Zürihegel - Stefan Haenni - E-Book

Zürihegel E-Book

Stefan Haenni

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Beschreibung

Von der Metropole bis ins hügelige Hinterland des Kantons Zürich erschüttern eiskalte Verbrechen die Bevölkerung. Im Fischenthal macht eine junge Frau auf Jobsuche eine grausige Erfahrung. Am Skilift des Atzmännig wird es für einen ehrgeizigen Ehemann prekär. »Die Bösen« schwingen auf dem Bachtel ohne ihren entgleisten Favoriten. Im Tösstal gefriert das Herz eines eifersüchtigen Schreiners, und die Stadtzürcher Bike Police jagt am Utoquai eine Schmuckdiebin, während im „Kreis Cheib“ ein „Serien-Chiller“ von sich reden macht.

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Stefan Haenni

Zürihegel

Winterkrimis

Zum Buch

Blutiges Zürigeschnetzeltes Von der Metropole bis ins hügelige Hinterland des Kantons Zürich erschüttern eiskalte Verbrechen die Bevölkerung. Im Fischenthal macht eine junge Frau auf Jobsuche eine grausige Erfahrung. Am Skilift des Atzmännig wird es für einen ehrgeizigen Ehemann prekär. In »Zürihegel« wagen zwei Pärchen eine unmoralische Wette. Auf einem Kreuzfahrtschiff birgt die Winterflucht einer lebenslustigen Zürcherin eine tödliche Gefahr. »Die Bösen« schwingen nach einem gnadenlosen Wintertraining auf dem Bachtel ohne ihren entgleisten Favoriten. Im Tösstal gefriert das Herz eines eifersüchtigen Schreiners wie Eiszapfen an der Dachrinne. Die Stadtzürcher Bike Police jagt am Utoquai eine Schmuckdiebin, während im „Kreis Cheib“ ein „Serien-Chiller“ von sich reden macht. Im winterlichen Regensdorf sorgen zwei coole Badgirls für Aufregung. Ein windiger Maler ist an der Goldküste auf krummer Tour, und auf dem eingeschneiten Altberg werden junge Menschen Zeugen eines grässlichen Mordes.

Stefan Haenni, geboren 1958 in Thun, studierte an den Universitäten Bern und Fribourg Kunstgeschichte, Psychologie und Pädagogik. Seit 2009 lebt und arbeitet er als freischaffender Autor und Kunstmaler in seiner Geburtsstadt. Haenni publizierte zahlreiche Kriminalgeschichten in thematischen Anthologien. Im Gmeiner-Verlag erschienen seine Kriminalromane »Narrentod«, »Brahmsrösi«, »Scherbenhaufen«, »Berner Bärendreck«, »Tellspielopfer« und »Todlerone«.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Bratscher / Photocase.de

ISBN 978-3-8392-7344-9

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Inhalt

1. Zürigeschnetzeltes

2. Der Schnurri

3. Pink Lady

4. Der kunstsinnige Kriminaltourist

5. Eierlikör

6. Zürihegel

7. Eiszapfen

8. Winterflucht

9. Bad Girls

10. Abluchsen

11. Seitensprünge

12. Die Bösen

13. Klunker

14. Das Schnäppchen

15. Serien-Chiller

16. Die Zeugen

17. Atzmännig

18. Luxemburgerli

19. Eine todsichere Idee

20. Der Eisprinz

Lesen Sie weiter …

1. Zürigeschnetzeltes

Das hügelige Hinterland östlich des Zürichsees und des Pfannenstils wird als Zürcher Oberland bezeichnet. Es umfasst das Mittlere Tösstal, den Greifen- und Pfäffikersee sowie Gemeinden wie Fehraltorf, Gossau, Hinwil, Pfäffikon und Uster.

Die Landschaft präsentierte sich als Winter Wonderland.

Gitte und ihre beste Freundin Birgit interessierten sich für eine Anstellung im »Groundhouse für Pflege und betreutes Wohnen« im beschaulichen Fischenthal im Tösstal. Die beiden jungen Frauen hatten kürzlich ihre Ausbildung als Pflegerinnen abgeschlossen, ihre Praktika mit Bravour bestanden und steckten jetzt voller Tatendrang. Um sich die Institution anzusehen, beabsichtigten sie, gemeinsam in die Schweiz zu reisen.

Gitte zog jedoch alleine los, weil sich ihre Kollegin kurzfristig abgemeldet hatte. Die Begründung tönte in Gittes Ohren nach einer plumpen Ausrede. Birgit fühle sich angeblich kränklich und befürchte den unmittelbaren Ausbruch einer Grippe. Der eigentliche Grund für die Absage lag vermutlich in einer neuen Männerbekanntschaft, die prioritär behandelt wurde. Wie dem auch sei, Gitte wollte auf die Besichtigung vor Ort nicht verzichten und packte ihre Reisetasche für zwei Tage.

