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Unter dem Druck des Alltags, bei all den oft gegensätzlichen Ansprüchen ist die Gefahr groß, die innere Mitte, die Balance, sich selbst zu verlieren. Kann man einüben, damit umzugehen? Was sind die entscheidenden Ressourcen? Wie wird man ausgeglichen, und wie lernt man Gleichmut? Darum geht es in dieser kleinen Lebensschule von Benediktinermönch Anselm Grün: Zu akzeptieren, dass das Leben Pole kennt. Sich Ziele setzen und seiner Zeit eine Struktur geben. Spannungen aushalten, Beziehungen entwickeln und zu sich kommen. Offen bleiben. Und dabei die Leichtigkeit und die Freude am Leben einladen. "Man könnte dieses kleine Buch auch als "Kleine Lebensschule" bezeichnen. "Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben", sagt man seit alters. Vom lebenslangen Lernen sprechen Pädagogen heute, wenn sie die immer neuen Anforderungen der modernen Gesellschaft im Blick haben. Wir lernen heute viel, aber das elementare Lebenswissen kommt zu kurz, das, was früher durch Tradition oder persönliches Vorbild weitergegeben wurde. Denn nicht nur um anwendbare und verwertbare Fertigkeiten geht es. Zumindest nicht, wenn wir von einem gelingenden oder guten Leben sprechen. Sondern es geht, wenn wir danach fragen, was ein glückendes und sinnvolles Leben ausmacht, auch um die rechte Balance, um den Ausgleich zwischen den unterschiedlichsten Ansprüchen, die auf den einzelnen von allen Seiten her eindringen, um die rechte Haltung, die wir brauchen, damit wir unser Leben gut bestehen. Um die "Schulung" dieser Balance geht es jeden Tag. Und die Einübung in dieses Gleichgewicht ist immer wieder neu unsere Aufgabe." (Anselm Grün)
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Seitenzahl: 140
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Anselm Grün
Zur inneren BALANCEfinden
Was das Leben leichter macht
Herausgegeben von Rudolf Walter
Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung und Innengrafik: Gestaltungssaal München
E-Book-Erstellung: le tex publishing services, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-81238-5
ISBN (Print) 978-3-451-00593-0
INHALT
Eine Kleine Lebensschule Einleitung
1 Sei offen für alles, was dir begegnet, aber folge deinem eigenen Stern
2 Lass dich ein auf deine Zeit, aber suche deinen eigenen Rhythmus
3 Gestalte die Welt, aber gehe nicht in ihr auf
4 Suche innere Stärke, die in der Hingabe liegt und nicht im Ego
5 Übernimm selbst Verantwortung und fördere die Lebensmöglichkeiten anderer
6 Verlier dich nicht in der Arbeit, aber was du tust, tue gern
7 Liebe die Gegenwart und lerne, gelassen zu sein
8 Lebe deine Werte, aber bewerte nicht andere
9 Kämpfe für deine Ziele, aber suche auch Frieden
10 Sei gut zu dir selbst und öffne dein Herz für andere
11 Stell dich deiner Angst, verleugne sie nicht – verwandle sie in Lebenskraft
12 Unser Leben besteht nicht nur aus Sonnentagen – nimm Krisen auch als Chance
13 Lebe deine Sehnsucht, denn das, was ist, ist nicht alles
14 Akzeptiere, dass du endlich bist, aber vergiss nicht: Du bist unendlich geliebt
15 Immer wieder: Suche die Stille
Zum Autor
Es war am Morgen des 7. August 1974 in Manhattan. Die New Yorker, die an diesem Tag, kurz vor 8.00 Uhr, wie gewöhnlich aus den U-Bahnen und Vorortzügen strömten, um an ihre Arbeitsstellen und in ihre Büros zu eilen, blieben an diesem Morgen in den Straßenschluchten von Manhattan stehen. Zuerst waren es einige wenige, dann immer mehr, die ungläubig nach oben starrten, zu den Twin Towers, den silbernen Türmen des World Trade Centers, das erst ein Jahr später eröffnet werden sollte. Dort oben in luftiger Höhe, wo die Spitzen beinahe die Wolken streiften, schwebte ein Mensch. Es war der französische Hochseilartist Philippe Petit. Er bewegte sich in über 400 Meter Höhe mit einer Balancierstange über das feine Stahlseil, das mit einer Armbrust von dem einem Turm zum anderen geschossen worden war.
