Zurück in die Freiheit - Walter Faerber - E-Book

Zurück in die Freiheit E-Book

Walter Faerber

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Beschreibung

Alle Konfessionsfamilien erleben schon seit Jahrzehnten eine langsame, aber stetige Abnahme von Mitgliederbestand und Reichweite. Auch vielfältige Modernisierungsschritte und Strukturreformen konnten daran bisher nichts Entscheidendes ändern. Die Probleme müssen deshalb tiefer liegen - es steht eine Grundüberholung unserer Art des Kircheseins an. Etwas Neues beginnt. Aber was? Walter Faerber benutzt das Bild des Auswilderns einer Spezies: Durch den langen Aufenthalt in einem geschützten Biotop ist sie schlecht vorbereitet auf das Leben in ihrer artgemäßen Umgebung. Diese natürliche Umgebung ist für Kirchen und Gemeinden die volle Realität, ungefiltert durch institutionelle Sicherheiten und ohne gesellschaftliche Privilegien. Das Buch beschreibt hilfreiche zentrale christliche Mindsets, wenn die bisher begangenen Wege an ihr Ende kommen. Biblisch verankert und theologisch reflektiert stellen sie Möglichkeiten dar, um die unfruchtbare Alternative von fromm und liberal hinter sich zu lassen, Neuanfänge mit einer anderen Organisationskultur zu ermöglichen und die erlernte christliche Selbstunsicherheit zu überwinden.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

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Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de, unter ­Verwendung eines Bildes © TrifonenkoIvan, Blue Flourishes, Evgeniyqw (shutterstock.com)

Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim

DTP: Burkhard Lieverkus, Wuppertal

Verwendete Schrift: Chapparal, Myriad

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln, www.ppp.eu

ISBN 978-3-7615-6902-3 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Vorwort

»Aslan ist kein zahmer Löwe.«C. S. Lewis: Der König von Narnia

Als ich im Zusammenhang mit der Gründung einer christlichen Organisation, die sich für Biodiversität einsetzt, auf den Begriff des »Rewilding« stieß (ich verdeutsche dieses Wort hier durchgehend mit »Auswildern«), war ich schon länger auf der Suche nach einem Wort, in dem sich die Schwäche der westlichen Kirchentümer zusammenfassen lässt und das gleichzeitig eine Perspektive nach vorn enthält. Nun stieß ich auf ein Buch, das die Metapher des Auswilderns einer bedrohten Tierart in einem ursprünglich von ihr besiedelten Ökosystem gebraucht, um eine Perspektive für die Christenheit in unserem Kulturraum zu zeichnen.

Steve Aisthorpe, angesiedelt im Kontext der schottischen Kirche und der dortigen FreshX-Bewegung, schrieb »Rewilding the Church«1 und verband dort einen Begriff aus der Biologie mit der Kirche. Wie so oft ergibt auch hier die Kombination von zunächst weit voneinander entfernten Wirklichkeitsbereichen überraschende Einsichten. Nichts anderes hat ja Jesus getan, als er in seinen Gleichnissen Erfahrungen aus Natur und Landwirtschaft für das Verstehen des Reiches Gottes fruchtbar machte. Und wie die Gleichnisse Jesu ist auch die Metapher des »Auswilderns« offen für unterschiedliche Deutungen und Auslegungen, die sich gegenseitig nicht widersprechen, aber ergänzen und vertiefen.

Im Rückblick erinnere ich mich nun, wie oft ich schon Büchern begegnet bin, die mit dem Gegensatz wild – zahm gearbeitet haben: »Der wilde Messias« von Michael Frost und Alan Hirsch, »Go wild« von Erwin McManus, »Der ungezähmte Christ« von John Eldredge und manche andere, die mit ähnlichen Assoziationen spielen. Das Thema scheint bereits länger in der Luft zu liegen, denn schon C. S. Lewis wusste: »Aslan ist kein zahmer Löwe«.

Steven Aisthorpe gebührt Dank dafür, dass er viele dieser Themenstränge noch einmal neu aufgenommen und vertieft hat. Er tut dies mit der Erfahrung eines Liebhabers der Schöpfung, der fasziniert ist von der Anpassungsfähigkeit und Regenerationskraft standortgerechter Ökosysteme. Diese lebendige Kraft macht Hoffnung auch für die Zukunft der Kirchen und Christen – wenn wir ihr nur vertrauen. Die gute Nachricht ist, dass wir dafür nicht mehr machen müssen, sondern weniger und anderes: zurücktreten, neugierig beobachten, wie die Dinge sich entwickeln, beten, hören und zulassen, dass manches zu Ende geht, was wir zu lange mit großer Mühe aufrechtzuerhalten versucht haben.

An diese Gedanken will ich anknüpfen, und zwar aus der Perspektive eines deutschen evangelisch-landeskirchlichen Pastors, der sich zunehmend auch für das katholische wie für das evangelikal-freikirchliche Milieu interessiert und auch gern einen Blick auf die weltweite Christenheit wirft. Dennoch bin ich natürlich an mein eigenes Milieu und meinen persönlichen Erfahrungshorizont gebunden. Die kirchliche Landschaft und Diskussionslage schon im Vereinigten Königreich ist anders als in Deutschland. Gar zu beurteilen, was dieser Gedanke des Auswilderns für die nicht-westlichen christlichen Traditionen und die Christen des globalen Südens bedeuten könnte, ist weder meine Verantwortung noch mein Thema.

