Zwei alte Frauen - Velma Wallis - E-Book
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Zwei alte Frauen E-Book

Velma Wallis

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Beschreibung

Ein Nomadenstamm im hohen Norden von Alaska: Während eines bitterkalten Winters kommt es zu einer gefährlichen Hungersnot. Wie das alte Stammesgesetz es vorschreibt, beschließt der Häuptling, die ältesten beiden Frauen als »unnütze Esser« zurückzulassen, um den Stamm zu retten. Doch in der Einsamkeit der eisigen Wildnis geschieht das Unglaubliche: Die beiden alten Indianerfrauen geben nicht auf, sondern besinnen sich auf ihre ureigenen Fähigkeiten, die sie längst vergessen geglaubt hatten …

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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Christel Dormagen

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

12. Auflage 2012

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ISBN 978-3-492-96711-2

© 1993 Velma Wallis

»Two old women«, Epicenter Press, Fairbanks 1993

Deutschsprachige Ausgabe:

© 1994 Piper Verlag GmbH, München

Erstausgabe: Ingrid Klein Verlag GmbH, Hamburg 1994

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagabbildung und Innenillustrationen: Heinke Both

Datenkonvertierung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Vorwort

Jeden Tag nach dem Holzhacken saßen wir in unserem kleinen Zelt an der Uferböschung des Porcupine-Flusses, dort wo er in den Yukon mündet, und plauderten miteinander. Immer endete es damit, daß Mom mir eine Geschichte erzählte. (Ich war wahrhaftig längst kein Kind mehr, und meine Mutter erzählte mir immer noch Gutenachtgeschichten!) Eines Abends war es eine Geschichte, die ich zum erstenmal hörte – die Geschichte von zwei alten Frauen und ihrer Reise durch große Mühsal.

Sie war ihr wieder in den Sinn gekommen, während wir Seite an Seite Holz für den Winter sammelten. Nun saßen wir auf unserem zusammengerollten Bettzeug und staunten darüber, daß Mom, die jetzt Anfang Fünfzig war, diese harte Arbeit immer noch schaffte, während die meisten Menschen ihrer Generation sich längst mit dem Altsein und all seinen Einschränkungen abgefunden hatten. Ich sagte zu ihr, ich würde im Alter gern so sein wie sie.

Es hatte damit begonnen, daß wir uns zu erinnern versuchten, wie es einst gewesen war. Meine Großmutter und all jene anderen Alten aus der Vergangenheit hatten so lange gearbeitet, bis sie sich nicht mehr rühren konnten oder bis sie starben. Mom war stolz darauf, daß sie mit so manchen Altersbeschwerden fertig wurde und sich immer noch ihr Winterholz selbst beschaffen konnte, obwohl diese Arbeit körperlich anstrengend und manchmal regelrecht quälend war. Während wir so in Erinnerungen versunken waren, fiel Mom eben diese Geschichte ein, weil sie so gut zu dem paßte, was wir in jenem Augenblick dachten und fühlten.

Später, in unserer Winterhütte, schrieb ich die Geschichte auf. Sie hatte mich beeindruckt, nicht nur weil sie mir eine Lehre erteilt hatte, die ich für mein Leben gebrauchen konnte, sondern auch weil es eine Geschichte über mein Volk und meine Vergangenheit war – etwas über mich selbst, das ich packen und mein eigen nennen konnte. Geschichten sind Geschenke älterer Menschen an junge. Leider werden derlei Gaben heute sehr viel seltener verschenkt und empfangen, da ein Großteil unserer Jugend mit Fernsehen beschäftigt ist und atemlos versucht, mit dem modernen Leben Schritt zu halten. Doch vielleicht werden ja morgen einige wenige aus der heutigen Generation, die noch für die Weisheit der Alten empfänglich sind, jene von Mund zu Mund überlieferten Geschichten in ihrem Gedächtnis bewahren. Und vielleicht wird die Generation von morgen wieder begierig nach Geschichten wie dieser sein und so die eigene Vergangenheit, das eigene Volk und, wie ich hoffe, auch sich selbst besser begreifen lernen.