Kaum war er auf der anderen Seite angekommen, war dort oben auch schon die Polizei zur Stelle. Als die Beamten Philippe Petit festnahmen, verstand er die Frage nach dem Grund seines Tuns gar nicht recht: „Ich musste einfach. Es ist eine innere Notwendigkeit. Wenn ich drei Apfelsinen sehe, muss ich jonglieren. Und wenn ich zwei Türme sehe, muss ich gehen.“ Und er erzählte: Als er die beiden Türme von Notre-Dame in Paris gesehen hatte, habe er das Gleiche getan wie jetzt in New York. Die Polizisten von New York glaubten ihm nicht und schickten ihn in die Psychiatrie. Doch der Arzt bescheinigte, dass Philippe Petit nicht verrückt sei. „Gesund und sprühend vor Lebenskraft“, war die Diagnose. Die Polizisten ließen sich schließlich davon überzeugen, dass er nicht aus Sensationsgier über das Seil gegangen war, auch nicht, weil er Geld verdienen oder sich vor den Menschen produzieren wollte. Es war einfach ein innerer Drang: Er sah die Türme und musste die Distanz zwischen ihnen überwinden. Man einigte sich schließlich gütlich. Der Artist wurde nicht bestraft. Er musste allerdings versprechen, seine Kunststücke den Kindern im Central Park vorzuführen.
Die Presse der Welt schrieb damals über das Ereignis, Künstler in aller Welt nahmen ihn sich zum Vorbild. Auch Henri J. M. Nouwen, der große geistliche Schriftsteller, der den Zirkus immer auch als Modell des spirituellen Lebens sah, war fasziniert von Philippe Petit, weil er so fraglos tat, was er in sich als Notwendigkeit spürte.
Es muss nicht die Sensation von New York sein. Viele haben die Faszination der Seiltänzer auch schon in einem kleinen Zirkus erlebt. Woher rührt diese Faszination? Was sie tun, ist nicht nützlich, es bringt keinen Erkenntnisfortschritt, es ist auch nicht von großer Dauer, sondern ein ganz flüchtiges Ereignis. Wenn die Vorstellung vorbei ist, bleibt nur noch ein Gefühl – und die Erinnerung an ein Bild. Aber in dieser Emotion und in diesem Bild berührt uns etwas, was eine tiefere Schicht anspricht und mit der Angst um unser Glück zu tun hat. Es ist die Sehnsucht, in schwierigen Situationen unser Gleichgewicht zu wahren, und die Hoffnung, trotz aller Gefährdung in unserem Leben nicht zu verunglücken.
Die richtige Balance zu finden, ist eine Kunst. Seiltänzer beherrschen diese Kunst am hohen Seil, und sie ernten dafür Applaus und Begeisterung. Ganz besonders, wenn sie ihre Kunst gerade dort zeigen, wo wir vor Angst unser Gleichgewicht verlieren würden. Für Philippe Petit war es ein innerer Drang, zu zeigen, dass es möglich war, am höchsten Punkt über das Seil zu gehen und dabei nicht abzustürzen. Und von dieser Mischung aus Gefährdung und Sicherheit, aus Können, Leichtigkeit und Spannung sind wir als Zuschauer angerührt und angesprochen – auch in der Tiefe unserer Seele.
Schon die Sprache zeigt, worum es bei dieser Erfahrung auch geht: Die gleiche Wurzel wie in „Balance“ steckt auch in der „Bilanz“. Die Bilanz bringt Soll und Haben, Gewinn und Verlust, Ausgaben und Einnahmen ins Gleichgewicht. Unternehmer rechnen beides gegeneinander auf und hoffen, dass sie am Jahresende eine ausgeglichene Bilanz vorlegen können. Was für das Ergebnis des Unternehmens gilt, haben wir auch auf unser persönliches Leben übertragen. In diesem Sinne spricht man von „Lebensbilanz“. Wir möchten, wenn wir eine solche Bilanz ziehen, gerne, dass sich auch da Erfüllung und Enttäuschung, Höhen und Tiefen, Freude und Leid ausgleichen und dass wir nicht in eine seelische Schieflage geraten. Wir möchten innerlich im Gleichgewicht bleiben und nicht von der Schwerkraft nach unten gezogen werden.
