Zwei Brüder - Charles Hohmann - E-Book

Zwei Brüder E-Book

Charles Hohmann

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Beschreibung

Schauplätze in diesem Roman sind das im Zweiten Weltkrieg gebeutelte Grossbritannien, die blutgetränkte Wüste im glühenden Sudan während der viktorianischen Kampagne von 1885, das hellenistische Alexandrien, die Klöster in der Sketischen Wüste, das Paris der exilierten Emigranten, das vom Meer umbrandete Malta und die Eliteuniversität Oxford. Ein britischer Militärkaplan schliesst sich nach seinen Einsätzen im Ausland seinem Bruder in England an, einem Akademiker, der um seine Ehe kämpft. Die beiden ungleichen Charaktere sehnen sich nach einer besseren Zukunft. Doch das Gespenst der geisterhaften Hand an der Wand , das das Ende der Weltordnung, wie sie sie kennen, heraufbeschwört, übersehen sie.

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Favente Deo et sedulitate

Durch Gottes Gnade und durch Eifer

‘There was a sound of revelry by night, And Belgium's capital had gathered then Her Beauty and her Chivalry, and bright The lamps shone o'er fair women and brave men; A thousand hearts beat happily; and when Music arose with its voluptuous swell, Soft eyes looked love to eyes which spake again, And all went merry as a marriage bell; But hush! hark! a deep sound strikes like a rising knell!’

George Gordon Lord Byron,Childe Harold’s Pilgrimage, Canto III, XXI

Es ging ein Klang des Jubels durch die Nacht; In Belgiens Hauptstadt war zum Fest erschienen Schönheit und Ritterschaft; der Kerzen Pracht Glänzt über holden Frauen und Paladinen; Die Herzen hüpften als über ihnen Musik in Wollustwogen schwoll empor, Da sprach und schaute Lieb’ aus Aug’ und Mienen, Und lustig ging’s wie Hochzeitsglockenchor, – Da, – still! – dumpf tönt ein Schall wie Grabegeläut ans Ohr! (Übers. Otto Gildemeister)

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Luftkampf

Kapitel I: Blutiger Sand

Kapitel II: Der bibliophile Prinz

Kapitel III: Verrat und Flucht

Kapitel IV: Besuch aus dem Jenseits

Kapitel V: Von Druiden und Mönchen

Kapitel VI: Hochzeit

Dramatis personae

Biografie des Autors

Prolog

Luftkampf

Bei Tagesanbruch am 15. August 1940 waren die Einwohner von Storrington im Süden Englands Zeugen eines Luftkampfes zwischen einer Spitfire der Royal Air Force und einer deutschen Heinkel. Die Heinkel war Nachzüglerin aus einer Staffel, die ihre Bombenlast abgeworfen hatte und sich auf dem Rückflug nach Frankreich befand. Das Flugzeug der Wehrmacht war bereits an der Heckflosse von den Flakgeschützen Londons beschädigt. Jetzt, nachdem die Spitfire mehrere Salven abgefeuert hatte, geriet es in Brand, zog einen langen schwarzen Streifen hinter sich her und glitt in Richtung der Häuser. Es verlor schnell an Höhe, streifte ein Dach und bohrte sich danach in die Erde des Gartens dahinter. Ausser der vierköpfigen Besatzung, der der Absprung nicht gelungen war, war niemand verletzt worden. Aber der Dachstock des getroffenen Hauses brannte lichterloh.

Löschzüge waren schnell vor Ort und Sanitäter betreuten die Bewohner, die zwar aus dem Haus fliehen konnten, aber jetzt um ihr Hab und Gut fürchteten. Das Feuer wurde bald gelöscht und die Feuerwehrleute bargen, was zu retten war. Kleider und ausrangierte Möbel waren stark beschädigt.

Dagegen waren die vielen verrussten und vom Wasser verklebten Bücher ein Unglück grösseren Ausmasses. Sie waren der Restbestand einer prinzlichen Bibliothek. Unter den wenigen geretteten Gegenständen waren zwei Metalltruhen, beide mit «Rev. Reginald Collins, Field Chaplain» gekennzeichnet. Sie enthielten Dokumente, Bücher, Uniformen und Medaillen. Der Inhalt der Truhen war sämtlich unversehrt geblieben.

1901 hatte die amerikanische Newberry Library die Büchersammlung des komparativen Linguisten Prinz Louis Lucien Bonaparte, der 1891 verstorben war, aufgekauft. Ein Rest der Bücher blieb im Besitz von Dr. Victor Collins, dem ehemaligen Bibliothekar des Prinzen, der sie nach der Auflösung des Haushalts des Verschiedenen nach Storrington hatte bringen lassen, wo er ein Haus erworben hatte.

Dr. Collins, der ehemalige Bibliothekar des Prinzen, war nicht unter den Bewohnern des Hauses, da er vor Ausbruch des Krieges in Davos in der Schweiz verstorben war. In den unteren Stockwerken anwesend während des Brandes waren seine Wittwe Ellen O’Connell Bianconi Collins, 80-jährig, die Tochter Maud Collins, 63, der Sohn Charles O’Connell Collins, 54, mit seiner französischen Frau Anne Marie Thierry und ihr achtjähriger Sohn Dan O’Connell Collins. Nicht anwesend waren drei erwachsene Kinder, nämlich Charles James O’Connell Collins, der bei den Royal Engineers diente, sowie Ellen Collins und ihre Schwester Michelle Collins, die beide bei der Royal Air Force im Telegrafenverband Kriegsdienst leisteten.

Charles O’Connell Collins und seine Frau Anne Marie Thierry kehrten nach dem Krieg ohne ihre Kinder nach Frankreich zurück. Sie zogen in das Haus der Eltern von Anne Marie, nahmen die zwei Truhen mit auf die Reise und verstauten sie auf dem Dachboden im Haus in Bar-sur-Aube.

Eines Sommers, als sich ein Junge auf Besuch bei seinen Grosseltern Charles O’Connell Collins und Anne Marie Thierry in Bar-sur-Aube befand, stieg er über eine Leiter auf den Dachboden. Er entdeckte die beiden Truhen, brach sie auf und fing an, darin zu wühlen: Er fand Tagebücher, Briefe, Karten aus Afrika, eine Uniform und zwei Verdienstorden.

Ich war dieser Junge. Der Inhalt der Truhen, die Lektüre der Dokumente sowie Erzählungen meiner Mutter über unsere Familiengeschichte schwelten jahrelang in meiner Gedankenwelt, was schliesslich mein Bedürfnis zu schreiben weckte. Und je mehr ich schrieb, desto stärker wurde dieses Verlangen, so dass meine Vorfahren zu Kreaturen der Fantasie wurden, die hinaus ins Leben wollten. Gibt es eine geheime Verbindung zwischen Fantasie und Wirklichkeit, fragte ich mich dabei. Ist es so, dass eine Wechselwirkung besteht, bei der sich die Wirklichkeit in selbem Masse verändert, wächst und schrumpft wie die Fantasie? Gibt es also auch eine Abhängigkeit und Wechselwirkung von und zwischen Leben und Dichtung, so eine Art Quantenverschränkung? Vielleicht.

Die folgenden Kapitel stellen die Ereignisse eines Frühlings im Jahre 1885 dar, in dem mein Urgrossvater Victor Collins und mein Urgrossonkel, Feldprediger Reginald Collins, die Hauptrolle spielen. Die Schauplätze sind Suakin, Alexandria, Malta, Paris und Oxford. Ich habe all diese Schauplätze auf den Spuren der Protagonisten bereist. Meine Berichterstattung ist zum Teil fiktiv, sie bleibt dabei aber dennoch den Dokumenten aus den Truhen treu.

Charles Hohmann, Wylägeri, im Jahr 2023

Suakin

Kaplan Reginald Collins, DSO

Kapitel I

Blutiger Sand

Auf einer kleinen kreisförmigen Insel am Ende eines Armes des Roten Meers, etwa 750 Meilen südlich von Sues, liegt Suakin. Der Meeresarm reicht rund eine Meile ins Land hinein. Die kleine Insel ist mit dem Festland durch einen Damm verbunden, den einst General Charles George Gordon erbauen liess. Der Damm führt in eine Ortschaft auf dem Festland, wo die meisten Einwohner leben: El Geyf. Sie ist von einem Wall aus Festungen umgeben. Jenseits davon befinden sich die Brunnen des Distrikts, die Shata-Quellen.