Sicher hat auch dieser persönliche Hintergrund dazu beigetragen, dass ich die kritischen Seiten der Metapher, die bei Aisthorpe nur gedämpft anklingen, stärker herausgearbeitet habe. Wir müssen anfangen, unsere kirchliche Vergangenheit kritisch auf den Prüfstand zu stellen, wenn wir eine tragfähige Hoffnung für die schwierigen Zeiten entwickeln wollen, die in der Kirche wie in der Gesellschaft vor uns liegen. Die Aufforderung, alles »abzulegen, was uns beim Laufen hindert«2, bedeutet zuerst, dass wir diese hinderlichen Gepäckstücke identifizieren und benennen müssen. Was ist es, das die westliche Christenheit so kurzatmig macht, immer wieder stolpern lässt und bisweilen schier zu Boden drückt?

Wer von »Auswildern« spricht, kommt nicht am Thema der Domestizierung vorbei. Es wäre sicher überdramatisiert, die westliche Christenheit schon als aussterbende Spezies zu sehen, die nur noch im Zoo überlebt. Aber dass wir domestiziert wurden und das mit uns haben machen lassen gehört zur harten Realität, der wir uns stellen müssen. Wenn wir von vielen Menschen eher als langweilig empfunden werden, heißt das eben auch, dass wir vorhersagbar geworden sind, vielleicht nützlich, aber nicht faszinierend; nett, aber auch ungefährlich. Das ängstliche Buhlen der Kirchen um gesellschaftliche und staatliche Anerkennung ist dann die andere Seite dieser zweifelhaften Medaille.

Ich wünsche mir stattdessen eine Christenheit, die sich ihrer eigenen Bedeutung so sicher ist, dass sie diese nicht bei jeder Gelegenheit thematisieren oder befördern muss: so sicher wie ein Adler, der ohne Selbstzweifel Adler ist, seine Kreise zieht und gerade damit seine Rolle im Ökosystem ausfüllt. Das Ökosystem des ganzen Planeten gerät in Schieflage, wenn wir Christinnen und Christen3 uns unserer Rolle aus Unsicherheit verweigern.

1 Steve Aisthorpe: Rewilding the Church, Edinburgh (Saint Andrew Press) 2020.

2 Hebräer 12,1.

3 Ich werde im Folgenden immer wieder auf verschiedene Weise gendern und oder auch darauf verzichten. Das ist kein Zufall, sondern ein bewusst ungrundsätzlicher Umgang mit einem Thema, bei dem ich mir in der Öffentlichkeit eine größere Gelassenheit wünsche.

Einleitung

Die Wölfe des Yellowstone-Parks

In den 1930er-Jahren wurden die Wölfe des Yellowstone-Nationalparks durch den Menschen ausgerottet. Als direkte Folge geriet das natürliche Gleichgewicht der Tier- und Pflanzenwelt durcheinander. Deshalb wurden dort in den 1990er-Jahren kanadische Wölfe ausgewildert.4

Diese Wolfspopulation vermehrte sich und hatte schnell einen enormen Einfluss auf die Flora und Fauna des Parks.5

Die Wölfe reduzierten die Elchpopulation. Ohne natürliche Feinde hatten die Elche sich so stark vermehrt, dass sie die Vegetation bedrohten: Sie fraßen die Wiesen kahl und verhinderten durch Verbiss das Aufwachsen junger Bäume. Als die Elche durch die Wölfe in ihrer Anzahl reduziert und aus den offenen Flächen des Parks vertrieben wurden, begann die Vegetation, sich zu regenerieren. Und mit ihr kamen die Vögel und die Biber. Biber sind Landschaftsarchitekten, die auch Lebensräume für andere Tiere schaffen – für Fische, Otter, Amphibien und viele mehr. Der Artenreichtum des Parks nahm zu. Die Flussufer stabilisierten sich durch die Arbeit der Biber und das Aufwachsen junger Bäume; die Erosion nahm ab.

Durch die Wölfe entstanden so neue, reichere Nahrungsketten. Es zeigte sich, dass das ganze Ökosystem des Parks durch die Ausrottung der Wölfe Schaden genommen hatte und nun wieder zur natürlichen Balance zurückkehrte. Die Wölfe – weit entfernt davon, ihren schlechten Ruf als Räuber zu bestätigen – erwiesen sich de facto als lebensfördernde Schlüsselspezies, die vom oberen Ende der Nahrungskette her einen positiven Einfluss auf das Gedeihen der gesamten Flora und Fauna hatte.

Das Beispiel der Yellowstone-Wölfe ist ein Argument für menschliche Zurückhaltung in der Regulation differenzierter Ökosysteme. Das Netzwerk des Lebens ist zu komplex, um es nach dem Muster einfacher Wenn-dann-Beziehungen zu steuern. Unbedachte menschliche Eingriffe können unerwartete und unerwünschte Folgen haben.

In diesem Buch geht es trotzdem nicht um eine christliche Sicht auf das Habitatmanagement. Die nicht selten verheerenden Effekte menschlicher Eingriffe in die Dynamik gewachsener Ökosysteme stellen vielmehr eine starke Metapher dar, um zu beschreiben, was mit der Jesusbewegung geschehen ist, als sie ihre Distanz zur Gesellschaft aufzugeben begann und sich in die sie umgebenden Macht-, Wirtschafts- und Familiensysteme integrierte. Ich bin davon überzeugt, dass hier die entscheidende Wurzel für den schleichenden, aber offenbar unaufhaltsamen Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen in der europäisch geprägten Neuzeit zu finden ist.