Gelegentlich werden Geschichten über eine bestimmte Kultur von jemandem erzählt, der selber einer anderen Lebenstradition angehört, und es kommt vor, daß er ihren Inhalt falsch deutet. Das ist tragisch. Wenn sie erst einmal auf dem Papier stehen, werden derartige Überlieferungen gern für historisch verbürgt gehalten, doch womöglich stimmen sie gar nicht immer. Die folgende Geschichte von den zwei alten Frauen stammt aus einer Zeit lange vor dem Einbruch der westlichen Zivilisation, und sie ist von Generation zu Generation weitergereicht worden, von einer Person zur nächsten, bis hin zu meiner Mutter und schließlich zu mir. Auch wenn ich beim Niederschreiben meine schöpferische Vorstellung habe mit einfließen lassen, so bleibt es doch die Geschichte, wie sie mir erzählt wurde. Und ihr Sinn ist genau so erhalten, wie Mom wollte, daß ich ihn verstehe.

Diese Geschichte hat mich gelehrt, daß den eigenen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt sind, wenn es darum geht, das im Leben zu vollbringen, was man muß – schon gar nicht durch das Alter. In jedem menschlichen Wesen auf dieser weiten, komplizierten Welt ruht eine erstaunliche Anlage zur Größe. Doch nur selten haben diese verborgenen Gaben die Gelegenheit, sich zu entfalten. Manchmal ist es allein der Zufall des Schicksals.

Zur Landkarte

Die Wege auf dieser Karte sind einer regulären Landkarte des Gebiets der Yukon-Tiefebene entnommen; meine Mutter hat bei der Übertragung geholfen. Die Winterfährten sind im Detail historisch nicht korrekt, zeigen aber im Überblick die Gebiete, die das Volk der Gwich´in in all den Jahren vor dem Einbruch der westlichen Zivilisation zu durchqueren pflegte.

Der Weg nach Christian Village ist eine Winterfährte, die aus der Karte der Yukon-Tiefebene stammt, und der Weg nach Chalkyitsik beschreibt die Route, die Mae Wallis für mich gezeichnet hat. Sie gibt den Verlauf wieder, an den meine Mutter sich erinnert. Heute verläuft der Weg nach Chalkyitsik anders als auf dieser Karte, weil das Land und die alten Pfade immer wieder durch Waldbrände zerstört und verändert wurden. Das Gwich´in-Volk hat viele verschiedene Sommer- und Winterrouten benutzt, doch im Laufe der Jahre gerieten diese Wege in Vergessenheit, sie wurden durch Naturereignisse verändert, oder nachfolgende Generationen haben Abkürzungen geschaffen.

Danksagungen

Die meisten Künstler und Künstlerinnen wissen, daß ihnen ohne eine Reihe anderer Menschen ein bestimmtes Kunstwerk nicht gelungen wäre. Was mich und diese Geschichte anbetrifft, so ist die Liste lang und bunt, und ich würde all diesen Menschen gerne auf folgende Weise danken.

Zuerst danke ich dir, meiner Mutter, Mae Wallis. Ohne dich gäbe es diese Geschichte nicht, und ich hätte auch nie den Wunsch gehabt, Geschichtenerzählerin zu werden. All jene vielen Nächte, die du uns mit Geschichten vertrieben hast, sind mir kostbar.

Folgenden Personen möchte ich dafür danken, daß sie all die Jahre an diese Geschichte geglaubt haben und daß sie ihr zu neuem Leben verholfen haben, als ich schon fürchtete, sie werde wieder in Vergessenheit geraten: Barry Wallis, Marti Ann Wallis, Patricia Stanley und Carroll Hodges; Judy Erick aus Venetie für ihre Hilfsbereitschaft bei der Übersetzung aus der Gwich´in-Sprache und Annette Seimens dafür, daß sie mir ihren Computer geliehen hat.

Schließlich möchte ich Marilyn Savage für ihre Großzügigkeit und ihren ständigen Zuspruch danken. Ich danke auch den beiden Verlegern, Kent Stugris und Lael Morgan, dafür, daß sie teilhaben an unserer aller Vision. Vielen Dank, Virginia Sims, daß die Geschichte durch die Lektorierung in ihrer Substanz erhalten geblieben ist.

Euch allen ein Mahsi Choo dafür, daß ihr an dieser schlichten alten Geschichte beteiligt wart.

Velma

1

Hunger und Kälte fordern ihren Tribut

Die Luft lag scharf, schweigend und kalt über dem weiten Land. Schlanke Fichtenzweige bogen sich unter der schweren Last des Schnees und warteten auf ferne Frühlingswinde. Die froststarren Weiden schienen in der grimmigen Kälte zu erzittern.