Das Festland hinter dem Verteidigungswall ist mehrheitlich Wüste, die manchmal durch eine dünne Grasnarbe bedeckt ist. Und da und dort stehen Samr-Bäume, Mimosensträucher und Tundub-Büsche. Während der Regenzeit schwellen die Khors oder Wasserwege aus den umliegenden Hügeln an, überschwemmen das Land und die Wege, woraufhin alles kurz ergrünt, bevor die Sonne alles wieder austrocknet.

Suakin ist mitnichten der älteste Hafen auf dieser Seite des Roten Meeres, aber sehr wahrscheinlich der berühmteste. Denn zur Zeit seiner Blüte war er eine Drehscheibe für den Handel zwischen Arabien, Abessinien, Ägypten, Indien und sogar dem entfernten China. Schiffe aus der ganzen Welt legten hier an.

Bei den Einheimischen ist folgende Gründungslegende verbreitet: Die Könige von Ägypten und Abessinien waren befreundet. Der abessinische König schenkte dem ägyptischen sieben wunderschöne Jungfrauen. Begleitet wurden sie vom treuesten Eunuchen des Herrschers. Auf ihrer weiten Reise verbrachte der Trupp eine Nacht auf der Insel. Dort waren die Frauen in Sicherheit, denn der Eunuch liess sämtliche Zufahrten bewachen, schlief aber selbst auf dem Festland. Anderntags reiste die Truppe weiter und gelangte schliesslich an den ägyptischen Königshof. Der König empfing das Geschenk mit Dankbarkeit. Aber seine Stimmung schlug um, als er feststellte, dass die Frauen schwanger waren. Die Frauen gaben an, während der Nacht von sieben Dschinns besucht worden zu sein. Diese Geister hätten sie geschwängert. Zu ihrem Glück glaubte ihnen der König, was den Eunuchen vor dem Schafott rettete. Da der König seinen Freund, den König von Abessinien, nicht verletzen wollte, sandte er die Frauen mit Kleidern und Nahrung nun zurück nach Suakin. Später schickte er weitere Nahrungsmittel und Vorräte auf Kamelen nach, ausserdem eine Sambuke, ein zweimastiges Segelschiff, für den Warentransport. Mit ihr begann der Seehandel und die Insel erhielt den Namen «Sawwa Dschinn», was so viel heisst wie: «Der Dschinn tat es.» Es scheint, dass die Geisterkinder sehr lange gelebt haben. Einer der ältesten Einwohner der Stadt erzählt gerne davon, dass er als Jugendlicher noch seltsame Menschen mit bronzener Haut in Suakin gesehen und man gemunkelt habe, dass es sich um die letzten Abkömmlinge der Dschinns handelte, die Menschen mit üblen Absichten jagten. Denn die Geisterkinder waren schnell zu Stammhaltern der Insel geworden.

Samstag, 7. März 1885

Ankunft in Suakin

Ein hochgewachsener Offizier, Feldprediger im Heere Ihrer Majestät, und sein Adjutant, der einen Lederkoffer trägt, beide mit Tropenhelmen und in Khaki-Uniform, steigen aus einem Beiboot in Suakin. Es ist der 7. März 1885. Jahrhunderte vor ihnen hatten Karawanen, die die Küste entlang aus dem Inneren Abessiniens und des Sudans reisten, daselbst ihre Waren auf Schiffe geladen, die sie in andere Regionen transportierten. Sogar die Königin von Scheba soll hier auf ihrer Reise nach Ägypten Halt gemacht haben.

Die beiden Männer bahnen sich einen Weg durch die Menge. Sie gehen in Richtung Hanafi-Moschee. Der Offizier, Padre Reginald Collins, kennt den Weg, ist er doch in der Frühjahreskampagne des britischen Expeditionskorps bereits hier gewesen. Sie zwängen sich durch behelmte britische Soldaten in schweissnassen Khaki-Uniformen, stolzen türkischen Beamten, ägyptischen Fusiliers, erkennbar am roten Tarbusch und der weissen Uniform, und bärtigen indischen Söldnern mit kunstvoll gebundenen orangenen Dastars, Turbane, die das ungeschnittene Haar verbergen.

Die Erscheinung des Offiziers ist so eindrucksvoll, dass ihn auch zerstreute Beobachter bemerken. Er hat scharfe, durchdringende, schwarze Augen, die seinem Antlitz den Ausdruck einer lebhaften Wachsamkeit verleihen. Er ist um die vierzig und schlank. Der Adjutant, Thomas Shanahan, ist um einige Jahre jünger, hat braune Augen und sein breites Kinn verrät einen starken Willen.

Während sie durch die engen Gassen ziehen, erläutert der Padre, dass die Häuser und Moscheen von Suakin jenen in türkischen Häfen am Roten Meer wie Jeddah oder Massawa gleichen – abgesehen davon, dass in Suakin die Mauern aus Korallen gehauen sind. Auf ihrem Wege begegnen sie einem wahren Heer von Pilgern in weissen Galabijas und mit kunstvoll geschwungenen Turbanen.

Hinter ihnen leuchtet noch die weisse HMS Jumna in der prallen Morgensonne. Sie hat vor der Bucht Anker geworfen, denn die Einfahrt ist eng und das Korallenriff zu gefährlich für ein Kriegsschiff mit diesem Tiefgang. Beide Männer waren im Beiboot rechts an der Quarantäne-Insel für Mekka-Pilger vorbeigefahren, daraufhin an der Condenser-Insel mit ihrem schlanken obeliskartigen Kamin, die während der Kampagne von 1884-85, von der hier berichtet wird, von Bedeutung war, da sie den Anfangspunkt der Suakin-Berber-Linie bildete. Schliesslich waren sie am Zollhaus im Norden des Städtchens gelandet.

Die beiden Männer gehen weiter durch die immer enger werdenden Gassen und gelangen auf den Souk. Auf der Insel gibt es nur festgestampfte Sandstrassen, denn Verkehr auf Rädern ist hier unbekannt. Sie schreiten an beladenen Kamelen und ihren arabischen Treibern auf dem Weg zur Karawanserei in Geyf vorbei, zwängen sich durch zwischen schwarzen Nubiern mit voll beladenen Körben auf ihren Schultern, Hadendowas, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, Hadrerebes und Bejas, eigentlich die Ureinwohner des Landes jenseits der Insel, und Veteranen aus vergangenen Derwisch-Kriegen treiben im entgegenkommenden Menschenstrom mit. Ihr lautes Sprachwirrwarr aus Beidawi und Khasa, dominiert vom Arabischen, hallt von den Hauswänden wider wie auch die Stimmen portugiesischer und griechischer Kaufleute, die ihre Waren unter zerrissenen Zeltplanen lagern und mit potenziellen Kunden lautstark handeln.

In den Auslagen sind glänzende Fischleiber, an Fleischerhaken baumelnde rohe Fleischhälften, von Fliegenschwärmen bedeckt, am Boden Käfige mit Geflügel, belauert von wilden Hunden, schwere Säcke, randvoll mit Gewürzen, exotischen Waren, Teppichen, Hals- und Armbandketten, Schwertern und Kaftanen, alles wohlfeil angeboten. An einer Wand hockt und bettelt ein alter Derwisch mit amputierter Hand, anscheinend Opfer der Scharia.

Die leichte Brise, die noch im Hafen den Geruch des salzigen Seetangs getragen hat, ist in den engen Gassen einem aggressiven Gemisch aus Gerüchen nach staubigem Vieh, scharfem Weihrauch, Knoblauch- und Zwiebeldüften, türkischem Tabak, beissendem Harn und saurem Schweiss gewichen.

Sie verlassen den Marktbereich und gehen in Richtung Gordon-Tor. Kurz davor befindet sich Haus Beit Sham mit dem Hauptquartier des Expeditionskorps. Zwei Wachen salutieren die Ankommenden am Eingang des dreistöckigen Hauses im türkischen Stil. Collins teilt ihnen mit, dass Major Graham sie erwartet. Roschans werfen ihre Schatten vom zweiten Stock auf die Männer. Nun gehen sie durch das Tor in den Innenhof, wo sie der wachhabende Offizier nach ihrem Anliegen fragt.