So wie die Ausrottung einer entscheidenden Spezies ein ganzes Ökosystem auf den Weg zum Kollaps bringen kann, hat auch das Schwinden des christlichen Impulses einen verheerenden Einfluss auf seine Umgebung. Jesus hat seine Jünger als »Salz der Erde« beschrieben. Schon damals war allen klar, welch enorme Bedeutung Salz hat: Es verbessert nicht nur den Geschmack der Speisen; es konserviert sie auch und ist lebenswichtig für Menschen und Tiere. In dieser Salz-Funktion sah Jesus seine Bewegung: Der christliche Impuls, herausgewachsen aus den prophetischen Traditionen Israels, bereichert die Gesellschaft um jene herrschaftskritische Korrektur, ohne die das aufsprießende Grün des Lebens und der Kreativität immer wieder von invasiven Spezies wie Herrschaften und Machtkonzentrationen aller Art zertrampelt, abgeweidet und verbissen wird.

An dieser Stelle wird sich bei einigen Christen wie Nichtchristen reflexhaft der Zweifel melden: Ist nicht die christliche Kirche selbst immer wieder eine solche Machtkonzentration gewesen, die Fortschritt und Befreiung behindert hat?

Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: Zum einen gehört diese üble Verirrung zu den schlimmsten Folgen jener Domestizierung, deren Wurzeln ich hier auf den Grund gehen will. Zum anderen aber ist bemerkenswert, wie sehr das Evangelium selbst in seiner verkirchlichten Form noch dazu beiträgt, menschliche Freiheit zu ermöglichen. Das eindrucksvollste Beispiel dafür ist die Begrenzung weltlicher Macht im Abendland allein durch die faktische Existenz der Kirche und ihr institutionelles Interesse an ihrer Selbster­haltung. Die Konkurrenz von Kaiser und Papst verhinderte die Entwicklung eines einheitlichen religiös-politischen Machtzentrums in Europa und schuf so einen Freiraum, in dem sich nach und nach das moderne Bürgertum und mit ihm die demokratische Gesellschaftsverfassung entwickeln konnten.6 Dass die europäische Moderne, abgeschnitten von ihren christlichen Wurzeln, nun selbst in ihrem Überleben bedroht ist und sogar das Überleben der gesamten Menschheit bedroht, steht auf einem anderen Blatt.

Denkt man von der Metapher eines Ökosystems her, dann ist die christliche Bewegung eine Schlüsselspezies, die auf vielerlei Wegen einen zentralen Einfluss auf das Gedeihen der sie umgebenden Gesellschaften ausübt. Auch bei geringer Größe – Christen sollen schließlich das Salz und nicht der Teig sein! – hat ihre Existenz komplexe, schwer vorhersehbare Folgen für den Lauf der Menschheitsgeschichte.

Wie aber ist es dazu gekommen, dass die Kirchen ausgerechnet im christlichen Abendland, das von der christlichen Bewegung fundamental beeinflusst worden ist, auf dem Weg in die Bedeutungslosigkeit zu sein scheinen?

Domestizierung und De-Domestizierung

Um das zu verstehen, müssen wir das Bild der neu im Yellowstone-Park angesiedelten Wölfe zunächst verlassen. Diese Wölfe waren keine verwilderten Hunde. Sie kamen auch nicht aus einem Zoo, sondern waren Abkömmlinge wildlebender kanadischer Wölfe. Genaugenommen wurden sie also nicht ausgewildert, sondern nur in eine andere Umgebung transferiert.

Auswilderung im eigentlichen Sinne ist die Revision der früheren Domestizierung einer wilden Art: De-Domestizierung. Diese geschieht aber nicht einfach dadurch, dass domestizierte oder in Zoos konservierte Arten dem Leben in freier Wildbahn überlassen werden. Auswilderung ist komplizierter. Zunächst einmal muss die ursprüngliche genetische Ausstattung so weit wie möglich rekonstruiert werden. Deshalb beginnt Auswilderung mit der geschützten Vermehrung von wilden oder in Zoos überlebenden Restbeständen oder aber mit der gezielten Rückzüchtung zur Wildform. Viele Säugetiere und auch Vögel erwerben ihre Verhaltensmuster zudem teilweise durch Nachahmung. Inzwischen spricht man sogar von regelrechten tierischen Kulturen, die erlernt werden müssen. Deshalb müssen auszuwildernde Tiere erst wieder lernen, sich in Freiheit artgemäß zu verhalten.7 Auswilderung kann deshalb die Wildform manchmal nur annäherungsweise wiederherstellen. Dennoch wird sie in der Regel schließlich dazu führen, dass die jeweilige Art ihren Platz im Ökosystem von neuem einnehmen kann.

Der Weg dorthin ist aber nicht einfach. Die auszuwildernden Exemplare waren in der Regel über Generationen von ihrem ursprünglichen Ökosystem getrennt und haben verlernt, dort für sich selbst zu sorgen. Auch vor ihren natürlichen Feinden wurden sie geschützt. Sie sind es nicht gewohnt, mit knappen Ressourcen zu überleben. Besonders Zootiere haben sich auf eine künstlich geschaffene Umgebung eingestellt. Sogar ihr Erbgut, ihre DNA, kann sich in dieser Zeit verändert haben, und sie sind oft in ihrer Fruchtbarkeit eingeschränkt.

Das alles ist die Folge davon, dass die Tiere an menschliche Bedürfnisse angepasst wurden. Sie sollten umgänglicher und folgsamer werden und auch durch ihren Körperbau den menschlichen Interessen an Fleisch, Milch, Fell und Schönheit entgegenkommen. Verlorengegangen ist dabei ein guter Teil der Faszination, die wilde Tiere bis heute auf uns ausüben. Wild lebende Tiere folgen ihrer eigenen Logik, leben ihr eigenes Leben und sind nicht auf den Menschen hin optimiert. Das Ungezähmte, Wilde an ihnen rührt etwas an in der Seele zivilisationsmüder Menschen – und erschreckt uns zugleich.