Die Lateiner sprechen hier von „aequo animo“, vom Gleichgewicht der Seele oder vom Gleichmut. Der hl. Benedikt verlangt vom Cellerar, dem für die wirtschaftlichen Belange des Klosters Verantwortlichen, dass er „aequo animo“ seine Arbeit erfülle. Inneres und Äußeres sollen sich entsprechen. Er soll am Jahresende dem Konvent nicht nur eine gute Bilanz vorlegen, er soll auch in sich selber Balance halten. Er soll sich nicht von den Problemen bei der Verwaltung aus dem inneren Gleichgewicht bringen lassen, sondern alles mit einem ruhigen und weiten Herzen beurteilen. Für Benedikt braucht es zum Gleichgewicht die innere Weite. Wer sich eng hinstellt, der hat kein Stehvermögen. Er kann leicht umgeworfen werden. Wir brauchen Weite, um uns nicht von jeder Enttäuschung oder Verletzung aus der Balance bringen zu lassen.
Der Schweizer Psychologe C. G. Jung spricht davon, dass jeder Mensch in sich immer zwei Pole hat: den Pol des Verstandes und des Gefühls, der Liebe und der Aggression, des Bewussten und des Unbewussten, des Männlichen und des Weiblichen. Die Kunst der Menschwerdung besteht darin, diese beiden Pole gleichermaßen zu berücksichtigen. Dabei geschieht es meistens so, dass der Mensch in der ersten Lebenshälfte nur einen Pol bewusst lebt. Dann gelangt der andere Pol ins Unbewusste. Jung spricht hier vom Schatten. Im Schatten haust alles, was wir vom Leben ausgeschlossen haben. Solange es aber im Schatten bleibt, wirkt es sich oft destruktiv auf unsere Seele aus. Das verdrängte Gefühl zeigt sich in Sentimentalität, in der wir von den Gefühlen überschwemmt werden und nicht mehr angemessen damit umgehen können. Die verdrängte Aggression äußert sich in harten Urteilen über andere oder aber in depressiven Stimmungen. Oft schlummert sie hinter einer freundlichen Fassade. Aber man merkt hinter dieser Freundlichkeit die aggressiven Pfeile, die von diesem Menschen ausgehen. Zum Weg der Selbstwerdung gehören die Annahme des Schattens und seine Integration. Wir müssen Bewusstes und Unbewusstes ins Gleichgewicht bringen. Dieses Gleichgewicht ist jedoch nicht etwas Statisches. Psychologen sprechen vielmehr vom „Fließgleichgewicht“. Wir müssen dieses lebendige Gleichgewicht immer neu finden.
In der spirituellen Tradition war es im letzten Jahrhundert vor allem der Religionsphilosoph Romano Guardini, dem es um die richtige Spannung und das rechte Gleichgewicht im Menschen ging. Seine Spiritualität fußt dabei auf einer Philosophie des Gegensatzes, die er entwickelt hat. Guardini zeigt darin auf, dass alles Lebendige sich als Gegensatz darstellt: als Gegensatz von Dynamik und Statik, von Form und Fülle, von Ganzheit und Einzelheit, Ursprünglichkeit und Regel, Immanenz und Transzendenz. Das Leben ist immer zweiseitig, polar. Und doch verlangt es nach Einheit. Aber diese Einheit hebt den Gegensatz nicht auf, sondern erzeugt eine gesunde Spannung, ein gutes Gleichgewicht. Daher war Guardini gefeit gegen alle Übertreibungen, wie sie in der katholischen Spiritualität immer wieder vorkamen. Guardini steht dabei in einer guten und langen Tradition. Denn schon die frühen Mönche meinten: „Alles Übermaß ist von den Dämonen.“ Ihre Einsicht: Wenn ich nur fromm bin und meine menschlichen Bedürfnisse überspringe, werden sich in meine Frömmigkeit oft sehr banale Bedürfnisse mischen, etwa das Bedürfnis nach Anerkennung und Zuwendung, nach Macht und Geltung. An der Wahrheit dieser Einsicht hat sich bis heute nichts geändert.
Man könnte dieses kleine Buch auch als „Kleine Lebensschule“ bezeichnen. „Nicht für die Schule lernen wir, sondern fürs Leben“, sagt man seit alters. Vom lebenslangen Lernen sprechen Pädagogen heute, wenn sie die immer neuen Anforderungen der modernen Gesellschaft im Blick haben. Wir lernen heute viel, aber das elementare Lebenswissen kommt zu kurz, das, was früher durch Tradition oder persönliches Vorbild weitergegeben wurde. Denn nicht nur um anwendbare und verwertbare Fertigkeiten geht es. Zumindest nicht, wenn wir von einem gelingenden oder guten Leben sprechen. Sondern es geht, wenn wir danach fragen, was ein glückendes und sinnvolles Leben ausmacht, auch um die rechte Balance, um den Ausgleich zwischen den unterschiedlichsten Ansprüchen, die auf den einzelnen von allen Seiten her eindringen, um die rechte Haltung, die wir brauchen, damit wir unser Leben gut bestehen. Um die „Schulung“ dieser Balance geht es jeden Tag. Und die Einübung in dieses Gleichgewicht ist immer wieder neu unsere Aufgabe.