Fern dort oben in diesem scheinbar so unwirtlichen Land lebte eine Schar von Menschen, die in Felle und Tierhäute gekleidet waren und dicht um kleine Feuerstellen hockten. Ihre wettergegerbten Gesichter waren von Hoffnungslosigkeit gezeichnet, denn sie sahen sich dem Hungertod ausgesetzt, und die Zukunft barg wenig Aussicht auf bessere Tage.

Diese Nomaden lebten in der Polarregion von Alaska. Sie nannten sich das Volk, und sie waren ständig unterwegs, auf der Suche nach Nahrung. Wo die Karibus und andere Wandertiere entlangzogen, dort folgte ihnen das Volk. Doch die große Winterkälte schuf besondere Probleme. Die Elche, die ihre bevorzugte Nahrungsquelle bildeten, suchten Schutz vor der durchdringenden Kälte, indem sie sich an einen festen Ort zurückzogen, wo sie schwer zu finden waren. Kleinere und leichter zu erlegende Tiere, wie Kaninchen und Eichhörnchen, konnten eine so große Gruppe wie diese nicht am Leben erhalten. Und während der Kälteperioden verschwanden selbst die kleineren Tiere in ihren Verstecken, oder sie wurden durch Beutejäger – seien es Mensch oder Tier – dezimiert. So schien denn das Land während dieses ungewöhnlich scharfen Frosteinfalls im späten Herbst unter der bedrohlich lauernden Kälte ohne jegliches Leben zu sein.

In der kalten Jahreszeit erforderte das Jagen mehr Kraft als gewöhnlich. Deshalb bekamen die Jäger zuerst zu essen, denn ihr Geschick war es, von dem das Leben des Volkes abhing. Doch da so viele Mäuler zu stopfen waren, war der Vorrat an Nahrung sehr schnell erschöpft. Obwohl alle sich größte Mühe gaben, mit dem Vorhandenen auszukommen, litten viele Frauen und Kinder an Unterernährung, und einige verhungerten sogar.

In diesem Nomadenverbund lebten auch zwei alte Frauen, um die sich das Volk jahrelang gekümmert hatte. Die Ältere der beiden hieß Ch´idzigyaak, denn bei ihrer Geburt erinnerte sie ihre Eltern an einen Chickadee-Vögel. Die andere Frau hieß Sa´, was Stern bedeutet, denn als die Geburt herannahte, hatte ihre Mutter in den herbstlichen Nachthimmel hochgeschaut und sich besonders auf die weit entfernten Sterne konzentriert, um sich vom Wehen – schmerz abzulenken.

Immer wenn die Gruppe einen neuen Lagerplatz erreichte, wies der Häuptling die jüngeren Männer an, für diese zwei alten Frauen einen Unterschlupf zu errichten und sie mit Nahrung und Wasser zu versorgen. Die jüngeren Frauen zogen die Habseligkeiten der beiden älteren Frauen von einem Lager zum nächsten, und als Gegenleistung gerbten die alten Frauen Tierhäute für die, die ihnen halfen. Diese Übereinkunft funktionierte gut.

Die zwei Alten besaßen jedoch eine unschöne Eigenschaft, die zu jenen Zeiten nur selten vorkam. Ständig beklagten sie sich über Wehwehchen hier und Zipperlein da. Und zum Beweis ihrer Kümmerlichkeit gingen sie an Stöcken. Überraschenderweise machte das den anderen nichts aus, obwohl sie alle von Kindheit an gelernt hatten, daß Schwäche bei den Bewohnern dieses rauhen Mutterlandes nicht geduldet war. Dennoch machte niemand den zwei alten Frauen Vorhaltungen, und sie wanderten weiter mit den Stärkeren – bis zu jenem verhängnisvollen Tag.

An diesem Tag lag etwas Schwereres als nur die Kälte in der Luft, während das Volk um die wenigen flackernden Feuer versammelt war und dem Häuptling zuhörte. Er war ein Mann, der die anderen fast um Haupteslänge überragte. Tief in seine pelzbesetzte Jacke eingemummt, sprach er von den harten, kalten Tagen, die sie erwarteten, und davon, daß jeder das Seine beitragen müsse, damit sie den Winter überlebten.