Was also kann uns die Metapher von Domestizierung und Auswilderung über eine Christenheit sagen, die ihren artgemäßen Platz im Ökosystem anscheinend nicht mehr ausfüllt?

4 https://de.wikipedia.org/wiki/Yellowstone-Nationalpark, abgelesen am 17.02.2021.

5 https://www.youtube.com/watch?v=tdc_sqi2-8M, abgelesen am 17.02.2021; es ist sehr zu empfehlen, sich dieses kurze Video anzusehen, um die grundlegende Metapher dieses Buches voll zu verstehen.

6 Heinrich August Winkler beispielsweise hat das im ersten Band seiner Geschichte des Westens ausführlicher dargestellt.

7 https://de.wikipedia.org/wiki/Auswilderung, abgelesen am 17.2.2021.

I. Die Zähmung der Jesusbewegung

Ein Vergleich der real existierenden Kirche mit der ursprünglichen Jesusbewegung, wie sie sich im Neuen Testament und in den Zeugnissen der frühen Kirche darstellt, ist keine neue Idee. Spätestens seit der Reformation wurde die Kirche der jeweiligen Gegenwart immer wieder an den neutestamentlichen Zeugnissen gemessen. In der Regel schnitt sie dabei schlecht ab. Ebenso regelmäßig änderte dies aber nur selten etwas an der kirchlichen Realität; es blieb meist bei einer unfruchtbaren Klage.

Schon die Diagnose des Problems ist umstritten. Lag es fundamental an der falschen Lehre, wie es die Reformation vermutete? War es die persönliche Frömmigkeit, die aus der Sicht der Pietisten zu kurz kam? War es, wie die Pioniere und Pionierinnen der Diakonie vermuteten, die defizitäre Praxis kirchlicher Liebestätigkeit? War es die Unentschiedenheit der volkskirchlichen Mitgliedschaft samt Kindertaufe? Lag es an der Institutionalisierung einer ursprünglich lebendigen Bewegung? Oder hatte die enge Verbindung von Thron und Altar den Enthusiasmus erlahmen lassen? Ist das Problem vielleicht auch nur die hausbackene Art der kleinbürgerlichen Gemeinden, die die jungen, kreativen Köpfe abstößt?

All diese Diagnosen sind nicht falsch. In jeder steckt mindestens das berühmte Körnchen Wahrheit, in vielen auch mehr davon. Aber gibt es ein gemeinsames Band, das sie alle so umfasst, dass sich daraus ein einprägsames Bild und zugleich eine Perspektive nach vorn ergibt?

Von allen Versuchen, diese Faktoren in einem übergreifenden Bild zu verbinden, leuchtet mir die Metapher des Auswilderns samt dem damit verbundene Gegenbegriff der Domestizierung am stärksten ein. Sie spiegelt wider, dass unsere Kirchen und Gemeinden mit der Unübersichtlichkeit des wilden, ungeregelten Lebens nicht mehr vertraut sind und sich stattdessen angewöhnt haben, in einem begrenzten, übersichtlich geordneten Rahmen zu existieren. Sicherheit wird hochgeschätzt, in der Theologie ebenso wie in der Organisation, bei Finanzierung und Mitgliederbindung, in der Personalauswahl, bei der Deutung der Welt und vielen anderen Gelegenheiten.

Wer sich aber nie der vollen, rauen Wirklichkeit aussetzen muss, bringt sich auch um die Erfahrung von Krise, Kraft und Gelingen. Die Metapher des Auswilderns birgt in sich eine tiefe Verunsicherung, zugleich aber auch die Verheißung frischer Energie und neu errungener Kompetenz, auch wenn es dafür keine Zertifizierungen gibt.

Immerhin gibt es eine Menge Parallelen zwischen der Domestizierung einer faszinierenden wilden Tierart und der Verwandlung der frühen Kirche in eine dominante und machtbewusste Institution, die heute – nach dem Verlust ihrer zentralen gesellschaftlichen Stellung – unbeweglich und ängstlich geworden ist und kein sonderlich beeindruckendes Profil mehr aufweist.

Christliches Leben im Europa der Gegenwart scheint auf den Schutz eines weltlich organisierten kirchlichen Apparates ähnlich angewiesen zu sein wie Batteriehühner auf die konstante Wärme ihres Stalls, die sorgfältige Betreuung durch Fachleute und die passgenaue Zufuhr von Wasser, Nährmitteln und Medikamenten. Zumindest die Kirche des Westens hütet vor allem den Bestand; ihre Fruchtbarkeit (also ihr missionarisches Potenzial) hat sie trotz aller Modernisierungsanstrengungen der letzten 70 Jahre nicht zurückgewonnen. Die alten Dome sind für viele Menschen nicht mehr als eine touristische Attraktion, ähnlich dem Besuch beim Eisbären im Zoo, der – wiewohl durchaus beeindruckend – in Zeiten der Erderwärmung auch keine gute Zukunft mehr zu erwarten hat.

Selbstverständlich gibt es auch in der westlichen Christenheit Ausnahmen von dieser Zustandsbeschreibung: Gemeinden und Gruppierungen, die Wachstum aufweisen – sei es aufgrund besonders günstiger Bedingungen oder durch besonders kompetente Protagonisten. Aber kompetente Menschen werden überall, auch unter schwierigen Bedingungen, überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen. Eigentlich sollten christliche Gemeinden davon nicht abhängig sein, sondern Wachstum auch unter Normalbedingungen und mit durchschnittlich begabtem Personal erreichen.