«Wir sind mit Generalmajor Graham verabredet. Er erwartet uns.»

Der Offizier weist auf eine Tür rechts im Hof. Darauf steht ‹General›. Der Padre klopft an und eine tiefe Stimme geheisst ihn einzutreten. General Graham, ein zwei Meter grosser Hüne, glättet seinen Walrossschnauzbart, erhebt sich und begrüsst die Eintretenden. Von ihm hiess es, dass er auf der Krim und in China mit den Expeditionsheeren gekämpft hätte, ein viktorianischer Kämpe.

«Padre Collins! Es freut mich, Sie wieder in alter Frische zu sehen. Wie war die Pflege auf dem Spitalschiff? Sie haben ja einen bösen Sonnenstich erlitten und wir haben schon befürchtet, sie würden das Augenlicht verlieren. Der Zwischenhalt in England hat sicher bei der Genesung geholfen.»

«Dank der Ärzte und der guten Pflege konnte ich mich doch schnell erholen und kann meine Aufgaben wieder erfüllen.»

Dann stellt er seinen Begleiter, Adjutant Shanahan, vor.

Der General bittet sie Platz zu nehmen und bietet ihnen etwas zu trinken, was aber beide ablehnen.

Der General öffnet eine Kladde, entnimmt ihr Papiere, die er überfliegt, und richtet sich sodann mit ernsthafter, aber wohlwollender Miene an den Padre: «Sie stiessen 1879 als katholischer Feldprediger zur Armee und waren bis 1882 in Aldershot stationiert. Im August desselben Jahres segelten Sie nach Ägypten, wo sie zunächst von der Regierung Ihrer Majestät ein Staatsstipendium erhielten, um Arabisch zu erlernen. Aha, interessant, Ihre Arabischkenntnisse werden uns von grossem Nutzen sein. Im Jahr 1882 dienten Sie den Royal Irish Fusiliers im 1. Bataillon. Sie beteiligten sich unter anderem an der Schlacht von Tel-el-Kebir. Wie ich hier einem Brief entnehme, sandte Oberst Beasley, der drei Tage später seinen Verletzungen erlag, einen Brief an General Wolseley, in dem er Ihre Tapferkeit pries. Sie wurden mit der Medaille ‹Khedive’s Bronze Star› mit Spange ausgezeichnet, weil es Ihnen gelungen war, während eines Eigenbeschusses, bei dem indische Truppen irrtümlich auf ein britisches Detachement zielten, die Inder unter grosser Gefahr zu erreichen und damit die irregeleitete Schiesserei zu beenden. Es ist ziemlich laut da draussen, aber wegen der Hitze können wir die Fenster nicht schliessen. Ich bitte um Entschuldigung. Hier ist noch eine Notiz, die festhält, dass Ihre Kameraden Ihre Aufopferungsbereitschaft während der Cholera-Epidemie im selben Jahr in Alexandrien bewunderten. Nach einem Aufenthalt in England sind Sie nun wieder bei uns. Padre, ich bin stolz, Sie in meinem Regiment zu haben. Viele unserer irischstämmigen Soldaten erinnern sich an Sie und werden Sie willkommen heissen. Werden Sie diesen Sonntag bereits die Messe lesen?»

«Das habe ich vor.»

«Unser Hauptlager befindet sich auf dem Festland, im Geyf, wo sie ein Offizierszelt beziehen werden. Für die Messe werden wir etwas Grösseres benötigen, denn im Freien ist die Sonne mörderisch, wie Sie selbst an Ihrem Leib erfahren haben. Ich werde das Nötige in die Wege leiten. Darf ich Sie heute Abend in die Offiziersmesse an meinen Tisch einladen?»

«Sehr gerne.»

Sie stehen auf, salutieren. Dann verlassen der Padre und seine Ordonnanz das Hauptquartier.

«Shanahan, ich glaube, wir haben uns doch einen Drink verdient. Ich habe einen portugiesischen Freund, Olivera da Figuera, der hier einen Laden und einen Ausschank hat. Ich möchte ihm einen Besuch abstatten. Kommen Sie mit?»

Da Figuera wohnt in einer Seitenstrasse des Souks, in der er eine Trinkhalle betreibt. Im Erdgeschoss, in zwei nebeneinanderliegenden Räumen, befinden sich mehrere Tische. Rund ein Dutzend Gäste schlürfen Tee, paffen Shisha oder spielen Dame. Der Padre und seine Ordonnanz nehmen an einem freien Tisch Platz. Ein junger Hadendowa – man erkennt ihn an den Büscheln krauser Haare an den Schläfen und am Scheitel – fragt nach ihren Wünschen. Der Padre antwortet, er möchte Señor da Olivera da Figuera sprechen. Der Junge ruft den Schankwirt herbei.

«Padre Collins! Wie schön, Sie zu sehen. Sie sind ja wieder ganz gesund. Letztes Jahr mussten Sie doch wegen eines Fieberanfalls aufs Lazarettschiff. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Sie in einem Dhoolie zum Hafen transportiert und zum Lazarettschiff gebracht wurden.»

Da Figuera ist kleingewachsen, breitschultrig und trägt ein blaues Hemd mit offenem Kragen.

«Ja, ich habe mich dank der guten Fürsorge auf dem Lazarettschiff und einem Aufenthalt in England bestens erholt.»

Shanahan bemerkt die aufgerollten Ärmel des Schankwirtes, die kraftvolle Arme entblössen, und die mit krausem, dunklem Haar bedeckten Hände. Er nimmt seinen Tropenhelm ab und wartet, bis ihn der Padre vorstellt.

«Des Padres Freunde sind meine Freunde. Aber kommt doch in den ersten Stock, dort sind wir ungestört.»

Sie gehen eine Holztreppe hoch und einen kleinen Gang entlang, wo sich ein privater Empfangsraum befindet, Majlis. Der Eckraum hat zwei Roschans, von denen einer den Blick auf den Souk freigibt, der andere auf die Seitengasse, in der sich der Eingang des Kaffeehauses befindet. Durch das Fachwerk des Fensters auf der Soukseite sieht man in der Ferne den Turm der Condenser-Insel und durch das andere den muslimischen Friedhof auf dem Festland im Osten, ferner zwei Kuppeln von Grabmalen verehrter Scheichs.

«Im Kaffeehaus im Erdgeschoss muss man vorsichtig sein, die Wände haben Ohren», flüstert da Olivera. Er wendet sich dann an den Padre: «Spione von Osman Digna versuchen, möglichst viel über die Absichten der Engländer zu erfahren.»

Bevor sie sich im Schneidersitz auf die Kissen am Boden setzen, löst der Padre seinen Gürtel. Während da Olivera mit seiner Galabija bequem sitzt, ist es Shanahan in seiner enganliegenden Uniform unbequem und er muss ebenfalls seinen Gürtel ein wenig lösen.

Ein Diener bringt eine Karaffe und füllt kleine Gläser mit einer trüben Flüssigkeit, die er mit Eiswasser verdünnt.

«Ihr müsst unbedingt meinen Mastic probieren!»

Danach legt der Diener eine grosse Platte mit Datteln, Pistazien, Falafeln, Baba Ganoush, Hummus und weiteren Mezze auf den Boden vor seine Gäste. Shanahan bemerkt einen unangenehmen beissenden Geruch, den offenbar die Haare des Bediensteten verströmen, und rümpft die Nase.

Daraufhin nippt er an seinem Glas, verzieht das Gesicht und hustet.

«Mein Gott, das brennt ja wie Feuer in der Kehle!»

«Das ist ein Destillat aus Feigen, in dem wir Mastix auflösen, ein Harz des Mastixstrauches, das wie Anis schmeckt», erklärt da Olivera.

«Damit kann man Tote wieder zum Leben erwecken», meint Shanahan.

Als sich der Diener entfernt, sagt Shanahan leise: «Jetzt kann ich wieder atmen. Warum riecht der Diener so unangenehm?»

«Die Hadendawas sind stolz auf ihre wollige Haarpracht. Und damit die Haare mehr Volumen haben, reiben sie sie mit Schaffett ein. Leider schmilzt es mit der Zeit in der Sonne, was diesen ranzigen Geruch verursacht.»