Dann machte er plötzlich mit lauter, deutlicher Stimme eine Ankündigung: »Der Rat und ich sind zu einer Entscheidung gelangt.« Der Häuptling machte eine Pause, als habe er Mühe, die folgenden Worte auszusprechen. »Wir werden die Alten zurücklassen müssen.«

Mit einem schnellen, prüfenden Blick suchte er nach einer Reaktion in der Menge. Doch Hunger und Kälte hatten ihren Tribut gefordert, und das Volk schien nicht entsetzt zu sein. Viele hatten erwartet, daß es geschehen würde, und manche hielten es für das beste. In jenen Tagen war es nicht unüblich, die Alten in Hungerszeiten zurückzulassen, obwohl es in dieser Gruppe zum erstenmal geschah. Die Kargheit dieses urwüchsigen Landes schien danach zu verlangen. Um zu überleben, waren die Menschen gezwungen, sich in mancherlei Weise wie Tiere zu verhalten. Ähnlich jungen, kräftigen Wölfen, die sich vom alten Führer des Rudels absetzen, so pflegten die Menschen ihre Alten zurückzulassen, um sich ohne jene Extrabelastung schneller bewegen zu können.

Ch´idzigyaak, die ältere Frau, besaß eine Tochter und einen Enkel in der Gruppe. Der Häuptling suchte die beiden mit den Augen in der Menge und sah, daß auch sie keine Reaktion zeigten. Er war höchst erleichtert darüber, daß die unerfreuliche Ankündigung ohne Zwischenfall vonstatten gegangen war, und befahl allen, sofort zu packen. Indessen brachte es dieser tapfere Mann, der ihr Führer war, nicht fertig, den zwei alten Frauen ins Gesicht zu schauen, denn im Augenblick fühlte er sich nicht besonders stark.

Der Häuptling begriff, warum das Volk keine Einwände erhob, auch wenn die beiden alten Frauen von allen wohlgelitten waren. In diesen harten Zeiten waren viele der Männer unzufrieden und wurden schnell wütend. Ein falsches Wort oder eine falsche Bewegung konnte einen Aufruhr auslösen und alles noch schlimmer machen. So kam es, daß die schwachen und erschöpften Mitglieder des Stammes ihre Bestürzung für sich behielten, denn sie wußten, die Kälte konnte zu einer Welle der Panik führen – zu Grausamkeit und Brutalität unter Menschen, die ums Überleben kämpften.

Während der langen Jahre, in denen die Frauen in der Gruppe gelebt hatten, hatte der Häuptling eine Zuneigung zu ihnen gefaßt. Jetzt wollte er so schnell wie möglich fort, damit die zwei alten Frauen ihn nicht anschauen konnten. Er hätte sich sonst elender als je in seinem Leben fühlen müssen.

Die beiden Frauen saßen vor der Feuerstelle, alt und schmal, doch mit stolz erhobenem Kinn. So verbargen sie ihr Entsetzen. Als sie jünger waren, hatten sie erlebt, wie alte Menschen zurückgelassen worden waren, aber sie hätten niemals gedacht, daß dieses Schicksal sie selbst treffen könnte. Sie starrten betäubt vor sich hin, so als hätten sie nicht gehört, daß der Häuptling sie zum sicheren Tod verurteilt hatte – ihrem Schicksal überlassen in einem Land, das nur Stärke verstand. Zwei schwache alte Frauen hatten keine Chance gegen dieses Gesetz der Stärke. Sie wußten sich keinen Rat, als sie die Botschaft vernahmen, und es fehlten ihnen die Worte zu ihrer Verteidigung.

Von den zweien hatte nur Ch´idzigyaak Familie – die Tochter Ozhii Nelii und den Enkelsohn Shruh Zhuu. Sie wartete darauf, daß ihre Tochter protestieren würde, doch nichts geschah, und es überfiel sie ein noch tieferes Entsetzen. Nicht einmal ihre eigene Tochter versuchte, sie zu beschützen. Auch Sa´, die neben ihr saß, war wie betäubt. Ihr Kopf drehte sich, und obwohl sie gerne laut geschrien hätte, brachte sie kein Wort heraus. Sie fühlte sich wie in einem schrecklichen Alptraum, in dem sie weder sprechen noch sich bewegen konnte.

Ende der Leseprobe