Eine ökumenische Störung

Bemerkenswert ist vor allem, dass sich die meisten der oft beklagten christlichen Defizite in allen Denominationen und Konfessionsfamilien zeigen. Wäre es deutlich anders, dann könnte man gesündere und weniger vitale Traditionen vergleichen und die entscheidenden Unterschiede herausarbeiten. Hier stoßen wir aber auf ein gemeinsames, ökumenisches Problem, dessen Wurzeln schon weit zurückreichen. Oder, um es mit einem anderen Bild zu sagen: Die Störung sitzt tief unten im Maschinenraum. Deshalb ist Oberflächenkosmetik, auch wenn sie nicht unbedingt schaden muss, keine Lösung.

Das bedeutet für das Miteinander der verschiedenen christlichen Fraktionen: Nicht die Unterschiede und Trennungen zwischen uns sind das eigentliche Problem (jedenfalls solange sie nicht genutzt werden, um die anderen zu minderwertigen Spielarten des Christentums zu erklären). Problematisch sind gerade die Gemeinsamkeiten, die mindestens die westlichen Kirchen und Gemeinschaften quer durch alle Denominationen verbinden. Wir sind uns gerade im Zentrum unserer Verlegenheiten besonders nahe.

Dabei geht es nicht um Verfehlungen Einzelner, obwohl die auch immer wieder verheerende Wirkungen haben. Es geht noch nicht einmal um einzelne Themen wie Kindertaufe, Benachteiligung von Frauen oder die Vernachlässigung des Heiligen Geistes, obwohl das alles erst recht Schaden anrichtet. Die Problematik ist zu komplex, als dass man sie auf eine einzige Ursache reduzieren und mit deren Beseitigung überwinden könnte. Wer etwa die Probleme der katholischen Kirche nur in ihrem Amtsverständnis, im Zölibat und dem männlichen Priestermonopol verortet, übersieht, dass sie selbst nach einem (augenblicklich schwer vorstellbaren) Umsteuern in diesen Fragen »nur noch« die Probleme der evangelischen Kirchen hätte.

Der Schaden liegt tiefer. Er hängt weniger mit einzelnen institutionellen oder theologischen Fehlentscheidungen zusammen, sondern eher mit der gesamten Organisationskultur, oder noch besser: mit der geistlichen Atmosphäre, die in den Christentümern beinahe aller Fraktionen herrscht. Atmosphäre ist eine bewusst schwammige Kategorie. Sie soll andeuten, dass es sich um einen vernetzten Sachverhalt handelt, der sich in den weichen Mustern (Stilfragen, Organisationskultur, Umgangsformen) ebenso spiegelt wie in den harten Entscheidungen von Kirchenrecht, Finanzflüssen und Dogmatik.

Eine Lösung ist deshalb auch nur durch vernetztes Denken zu finden. Alle Reformvorschläge, die den komplexen Zusammenhang auf wenige, gut eingrenzbare Teilthemen reduzieren, sind nicht radikal genug, sondern lindern die Symptome bestenfalls. Wenn sie aber nur auf die Modernisierung einer nicht »zeitgemäßen« Kirche zielen, verschlimmern sie die Lage eher noch.

Wer verstehen will, warum wir in den Kirchen eine so verzweigte Problemkonstellation haben, muss weit zurück in die Vergangenheit schauen. Die Schwierigkeiten der Kirchen mit der modernen Welt reichen mindestens 500 Jahre zurück, bis zu den Wurzeln der Neuzeit, die überraschenderweise in genuin christlichen Grund reichen. Und diese komplexe Konstellation ist wiederum schon in Antike und Mittelalter vorbereitet worden, durch Personen und Umstände, die auch Theologen manchmal längst aus dem Blick geraten sind. Kirchengeschichte ist deshalb kein Hobby von Menschen mit kuriosem Spezialinteresse, sondern essenziell für das Verstehen unserer aktuellen Schwierigkeiten. Deshalb muss auch sie wenigstens in kompakter Form zu Wort kommen.

Das Erbe der Reichskirche

Ängstlichkeit hat ihren Ursprung oft in schlechten Erfahrungen. Da kann es wie eine attraktive Lösung erscheinen, sich unter den sicheren Schutz eines Stärkeren zu flüchten. Vielleicht war das der Grund, der die noch 311-313 n. Chr. verfolgten Christen im Römischen Reich erstaunlich schnell dazu brachte, sich dem Schutz des Staates anzuvertrauen, der sie bis vor Kurzem noch mit Inhaftierung, Folter, Zwangsarbeit und Tod bedroht hatte. Kaiser Galerius beendete mit seinem Toleranzedikt von 311 diesen Konflikt, weil er begründete Zweifel am Erfolg weiterer Repressionsmaßnahmen hatte. Zwei Jahre später besiegelte die Mailänder Vereinbarung zwischen Konstantin I., dem Kaiser des Westens, und Licinius, dem Kaiser des Ostens, die Religionsfreiheit im ganzen Imperium.

Insbesondere Konstantin wurde daraufhin nicht nur persönlich von christlichen Historikern zur Lichtgestalt verklärt. Die Kirche spielte auch mit, als er zur Klärung einer wichtigen theologischen Streitfrage 325 das Konzil von Nicäa einberief, bei dem er den Vorsitz führte. Aber schon früher, ab 314, hatte er sich in die Auseinandersetzungen mit den nordafrikanischen Donatisten eingeschaltet, wobei die Initiative aber auf kirchlicher Seite lag: Beide Konfliktparteien hatten den Repräsentanten des Imperiums als Schiedsrichter angerufen.

