die reguläre Feuerwehr eintraf, konnte es noch einige Zeit
dauern. Inzwischen aktivierte sich die Sprinkleranlage. Lauwarmer
Regen kam aus den Düsen an der Decke des Korridors. In Louis
Trappeurs Residenz selbst war vermutlich die entsprechende
Elektronik durch die Detonation zerstört worden.
Zwei der Security-Leute kümmerten sich um Boubou, trugen ihn
davon. Zweifellos war er schwer verletzt. An seiner rechten Seite
war die Kleidung teilweise verkohlt. Vermutlich hatte die
Druckwelle ihn gegen die Wand geschleudert.
Einer der anderen Security-Leute rief über Funk die
Notfallambulanz, ein anderer kümmerte sich um den sich unter einem
Hustenanfall krümmenden Stéphane.
6
Mona Saint-Juste atmete tief durch, als sie sich endlich im
Freien befand. Ihre Augen tränten, sie spürte noch immer ein
unangenehmes Kratzen im Hals. Außerdem hatte sie eine Schnittwunde
an der Hand, verursacht durch die Scherben der geborstenen Glastür.
Mit einem Taschentuch stillte sie notdürftig die Blutung. Ihre
exquisite Garderobe sah ziemlich ramponiert aus. Entsprechend
neugierige Blicke hatten sie auf ihrem Weg aus dem Bürokomplex
begleitet.
Ihr Wagen stand hinter der nächsten Straßenecke, etwa
zweihundert Meter entfernt. Im Hintergrund waren die Sirenen der
Feuerwehr zu hören.
Ich muss mich beeilen, sonst ist hier gleich alles durch
Einsatzfahrzeuge blockiert, ging es ihr durch den Kopf.
Plötzlich umspielte ein Lächeln ihren Mund.
Von Louis Trappeurs Büro würde so gut wie nichts übrigbleiben.
Nichts, was die FoPoCri oder andere Polizeibehörden verwenden
konnten!
Sie hob plötzlich die Hand, blickte auf das dunkelrot mit Blut
vollgesogene Taschentuch, das ihre Finger auf den Handballen
pressten.
Das einzige, worum ich mir vielleicht Sorgen machen müsste,
ist das hier, überlegte sie. Schließlich hatte sie vermutlich DNA
hinterlassen.
Aber ob davon noch etwas übrig sein würde, wenn die
Löscharbeiten beendet waren, stand in den Sternen.
7
Am nächsten Morgen saßen wir alle mit ziemlich ernsten
Gesichtern im Besprechungszimmer von Kriminaldirektor Marteau.
Außer dem Kollegen François Leroc und mir waren noch Stéphane
Caron, die Kollegen Léo Morell und Josephe Kronbourg sowie die
Innendienstler Maxime Valois und Norbért Navalle anwesend.
Stéphane berichtete uns über den Zustand unseres Kollegen
Boubou Ndonga, der zur Zeit im in La Vilette auf der
Intensiv-Station lag. Boubou hatte Verbrennungen und eine schwere
Rauchvergiftung, außerdem eine ernste Schädelprellung. Wie eine
Puppe musste die Druckwelle ihn gegen die Wand geschleudert haben.
Stéphane war glimpflicher davongekommen. Aber auch er war durch die
Folgen der Detonation noch gezeichnet.
»Wenn wir hier fertig sind, werden Sie nach Hause fahren und
sich schonen«, erklärte Monsieur Marteau, unser direkter
Vorgesetzter bei der FoPoCri Marseille, an Stéphane gewandt.
Stéphane Caron wollte gerade etwas erwidern, aber Monsieur
Marteau brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Das ist eine dienstliche Anweisung, Monsieur Caron.«
»Ich bin fit!«, behauptete er.
»Das sieht man«, erwiderte Monsieur Marteau. Er schüttelte
energisch den Kopf. »Sie haben schon genug getan. Immerhin haben
wir diese Frau durch Ihre Angaben auf den Video-Aufnahmen der
Überwachungsanlage identifizieren und ein einigermaßen brauchbares
Bild für die Fahndung erstellen können.«
»Mona Saint-Juste«, nickte Stéphane. »Kurz bevor die
Flammenhölle losbrach, wirkte sie verdammt nervös.«
»Meinen Sie, sie wusste von dem bevorstehenden Inferno?«
»Vielleicht ist sie dafür verantwortlich!«
»Eine kühne Schlussfolgerung, für die wir bisher allerdings
keinen Anhaltspunkt haben.«
»Jedenfalls ist sie genauso spurlos verschwunden wie dieser
Louis Trappeur.«
Jetzt kam der Augenblick von Maxime Valois, einem unserer
Innendienstler aus der Fahndungsabteilung.