Im Internet hatte sie sich ein Zimmer mit Frühstück reserviert. Das Angebot war für Schweizer Verhältnisse überraschend preisgünstig. Die einzige, leider etwas unscharfe und unterbeleuchtete Abbildung im Netz zeigte ein winziges, getäfertes Zimmerchen mit Dachschräge. Es machte einen wohnlichen Eindruck. WC und Bad zur Alleinbenutzung sollten sich auf demselben Stock befinden. Das Angebot genügte Gitte für die zwei geplanten Übernachtungen. Zudem verzeichnete es eine durchschnittliche Bewertung von immerhin sechs von zehn Punkten.

Per Bahn führte die Reise von Karlsruhe über Zürich und Rüti ins Oberland. Zwischen Rüti und Fischenthal beförderte der weiß-graue Turbo der Tösstalbahn Gitte durch eine glitzernde Winterlandschaft. Allerdings hatte sich Gitte unter einem Turbo etwas Schnelleres vorgestellt. Nun, man befand sich halt in der behäbigen Schweiz. Die frischgebackene Altenpflegerin strahlte mit der Wintersonne um die Wette und bereute ihren Entschluss, die Reise alleine angetreten zu haben, keinen Augenblick.

Nach Ankunft marschierte Gitte mit leichter Bagage durch das unspektakuläre Dorf. Der Routenplaner auf dem Handy lotste die Besucherin zielsicher Richtung Würz an die Adresse eines leicht verlotterten Chalets. Das Häuschen stand in erhöhter Lage abseits am Dorfrand und war von einer hohen Hecke dicht gepflanzter Nadelhölzer umgeben. Die Tännchen wirkten unter ihren Schneekappen wie Weihnachtsbäumchen. Gitte hätte sich nicht gewundert, wenn der Nikolaus persönlich die Tür geöffnet hätte. Stattdessen stand ein glatt rasierter, bleichgesichtiger Rentner vor ihr, der sie neugierig musterte. Er trug einen fleckigen und ausgeleierten Trainingsanzug.

»Guten Tag, Fräulein«, näselte er in mundartlich gefärbtem Hochdeutsch.

Mehr als am ungepflegten Auftritt störte sich Gitte am »Fräulein«. Sie ließ sich trotzdem nichts anmerken und grüßte munter zurück. »Hallo. Ich habe im Internet Ihr Zimmer gebucht. Gitte Rohrbach.«

Der Alte grinste und bleckte sein gelbes Pferdegebiss. »Ich weiß. Treten Sie ein. Aber klopfen Sie bitte Ihre Schuhe ab, damit sie keinen Schnee ins Entree schleppen.«

»Ich kann sie auch ausziehen, wenn Sie es wünschen.«

Er winkte mit einer schlanken, knochigen Hand ab und meinte: »Nicht nötig. Einfach auf dem Deckeli abstreifen.«

Die Wohnung war gut geheizt. Es roch nach Holz, Harz und dem Rauch des offenen Feuers, das im Wohnzimmer knisterte.

Gitte war in erster Linie auf den Zustand ihres Zimmers gespannt. Hoffentlich präsentierte es sich etwas gepflegter als der Gastgeber. Ob in Lavabo und Toilettenschüssel noch Grüße vorheriger Gäste klebten? Das wäre der Supergau!

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen? Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Logis.«

»Gerne.«

Der Rentner war im Begriff, ihre Tasche zu ergreifen. Da kam ihm Gitte zuvor. »Bemühen Sie sich nicht. Ich trage meinen Plunder selber.«

Der Alte schlurfte eine schmale Holztreppe hoch, die bei jedem Tritt bedrohlich knarrte. Oben warnte er: »Vorsicht, der Kopf! Wegen der Dachschräge ist es hier ziemlich niedrig.«

Die Zimmertür stand einladend offen. Eigentlich handelte es sich eher um eine Kammer als um ein Zimmer. Die Enge evozierte immerhin Wohnlichkeit und Geborgenheit. Als Gitte feststellte, dass das Bett frisch bezogen war, schwang sie ihre Reisetasche erleichtert auf das Tischchen am Fenster. Ein kurzer Blick durch die viergeteilte Scheibe eröffnete ihr die winterliche Hügellandschaft, die es in den kommenden Tagen zu erkunden galt. Ihr möglicherweise künftiger Arbeitsort befand sich einen Fußmarsch entfernt auf dem Talboden. Eine dem »Groundhouse« näher gelegene Unterkunft war leider nicht frei gewesen. Falls Gitte die Stelle antreten würde, stünde ihr am Arbeitsort ein eigenes Personalzimmer zur Verfügung.

