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Mörderisches Tirol - Zwei Fälle für Arno Bussi Der Tote im Schnitzelparadies Damit hatte Arno Bussi nicht gerechnet: Statt in Wien, London und Paris internationale Verbecherbanden zu jagen, wird er vom Bundeskriminalamt ins hinterste Tiroler Tal strafversetzt. Dort steckt der Bürgermeister in der Tiefkühltruhe von Resis Schnitzelparadies. Genauer: sein Kopf. Arnos Mördersuche führt über seltsame Dorfbewohner, einen weiteren Toten, eine außer Rand und Band geratene Natur – und zu Eva, der bildhübschen Tochter der Schnitzelwirtin. Die Toten vom Lärchensee Mitten in der Hitzewelle des Jahrhunderts soll Arno Bussi einen Mord aufklären, der sich schon vor fünf Jahren am idyllischen Tiroler Lärchensee ereignet hat. Damals ertrank der Seewirt, nachdem er betäubt ins Wasser geworfen worden war. Als ein weiterer Einwohner stirbt, wird aus dem kalten Fall ein brandheißer, und Arno ahnt: Will er dem Mörder auf die Schliche kommen, muss er zuerst das Rätsel vom Lärchensee lösen … »Ein Lesevergnügen, das viel gute Laune macht!« WDR, Cathrin Brackmann
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Seitenzahl: 665
Joe Fischler
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Der Tote im Schnitzelparadies – Die Toten vom Lärchensee
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Der Tote im Schnitzelparadies
Prolog
Karte
Erster Tag
Zweiter Tag
Dritter Tag
Vierter Tag
Vier Wochen später
Danksagung
Die Toten vom Lärchensee
Prolog
Karte
Erster Tag
Zweiter Tag
Dritter Tag
Vierter Tag
Fünfter Tag
Sechster Tag
Einen Monat später
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Joe Fischler
Ein Fall für Arno Bussi
Sein Name ist Bussi. Arno Bussi.
Aber Herr Polizist ist ihm lieber. Oder Arno. Je nachdem, wie man eben mit ihm steht. Nur nicht Bussi. Bussi ist ganz schlecht.
Wobei er kein Unguter ist, der Arno. Im Gegenteil. Ein Herz von einem Menschen und ein Glücksfall obendrein! Wer so einen als Polizisten im Ort hat, kann sich gleich dreimal beim Schicksal bedanken. Warum? Kommt gleich.
Aber das mit der Polizei und ihm ist halt so eine Sache. Er hätt ja richtig Karriere machen können, am Bundeskriminalamt in Wien. Wäre ihm nicht der waschechte Herr Innenminister in die Quere gekommen. Besser gesagt, dessen Gattin. Die hat zuerst ein Auge auf den Arno geworfen, anschließend das zweite, und das dritte war dann als Überwachungskamera im Rauchmelder über dem Ehebett versteckt. Wobei: Mit ein bissl gutem Willen hätt man diese Geschichte ja auch als eine selten dumme, quasi unvermeidbare Verkettung unglücklicher Umstände sehen können, für die er fast rein gar nichts kann. Aber erzähl das wer dem Chef. Jedenfalls hat der Arno gar nicht so schnell schauen können, wie sich seine Polizeikarriere in Luft aufzulösen begonnen hat.
Jaja, der Arno und die Frauen. Nicht, dass jetzt wer auf die Idee kommt, er sei ein Gigolo. Überhaupt nicht. Er träumt halt von der einen großen Liebe und hat auf der Suche nach ihr schon mehrmals sein Herz verloren. Trotzdem hofft er weiterhin auf sein Glück. Er kennt einfach nichts Schöneres als das weibliche Geschlecht, und ging’s nach ihm, bräucht’s viel mehr Frauen auf der Welt, während er auf die meisten Männer locker verzichten könnt.
Was noch? Ach ja: Wer ihm über den Weg läuft, könnte meinen, er schaut aus wie der Traumprinz aus Tausendundeiner Nacht. Groß, volle schwarze Haare, dunkle Augen, und kaum blinzelt die Sonne einmal herunter, glaubt man schon, dass er drei Wochen auf Tahiti war. Beneidenswert. Dieses Südländische hat er übrigens in den Genen. Sein Opa Salvatore war ein waschechter Gondoliere in Venedig. Und ein Sänger vor dem Herrn! Da sind die Touristinnen reihenweise ins Schwärmen verfallen, wenn er sein Nessun Dorma durch die Lagunen geschmettert hat. Mindestens eine von ihnen hat dann ein noch viel spezielleres Souvenir vom Salvatore mit nach Hause genommen. Und die Gene sind ein Hund, dieses Souvenir ist Arnos Mama und backt seit dreißig Jahren die besten Pizzas in Tirol.