Hatten die streitenden Parteien die Warnung von Paulus vergessen, man solle als Christ in profanen Konflikten mit anderen Christen nicht die Autorität heidnischer Gerichte anrufen (1. Korinther 6,1.6)? Und nun rief man sogar in Glaubensfragen den Imperator als Schiedsrichter an. Seine Schiedsrichterrolle ersparte es der Kirche, sich in eigener Verantwortung und im Vertrauen auf den Heiligen Geist diesen Lehrkonflikten zu stellen. Von nun an wurde es wichtiger, die Unterstützung der Politik zu gewinnen, als überzeugende theologische Lösungen zu entwickeln. So begann der unheilvolle Flirt von Kirche und Macht.

Das politische Genie Konstantin hatte das Potenzial erkannt, das die frühe Kirche für den Zusammenhalt des Reiches entfalten konnte. Die Kirche war die einzige gesellschaftliche Gruppe, der es gelang, Menschen aus allen sozialen und geografischen Lebensbereichen zu integrieren. Unüberbrückbare theologische Konfliktlinien waren daher das Letzte, was der Imperator gebrauchen konnte. Deswegen machten er und seine Nachfolger die Einheit der Kirche zu ihrer Sache. Spätestens 391, mit der Erhebung des Christentums zur offiziellen Reichsreligion unter Theodosius I., hatte endgültig das konstantinische Zeitalter begonnen. Von nun an war die Kirche Teil des politischen Kalküls. Das Christentum, das als Alternative zur imperialen Kultur begonnen hatte, war zum Mainstream geworden. Das trug ein Stück weit zur Humanisierung des Staates bei, nahm der Kirche aber ihre Unabhängigkeit.

Auch innerkirchlich hatte dies gravierende Folgen. Von nun an waren diejenigen in der Mehrheit, die nicht aufgrund eigener Überzeugung, sondern aus äußeren Gründen zu Christen geworden ­waren. Ob nun direkter staatlicher Zwang, gesellschaftlicher Druck oder die Verlockung von besseren Karrierechancen Menschen in die Kirche brachte, ist dabei nicht entscheidend. In den Gemeinden sammelte sich jetzt nicht mehr ein Pool von Menschen, die durch ihren Glauben die Stärke gewonnen hatten, auch gegen Wider­stände eine alternative Lebensart durchzuhalten. Stattdessen wurde es eine Kirche für alle. Das Salz unterschied sich kaum noch vom Teig.

Nicht zufällig entstand in dieser Zeit die monastische Bewegung. Menschen, die nach einem Gegenmodell zur Gesellschaft suchten, zogen zunächst in die Wüste, später in unwegsame Wälder und am Ende auch in die Städte. Überall gründeten sie geistliche Zellen, die ihre Unabhängigkeit von Staat und Kirche oft noch lange durchhalten konnten. Und es waren von da an diese Klöster, denen Theologie, Kirche und Gesellschaft viele neue, fruchtbare Einflüsse verdankten. Wichtige Gestalten, die nachhaltige Impulse setzten, kamen aus monastischen Gemeinschaften oder standen jedenfalls in Verbindung mit ihnen. Mit Athanasius, Augustin, Gregor dem Großen und schließlich noch Martin Luther sind nur einige der historisch wirkmächtigsten genannt.

Im christlichen Mainstream rückten Staat und Kirche jedoch eng zusammen. Im östlichen Teil des Reiches geriet die Kirche so immer mehr unter staatliche Kontrolle. Diese Staatsnähe der orthodoxen Kirche ist bis heute zu beobachten, wenn beispielsweise der von den Bolschewisten ermordete Zar Nikolaus samt seiner Familie heiliggesprochen wird oder der Moskauer Patriarch den Überfall auf die Ukraine billigt. Das Leitbild ist in der orthodoxen Tradition nicht die Trennung von Staat und Kirche, sondern die sogenannte »Symphonie« beider.

Im Westen endete das römische Kaisertum bald unter dem Druck der Völkerwanderung; die Zeit bis dahin war zu kurz, um die Kirche völlig unter staatliche Kontrolle zu bringen. In den dunklen Jahrhunderten danach war es sogar oft die Kirche, die notgedrungen staatliche Funktionen übernahm. Die örtlichen Bischöfe blieben als Autoritäten übrig, wenn die alten administrativen Strukturen nicht mehr existierten. Oft waren sie es auch, die mit den germanischen Eindringlingen sprachen und Regelungen für das Miteinander von Alteingesessenen und Neuankömmlingen aushandelten. Und es waren die Klöster, in denen die antike Bildung und Wissenschaft in dieser Zeit überlebte. Karl der Große, der selbst nur notdürftig schreiben konnte, griff deshalb auf die Kompetenz der Kleriker zurück, um Verwaltungskräfte für seine Administration auszubilden. Die Bischöfe bekamen eine Funktion in der politischen Verfassung seines Reiches.