»Louis F. Trappeur hat nie existiert«, erklärte Valois. »Es
handelte sich um eine sorgfältig aufgebaute Tarnidentität.«
Monsieur Marteau hob die Augenbrauen.
»Haben Sie herausgefunden, wer dahintersteckt?«
»Ich habe die Bänder der Video-Überwachungsanlage des Gebäudes
in La Vilette sehr gründlich untersucht. Der Mann, der von einigen
der Security-Leute als Monsieur Trappeur identifiziert wurde, ist
niemand anderes als Adam Calvaire!«
Monsieur Marteau nickte.
»Unser langgehegter Verdacht gegen Calvaire war also
gerechtfertigt. Calvaire kaufte unter falscher Identität
Industriebrachen auf, die dann als illegale Abladeflächen für
Sondermüll fungierten. Das übliche Vorgehen in der Branche.«
»Für wen hat Calvaire vermutlich gearbeitet?«, mischte ich
mich in das Gespräch ein.
Monsieur Marteau wandte sich an Norbért Navalle, unseren
Spezialisten für Wirtschaftskriminalität und das Verfolgen
verborgener Geldströme.
»Wir wissen, dass Calvaire erhebliche Summen über
Postfach-Firmen auf den Cayman Inseln und in Liechtenstein erhielt
– insbesondere über eine gewisse Turento Investment Group, die
offenbar in beiden Ländern aktiv ist.«
»Wenn man das Unterhalten von Postfachadressen als
wirtschaftliche Aktivität bezeichnen will«, kommentierte
François.
Monsieur Marteau fragte: »Gibt es irgendwelche Hinweise
darauf, wer mit dieser Turento Investment Group seine Geschäfte
tarnt?«
Der Kollege Norbért Navalle hob die Augenbrauen.
»Ja, Hinweise gibt es schon – aber leider auch nicht mehr.
Eine wichtige Rolle scheint ein gewisser Michel Albertini zu
spielen. Ihm gehört eine Kette von Diskotheken hier an der
Küste.«
»Bisher dachten wir immer, Albertini wäre Geldwäscher.«
»Das ist er wahrscheinlich auch«, bestätigte Navalle.
»Aber er wäre auch ein idealer Mann, um Gelder von
interessierten Leuten gut getarnt in der Müll-Branche zu
investieren.«
»Hinter Albertini muss also noch jemand viel Größeres
stecken«, schloss ich aus Norbért Navalles Ausführungen.
Unser Wirtschaftsexperte nickte. »Zweifellos.«
Jetzt meldete sich Maxime Valois zu Wort: »Albertini war immer
sehr geschickt, so dass es äußerst schwer ist, ihn einer bestimmten
kriminellen Vereinigung zuzuordnen. Aber Tatsache ist, dass er nach
Norbérts Ermittlungen Geld wie Heu haben muss. Mehr jedenfalls, als
seine Discotheken erwirtschaften können, selbst wenn man annimmt,
dass er sich mit dem Vertrieb von Designer-Drogen noch ein Zubrot
verdient.«
Langsam begann der Fall Konturen anzunehmen. Adam Calvaire war
nichts weiter als ein kleiner Wasserträger im System der Müll-Mafia
gewesen. Und es lag nahe, dass sein Tod mit Vorgängen hinter den
Kulissen dieser Branche des Verbrechens zu tun hatte, die wir
bislang noch nicht durchschauten.
Zwei Brandanschläge innerhalb kürzester Zeit, beide in
Zusammenhang mit Calvaire. Auch das konnte kein Zufall sein.
Die Gutachten unserer Spurensicherer waren eindeutig. Das
ehemalige Gelände von Trifeau & Valporé war vorsätzlich in ein
Flammenmeer verwandelt worden.
Monsieur Marteau wandte sich an François und mich.
»Versuchen Sie noch mal mit diesem Nachtwächter zu reden. Er
ist schließlich ein wichtiger Zeuge und selbst wenn er unter Schock
steht …«
»Wir werden unser Bestes tun, die Ärzte zu überreden«,
versprach ich.