Reife, Entwicklung hört nie auf. In der Schule unseres Lebens gilt es, das richtige Gleichgewicht zwischen den Polen in uns selber zu finden. Daher sind die 15 kleinen Kapitel dieser Lebensschule immer so formuliert, dass mit einem bestimmten Aspekt auch der Gegenpol berücksichtigt wird.
Ich weiß mich in dieser Art der Lebensschule dem hl. Benedikt verpflichtet. Er hat in seiner Regel für Mönche geschrieben, dass er eine Schule für den Dienst des Herrn einrichten möchte. „Bei dieser Gründung hoffen wir, nichts Hartes und nichts Schweres festzulegen. Sollte es jedoch aus wohlüberlegtem Grund etwas strenger zugehen, um Fehler zu bessern und die Liebe zu bewahren, dann lass dich nicht sofort von Angst verwirren und fliehe nicht vom Weg des Heils; er kann am Anfang nicht anders sein als eng. Wer aber im klösterlichen Leben und im Glauben fortschreitet, dem wird das Herz weit, und er läuft in unsagbarem Glück der Liebe den Weg der Gebote Gottes.“ (RB, Prolog 46–49)
Benedikt will seine Mönche die Polarität des Lebens lehren. Durch die Enge kommt der Mönch in die Weite. Benedikt möchte nichts Hartes. Trotzdem fordert er seine Mönche durch eine gewisse Strenge heraus. Es braucht also immer die beiden Pole, um zu einem weisen und reifen Menschen zu werden. Benedikt spricht von der geistlichen Kunst, von einer ars spiritualis. Gemeint ist damit: Der Mönch muss in dieser Kunst des gesunden Lebens eine gewisse Fertigkeit erlernen. Dazu braucht es Instrumente und eine Werkstatt. Die Werkstatt ist für Benedikt der Lebensraum seiner Mönche, das Kloster. Die Instrumente sind Weisungen der Bibel und Erkenntnisse der geistlichen Tradition.
Unsere Werkstatt, unser Lernort ist unser Alltag. Und die Lebensschule braucht – wie jede Schule und jedes Lernen – Übung, Askese. In der griechischen Philosophie der Stoa bedeutet Askese Einübung in die Tugend. Askese ist immer auch Einübung in die innere Freiheit. Benedikt meint, dass die Mönche sich am besten in die innere Freiheit und in die Tugend einüben, wenn sie die Werkzeuge der geistlichen Kunst benutzen und dabei in der Werkstatt des Klosters bei einem geistlichen Meister in die Schule gehen.
So möchte ich dich, lieber Leser, liebe Leserin, einladen, im Folgenden bei den Meistern des geistlichen Lebens, die auch meine Lehrer waren und sind, in die Schule zu gehen und die Kunst des gesunden Lebens zu lernen.
Lernen ist wie ein Meer ohne Ufer“. Dieser Satz stammt von dem chinesischen Weisen Konfuzius. Er spricht von der unermesslichen Offenheit der Wirklichkeit, die uns lebenslang begleitet. Wer lernen will, muss offen sein für alles, was ihm begegnet. Das beginnt sehr früh in der Kindheit und gilt für das ganze Leben. In der Schule ist das Lernen institutionalisiert. Aber eine gute Schule vermittelt nicht nur Stoff und die Lerninhalte verschiedener Fächer. Sie vermittelt vielmehr die Grundfähigkeit zum lebenslangen, selbständigen Lernen und fördert die Voraussetzungen dafür, dass wir uns in unserem Leben zurecht finden, auch wenn wir den schützenden Raum der Institution Schule verlassen. Schon in der Schule geht es ja nicht immer gleich um den Nutzen, den wir unmittelbar aus dem Lernen und einem konkreten Wissen ziehen. Es geht vielmehr darum, sich in viele Bereiche hinein zu arbeiten, um sich im Leben in seiner ganzen Vielfalt auszukennen und sich in seiner Weite zurechtzufinden. Es ist wichtig und gut, wenn man bestimmte Lerntechniken beherrscht. Aber es braucht für wirkliche Lebenstüchtigkeit noch etwas Anderes und etwas ganz Grundsätzliches: eine Haltung der Offenheit und Neugier.