So existierten im Westen schließlich mit Kaiser und Papst zwei Instanzen, die sich für das ganze Abendland zuständig fühlten und ihre Kompetenzen immer wieder neu voneinander abgrenzen mussten. Seit den Kirchenreformen des 11. Jahrhunderts verfügte das Papsttum über eine zentrale Stellung in der Kirche. Es stützte sich nicht zuletzt auf einen modernen und effektiven Verwaltungsapparat, der europaweit Wirkung entfaltete und zu dem es auf staatlicher Seite lange nichts Vergleichbares gab. Im Investiturstreit (1076–1122) befreite sich die Kirche schließlich vom staatlichen Zugriff auf ihren geistlichen Kernbereich. Damit hatte sich die Kirche aus der engen Bindung an die weltliche Macht gelöst und ihre Eigenständigkeit gesichert. Sie wurde nun für ein paar Jahrhunderte ein politischer Machtfaktor, der mit langem Atem seine Eigeninteressen vertrat.

Die Voraussetzung für diese Eigenständigkeit war der Aufbau eines zentralisierten, rechtlich geordneten Verwaltungsapparates. Er ermöglichte es Rom, auch bei vielen wichtigen lokalen Entscheidungen mitzureden. An diesem Apparat scheiterten alle Reformversuche. Neue geistliche Impulse suchten sich ihren Weg in Laiengemeinschaften wie den Waldensern, Hussiten und Katharern; auch die Bewegung des Franz von Assisi gehört in diesen Umkreis. Bis etwa 1400 war es der Kirche aber gelungen, diese Bewegungen entweder auszurotten, zurückzudrängen oder sich als Orden einzugliedern. Das 15. Jahrhundert ist dann geprägt von immer neu gescheiterten Versuchen einer Kirchenreform »an Haupt und Gliedern«. Bis zur Reformation blieb jedoch die Macht des von Rom kontrollierten Kirchenapparats ungebrochen.

Der Protest gegen die rechtlich geordnete römische Kirchenorganisation gehörte von Anfang an zur Reformation dazu. Luther verbrannte im Dezember 1520 zusammen mit der gegen ihn gerichteten Bannbulle auch die Sammlung des kirchlichen Rechts. Kurz zuvor hatte er in seiner Schrift »Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche« die ideologische Struktur der kirchenoffiziellen Theologie analysiert. In seiner Vorrede zur Deutschen Messe von 1526 drang er bis zur Vision einer basisdemokratischen und herrschaftsfreien Hauskirchenbewegung vor, resignierte aber letztlich: »Ich habe noch nicht Leute und Personen dazu.«

Er sollte sie nie bekommen. Zu stark war das Bild der institutionalisierten Kirche schon in den Köpfen und Herzen der Christen verankert. Die Täuferbewegung, in der die Sehnsucht nach Alternativen lebendig geblieben war, wurde im Bündnis von weltlicher und kirchlicher Macht bekämpft und beinahe ausgerottet. Auch die protestantischen Kirchen konnten sich christliche Existenz ohne eine schützende und begrenzende staatsförmige Organisationsform nicht mehr vorstellen. Von nun an bewegten sich auch fast alle oppositionellen Bewegungen in dem Rahmen, den ihnen der kirchliche Mainstream vorgegeben hatte. Und wenn sie, wie die Freikirchen, diesen Rahmen doch einmal überschritten, dann nur kurz oder nur an einzelnen Punkten. Und sie fanden in der Regel keine große Resonanz unter den Christen, deren Fantasie nicht über die real existierenden Großkirchen hinausreichte.

Der evangelische Impuls war damit in den Kirchen stillgestellt und wenig mehr als eine legitimierende Erinnerung. Gelegentlich flammte er wieder auf, oft auch bloß halbwild wie im Pietismus. Aber vor allem suchte er sich neue Wege außerhalb kirchlicher Institutionen und diesmal auch in Unabhängigkeit von christlicher Tradition. Das legte die Grundlagen für die europäische Moderne, schadete aber – wir sehen es heute – letztlich allen.

Der Schock der Moderne

Die Reformation war Teil einer breiteren Bewegung, die man im Rückblick als Aufbruch in die europäische Neuzeit erkennen kann. Die Renaissance gehört ebenfalls dazu, aber auch der europäische Aufbruch in die weite Welt mit der Unterwerfung nichteuropäischer Kulturen. Man vergesse nicht: Die Entdeckung und Eroberung Amerikas geschah in der Lebenszeit Martin Luthers!

All diesen Aufbrüchen ist gemeinsam, dass sie mit einer Stärkung des einzelnen Menschen einhergingen. Der Innenraum des Individuums, seine Gefühle und sein Wille, seine Spiritualität und Kreativität, aber auch sein kriegerischer und technischer Erfindungsgeist spielte für immer mehr Menschen eine immer größere Rolle. Die Kunst begann, das Individuum und seine Energie zu entdecken. Die Gesellschaft lernte, diese Kraftquelle zu nutzen. Längst nicht alle, aber doch immer mehr Menschen bekamen einen größeren Spielraum zur Entfaltung ihrer individuellen Persönlichkeit und ihres bisher ungenutzten Potenzials. Die gesellschaftlichen Rollen bekamen eine größere Variationsbreite. Erst recht mit der Erfindung der Druckerpresse stand mehr Menschen als je zuvor ein prinzipiell unbegrenzter Pool an Wissen und Gedanken zur Verfügung. Alternativen zum Bestehenden bekamen eine Sichtbarkeit, wie es sie bis dahin noch nie gegeben hatte.

Man kann davon ausgehen, dass die gewachsene Stabilität und der gewachsene Wohlstand in Europa die Grundlage für diese Entwicklungen legten. Schließlich braucht man zur Entfaltung von Individualität Zeit und Freiräume, die ohne eine gewisse materielle Grundlage nur schwer denkbar sind.