»Außerdem will ich so viel wie möglich über diesen Albertini
wissen.« Unser Chef wandte sich an Léo und Josephe. »Das werden Sie
übernehmen.«
»Bleibt nur noch die Frage, wo diese blonde Lady aus La
Vilette geblieben ist«, meinte Stéphane Caron.
»Den Video-Aufzeichnungen nach betrat sie das Gebäude gestern
zum ersten Mal«, meldete sich Valois zu Wort. »Allerdings reichen
die Aufnahmen nur etwa zwei Wochen zurück.«
»Von einem regelmäßigen Arbeitsverhältnis kann aber trotzdem
wohl keine Rede sein«, kommentierte François.
8
Als François und ich eine Stunde später die Uniklinik
erreichten und uns nach Jonas Colon, dem Nachtwächter vom
ehemaligen Trifeau & Valporé-Gelände erkundigten, erlebten wir
eine unangenehme Überraschung. Von der Pflegedienstleitung der
Station bekamen wir die Auskunft, dass Colon früh am Morgen
abgeholt worden war.
»Das waren zwei Kollegen von Ihnen«, meinte die vollbusige
Pflegedienstleiterin. Das dunkle Haar hatte die Frau zu einem
Knoten zusammengefasst. Sie hieß Marita-Rosalia Oscher. Auf dem
kleinen Schild am Revers ihres weißen Kittels war kaum Platz genug
für den ganzen Namen.
»Kollegen von uns?«, echote ich. »Das ist
ausgeschlossen.«
»Sie haben Dienstausweise vorgezeigt, die auch die beiden
Polizisten von der Saint-Barthélemyer Polizeidienststelle
überzeugten, die hier Wache hielten.«
»Ging es Colon denn wieder so viel besser?«
»Die hatten einen Krankentransporter inklusive Pfleger
dabei.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo der Zielort dieses
Krankentransportes war?«
»Nein. Wir bekamen die Auskunft, dass der künftige
Aufenthaltsort von Monsieur Colon geheim bleiben soll, um ihn zu
schützen, da er ein wichtiger Zeuge sei.«
»Das ist er in der Tat«, murmelte ich.
»Wollen Sie die Verfügung sehen, die uns gegeben wurde?«
»Ja, geben Sie es uns. Es handelt sich um ein
Beweisstück.«
Wir verständigten die Kollegen in Saint-Barthélemy und das
Hauptquartier. Leider konnte sich niemand an das Kennzeichen des
Krankentransporters erinnern. Ein Pförtner glaubte zu wissen, dass
es sich um einen Mercedes gehandelt hatte.
Die Fahndung lief auf Hochtouren.
François und ich fuhren zu Jonas Colons letzter Adresse.
Das war unser einziger Anhaltspunkt. Vielleicht fanden wir
dort etwas, das uns weiterbrachte.
»Du fürchtest, dass ein paar Killer des Müll-Syndikats sich
den einzigen Zeugen geschnappt haben, der etwas darüber sagen
könnte, was in der Nacht des Brandes auf dem Trifeau &
Valporé-Gelände geschah«, sagte François, während ich den
Sportwagen, den uns die Fahrbereitschaft der FoPoCri Marseille zur
Verfügung stellte, in den Süden von Saint-Barthélemy lenkte.
Die Rundumleuchte auf dem Dach sorgte dafür, dass wir etwas
schneller vorwärts kamen.
»Die werden kurzen Prozess mit ihm machen«, vermutete ich.
Unsere Chancen, das Leben des Zeugen zu retten, standen äußerst
schlecht. Und trotzdem würden wir alles versuchen.
Colon besaß ein kleines Haus am Stadtrand.
»Ich wusste gar nicht, dass Nachtwächter-Jobs so gut bezahlt
werden«, meinte François, als wir das Haus erreichten.
»Kommt immer drauf an, was man bewacht«, erwiderte ich.
»Na ja, Diamanten waren es in diesem Fall ja nicht
gerade.«
Ich parkte den Sportwagen am Straßenrand. Wir stiegen
aus.
Colons blau angestrichenes Holzhaus wurde von einem schlichten
Rasengrundstück umgeben.