Der Padre beginnt ein neues Gespräch. «Unglaublich, wie sich dieser Osman Digna an der Macht hält. Wir haben ihn ja in der zweiten Schlacht von El Teb Ende Februar letztes Jahr besiegt. Die erste Schlacht von El Teb Anfang Februar ist desaströs für uns verlaufen und General Valentine Baker wurde schwer verletzt.»

Da Figuera ergänzt: «Wie du weisst, war Digna sein Leben lang Sklavenhändler. Da aber die Briten den Sklavenhandel zu unterbinden suchten, sah er seine Felle davonschwimmen und schloss sich dem Mahdi-Aufstand an.»

«Aber warum hat er so viele Anhänger?», fragt Shanahan.

«Seine Gefolgschaft verdankt er seinem Redetalent», entgegnet ihm da Figuera. «In seinen wöchentlichen Ansprachen fordert er Hablosigkeit. Die Ehemänner sollen den Schmuck ihrer Frauen opfern, was sie unwillig tun, da sie wissen, dass sie diesen den Frauen alsbald ersetzen müssen. Wer arm ist, werde am Tage der Auferstehung reichlich belohnt werden, dröhnt es aus ihm mit tiefer Stimme.»

«Haben Sie ihn je gesehen?», fragt Shanahan. «Wie sieht er aus?»

«Ich habe ihn einmal auf seinem Pferd, umringt von seinen Anhängern, gesehen. Er ist stämmig und von mittlerer Grösse, schweigsam und lacht kaum, hat furchterregende buschige Augenbrauen. Ist er zornig, runzelt sich seine Stirn wie zusammengeknülltes Papier.» Da Figuera fährt mit erhobenem Zeigefinger fort: «Das wichtigste Ereignis für ihn sind die regelmässigen Briefe des Mahdis, die ihm ein Bote aus Khartum zuträgt. Darin beschreibt der Mahdi seine Absicht, ganz Zentralafrika zu unterwerfen, in Ägypten einzudringen, das Rote Meer zu überqueren, Mekka zu erobern, danach ganz Turkmenistan und schliesslich Menschen in der ganzen Welt zum Islam zu konvertieren. Jene, die sich dem Mahdi-Aufstand nicht anschliessen, dürfen demnach getötet werden, und ihre Frauen werden Freiwild. Er hat eine tiefe Stimme und seine lauten Tiraden dringen bis zu den entferntesten Hörern durch. Sein Schlusssatz lautet immer: ‹Enthüllt eure Brust, um euren Tod zu suchen! Denn ihr seid die wahren Gläubigen und wenn eine Kugel euch trifft, dann ist das euer grösster Lohn.›»

«Solche Männer üben eine grosse Anziehungskraft auf ihr Umfeld aus und finden viele Bewunderer», entgegnet der Padre. «In gewisser Weise, wenn ich das so sagen darf, können Dignas Entschlossenheit und Charisma bei seinen Anhängern mit dem Charakter General Gordons verglichen werden, der letzten Monat in Khartum von einer Lanze durchbohrt worden ist. Auch Gordon kannte keine Furcht und sein starker christlicher Glaube an die Auferstehung liess ihn mit Fassung dem Tode entgegensehen. Er starb am Zenit seines Ruhmes und sein Tod zwang die Regierung aufgrund des Drucks der Öffentlichkeit dazu, wieder in den Sudan einzumarschieren.»

Nach einem Schluck Wasser fügt der Padre hinzu: «Aber was wenige wissen, ist, dass Digna in Frankreich, in Rouen, auf die Welt kam als Sohn von französischen Eltern und George Vinet hiess. Er ging in Rouen und Paris zur Schule, emigrierte aber dann mit seinen Eltern nach Alexandrien. Als sein Vater starb, nahm ihn sein Schwiegervater auf und schickte ihn an die Militärakademie in Kairo, wo er zusammen mit Arabi, dem späteren Anführer der Militärrevolte, Taktik und Kriegshandwerk lernte. Anschliessend zog die Familie nach Suakin, wo der Stiefvater weiterhin seinen Handel betrieb. Nach dem Tod seines Stiefvaters nahm er dessen Namen, Osman Digna, an. Als einige Jahre später der Krieg ausbrach, 1882, schloss er sich seinem alten Freund Arabi an, dem es gelungen war, die Armee hinter sich zu bringen und einen Aufstand in Alexandrien zu organisieren, der dann in der Schlacht von Tel-el-Kebir von uns niedergeschlagen wurde.»

Der Padre hält kurz nachdenklich inne und fährt dann fort: «Ich selbst habe an dieser Schlacht als Feldprediger teilgenommen. Osman Digna wurde danach Leutnant des Mahdis und Englands erbittertster Feind.»

«Weiss man, wo er sich jetzt befindet und was er vorhat?», fragt Shanahan.

«Es brodelt jedenfalls ordentlich in der Gerüchteküche. Er soll seine Kämpfer in Berber versammelt und Vorboten in Ariab und in den Hügeln von Khor Taroi positioniert haben. Gelegentlich nähern sich Freischärler und schiessen aus der Ferne. Ich denke, ihr werdet bald gegen bedeutendere Verbände anzutreten haben. Inschallah werden die Briten seinem Treiben ein Ende setzen.»

Das Lager in Geyf

Der Himmel gleicht einer polierten Messingplatte und die Sonne versengt unerbittlich, was bereits eine ausgedörrte Wildnis ist, abgesehen von ein paar armseligen Büschen. Als sie sich Geyf nähern, begegnen sie am Ende der Landbrücke einer Gruppe Soldaten. Der Padre bittet um Orientierungshilfe.

Ein Gefreiter erklärt: «Willkommen im Ofen.» Er deutet mit seinem gebräunten Arm nach vorn in die Kaserne. «Das sind die ägyptischen Regimenter.» Er bewegt seinen geraden Arm im Uhrzeigersinn und identifiziert weitere Regimenter. «Im Osten, hinter diesen Hütten, stehen Berkshire und Yorkshire. Daneben steht das Shropshire-Regiment. Wieder im Osten liegen Surrey, Scots Guards und Coldstreams, und weiter hinten die Royal Dublin Fusiliers und die Royal Irish.» Mit einem verschmitzten Grinsen fährt er fort: «Die kann man nicht übersehen. Dort gibt es immer irgendeinen Aufstand oder eine Schlägerei.» Dann kehrt er zu einem ernsteren Ton zurück: «Als Offizier ist Ihr Zelt sicher, aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie gut schlafen werden, denn in den meisten Nächten liefern sich die Wachen ein Feuergefecht mit den Derwischen auf den Festungsmauern.»

Die Zelte waren entweder verdoppelte Blachen aus weissem Baumwollstoff, kreisförmig um einen Pfosten herum befestigt, um gut vor der sengenden Sonne zu schützen, aber auch mit grossen Öffnungen, um jedes Lüftchen einzufangen, oder Pyramidenzelte mit charakteristisch zylindrischem Unterbau. In den grösseren Zelten fanden 20 Soldaten Platz, in den Offizierszelten vier.

Der Pater findet sein Zelt auf dem Gelände der Royal Irish Fusiliers, wo er von Soldaten, die ihn noch aus dem Frühjahrsfeldzug kennen, herzlich begrüsst wird. Sie schütteln ihm die Hände und überschütten ihn mit Fragen: «Wir haben Sie zuletzt gesehen, als Sie auf das Lazarettschiff gebracht wurden. Sie sehen jetzt gut aus.»

«Es war der Frühjahrsfeldzug, wo mir die Hitze zu schaffen machte, Jungs. Aber jetzt geht es mir gut», antwortet der Pater.

Im Offizierszelt, das für sie vorgesehen ist, werden sie von zwei Männern begrüsst, die von ihren Feldbetten aufspringen und sich vorstellen. Es sind Dick Heldar, Zeichner und Porträtist, und Herbert Belling-Tarpenhow, Kriegsberichterstatter von der ‹Times›. Der Padre und Shanahan legen ihre Siebensachen auf die freien Pritschen.

«Wir brauchen uns um unser Seelenheil keine Sorgen zu machen, wenn Sie bei uns sind», meint Heldar schmunzelnd. Er hat dunkle, stark gewellte Haare, einen Oberlippenbart und wirkt jugendlich. «Eine Frage: Kennen wir uns nicht von irgendwoher, Padre? Waren Sie nicht auch in Downforth?»