Da hörte Gitte erneut die näselnde Stimme des Gastgebers. Er wollte ihr offenbar noch das Badezimmer zeigen. Die beengte Nasszelle mit der von Feuchtigkeit schwarz-grau verfärbten Holzdecke machte einen enttäuschenden Eindruck. Mehr durfte bei dem geringen Mietpreis vermutlich nicht erwartet werden.

»Haben Sie schon gegessen?«, erkundigte sich der Vermieter.

»Ja, in der Bahn. Zwei Sandwiches. Das reicht mir für den Augenblick.«

»Hätten Sie was dagegen, wenn ich Sie heute Abend zum Nachtessen einlade?« Dazu grinste er verlegen.

Gitte zögerte. Sie hatte Proviant mitgeschleppt, da im Angebot nur das Frühstück inbegriffen war.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, ergänzte der Vermieter: »Es kostet Sie nichts. Sie sind mein Gast. Ich habe gerne Gesellschaft, verstehen Sie?«

»Ja dann. Danke für die Einladung.«

Er strahlte und rieb sich dazu die arthritischen Hände. »Passt 19 Uhr?«

»Perfekt. Jetzt werde ich erst mal eine kleine Erkundungstour unternehmen.«

»Gute Idee, Fräulein. Ich empfehle Ihnen, dem Fußweg rechts zu folgen. So kommen Sie automatisch durch einen zauberhaft verschneiten Waldabschnitt. Mit etwas Glück lässt sich sogar äsendes Rotwild beobachten.«

»Danke für den Tipp.« Gitte wollte sich noch einen Augenblick hinlegen und wartete nur darauf, endlich die Zimmertür hinter sich zu schließen. »Dann bis heute Abend.«

Der Gastgeber polterte die altersschwache Treppe hinunter. Hinter ihm schwebte der Geruch einer Rheumasalbe in der trockenen Luft. Eine Mischung ätherischer Öle von Kampfer, Lavendel und Wallwurz. Rasch klickte Gitte die Tür ins Schloss. Solche und ähnliche Düfte würden ihr im Altersheim noch zur Genüge in die Nase steigen.

Die Pflegerin lag auf dem Rücken und begutachtete das Zimmerchen. Über dem Bett hing ein alter Fotokalender mit verblassten Abbildungen der Alpenflora. Das Bettzeug war rot-weiß kariert. Ebenso die Vorhänge und das Tischtuch. Der orangefarbene Stoffschirm der Deckenlampe aus den 70ern passte nicht wirklich dazu. Immerhin war auch das Nachtlämpchen an der Wand im selben Stil gehalten. Alpenchic und Hippielook – eine gewöhnungsbedürftige Kombination. Außer dem Bett, dem Tischchen und der dazugehörenden Stabelle gab es keine weitere Möblierung. Weder einen Schrank noch eine Gepäckablage. Im Grunde genommen fehlte dafür der erforderliche Raum. Und es war ja bloß für zwei Nächte, tröstete sich Gitte. Kurz danach machte sie sich auf, Fischenthal zu erkunden.

*

Als sie Stunden später halb erfroren ins Chalet zurückkehrte, war sie richtig hungrig geworden. Zum Glück hatte sie die nette Einladung zum Nachtessen angenommen. Aus der Küche duftete es vielversprechend. Der Gastgeber war hörbar am Hantieren. Dazu plärrte Ländlermusik aus einem Transistorradio.

Gitte trat in den Türrahmen. »Guten Abend. Kann ich irgendwie behilflich sein?«, erkundigte sie sich.

Der Gastgeber hatte Gitte offenbar nicht kommen gehört und reagierte darum überrascht. Als er jedoch die junge Frau erblickte, flog ein seliges Lächeln über sein runzliges Gesicht. »Ja, Sie könnten das Fleisch aus dem Tiefkühler holen.«

»Gerne. Sagen Sie mir einfach, wo und was.«

»Er steht im Keller. Nehmen Sie das oberste Päckli. Es ist mit ›Kalbfleisch‹ angeschrieben.«

Sie besorgte das Gewünschte. Die Tiefkühltruhe war überraschend gut gefüllt. Gitte ergriff das steinhart gefrorene Fleisch im halbtransparenten Plastikbeutel, schloss die Truhe und kehrte eilig in die geheizte Küche zurück.

»Legen sie das Fleisch zum Auftauen in die Mikrowelle«, befahl der Koch. In einem kleinen Pfännchen brutzelte eine Rösti. Auf dem Küchentisch lagen Reste frischer Champignons.