Wir gingen zur Haustür. In der Einfahrt stand ein blauer Ford,
der schon etwas Rost angesetzt hatte. Es war also anzunehmen, dass
jemand im Haus war. Über Colons persönliche Verhältnisse wussten
wir nur, dass er bei der Armee gewesen war. Möglicherweise lebte er
mit jemandem zusammen.
François klingelte.
Die einzige Reaktion war ein unterdrückter Schrei, der sofort
verstummte. Dann ein klapperndes Geräusch, als ob ein Möbelstück
umgestoßen wurde.
Beinahe gleichzeitig griffen François und ich zu unseren
Dienstpistolen.
François presste sich neben der Haustür gegen die Wand, fasste
die Pistole mit beiden Händen.
»Ich versuch‘s von hinten!«, sagte ich und lief in geduckter
Haltung los. Ich schlich unter den Fenstern her.
Nach wenigen Augenblicken hatte ich die Ecke erreicht, hinter
der sich die Rückfront mit der Veranda befand. Ein Mann trat durch
die Verandatür ins Freie.
In der Linken hielt er eine Maschinenpistole vom israelischen
Typ Uzi im Anschlag. Er trat die dreistufige Verandatreppe
hinunter, ließ den Blick schweifen. Dann trat er noch ein paar
Schritte auf den Rasen hinaus. Ich wartete an der Ecke. Mein
Gegenüber ließ die Uzi sinken. Ich schnellte hervor, riss die
Pistole empor.
»FoPoCri! Waffe fallenlassen!«, rief ich.
Der Kerl wirbelte herum, ließ die Uzi losknattern. Eine Garbe
von Projektilen hagelte in meine Richtung. Ich warf mich zu Boden,
während die Kugeln der Uzi das Geländer der Veranda buchstäblich
zerfetzten. Dicht gingen die Schüsse über mich hinüber, schlugen
rechts und links von mir ein.
Der Mann schwenkte die MP wild hin und her.
Ich rollte mich herum. Dort, wo ich vor Sekundenbruchteilen
noch gelegen hatte, fetzten Kugeln in den weichen Boden, ließen
Rasenstücke durch die Luft wirbeln.
Der erste Schuss, den ich mit meiner SIG abgab, ging ins
Leere.
Der zweite traf.
Der Mann mit der Uzi taumelte zurück. Die Schulter, an der ihn
die Kugel erwischt hatte, wurde durch die Wucht des Geschosses
zurückgerissen. Eine MP-Salve ging in die Luft.
»Fallenlassen, verdammt noch mal!«, schrie ich.
Mein Gegner ließ mir keine Wahl. Er richtete den kurzen Lauf
der Uzi in meine Richtung. Der Zeigefinger krampfte sich um den
Abzug. Bevor er abdrücken konnte, ließ ich die SIG in meiner Faust
loswummern. Der Schuss traf ihn in der Herzgegend.
Aus der Uzi lösten sich noch ein paar ungezielter Schüsse,
dann fiel sein Körper schwer auf den weichen Rasen.
Ich rappelte mich auf, stürmte zur Veranda. Mit einem einzigen
Schritt nahm ich die drei Stufen, duckte mich dann. Durch die
halboffene Tür feuerte jemand eine Shotgun in meine Richtung ab.
Der Knall war ohrenbetäubend. Der Schuss ging dicht an mir
vorbei.
Ich erreichte die Tür, presste mich daneben gegen die Wand,
fasste die SIG im Beidhandanschlag.
Sekundenbruchteile später wummerte die Shotgun meines Gegners
erneut los. Dicht neben mir riss der Schuss ein etwa handgroßes
Loch in die Holzwand.
Ich wirbelte herum, tauchte aus meiner Deckung hervor und
stand einen Sekundenbruchteil mit der Pistole im Anschlag in der
Tür.
Dann erstarrte ich. Sah in das grinsende Gesicht meines
Gegners. Und die angstgeweiteten Augen seiner Gefangenen. Sie war
mit Händen und Füßen an einen Stuhl gefesselt, außerdem geknebelt.
Vermutlich hatte sie den unterdrückten Schrei ausgestoßen, den
François und ich gehört hatten.
Ich schätzte den Mann auf ungefähr dreißig. In der Rechten
hielt er die doppelläufige Shotgun, in der Linken einen Revolver,
dessen Lauf auf die Schläfe der Frau gerichtet war.
Die Shotgun hatte zwei Schuss – und die hatte der Kerl bereits
abgefeuert. Dass er seit dem letzten Schuss zum Nachladen gekommen
war, konnte man ausschließen.