Dennoch war diese Stärkung des Individuums und seiner Innerlichkeit weltweit einzigartig. Das hing auch damit zusammen, dass die Kirche – durchaus im institutionellen Eigeninteresse – schon im frühen Mittelalter die Entstehung von mächtigen Clanstrukturen erfolgreich verhindert hatte. Das Inzestverbot wurde so weitreichend ausgelegt, dass Ehen nur noch mit weit entfernten Partnern möglich waren. Cousinen-Ehen, die in vielen anderen Kulturen der Festigung des Clanzusammenhalts dienten und den Besitz im Clan hielten, waren damit so gut wie unmöglich. Da die Kirche überdies bei der Eheschließung auf der freiwilligen Zustimmung beider Partner bestand, wurden auch arrangierte Ehen gegen den Willen der Betroffenen schwieriger.

Das alles schwächte den Einfluss der Sippen und Verwandtschaften, individualisierte den Besitz und gewöhnte die Menschen an eigenständigeres Denken. Sie organisierten sich neu in Formen, die nicht auf Verwandtschaft gründeten: als Städte, Universitäten, Handelsnetze, religiöse Bruderschaften, Gilden und Zünfte.

Hand in Hand damit gingen neue Entwicklungen in der Theologie. Schon immer hatte das Christentum die Bindungen an Väter, Familien und andere Autoritäten relativiert. Als Jesus sagte: »Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter«8, hatte er damit nicht nur das Patriarchat für seine Jüngerinnen und Jünger abgelehnt. Er hatte auch alle quasi natürlichen Identitäten als nachrangig gegenüber der Identität als Bürger*in des Gottesreiches erklärt. Das Individuum, das ganz persönlich im Gegenüber zu Gott steht und daraus seine Identität bezieht, gehört seither zu den fundamentalen Postulaten des christlichen Glaubens. Dieser Gedanke war nie verlorengegangen, aber seine weitreichenden Konsequenzen begannen sich erst jetzt immer deutlicher zu entfalten und eröffneten Denkmöglichkeiten, die das europäische Bild von Mensch und Gesellschaft auf bisher nie gekannte Art revolutionieren sollten.

Der amerikanische Historiker Larry Siedentop hat gezeigt, wie die gedanklichen Grundlagen der Neuzeit bis zum 14. Jahrhundert schon im Denken von Theologen, Philosophen und Kirchenrechtlern vorbereitet waren: Individualität, Rechte des Individuums zum Schutz seiner Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, der Beitrag der beobachtenden Vernunft zur Erklärung der materiellen Welt und die Vorstellung, dass die Verfügungsgewalt über Gemeinschaften jeder Art ein Recht ihrer Mitglieder ist. All diese und weitere Elemente neuzeitlichen Denkens warteten nur noch darauf, zu einem geschlossenen Programm zusammengefügt zu werden.9 Der Säkularismus, verstanden als Glaube an eine Sphäre im Menschen, in der er frei sein sollte, eigene moralische Entscheidungen zu treffen, ist nach Siedentop »das Geschenk des Christentums an die Welt«10.

Parallel dazu begann der Aufstieg des Bürgertums, einer Klasse, die so nur in Europa entstanden ist. Das war möglich, weil sich durch die Konkurrenz von weltlicher und geistlicher Macht immer wieder Freiräume ergaben, die von keiner Zentralinstanz mehr zu kontrollieren waren. Besonders die Regionalfürsten und die Städte nutzten diese Chance – die kleinteilige Gliederung Europas in Regionen, Bundesländer, Kleinstaaten usw. zeugt noch heute davon. Aber auch Intellektuelle haben sich nicht selten, wenn sie von der einen Instanz verfolgt wurden, unter den Schutz der anderen gestellt. Prominentestes Beispiel ist Martin Luther, der ohne den Schutz seines Landesherrn kaum dem päpstlichen Ketzerprozess entgangen wäre.

Das Bürgertum der Städte nutzte diese Freiräume und emanzipierte sich allmählich von seinen feudalen Oberherren weltlicher wie geistlicher Art. Damit entstand ein neues Lebens- und Wirtschaftsmodell, für das die ideologische Vormundschaft der Kirche je länger, je mehr nur noch eine lästige und sinnlose Behinderung war. Es war die Kirche, die mit ihrem Beharren auf ideologischer Dominanz eine Gegnerschaft zwischen Glauben und Liberalismus hervorrief, die den Erkenntnissen ihrer besten Theologen widersprach. Und es war die französische Kirche, die sich als integraler Teil des Ancien Régime, der alten Regierungsform, präsentierte und so in die Schusslinie der Revolutionäre von 1789 geriet. Damit begann ein unheilvoller Konflikt zwischen Liberalismus und christlichen Konservativen, der zeitweise abgekühlt schien, gegenwärtig aber mancherorts (etwa im Milieu des US-Evangelikalismus) mit neuer Heftigkeit zu entbrennen scheint. Der säkulare Liberalismus wurde nicht als legitimes Kind des Christentums anerkannt, sondern mit Unglauben, Gleichgültigkeit und Materialismus gleichgesetzt.11

In dieser Erfahrung der herrschaftlichen Kirche ist begründet, dass Freiheit und Christentum in den Augen vieler als fundamentale Gegensätze gelten. Diese Erfahrung hat aber auch beigetragen zur reflexhaften Ablehnung, mit der der Liberalismus bis heute auf jede Begrenzung der individuellen Handlungsfreiheit reagiert. Die Einbindung in ein größeres Ganzes, sei es religiös oder säkular geprägt, konnten die frühen Bürger sich nur als Bevormundung vorstellen. Ihre Erfahrung war aber, dass sie als ungebundene, eigenverantwortliche Individuen wesentlich mehr für sich erreichen konnten.