»Darf ich nach dem Menu fragen?« Gitte verspürte Kohldampf, der durch die feinen Gerüche der Zubereitung noch gesteigert wurde.

»Selbstverständlich. Es gibt Zürigeschnetzeltes mit Rösti«, erklärte der Alte und ergänzte: »Ein Traditionsgericht mit zartem Kalbfleisch und cremiger Champignon-Rahmsoße. Ich hoffe, das passt?«

»Perfekt!«, bestätigte Gitte. »Kann ich sonst noch was tun?«

»Ja, schütten Sie die Champignons und die Schalotten ins Pfännchen mit der Butter. Zum Andicken der Soße stäuben Sie etwas Mehl über die Pilze. Danach gießen Sie ein Gläschen Weißwein dazu und kochen das Ganze auf, wenn Sie so freundlich sein wollen, Fräulein.«

Das »Fräulein« ließ sie dem Gastgeber inzwischen ohne allzu großen Ärger durchgehen. Es war vermutlich seiner Generation geschuldet und wurde durch ein Gratisessen mehr als ausgeglichen.

»Ist es Ihnen recht, wenn ich eine Flasche Chardonnay öffne?«, erkundigte sich der Mann. »Ich finde, zur Rahmsoße passt er einfach am besten. Oder trinken Sie lieber Rotwein zum Fleisch?«

»Weißwein ist wunderbar. Danke.«

Die Schnitzel lagen portioniert im Beutel und waren inzwischen aufgetaut. Der Hausherr schnitt sie quer zur Faser in ein Zentimeter dicke Streifen. Anschließend landete das Geschnetzelte in der Bratpfanne mit der heißen Butter, wo es beidseitig goldbraun gebraten wurde. Die knusprige Rösti richtete der Alte auf zwei Tellern an. Das Fleisch legte er daneben und übergoss es reichlich mit der Rahmsoße.

Schon konnten sich Gast und Gastgeber gemeinsam zu Tische setzen und es sich so richtig munden lassen.

Anfänglich waren, abgesehen von schmatzenden Geräuschen und dem Geklapper der Gabeln, kaum andere Geräusche zu vernehmen. Nach Tilgung des gröbsten Hungers eröffnete der Gastgeber das Gespräch mit einer überraschenden Frage: »Haben Sie es zufälligerweise auch gelesen, Fräulein? Im Wallis wird noch immer dieser deutsche Unternehmer vermisst.«

»Ja, offenbar«, bestätigte Gitte, leicht irritiert über die Themenwahl. Nur weil sie selber Deutsche war, interessierte sie sich nicht zwingend für das Schicksal ihrer Landsleute. Die reißerischen Schlagzeilen bezüglich des verschwundenen Millionärs waren jedoch selbst Gitte nicht entgangen.

»Eine Überwachungskamera habe ihn in der Bergstation Klein Matterhorn erfasst. Danach habe sich seine Spur verloren.«

Gitte legte ihre Gabel auf den Teller. »Ist er nicht in die Berge gereist, um für das Rennen der Patrouille des Glaciers zu trainieren?«

Der Rentner mampfte munter weiter und sprach mit vollem Mund. »Stimmt. Er sei eigentlich ein trainierter Sportler gewesen.« Dabei spuckte der Alte unbeabsichtigt einen winzigen Soßespritzer in Gittes Teller.

Sie schien das Malheur nicht bemerkt zu haben. »Man munkelt, dass er gar nicht verunglückt ist, sondern sich über die nahe Grenze nach Italien abgesetzt haben könnte. Jedenfalls sonderbar, dass er trotz umfangreicher Suchaktionen bisher nicht gefunden wurde.«

Der Tischnachbar hob den Kopf und fixierte seinen Gast. »Ja, rätselhaft. Es kommt jedoch häufiger vor, als man denkt, dass Menschen einfach verschwinden. Rund 80 bis 100 Personen werden allein im Kanton Zürich jährlich als vermisst gemeldet.«

Gitte neigte kokett das Haupt zur Seite und fragte mit gespielter Besorgnis: »Sind auch hier in der Gegend schon Menschen verschwunden?«

»Selbstverständlich. Meistens Wanderer oder Bergsteiger. Da gab es vor ein paar Jahren beispielsweise den Fall eines Vermissten am Schnebelhorn. Sein Auto wurde auf einem Parkplatz in Steg gefunden. Man nahm daher an, dass der Mann irgendwo in der Region zu finden sei.«

»War er das?«

»Eben nicht. Ein paar Monate später wurden auf einem wenig begangenen Bergweg ein Handy, ein beschädigter blauer Rucksack und ein einzelner Schuh gefunden.«