Der Mann mit der Baseballmütze lachte dreckig.
»Leg dein Eisen auf den Boden!«, zischte er. »Ich denke, du
weißt, wie der Kopf dieser Frau aussieht, wenn ich jetzt
abdrücke.«
»Geben Sie auf! Sie machen alles nur noch viel
schlimmer!«
»Spar dir dein Gerede!«
Er presste den Lauf des Revolvers so hart gegen die Schläfe
der Frau, dass sie aufstöhnte.
Ich hatte keine Wahl. Vorsichtig bückte ich mich und legte
meine Pistole auf den Boden.
»Jetzt kick das Eisen zu mir rüber!«, befahl der Kerl mit der
Baseball-Kappe.
Ich gehorchte. Die Pistole rutschte über den Boden. Der Mann
stoppte sie mit dem Fuß wie ein Fußballer. Dann bückte er sich, um
die Waffe aufzuheben. Er ließ die Shotgun zu Boden sinken, griff
nach meiner Dienstwaffe. Keine Sekunde wich dabei der Lauf des
Revolvers von der Schläfe seiner Geisel.
Er nahm die Pistole. Ein Grinsen entblößte eine
Zahnlücke.
Er richtete die Waffe auf meinen Kopf.
»Geh zur Hölle, Bulle!«, zischte er.
Dann drückte er ab.
9
Mona Saint-Juste trat aus der Dusche ihres Apartments im Hotel
Cristal in der Avenue Dorothee. Sie trocknete sich ab und zog sich
anschließend einen hauchdünnen Kimono über, dessen fließender Stoff
sich perfekt an ihre Körperformen anschmiegte. Dann ging sie quer
durch das Apartment, nahm das Telefon und bestellte sich eine
Mahlzeit vom Zimmerservice. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte,
atmete sie tief durch und wandte sich dem Fenster zu. Die Haare
klebten ihr noch feucht am Kopf.
Wasser – das dem Feuer entgegengesetzte Element, dachte sie.
Aber das Feuer ist mächtiger. Mächtiger als alles andere.
Sie schloss für einen Moment die Augen. Durch das Fenster
ihres Apartments schien die Sonne herein. Durch ihre Augenlider sah
sie nichts weiter als die Farbe rot. Rot wie Feuer.
Erinnerung stiegen ihr auf. Bilder erschienen vor ihrem
inneren Auge. Emporlodernde Flammen, furchtbare Schreie. Eine
brennende Hauswand, die in sich zusammenbrach. Wie verschmorte
Streichhölzer knickten die mächtigen Dachbalken ein.
»Nein!«, sagte Mona dann laut. Sie öffnete die Augen. Das
Sonnenlicht wirkte furchtbar grell. Verzweifelt versuchte sie die
Bilder der Erinnerung abzuschütteln. Sie wusste, dass das letztlich
zwecklos war. Sie kamen immer wieder. Auch die Schreie.
»Du wirst nie wieder das Opfer sein!«, sagte sie laut, wie
eine Beschwörung. Ihre Hände ballten sich dabei unwillkürlich zu
Fäusten, krampften sich regelrecht zusammen. Ihr fein geschnittenes
Gesicht wurde zu einer verzerrten Maske.
»Nie wieder!«, schrie sie.
Es war ein Ritual, mit dem sie mühsam die Traumata ihrer
Vergangenheit in Schach hielt. Mona atmete tief durch, rang
förmlich nach Luft. Der Puls schlug ihr bis zum Hals. Sie ließ sich
in den Sessel fallen.
Ganz ruhig!, sagte sie sich selbst. Es geht vorüber. Du kennst
das doch …
Das Telefon schrillte.
Eine willkommene Ablenkung, dachte Mona. Sie stand auf, nahm
den Hörer ab.
»Ja, bitte?«
Eine sehr tiefe männliche Stimme meldete sich.
»Wir müssen uns dringend treffen, Mona.«
»Sind Sie wahnsinnig, hier anzurufen, Romain?«
»Heute Abend, einundzwanzig Uhr, La Vignoble de Chico.«
Der Anrufer hatte aufgelegt.