«Heldar? Sie waren ein paar Klassen unter mir und bekannt für Ihre Karikaturen.» Der Pater nimmt ihn auf den Arm. «Ich erinnere mich, dass Ihre Karikaturen unseren Lehrern nicht immer geschmeichelt haben, oder? Wie ist es Ihnen ergangen? Ist es das erste Mal, dass Sie als Karikaturist an einer Kampagne hier im Sudan teilnehmen?»

«Ja.»

«Dann werden wir uns mit Anekdoten aus der Benediktiner Klosterschule die Langeweile vertreiben können.»

Der andere Mann, Belling-Tarpenhow, scheint in den Dreissigern zu sein, ist eher klein, feist und massig, hat eine Glatze und trägt einen buschigen Schnäuzer. Statt einer Uniform hat er ein Flanellhemd an. Er holt einen Flachmann aus seinem Rucksack hervor und bietet den Ankömmlingen einen Schluck an.

«Ein Willkommenstrunk! Ich freue mich auf unsere gemeinsamen Stunden in diesem bescheidenen Hotel Seiner Majestät. Ich hoffe nur, keiner von euch schnarcht.» Plötzlich hält er inne. «Und hier haben wir noch einen fünften Mitbewohner im Zelt.» Tarpenhow zeigt auf einen Käfer, der vor einer Biskuitkiste herumwuselt, lauernde Gefahr wittert und sich schnell wieder verkriecht. «Der ist sicher aus England als blinder Passagier in einer Biskuitkiste mitgereist. Ob der in diesem Brutkasten, in dem wir uns befinden, überlebt, wage ich zu bezweifeln.»

«Da könnten Sie sich täuschen», wendet Shanahan ein, «Käfer finden Sie auf allen Kontinenten ausser in der Antarktis. Es gibt mehr als 100’000 verschiedene Arten, die sich praktisch an alle Lebensräume der Erde angepasst haben. Und nicht alle Menschen ekeln sich vor ihnen. Vor ein paar Jahren hat ein Forscher in einer Höhle in Laugerie-Basse einen 1.5 Zentimeter grossen, aus Mammutelfenbein geschnitzten Marienkäfer gefunden. Das 20’000 Jahre alte Stück wurde vermutlich durch eine Bohrung mit einer Schnur um den Hals getragen, war also ein Amulett, ein Glückssymbol.»

Der Padre ergänzt: «Bei den Ägyptern galt er ebenfalls als Glücksbringer und war ein Schutzsymbol. Die Ägypter hatten nämlich beobachtet, dass die Skarabäen – so heissen die Käfer bei ihnen – das Nilhochwasser frühzeitig spüren. Die Tiere wanderten weg vom Wasser, tauchten in den Häusern auf und kündigten so den Ägyptern das ersehnte Nilhochwasser an. Später übernahm der Skarabäus als Amulett die Bedeutung ‹Auferstehung und Leben›.»

«Warum?», fragt Shanahan.

«Das Verhalten des Skarabäus, Dungkugeln vor sich her zu rollen und sie im Schlamm zu vergraben, und das anschliessende Erscheinen neuer Käfer aus der Erde wurde als Symbol der Wiedergeburt nach dem Tode gedeutet.»

«Damit hätten wir also einen Glücksbringer im Zelt», kommentiert Tarpenhow.

«Nicht nur das», fügt Shanahan an. «Es gibt Biologen, die aufgrund von Beobachtungen vermuten, dass Mistkäfer sich nach einer Karte der Milchstrasse orientieren, die jeder von ihnen im Kopf hat. Und vielleicht noch dieses: Er ist gepanzert und deshalb auch ein Krieger.» Ein heiteres Lachen bricht aus.

Shanahan macht sich ans Auspacken des Überseekoffers. Am mittleren Pfosten baumeln bereits Cholera-Gürtel, Rückenschutz, Schutzbrillen, Wasserflaschen, Schwerter und Nackenschleier der Kameraden. Der Sandboden ist mit den Säcken ausgelegt, in denen die Zelte transportiert worden sind. Ein paar Kisten in der Mitte des Raumes dienen als Tische.

Der Padre bemerkt Dokumente, die auf dem Feldbett liegen. «Aha, hier haben wir gefaltete Kattun-Stoffkarten von Suakin und der Umgebung und eine, die den Weg nach Berber zeigt. Das wird uns helfen, uns zurechtzufinden. Und ein Englisch-Arabisch-Wörterbuch.» Er blättert in dem Buch. «Das Arabische ist in lateinischen Buchstaben transkribiert. Keine grosse Hilfe für einen Gefreiten mit schottischem oder irischem Akzent, der sich mit einem Araber unterhalten will. Wie ich sehe, hat der Geheimdienst ein Dokument verteilt, das wir lesen sollen: ‹Report on the Egyptian Provinces often the Sudan, Red Sea, and Equator›. Spannende Lektüre.»

Shanahan zeigt auf eine Tube Chinin. «Ich nehme an, die werden wir brauchen, wenn wir ins Landesinnere ziehen.»

Der Padre klappt seinen ledernen Koffer auf und überprüft unter den neugierigen Blicken seiner Gefährten den Inhalt. Messbuch, Bibel, Kelch, Kruzifix, Stola, zwei Gefässe für den Messwein, eine kleine Schatulle mit Hostien, Kerze mit Kerzenhalter und ein Ölgefäss für die Letzte Ölung, alles intakt. Es ist der 7. März, ein Samstag, und morgen muss er die Messe lesen. Er klappt den Koffer wieder zu und schaut auf seine Uhr; es ist sechs. Das Nachtessen des Generalstabs ist um halb sieben im Hauptquartier auf der Insel. Die vier ‹Zimmergenossen› müssen sich also beeilen. Über die Landbrücke, den Gordon Causeway, bis zum Tor zur Insel, der Gordon’s Gate, sind es bestimmt 20 Minuten. Die Zeit muss einfach reichen!

Als sie das Zelt verlassen, hören sie Kanonenschüsse. Es sind die Bordkanonen der HMS Dolphin, die über das Lager hinweg auf Gruppen feindlicher Freischärler schiessen. Während der Padre und Shanahan zusammenzucken, bleiben Tarpenhow und Heldar unbeeindruckt. Sie haben sich inzwischen an den Krach gewöhnt. In einiger Entfernung vom schützenden Wall erkennen sie kurz nach jedem Schuss eine Sandfontäne, gut und gerne 30 oder 40 Fuss hoch.

In der Offiziersmesse

Generalstab und Offiziere haben sich auf dem Flachdach des Hauptquartiers eingefunden. Die Hälfte der Terrasse ist mit einer Strohmatte bedacht, unter der ein grosser Tisch festlich gedeckt ist. Davor und auf dem Balkon haben sich die uniformierten Gäste mit ihren gefüllten Gläsern versammelt. Ein Gefreiter kündigt sie an. Alte Kämpfer, die bereits mehrere Einsätze hinter sich haben, treffen auf junge Offiziere, die zum ersten Mal in Afrika sind, auf Stabsärzte, angloägyptische Offiziere, akkreditierte Zeitungsreporter und alles, was im Heer Rang und Namen hat. Matrosen der HMS Jumna haben das Gedeck, Wein, Champagner und Whisky herangeschafft. Die Stimmung ist gelöst.

Padre Collins wird von einem ihm bekannten anglikanischen Feldprediger begrüsst und anderen vorgestellt. Die Gruppe befindet sich auf dem Balkon der Terrasse. Von hier aus hat man einen Panoramablick auf das Festland im Südwesten, wo die Pyramidenzelte des Heerlagers sichtbar sind, wie eine Armee in Reih und Glied geordnet. Dahinter sieht man den Schutzwall mit den fünf Forts und in der Ferne die Erkowit-Hügel. Im Osten sind hinter zwei feigenförmig bedachten Minaretten mit ihren Bienenkorbkuppeln das Rote Meer, die weisse HMS Jumna und die HMS Dolphin zu sehen, die vor Anker liegen und in der Abendsonne hell leuchten. Die See ist glatt, nur ein paar gekräuselte Wellen trauen sich in Ufernähe. Eine leichte Brise hat die stickige und drückende Hitze des Nachmittags verdrängt. Die Erleichterung darüber ist bei allen Anwesenden spürbar.