Eine solche Haltung kann auch viel Freude machen. Wenn ich mich an meine eigene Schulzeit erinnere, so war ich einfach interessiert an dem, was die Lehrer erzählten. Schule hat mich nicht abgestoßen oder gelangweilt. Ich wollte möglichst viel wissen. Das Leben war so spannend, so vielfältig und voller Farben. Natürlich gab es Fächer, die mich weniger interessierten. Aber ich bin heute dankbar, dass unsere Lehrer uns offensichtlich für das Leben und für die Welt begeistern konnten. Wir haben uns für die Geschichte interessiert, weil man uns nicht nur Fakten eingebläut hat, sondern weil uns auch die Lust vermittelt wurde, die Gedanken der großen Philosophen und die geistige Welt der Griechen und Römer kennen zu lernen. Mit dieser Offenheit und Neugier ging ich auch ins Kloster und begeisterte mich für die frühen Mönche. Ich war fasziniert von ihrer radikalen Lebensform, von ihrer entschiedenen Askese, auch wenn mir vieles erst einmal unverständlich blieb. Weil sie mich interessierten, wollte ich sie tiefer verstehen. Im Studium der Theologie erschloss sich mir eine geistige und geistliche Welt. Ich wollte nicht nur lernen, um Bescheid zu wissen oder um ein gutes Examen zu machen. Ich wollte hinter das kommen, was in den festgeschriebenen Sätzen stand. Mich interessierte, warum Theologen vergangener Jahrhunderte so und nicht anders gedacht hatten und welche existentielle, soziale und geistige Erfahrung hinter ihren Gedanken stand, was sie im Innersten bewegt hatte. Das war nichts Abstraktes, sondern es hatte mit mir selber und mit meinen eigenen Fragen zu tun.
Nach dem Ersten Weltkrieg gab es gerade unter Jugendlichen eine große Aufbruchstimmung. Als Romano Guardini damals für die Jugend auf Burg Rothenfels Besinnungstage hielt, da scharten sich abends viele Jugendliche um ihn und diskutierten lange mit ihm über die Fragen des Glaubens und des Lebens. Es war damals eine wissbegierige Jugend. Man rang um die wahre Gestalt des Glaubens, um den Sinn des Lebens, um die Grundfragen des Menschen. Heute beklagen sich nicht nur Theologieprofessoren, dass viele Studenten gar nicht diskutieren wollen. Sie wollen nur ihren Stoff für die Prüfung lernen, damit sie dort gut abschneiden. Alles andere scheint sie nicht zu interessieren. Das führt zu einer Einengung des Denkens und des geistigen Horizonts, zu einem Verlust geistiger Lebendigkeit. Es braucht die Offenheit für die Probleme dieser Welt, um für sich selbst den Weg zu erkennen, der für einen stimmt.
Auch Offenheit kann freilich zum Problem werden. Orientierungslosigkeit auf einem offenen Meer kann lebensgefährlich sein. Die Gefahr der Offenheit im Sinne von fehlender Orientierung und Verbindlichkeit in unserem eigenen Leben ist, dass wir jeder Modeströmung nachlaufen. „Nach allen Seiten offen“ sein, das kann auch heißen, dass man Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg geht, dass man Festlegung scheut und damit bemäntelt, dass man gar keinen eigenen sicheren und festen Standpunkt hat. Und so sagt man heute mit einiger Berechtigung: „Wer nach allen Seiten offen ist, der ist nicht ganz dicht.“ Bei einem Menschen, der in diesem Sinne „offen“ ist, hat man den Eindruck, es fließt alles aus ihm heraus. Er kann nicht bei sich bleiben. Er findet keinen festen Stand. Wenn wir in diesem Sinn „offen“ sind, heißt das: Wir interessieren uns für alles, aber wir prüfen es nicht. Wir gehen mit den Moden, laufen dem Zeitgeist hinterher und wechseln alle zwei Jahre unsere Meinung und unseren Lebensstil. Wir lassen uns dann auch von geistlichen Meistern, die gerade en vogue sind, vorschreiben, wie wir zu leben haben. Sie sagen dann, was wir zu tun haben, damit unser Leben angeblich gelingt. Heute gibt es sowohl im religiösen wie im psychologischen Bereich ständig neue Strömungen, denen man nachjagt und von denen man das Heil erwartet. Es fehlt oft die persönliche Auseinandersetzung, die eigene, d.h. persönlich verantwortete Klärung. Manche meinen, sie würden etwas versäumen, wenn sie den neuesten Trend des gesunden Lebens verpassen würden. Doch sie hüpfen von einem Gleis zum anderen und kommen doch nicht weiter. Sie bewegen sich ständig und haben doch keine Richtung. Sie sind ziellos.