Ich werde verdammt vorsichtig sein müssen, ging es ihr durch
den Kopf. Schon die Sache mit Louis Trappeurs Büro war äußerst
heikel gewesen. Zwei FoPoCri-Beamte waren ihr begegnet. Aus den
Nachrichten im Radio hatte sie erfahren, dass einer der beiden
schwer verletzt war. Aber sie musste damit rechnen, dass inzwischen
ein Phantombild von ihr existierte, zumal es in dem Bürokomplex in
La Vilette auch eine nahezu lückenlose Videoüberwachung gab.
Ich werde mein Äußeres radikal verändern müssen, überlegte
sie. Und zwar noch bevor ich mich mit Romain treffe.
10
Ich sah in die Mündung meiner eigenen Waffe, sah wie das
Mündungsfeuer herausspie. Instinktiv duckte ich mich. Die Kugel
zischte über meinen Kopf, aber einer der nächsten Schüsse würde
mich erwischen. Es gab keine Deckung, keinen Schutz, nichts.
Gleichzeitig mit dem ersten Schuss ertönte ein anderes
Geräusch von der gegenüberliegenden Seite des Raums. Die Tür wurde
eingetreten. Sie sprang aus dem Schloss. Ein Scharnier brach mit
einem ächzenden Laut heraus. Die Tür klappte zur Seite.
François stürzte mit seiner SIG im Beidhandanschlag
herein.
Der Kerl mit der Baseball-Kappe wirbelte herum.
François‘ Schuss traf ihn rechts im Oberkörper, riss ihn
zurück. Er fiel auf den niedrigen Tisch. Dessen Beine knickten ein.
Sekundenbruchteile später war François bei ihm, richtete den Lauf
der SIG auf ihn.
»Waffe weg!«
Der Mann ächzte. Sein Hemd färbte sich rot. Er lag wie ein
Käfer auf dem Rücken, die Hände immer noch um die Griffe der beiden
Waffen gekrallt. Dann löste sich diese Umklammerung. Er sah ein,
dass er keine Chance mehr hatte.
Der Mann keuchte, rang nach Luft.
Ich beugte mich über ihn, nahm meine Pistole und seinen
Revolver an mich.
François holte inzwischen mit der Linken sein Handy hervor, um
erst den Notarzt und dann die Kollegen zu rufen. Nachdem das
geschehen war, machte ich mich daran, die Geisel von ihren Fesseln
zu befreien.
Fünfzehn Minuten später kam der Notarzt. Die Kollegen der
Saint-Barthélemyer Polizeidienststelle waren sogar noch etwas
schneller.
François und ich hatten inzwischen erste Hilfe geleistet und
die Wunde des Verletzten notdürftig verbunden. In seiner
Jackentasche fanden wir einen Führerschein, der auf den Namen
Bennoît Gerard ausgestellt war.
Ich war gespannt, was die Personenabfrage ergeben würde.
Nachdem Gerard abtransportiert war, wandte ich mich der Geisel
zu, die in der letzten Viertelstunde wie konsterniert dagesessen
hatte. Sie zitterte leicht.
Commissaire Clermont und ein weiterer Kollege von der
Saint-Barthélemyer Polizeidienststelle untersuchten inzwischen den
Toten im Garten.
»Wer sind Sie?«, fragte ich die Frau, deren Alter ich auf
Mitte dreißig schätzte. Das brünette Haar wies einen deutlichen
Rotstich auf. Ihre Figur wirkte sehr athletisch, was durch den eng
anliegenden Jogging-Suit, den sie trug, noch betont wurde.
Sie sah mich an, wirkte noch immer verstört. Nach dem, was sie
soeben durchgemacht hatte, war das auch kein Wunder.
»Anne Olivier«, murmelte sie abwesend. »Mein Name ist Anne
Olivier.«
»Sie befinden sich hier im Haus von Monsieur Jonas
Colon.«
»Ja.«
»In welcher Beziehung stehen Sie zu ihm?«
»Ich bin vor einem halben Jahr bei ihm eingezogen.« Ihr
Gesicht veränderte sich, bekam einen besorgen Ausdruck. »Was ist
mit Jonas?«
François und ich wechselten einen kurzen Blick.
»Es tut mir leid, aber wir müssen Ihnen eine schlimme
Mitteilung machen«, sagte François.
Sie schluckte.
»Nun sagen Sie schon, was ist passiert?«
»Er ist in Lebensgefahr.« In knappen Worten fasste ich ihr
zusammen, was geschehen war.
Sie atmete tief.