Das Gespräch dreht sich um die kommenden Tage. Würde Digna den Schutzwall angreifen und könnten die Hadendawas vielleicht mit ihren Horden einen Durchbruch schaffen? Oder würden Truppen Richtung Sinkat oder gar Tambuk losgeschickt werden? Weiter südlich an der Küste befand sich der Hafen Trinkitat, wo sich General Baker und General Graham den Einheimischen gestellt hatten und Graham die Niederlage der ersten Schlacht rächte. Auch dorthin könnten Kontingente verschoben werden. Denn die Derwische hatten die Gegend wieder unsicher gemacht.

Padre Collins ist bewusst, dass ihn einige Offiziere skeptisch beäugen. Katholische Feldgeistliche sind noch nicht so lange zugelassen. Ein Katholik muss statt des Fahneneids auf die Königin, die er nicht als kirchliches Oberhaupt anerkennt, einen abgewandelten Eid ablegen. Denn seine Loyalität gilt dem Papst. Ist er dennoch vertrauenswürdig? Noch sehen viele Engländer den Katholizismus als inkompatibel mit einer modernen Gesellschaft und glauben, dass Rom ein ganzes Netzwerk von Agenten unterhält mit der Absicht, die britische Gesellschaft zu unterwandern und die Unfehlbarkeit des Papstes zu propagieren, die 1870 beim Ersten Vatikanischen Konzil proklamiert worden war. Doch viele der Soldaten sind katholische Iren und wollen Sakramente empfangen, die ein evangelischer oder anglikanischer Priester nicht erteilen kann.

Auf Aufforderung von General Gerald Graham rücken die Anwesenden zu den Tischen und setzen sich. Der General erhebt sich, räuspert sich und hält eine kurze Willkommensansprache. Er beginnt mit einem Grinsen: «Wir treffen uns hier, damit ich euch anschauen kann und ihr mich – nicht dass ich auf meine Gesichtszüge besonders stolz bin, sondern weil wir miteinander Bekanntschaft machen müssen, jetzt wo wir alle Teil dieser Expedition im Sudan sind.» Darauf ernsthafter: «Wir sind weit weg von zuhause, und ich weiss, dass einige von euch das Gefühl haben, man vernachlässige sie oder habe sie vergessen. Aber ich kann euch versichern, dass der Erfolg eures baldigen Einsatzes in aller Munde sein wird. Denn wir vertreten hier Werte und Errungenschaften, die wir in unserer langjährigen Geschichte selbst erworben haben.» Zustimmendes Raunen. «Unter euch sind Soldaten aus dem gesamten Empire: Briten, Iren, Inder, Kanadier und bald Australier. Letztere sind freiwillig zu uns gestossen und haben ihrem Mutterland die Hand gereicht – ein Zeichen für die koloniale Solidarität und eine Warnung an unsere Feinde.» Es folgt Applaus, ‹Yipees› und ‹Yays› und Gläserklirren. Der General nützt die Pause, um einen Schluck Wasser zu trinken. «Gemeinsam arbeiten wir an einer unauflöslichen Union mit dem Ziel, unseren Handel, unsere Besitztümer und die Souveränität unserer Fahne zu verteidigen. Letzten Endes geht es aber um den Frieden in unserem Reich, der pax britannica, und eines Tages werdet ihr mit Stolz sagen können: ‹Ich war dabei!›.» Und wieder ertönt lauter Beifall.

Der General blickt in die Runde und fährt emphatisch weiter: «Wir sind von unserer Majestät, unserer glorreichen Königin – Gott beschütze Sie! – mit der Aufgabe betraut worden, die sudanesische Bevölkerung von der korrupten Herrschaft des Mahdis zu befreien und den Tod General Gordons zu ahnden.» Er wird von Zwischenrufen unterbrochen: «God save Her Majesty!» und «Long live the Queen!»

«Aber unser Ziel ist auch, das Los der gebeutelten Einheimischen zu verbessern, indem wir die Ernährung der sudanesischen Bevölkerung sicherstellen. Es soll keine Hungersnöte mehr geben, das Volk mit unseren neuen Medikamenten vor Epidemien wie Malaria, Typhus und Cholera geschützt und die nationale Sicherheit gewährleistet werden. Dabei ist es uns ebenfalls wichtig, die Barbarei des Sklavenhandels zu beenden und unsere christlichen Werte Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit vorzuleben.

Ein weiteres Ziel unseres Einsatzes ist der Bau und Schutz einer modernen Eisenbahn zwischen Suakin und Berber, um unsere Truppen in Khartum effizient versorgen zu können. Eine grosse Verantwortung wurde uns aufgebürdet. Unser Feind in diesem Landesteil heisst Osman Digna, ein Anhänger des Mahdis, den wir schon lange bekämpfen. Immer wieder gelingt es ihm, Derwische zu mobilisieren. Die Derwische sind mutige Gegner und kämpfen für ihre Lebensart und ihre Religion. Sie suchen den Tod, weil er ihnen ein glücklicheres Leben im Jenseits verspricht. Aber sie sind irregeleitet und wenn ihre Führer entmachtet sind, werden sie sich für die Vorzüge der Zivilisation öffnen. Sie werden dann in Frieden ihre Zukunft selbst bestimmen können. Und wir sind diejenigen, die ihnen den Weg ebnen.»

Einigen Anwesenden ist die Rede etwas lang und sie schauen sich nach dem Dienertross um, der das Essen auftischen wird, oder blicken etwas wehmütig auf ihre Gläser. Es ist bereits dunkel geworden.

«Zuletzt möchte ich mit grosser Freude meinen Dank für die Arbeiten der Royal Engineers, des Armee-Ordonnanz-Korps, der Telegrafen- und Postdetachemente aussprechen. Sie waren unsere Vorhut und haben durch ihre effiziente Organisation unsere Ankunft sehr erleichtert. Möge uns Gott beistehen!» Es folgt zum Abschluss der Rede ein anhaltender Applaus.

Während der Diskussion nach dem Essen wendet sich General Graham an den Pater und bittet um ein Treffen am nächsten Tag. Die Männer einigen sich auf 15 Uhr.

Um halb neun bläst das Horn ‹First Post›, das Zeichen zum Aufbruch. Der General stimmt ‹God Save the Queen› an und alle singen herzhaft mit, bevor sie sich verabschieden und wieder zum Zeltlager im Geyf eilen.

In der Nacht ist es drückend, weil der Wind, der vom Meer her weht, nachlässt. Dann aber gegen Morgen wird es kühler, sodass man gerne eine Decke nimmt.

Während der Nacht sind wieder Schüsse gefallen. Am Morgen wird den Anwesenden mitgeteilt, dass Kämpfer des Mahdis zwei Soldaten des Berkshire-Regiments getötet und drei weitere verletzt haben. Es ist der erste dieser Nachtangriffe, die die Soldaten später immer wieder unangenehm aus dem Schlaf reissen werden.

Nach dem Morgenappell greift Shanahan nach seiner Uniform, die immer noch an dem Pfosten hängt. «Warum ist meine Uniform feucht? … Ihre auch!»

Padre Collins registriert, dass auch der Boden feucht ist.

Tarpenhow erklärt: «Leider befindet sich unser Lager in einer Senke. Und da wir in Meeresnähe sind und da der Boden salzig ist, nimmt er während der Nacht Feuchtigkeit auf. Diese Feuchtigkeit dringt in unsere Uniformen ein. Wir können nur hoffen, dass sie in der Hitze bald trocknen, sonst müssen wir mit Hautabschürfungen rechnen.»

Shanahan, Heldar und Tarpenhow waschen und rasieren sich. Padre Collins stutzt seinen Spitzbart.

«Dass Sie bei dieser Hitze Ihren Bart behalten!», kommentiert Shanahan.

«Der Bart schützt die Haut, denn Haare leiten keine Wärme. Nicht nur die direkte Sonneneinstrahlung schädigt die Haut, auch die Refraktion von Sand ist gefährlich. Es ist kein Zufall, dass die Hadendawas und andere Einheimische beeindruckende Haarschöpfe haben.»

«Die Haarpracht macht sie natürlich grösser, was furchteinflössender ist. Vielleicht ist das ja auch ein Grund dafür.»

Sie begeben sich zur Essensausgabe, wo jeder ein Stück Brot, ein Viertelpfund schwitzenden Cheddar erhält und reichlich Wasser. Padre Collins verzichtet, denn für die Heilige Messe muss er nüchtern bleiben.