Gitte wunderte sich. »Vom Vermissten?«

»Das ist völlig unklar«, räumte der Gastgeber ein. »Sonderbarerweise ist nicht mal der Finder der Gegenstände bekannt. Sie wurden der Polizei von einer unbeteiligten Drittperson übergeben.«

Die junge Frau grübelte weiter. »Komisch, dass nur ein einzelner Schuh auftauchte. Wie kann jemand einen Schuh, das Mobiltelefon und den Rucksack gleichzeitig verlieren und mit dem zweiten Schuh an den Füßen ins Verderben rennen?«

»Das klingt tatsächlich unwahrscheinlich. Aber mehr noch als das beschäftigt mich ein Fall vom letzen Winter.«

»Was ist passiert?«

»Hier im Tösstal ist ein Fräulein spurlos verschwunden. Ich habe es persönlich gekannt.«

»Eine Verwandte?«, wollte Gitte wissen.

»Nein. Ein Gast wie Sie. Die Dame logierte bei mir«, erklärte der Alte mit wackliger Stimme.

»Oh, du meine Güte! Dann muss Ihnen ihr Verschwinden ja besonders nahegegangen sein?«

»Das können Sie laut sagen. Noch heute denke ich fast täglich an das zarte Wesen.«

»Tragisch«, kommentierte Gitte und starrte an die gegenüberliegende Wand, an der eine gerahmte Stickerei mit dem Spruch »Glaub an Gott, und du gehst nicht verloren« hing.

Der Rentner erinnerte sich. »Das Fräulein brach trotz schlechter Witterung alleine zu einer Schneeschuhwanderung auf, vermutlich Richtung Hörnli. Bedauerlicherweise hat sie mir vor dem Aufbruch ihre Route nicht bekannt gegeben. So waren die Suchtrupps nach ihrem Verschwinden gezwungen, ein riesiges Gebiet abzusuchen. Leider erfolglos.«

»Bestimmt eine traumatische Erfahrung«, kommentierte Gitte, ohne dass klar wurde, ob sie die Suchtrupps oder den Gastgeber meinte.

»Darum bedeuten mir Besucherinnen wie Sie umso mehr«, fuhr der Alte fort. »Sie stärken meine Zuversicht und meinen Glauben, dass es trotzdem immer weitergeht und man nie ganz alleine und verlassen bleibt.« Dann bemerkte er Gittes leeren Teller. »Sie haben ja gar nichts mehr zu beißen. Darf ich Ihnen noch etwas Fleisch nachlegen?«

Sie winkte ab. »Danke, ich bin satt. Es hat super geschmeckt. Besonders die Soße mit den Pilzen. Sie haben den Geschmack von Fleisch und Rahmsoße dominiert.«

Der Gastgeber hob theatralisch die Augenbrauen. »Oh!?«

»Nein, nein. Das ist nicht als Kritik gemeint. Das Fleisch war sehr zart und mager. Wie ich es mag. Vor allem ohne lästige Sehnen oder zähe Knorpel. Einfach wunderbar, danke.«

»Dann ist ja gut.« Er kratzte die letzten Reste zusammen, schob sie sich auf die Gabel und führte diese zum Mund. Unterwegs tropfte die Soße teilweise wieder in den Teller zurück. Worauf der Alte die Prozedur ohne Eile und mit fraglichem Erfolg zweimal wiederholte. »Übrigens, um nochmals auf die Geschichte der Vermissten zurückzukommen. Nicht jeder mysteriöse Fall bleibt unaufgeklärt. Gerade kürzlich ist ein lange vermisstes Ehepaar aus einem Gletscher aufgetaucht.«

»Das ist ja ein Ding!«, staunte Gitte.

Der Rentner, erfreut über ihre Reaktion, erzählte weiter: »Die sterblichen Überreste sind in einem Gletscher bei Diablerets im Kanton Waadt entdeckt worden. Nach 75 Jahren hat er sie endlich freigegeben. Die Leichen konnten sogar noch identifiziert werden.«

»Gibt es Nachfahren?«

»Ja. Der Fund soll für die altersschwache Tochter eine riesige Genugtuung gewesen sein. Bei der Beerdigung habe sie, als Zeichen der erfüllten Hoffnung, Weiß statt Schwarz getragen.«

Gitte lächelte versonnen. »Eine tröstliche Geschichte.«

»Weiß Gott«, bestätigte der Gastgeber. Dann rutschte er mit dem Stuhl zurück und erhob sich ächzend. »So, das Feuer ist am Erlöschen. Ich sollte Holz nachlegen.« Er trippelte zum Cheminée. Dort blieb er überrascht stehen und meinte: »Hoppla! Leer! Ich muss erst hinterm Haus ein paar Scheiter holen.«

Gitte schnellte hoch. »Soll ich?«

»Nicht nötig. Bin gleich zurück.«

»Dann räume ich inzwischen den Tisch ab, wenn es recht ist.«

»Oh ja, das wäre toll. Merci.«

Nach kurzer Zeit stampfte es wieder vor der Tür. Der Rentner befreite vermutlich die Hausschuhe vom Schnee. Dann trat er, schwer beladen mit einem Arm voll Buchenholz, in die Stube zurück. In der rechten Hand schleppte der Alte eine rostige Axt. Die Holzscheiter ließ er vor der Feuerstelle mit Getöse auf den Boden poltern.