»Mein Gott«, flüsterte sie und schüttelte dabei fassungslos
den Kopf.
»Ich weiß, dass das ein Schock für Sie sein muss«, hoffte ich
ihr Gehör zu finden. »Aber ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun
werden, um Monsieur Colon zu helfen.«
»Ja, natürlich.«
»Außerdem sind wir auf Ihre Mithilfe angewiesen.«
»Was soll ich tun?«, fragte sie. Verzweiflung klang in ihren
Worten mit.
»Uns bleibt vermutlich nicht viel Zeit«, sagte ich. »Aber
vielleicht können Sie uns helfen, indem Sie unsere Fragen
beantworten.«
»Fragen Sie!«
»Haben Sie eine Ahnung, wohin man Ihren Lebensgefährten
gebracht haben könnte?«
»Nein.«
»Was wollten diese Kerle von Ihnen?«
»Ich habe sie überrascht, als ich vom Joggen kam. Sie waren
gerade dabei, die Wohnung zu durchsuchen.«
»Haben Sie eine Ahnung, hinter was sie her waren?«
»Nein.«
»Ihr Mann bewachte ein Grundstück, das einem Strohmann der
Müll-Mafia gehörte«, stellte ich fest. »Vielleicht hat er gesehen,
wie man den Mann ermordete, für den er arbeitete.«
»Monsieur Calvaire, ich weiß. Es kam ja ausführlich in den
Lokalsendern.« Sie atmete tief durch. »Im Krankenhaus durfte ich
ihn nicht besuchen … Er wurde vollkommen abgeschirmt.«
François‘ Handy schrillte. Er nahm den Apparat ans Ohr,
meldete sich.
»Jonas Colon wurde tot aufgefunden«, erklärte François einen
Augenblick später.
»Nein!«, entfuhr es Anne Olivier. Tränen glitzerten in ihren
Augen. In ohnmächtiger Wut ballte sie Fäuste. »Diese Schweine«,
flüsterte sie tonlos.
François wandte sich an mich.
»Ich fahre zum Fundort der Leiche. Vielleicht ergibt sich dort
irgendein Anhaltspunkt. Vielleicht erfährst du ja hier noch
etwas.«
»In Ordnung«, nickte ich.
»Ich hole dich dann nachher ab.«
Nachdem François gegangen war, saß Anne Olivier wieder eine
ganze Weile in sich zusammengesunken da. Inzwischen hatten die
Kollegen der Saint-Barthélemyer Polizeidienststelle herausgefunden,
dass der Tote im Garten Zacharias Bach hieß.
»Er hatte eine Taxi-Quittung in der Hosentasche«, berichtete
unser Kollege Commissaire Clermont. Er hielt mir das sorgfältig in
Cellophan eingetütete Stück Papier hin. Ich sah es mir eingehend
an. Danach war Bach am gestrigen Abend in Marseille gewesen, hatte
sich gegen 23.00 Uhr in der Stadt herumkutschieren lassen.
»Es müsste eigentlich zu ermitteln sein, wohin die Fahrt
ging«, meinte Clermont.
Ich wandte mich wieder Anne Olivier zu.
»Je schneller Sie Ihren momentanen Schock überwinden, desto
besser stehen unsere Chancen, die Leute zu fassen, die Monsieur
Colon – und beinahe auch Sie! – auf dem Gewissen haben.«
»Jonas ist … tot«, murmelte sie, so als ob danach nichts mehr
einen Sinn hatte.
»Ich verstehe Ihre Trauer.«
»Wirklich? Das glaube ich kaum!«
»Sie haben Monsieur Colon sehr geliebt.«
»Was interessiert Sie das?«
»Ich will, dass die Männer gefasst werden, die Ihrem
Lebenspartner das angetan haben.«
Anne sah mich an. »Fragen Sie!«, forderte sie mich auf.
»Was wissen Sie über Monsieur Colons Arbeit? Hat er Ihnen
etwas darüber erzählt, vielleicht Namen erwähnt?«
»Ihm war klar, dass das kein gewöhnlicher Nachtwächter-Job
war. Dafür hat er auch viel zu viel Geld dafür bekommen. Aber er
hat keine Fragen gestellt.«
»Ist in der letzten Zeit irgendetwas Ungewöhnliches
passiert?«
Anne zog die Augenbrauen zusammen und zuckte dann mit den
Schultern.