Sonntag, 8. März 1885

Heilige Messe

Um neun begeben sich die katholischen Soldaten in ein eigens dafür eingerichtetes, grösseres Zelt, um der Messe beizuwohnen. Ein grosses Kreuz ist aus einem Balken geschnitzt worden, der in der Morgensonne einen langen dunklen Schatten wirft.

Shanahan hat eingewilligt zu ministrieren. Padre Collins und er befinden sich nun auf einer kleinen Bühne vor einem Altar, aufgebaut aus Biskuitkisten. Der Padre hat die grüne Stola über die Uniform gelegt und die Messeutensilien auf einer Decke vor sich ausgebreitet. Die Soldaten nehmen ihre Mützen ab und stehen voller Ehrfurcht auf dem sandigen Boden. Einige haben Gebetsbücher oder Rosenkränze in den Händen und knien.

«Introibo ad altare Dei», intoniert Padre Collins gregorianisch. Die Messe beginnt.

In seiner Predigt geht er auf das Sakrament der Eucharistie ein: «Jesus hat beim letzten Abendmahl das eucharistische Opfer gestiftet. Er lehrt uns, dass sein Blut das Blut des Bundes ist, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Das Opfer des Kreuzes soll durch alle Zeiten hindurch bis zu seiner Wiederkunft fortdauern und uns so das Gedächtnis seines Todes und seiner Auferstehung anvertrauen. In dieser Messfeier ist Christus also gegenwärtig in unserer Gemeinde, in der wir uns in seinem Namen versammelt haben.

Dann geht er zur Transsubstantiation von Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi mit der Formel für das Brot über: «Accipite, et manducate ex hoc omnes. Hoc est enim Corpus meum», und die Worte für den Kelch: «Hic est enim Calix sanguinis mei, novi et aeterni testamenti: mysterium fidei: qui pro vobis et pro multis effundetur in rem rem pecatorum. Haec quotiescumque feeceritis, in mei memoriam facietis.»

Nachdem er Brot und Wein konsekriert hat, fährt er mit einem Gebet, die Augen geschlossen, fort: «Allmächtiger Gott, in dessen Händen der Sieg ruht und der auch David die wundersame Kraft verlieh, um den rebellischen Goliath zu besiegen: Demutsvoll bitten wir dich um die Gnade, deinen Dienern die erforderliche Kraft und den Mut zu geben, damit sie siegreich die Stärkung und Verteidigung der Witwen, der Waisen und der Heiligen Mutter Kirche gegen Angriffe aller Feinde, seien es sichtbare oder unsichtbare, abwehren. Durch unseren Herrn Jesus Christus. Amen.»

Es folgt die Kommunion. Die Soldaten knien in Reih und Glied. Die Hitze ist erdrückend und mancher lockert seinen Kragen oder wischt sich Schweisstropfen von der Stirn. Der Padre legt ihnen jeweils eine Hostie auf die Zunge mit den Worten: «Dies ist der Leib Christi.» Danach geht er zum Altar zurück und verkündet: «Ite, missa est.»

Die Soldaten verlassen das Zelt. Manch einer von ihnen denkt sich besorgt, ob nicht auch sein Blut zum Ruhme des Vaterlands vergossen werden wird.

Während der Padre den Altar aufräumt, wirbeln zahlreiche Gedanken durch seinen Kopf, wobei er auf das Kruzifix blickt: ‹Sie beten während der Messe, weil sie im Kampf vom Tod verschont werden wollen. Ihre Gebete sind wie eine Versicherungspolice, um ihre Wetteinsätze auf Unsterblichkeit abzudecken. Ich kann ihnen das nicht verübeln. Nur wenige beten kontemplativ und verstehen die Symbolik und die Wortformen der Liturgie als wirklich bedeutungsvoll.›

Nach der Heiligen Messe fahren Shanahan, der Padre, Tarpenhow und Heldar, seinen Zeichenblock unter dem Arm, in einem Beiboot zur Quarantäne-Insel, um sich die ankommenden Dromedare und Pferde anzuschauen. Die Insel ist der grosse Umschlagplatz für alle Waren, die das Heer benötigt. Sie sehen lange Kolonnen beladener Dromedare mit Vorräten und Ausrüstung oder mit Tierfutter und Brennstoffen in Richtung Lager aufbrechen. Soldaten im Arbeitsdienst schuften in der unerbittlichen Hitze, Ordonnanzen galoppieren über die Ebene, Generäle und Stabsoffiziere mustern die neu ankommenden Verbände – dies alles unter der sengenden Sonne dieses grausigen Hafens, dessen Luft durch die übelriechenden umliegenden Sümpfe verpestet wird. Die unangenehmste Aufgabe ist das Ausladen der Kamele aus Indien und Aden, die mit Hebevorrichtungen an Land gehievt werden. Viele haben unter dem Transport gelitten, denn aufgrund des Zwangs, eng aneinandergekoppelt zu stehen, hat sich die Räude ausgebreitet. Zahllose Flöhe und Zecken haben sich in den Fellen festgebissen.

Der Padre, der zuvor Ägypten und den Sudan bereist hat und auf Kamelen geritten ist, erklärt: «Ein Dromedar ist ein seltsames Tier: Es scheint ständig missmutig zu sein, ja geradezu schlecht gelaunt, es grunzt und stöhnt, wenn es aufsteht oder sich hinlegt, als ob dies schmerzhaft wäre, und gibt abscheuliche Laute von sich wie ein brüllender Stier oder ein laut grunzendes Wildschwein. Manche sind bösartig – und wehe, wenn sie beissen oder treten: Das kann zu schweren Verletzungen führen. Es ist bekannt, dass Kamele lange Zeit ohne Wasser auskommen können – manche sagen, bis zu neun Tage. Aber das geht mit einem Verlust an Kraft einher.»

«Aber wie viel Wasser sollte man ihnen täglich geben?», fragt Shanahan.

«Bei harter Arbeit und heissem Wetter sollten sie zweimal am Tag trinken. Es müssen jedes Mal 25 bis 30 Liter sein!», antwortet der Padre.

Sie beobachten, wie die Tiere auf der Koppel die Zweige von Dornensträuchern ausreissen, die sie genüsslich abkauen. Auch vor Mimosensträuchern machen sie nicht Halt. «Deren Dornen können jede Stiefelsohle durchbohren», ergänzt der Padre.

Heldar hat seine Staffelei ausgeklappt und beginnt, die Szene mit einem Satz Kohlestifte zu skizzieren. Er kommentiert: «Sie blicken von ihren viel zu kleinen Köpfen fast hochnäsig auf uns herab. Ganz lässig und irgendwie verächtlich blinzeln sie mit ihren nur halb geöffneten Augen, als wollten sie sagen: Ihr könnt uns doch alle mal, ihr Kamele da unten. Aber ich möchte nicht nur die Kamele darstellen, sondern auch ihre indischen und somalischen Führer in ihren bunten Gewändern. Zweifellos sind das harte Burschen, die wissen, wie sie mit ihren Tieren umgehen müssen.»

«Bald werden wir uns mit diesen Tieren anfreunden müssen», überlegt Padre Collins laut. Tarpenhow entfernt sich, er möchte das ausgeladene Schienenmaterial anschauen. Shanahan und der Padre bleiben vor Ort.

«Aber wozu das alles?» fragt Shanahan. «Diese gewaltigen Vorbereitungen, diese riesige Ansammlung von Menschen sämtlicher Couleur, die schier unbegrenzten finanziellen Mittel, die hier aufgewendet werden, die gefährlichen Krankheiten, der lauernde Tod – wozu das alles?»

«Wir sind Soldaten,» gibt Padre Collins zurück. «Wir gehen dorthin, wo man uns hinschickt, und tun das, was man uns befiehlt. Wir sollen unter anderem den Heiden christliche Werte beibringen, die Menschenwürde verteidigen, indem wir die Sklaverei bekämpfen und mit den Errungenschaften unserer Zivilisation Hungersnöte verhindern, Krankheiten ausrotten sowie Recht und Gesetz durchsetzen, damit die Völker Ihrer Majestät in Frieden leben können.»