Gitte beäugte verwundert die klobigen Hölzer, die kreuz und quer auf dem Riemenparkett lagen. Der klapprige Greis hatte eine gewaltige Ladung angeschleppt.

Er folgte ihrem erstaunten Blick und erklärte: »Die Scheiter sind zum Teil etwas groß. Darum habe ich die Axt mitgenommen, um sie nötigenfalls zu halbieren.«

»Darf ich wenigstens das für Sie erledigen?«

»Ch-ch-ch-ch.« Sein Kichern klang wie ein asthmatischer Anfall. »Merci, Fräulein. Im Moment brennt das Feuer ja wieder ganz ordentlich. Setzen Sie sich doch einfach.« Er hatte drei der handlicheren Scheiter ins Feuer gelegt. Anschließend äugte er prüfend zur jungen Frau und ergriff die Axt.

Das Letzte, was Gitte vernahm, war die Ankündigung ihres Gastgebers: »So, Fräulein, dann will ich mal dafür sorgen, dass mir die Vorräte nicht ausgehen.«

Ob sie den tödlichen Schlag noch spürte, der ihr danach die Schädeldecke spaltete?

 

2. Der Schnurri

Irgendwo zwischen Zürcher- und Zugersee stand ein nobles Privatinternat. Lorenz und Konrad studierten dort an der »Upper School« für 14- bis 18-Jährige.

Die Schule befand sich weitab vom Schuss auf einer Anhöhe mit prächtigem Weitblick über die verschneiten Wiesen. Frau Holle hatte ihre Kissen mächtig geschüttelt. Die ganze Gegend zeigte sich in seinem schönsten Winterkleid. Mittendrein befand sich ein schlossartiges Gebäude mit mehreren modernen Nebengebäuden. Hier verkehrten ausschließlich Kinder und Jugendliche gut situierter Eltern.

Die beiden Jungs waren solche Krösusse. Sie standen in ihrem letzten Wintersemester vor dem Diplom. Bis Semesterende waren mindestens 23 Credits zu sammeln. Ansonsten wurde das Diplom verweigert und das ganze Schuljahr musste repetiert werden.

Für Konrad war der Zug bereits abgefahren. Egal, ob er einen zusätzlichen Credit in Mathematik verbuchen konnte oder nicht. Bis zur Qualifikation klaffte eine unüberbrückbare Lücke.

Sein Kollege Lorenz war in einer ähnlichen Situation. Auch bei ihm drohte das Aus. Allerdings lag er mit nur einem Punkt knapp unterhalb der Grenze. Mehr als ärgerlich. Für Lorenz war die letzte Mathearbeit darum überlebenswichtig. Natürlich hätten ihm seine Eltern, der Vater war Investor, problemlos ein zusätzliches Schuljahr bezahlt. Lorenz ging es jedoch um die Ehre. Zudem grauste ihm davor, als Repetent alten Schulstoff in einer neuen Klasse mit jüngeren Mitschülern zum zweiten Mal durchzukauen.

Gegenüber dem Vater verteidigte er sich. »Ich bin nicht der Schlechteste meines Jahrgangs. Konrad hat noch mieser abgeschnitten. Er hat null Chancen, weil er echt ein Loser ist. Ich hingegen werde es schaffen. Versprochen, Dad!«

»Vergleiche dich nicht mit den schlechteren, sondern mit den besseren Schülern. Eifere denen nach! Nimm dir ein Beispiel an ihrem Ehrgeiz und Biss. Was geht dich dieser Konrad an?«, mahnte der Vater.

»Er ist immerhin mein bester Kollege«, wandte Lorenz ein. In Wahrheit schätzte er den dicklichen Mitschüler vor allem darum, weil er sich neben Konrad schöner, besser und klüger wähnte. Konrad war in seinen Augen zwar ein Schnurri, ein dummer Schwätzer, gleichzeitig allerdings ein hilfsbereiter Mitschüler.