«Das verstehe ich schon. Aber sehen Sie doch, wie unverhältnismässig die Mittel sind, die wir einsetzen, um diese Ziele zu erreichen. Wir bemühen unsere gesamte Technik und setzen unter anderem hier ein: ein Aufklärungsballon, den wir mit komprimiertem Gas aus Chatham befüllen, fahrbare, von Mauleseln gezogene Geschütze, Gardner-Maschinengewehre, die aus fünf Läufen schiessen können, Raketen und schnell feuernde Karabiner. Und im Krieg gegen wen? Einen Feind, dem es nicht an Mut fehlt und der auch bewaffnet ist. Aber womit? Handgefertigte, primitive Speere, Schwerter, wie sie von Kreuzfahrern stammen könnten, Schilde aus Krokodilleder und einige Remingtons, die sie kaum richtig bedienen können.»

«Was sie aber auszeichnet», lenkt der Padre ein, «ist die Entschlossenheit eines Volkes, angefeuert von einem Fanatismus, das den Tod aus zwei Gründen sucht, erstens weil er sie in ein glücklicheres Land führt, und zweitens weil derselbe Tod einem Leben vorzuziehen ist, bei dem sie ihre Lebensart, ihre Freiheit und ihr Land verlieren. Aber ich gebe Ihnen ja recht. Auch mir scheinen die Mittel, die wir aufwenden, in keinem Verhältnis zu unseren hehren Zielen zu stehen. Doch ich bin als Seelsorger hier und nicht als Politiker und habe den verwundeten und sterbenden Menschen in ihren seelischen Nöten beizustehen. Wenn Soldaten auf fremden Schlachtfeldern ihr Leben für Königin und Vaterland opfern, muss ich ihnen die Gewissheit geben, dass ihr Opfer nicht vergebens gewesen ist und ihnen mit der Letzten Ölung das Tor zum Paradies öffnen.»

«Seltsamerweise haben wir Christen denselben Wunsch nach Erlösung wie ein Moslem, der im Kampf stirbt, um ins Paradies zu kommen», sagt Shanahan.

Sie verfolgen noch eine Weile das Treiben vor ihnen und schauen Heldar beim Skizzieren über der Schulter zu. Plötzlich blickt der Padre Shanahan fragend an: «Warum haben Sie sich überhaupt freiwillig für diese Mission gemeldet?»

«Ich suche meinen grossen Bruder. Er ist auf die schiefe Bahn geraten und unser Vater hat ihn rausgeworfen. Wir wissen, dass er sich unter falschem Namen gemeldet hat und sich hat einziehen lassen. Inzwischen ist unser Vater gestorben und ich habe meiner Mutter versprochen, Thomas zu suchen.»

«Um welche Art Streit ging es denn, wenn ich fragen darf?»

«Unsere Familie war zerstritten. Einige Vorfahren gehörten den United Irishmen an. Bereits Wolfe Tone hatte sich mit Napoleon abgesprochen, um die britische Herrschaft in Irland zu beenden. Französische Truppen landeten in Irland, wurden aber geschlagen. Tone schnitt sich im Gefängnis von Dublin den Hals durch, ehe man ihn daran aufhängen konnte und die United Irishmen wurden erbarmungslos gejagt, bis heute. Unser Vater hingegen war ein gemässigter Nationalist. Er glaubte an Verhandlungen mit den britischen Besatzern. Mein Bruder, den ein starker Gerechtigkeitsdrang auszeichnet, schlug sich jedoch zu den Widerstandskämpfern durch. Als uns in der Familie das Geld ausging, fand Vater Arbeit in Liverpool und die ganze Familie zog nach England. Dort spitzte sich der Streit zwischen meinem Bruder und meinem Vater dann zu.»

«Aber warum meldete er sich dann freiwillig zur Armee Seiner Majestät?»

«Da ihn Vater aufgrund eines Streits aus dem Haus warf, gab es für ihn nur die Auswanderung nach Amerika oder eben die Armee als Brotgeber. Da er nicht in der Lage war, die Kosten für eine Überfahrt zu tragen, war er gezwungen, unter der von ihm gehassten Flagge zu kämpfen. Meine Schwester hat mir gesagt, er habe ihr geschrieben, er sei in den Sudan abkommandiert worden. Die Rekrutierungsbüros schauen ja nicht so genau hin. Deshalb bin ich hier.»

«Vielleicht kann ich Ihnen ja behilflich sein, denn ich spreche mit vielen Soldaten. Können Sie ihn mir beschreiben?»

«Ich habe ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Auffallend ist wie bei mir die Sattelnase und das breite Gesicht. Er hat braune Haare und einen Mittelscheitel und ist etwas grösser als ich. Aber er darf nicht auffliegen, er hat einiges auf dem Kerbholz! Würde seine wahre Identität bekannt, würde er verhaftet, nach England zurückgebracht, verurteilt und ins Gefängnis geworfen. Er muss seinen Tarnnamen behalten können!»

Der Padre sagt, er verstehe das, und Shanahan kehrt in sein Zelt zurück.

Um drei spricht Padre Collins beim General vor. Dabei ist noch ein weiterer Offizier des Generalstabs, Major Pembroke.

«Bitte setzen Sie sich.» Er entkorkt eine Whiskyflasche und schenkt drei Gläser ein. Danach klappt er eine Silberdose auf.

«Zigarette?» Der Padre und Shanahan lehnen höflich ab. «Danke, dass Sie gekommen sind. Major Pembroke möchte eine Bitte an Sie richten.»

«Ich höre.»

Der Major wirkt mickrig neben dem hünenhaften General, obwohl er strammsteht. Er rückt seine Brille zurecht und ergreift das Wort.

«Sie waren Ende Januar in England, als irische Terroristen gleichzeitig Anschläge auf die Westminster Abbey, das Unterhaus und den Tower verübten. Man sprach damals vom Dynamit-Samstag. Seit 1881 verüben amerikanisch-irische Fenians Bombenattentate in England. Ziel dieser Attentate ist es, die britische Bevölkerung und Regierung zu zermürben mit der Absicht, durch Gewalt einen irischen Freistaat durchzusetzen.»

«Das ist mir bekannt.»

«Ich habe einen vertraulichen Wunsch an Sie. Wir vermuten, dass in den irischen Regimentern Fenians ihr Unwesen treiben, und versuchen, irische Soldaten für ihre Sache zu rekrutieren. Sie betreuen unsere katholischen Iren und ich möchte, dass Sie sich umhören und mir verdächtige Personen oder Vorkommnisse melden.»

Padre Collins blickt erstaunt auf und macht eine abwehrende Geste. Er erwidert trocken: «Herr Major, so gerne ich Ihnen helfen würde, aber ich vertrete hier die Religion und Spionagetätigkeit im Dienste Ihrer Majestät gehört nicht zu meinen Aufgaben. Meine Tätigkeit als Seelsorger basiert auf dem Vertrauen der Soldaten in mich. Ausserdem bin ich ans Beichtgeheimnis gebunden. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, dass ich Ihrem Wunsch nicht nachkommen kann.»

«Aber Sie könnten die Beichtenden auffordern, das, was sie Ihnen zu Aktivitäten der Fenians anvertraut haben, ausserhalb der Beichte zu wiederholen.»

«In meiner Praxis trenne ich strikt zwischen Religion und Politik. Alles andere wäre Verrat an meinen eigenen Überzeugungen. Bitte haben Sie Verständnis.»

General Graham zwirbelt nachdenklich an einer Schnurbartspitze und hüstelt leise. «Natürlich verstehen wir Ihre Position. Major Pembroke wird diese Sache nicht weiterverfolgen. Sie können abtreten.»

Sie salutieren und der Padre verlässt den Raum. Er fragt sich, was aus der Armeeführung geworden ist, dass sie so etwas von ihm verlangen kann. Da fällt ihm sein früheres Gespräch mit Shanahan ein. ‹Lieber Gott, das brauchen sie nicht zu wissen.›

Später am Nachmittag wird er erneut zum Hauptquartier gerufen. Ein Aufklärer hat sich zurückgemeldet. Der Padre wird gebeten, die Schilderungen des Arabers zu übersetzen. Er ist sofort als Angehöriger des Stamms der Dinka zu erkennen. Denn er hat drei typische, langgezogene horizontale Narben auf der Stirn. Oberhalb des Ellbogens ist wie häufig bei Muslimen im Sudan ein Amulett festgezurrt.