Ihm gestand Lorenz verbittert: »Der Mathepauker ist ein echtes Arschloch. Er hasst mich. Das ist klar. Wenn er meine Arbeiten korrigiert, liest er die bestimmt dreimal durch, um ja kein Fehlerchen zu übersehen. Ich könnte den Kerl umbringen!«

Tatsächlich hing einzig und allein vom Urteil dieser Lehrkraft ab, ob Lorenz das Ziel der Promotion hauchdünn erreichen oder haarscharf verfehlen würde.

»Zum Glück fällt heute die Mathestunde aus. Gute Gelegenheit, noch etwas für die Prüfung zu büffeln«, meinte Lorenz und klaubte die Unterlagen aus der Louis-Vuit­ton-Tasche.

Konrad musterte ihn traurig. »Das kann ich mir sparen. Bringt eh nichts mehr. Ich werde die Schule verlassen. Eine freiwillige Repetition kommt nicht infrage. Ich pack meinen Krempel und hau noch diese Woche ab. Eure Diplomfeier kann mir gestohlen bleiben. Sollen die glücklichen Streber doch feiern, wie sie wollen. Mich kümmert’s nicht mehr. Ich werde im elterlichen Unternehmen einen Job bekommen«, erklärte er. »Dann verdiene ich endlich mein eigenes Geld.«

Konrad wurde aus erzieherischen Gründen von seinen Eltern eher knappgehalten, was das Taschengeld anbelangte. Obschon der Vater einem internationalen Konzern vorstand, vermied er es tunlichst, den Filius in monetärer Hinsicht zu verwöhnen. Darum kam es öfters vor, dass bereits vor Monatsende ein Loch in Konrads Geldbeutel klaffte.

Als Lorenz vorhin die Drohung gegen den Mathelehrer ausgesprochen hatte, war ein schwacher Geistesblitz durch die träge Hirnmasse des Schulversagers gefahren. »Du, Lorenz«, sagte er, da ihn der Gedanke noch immer nicht losließ. »Was wäre es dir wert, wenn ich den Huber beseitigen würde?«

Huber war ein alleinstehender Spargel mit schütterem Bartwuchs und ekligem Ekzem auf schuppiger Halbglatze. Fachlich über alle Zweifel erhaben, mangelte es dem Mathelehrer an pädagogischem Geschick.

Lorenz blickte Konrad verdutzt an. »Was meinst du mit ›beseitigen‹?«

»Umbringen«, antwortete dieser kalt.

»Danach landest du für den Rest deines Lebens im Knast. Willst du das?«, zweifelte der Kollege.

»Sicher nicht. Hast du noch nie vom perfekten Mord gehört?«

Jetzt lachte Lorenz laut heraus. »Du und der perfekte Mord?« Wie sollte dieser Schwachkopf so was bewerkstelligen? Einfach undenkbar. Andrerseits – war das nicht Konrads Bier? Das Problem von Lorenz wäre auf jeden Fall gelöst. Darum fragte er: »An was für eine Entschädigung hast denn gedacht?«

»Geld, was sonst. Viel Geld.«

»Wie viel?«

»100.000 Franken bar auf die Hand. Kannst du sie auftreiben?«

Lorenz überlegte. Dann meinte er zögerlich: »Ich denke schon. Müsste halt Dad zu einer Überweisung überreden. Nicht einfach. Er würde Fragen stellen. Ich bräuchte eine halbwegs plausible Erklärung, wozu ich so viel Geld benötige.«

»Denk mal darüber nach«, ermutigte ihn Konrad.

Ob er bereits mit einem Bein im Gefängnis stand?

»Ich hab ’ne schlaue Idee«, verkündete Lorenz. »Ich werde ja demnächst 18. Da soll ich von den Eltern einen nigelnagelneuen Lamborghini geschenkt bekommen. Hat Dad mir jedenfalls versprochen. Vielleicht könnte ich ihm klarmachen, dass mir ein Occasionswagen genügt, wenn er dafür die 100.000 locker macht.«

Konrad strahlte über seine vollen Hamsterbacken. An seinen intellektuellen Voraussetzungen, einen Mord zu begehen, ohne dabei verräterische Spuren zu hinterlassen, musste gezweifelt werden. An seiner Bereitschaft dazu hingegen nicht.

»Dir ist hoffentlich klar, dass du bis zur Matheprüfung nur noch drei Tage Zeit hast. Später bringt’s nichts mehr. Hubers Test muss ausfallen. Glaubst du, das kriegst du hin?«, fragte Lorenz skeptisch.

»Mein Bier«, prahlte das Dickerchen großspurig. »Ich erwarte den Zaster bis spätestens morgen Abend. Sonst lass ich’s bleiben, klar?«

»Wird echt knapp«, grübelte Lorenz. »Okay, werd’s versuchen. Augenblick.« Er wählte die Büronummer seines Vaters. »Hoffentlich hat Dad heute seinen generösen Tag.«

Den hatte er. »Es ist deine Sache, wie du den Schenkungsbetrag aufteilst«, erklärte der Vater am Smartphone. »Dachte mir halt, dass dich ein Neuwagen mehr freuen würde als eine Occasion. Nun, wie gesagt. Du kannst selber entscheiden. Schließlich wirst du 18.« Er hatte es offensichtlich eilig und wollte die Angelegenheit rasch vom Tisch haben.

»Easy, Dad«, beruhigte Lorenz und brach die Verbindung ab. Zu Konrad: »Morgen das Geld, übermorgen die Leiche. Ich will damit aber nichts zu tun haben. Ich weiß von nichts, falls ich befragt werden sollte. Du trägst die Verantwortung allein, ist das klar? Ich werde alles abstreiten, wenn die Polente aufkreuzt und blöde Fragen stellt.«

»Schon klar«, bestätigte die geldgierige Dumpfbacke, die womöglich im Begriff war, sich kolossal zu überschätzen. »Meinen Abgang habe ich bei der Schulleitung bereits angekündet. Es wird also nicht weiter auffallen, wenn ich unmittelbar nach dem Coup verdufte.«

»Tja, dann verhaftet dich die Polizei eben später zu Hause«, gab Lorenz zu bedenken. Er schüttelte die hippe Friese mit den rasierten Seiten und dem hochgeföhnten Balg. Was war dieser Konrad doch für ein selten blöder Schnurri. Lorenz konnte das nur recht sein. Allzu viel Mitgefühl entwickelte er angesichts der eigenen Bedrohung durch ein verpasstes Diplom jedenfalls nicht. Und um Huber war’s sowieso nicht schade. »Generationen von ehemaligen Schülerinnen und Schülern werden auf seinem Grab tanzen«, war Lorenz überzeugt.

Wie würde es Konrad anstellen, den hageren Kerl aus der Welt zu schaffen? Ein Mörder benötigte bekanntlich drei Dinge für eine Tat, so viel war Lorenz aus Krimis bekannt: ein Motiv, die Mittel und eine Gelegenheit. Lorenz hätte nur zu gern erfahren, wie Konrads Plan aussah. Was mochte diesem Spatzenhirn eingefallen sein?

Allerdings war es klüger, davon nichts zu wissen, um später die eigene Unschuld umso glaubhafter demonstrieren zu können.

*

Der Filialleiter im nahe gelegenen Horgen zögerte. Erst nach einem Rückruf bei Lorenz’ Vater war er bereit, dem Jugendlichen das viele Bargeld auszuhändigen.

Am nächsten Abend fand die vereinbarte Geldübergabe zwischen den beiden Schülern statt.

Beim Frühstück tauchte Konrad dann nicht mehr auf. Lorenz wurde misstrauisch. Er klopfte an Konrads Tür im Wohntrakt. Keine Reaktion. Lorenz drückte vorsichtig die Klinke. Die Tür war unverschlossen. Das Zimmer war verwaist, der Schrank geräumt und die Kofferablage geleert. Von Konrad keine Spur!

Aufgeregt eilte Lorenz nach unten, um den erstbesten Mitschüler zu befragen. »Weißt du was von Konrad?«

»Wieso? Der ist doch weg. Der Chauffeur hat ihn heut in aller Früh mit ’ner Limousine abgeholt.«

Und was war mit Huber? War er tot? Sein Unterricht hatte jedenfalls seit dem Tag, an dem Konrad von Lorenz beauftragt worden war, nicht mehr stattgefunden. War seine Leiche bereits entdeckt worden? Logischerweise konnte Lorenz nicht danach fragen, ohne sich selbst verdächtig zu machen. Immerhin schöpfte er Hoffnung, weil der Befragte nebenbei bemerkte: »Übrigens, weißt du schon, dass Mathe heute wieder ausfällt?«

Als Lorenz in gespielter Lässigkeit über den Vorplatz des Institutes schlenderte, hatte sich bereits herumgesprochen, dass mit dem verhassten Mathematiker nicht mehr zu rechnen war. Lorenz konnte beinahe nicht glauben, dass Konrad den Mord tatsächlich verübt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Lorenz so was wie Bewunderung für den Kollegen. Oder war die Kaltblütigkeit seiner Dummheit zuzuschreiben?

Was Lorenz allerdings irritierte, war der Umstand, dass auch drei Tage nach der Tat noch keine Polizei angerückt war. Offenbar wurde die Angelegenheit diskret behandelt, um den Ruf des Internats nicht zu schädigen. Oder war Konrad wirklich das perfekte Verbrechen gelungen? Wie und wo war Huber zum Opfer geworden?

Niemand wusste etwas Genaueres.