Aber jetzt zur Schnitzelgeschichte, die passiert ist, als der Arno seinen ersten Spezialauftrag vom Innenminister Qualtinger persönlich bekommen hat. Da hat’s ihn quasi ansatzlos aus der Weltstadt heraus- und ins hinterste Tal hineinkatapultiert …
Die wildesten Geschichten beginnen ja meistens völlig harmlos. Genau wie in diesem Fall auch …
Da steht der Arno verschlafen am offenen Küchenfenster, schaut über halb Wien hinaus und denkt an nichts Böses. Im Gegenteil. Er freut sich des Lebens. Ganz besonders darüber, dass er vor zwei Wochen diese kleine, feine Dachwohnung am Alsergrund gemietet hat. Obwohl er sich die kaum leisten kann. Aber so ein Ausblick, der hat halt schon Klasse.
Die Sommerluft flirrt über den Dächern. Ein paar Tauben flattern um die Türme der Votivkirche, stürzen sich in die Tiefe hinunter und verschwinden hinter einer Häuserfassade. Der Arno schaut am Stephansdom vorbei in die Ferne, wo er die ersten Hügel des Wienerwalds zu erkennen glaubt. Gewaltig!, denkt er ganz verzückt, und mit dem blauen Himmel und einer passenden Hintergrundmusik dazu wär’s jetzt fast schon zum Tränleinverdrücken.
Damit man das verstehen kann, muss man wissen: Wo er bis vor einem Jahr gelebt hat, in Tirol nämlich, steht ihm spätestens hinterm nächsten Eck auch der nächste Berg vor der Nase. Wenn er dort einmal den Weitblick braucht, muss er wohl oder übel auf den nächsten Gipfel klettern. Und wenn er im Schweiße seines Angesichts hinaufgekrallt ist, blasengeplagt und erschöpft, was sieht er dann? Berge, Berge und nochmals Berge. Schmale Berge, breite Berge, spitze Berge, flache Berge, Riesenberge und Bergzwerge, Schattenberge, Glitzerberge, Glatzenberge und Waldberge. Grün und grau und schwarz und weiß buhlen sie um Aufmerksamkeit und merken dabei überhaupt nicht, was sie am allerallerbesten können: kolossal im Weg herumstehen.
Der Arno seufzt. Er weiß, er wird sich an diesem Ausblick hier niemals sattsehen können. Er wird Tag für Tag aufs selbe Häusermeer schauen und doch immer wieder etwas Neues entdecken.
Und noch etwas freut ihn: dass er jetzt nicht mehr tagtäglich von Niederhollabrunn in die Großstadt hereinpendeln muss. Was das oft Zeit gekostet hat, das kann sich ja kein Mensch vorstellen. Aber damit ist jetzt Schluss. Vom Alsergrund aus ist er in null Komma nix zu Fuß im Zentrum, hat die grünen Oasen genauso direkt vor seiner Nase wie die unzähligen Beisln, Theater und Einkaufsmöglichkeiten, und auch ins Bundeskriminalamt, wo er jetzt schon seit elfeinhalb Monaten arbeitet, braucht er keine halbe Stunde mehr. Ja, gut hat er’s erwischt, der Arno. Glaubt er jedenfalls …
Er schlürft die Crema von seinem doppelten Espresso herunter, wie er’s immer tut, bevor er den ersten richtigen Schluck nimmt. Als die Röstaromen an seine Geschmacksknospen andocken, schließt er die Augen, denkt an nichts, genießt nur, freut sich und horcht. Das Rauschen der Millionenstadt, die schon seit Stunden nicht mehr schläft, stresst ihn nicht, im Gegenteil, die Geräuschkulisse entspannt ihn sogar. Ein Baukran surrt. Woanders schwillt die Sirene eines Rettungswagens an, ganz in der Nähe toben Kinder auf der Straße. Ja, das Leben pulsiert. Wer will, pulsiert mit. Und wer nicht will, der macht einfach das Fenster zu.
Er schluckt, öffnet die Augen wieder, stellt die Tasse ab, dreht sich in den Raum hinein und …
»Uiuiui!«, fährt’s aus ihm raus, als er auf die Küchenuhr schaut. Zwanzig vor acht. Ganz gewaltig vertrödelt hat er sich mit seiner Frohlockerei! Und der Herr Major hasst nichts auf dieser Welt so sehr wie Unpünktlichkeit. Aber noch kann er’s schaffen. Also rennt er ins Schlafzimmer, versucht dort, mit beiden Beinen gleichzeitig in die Jeans zu springen, und taucht mit dem Gesicht voraus in die Matratze ein. »Aua!«, schimpft er und reibt sich die Nase. Eile mit Weile, sagt seine innere Stimme blödsinnigerweise. Er hat ja gar keine Weile mehr. Also rollt er sich aus dem Bett, springt in die Luft und reißt am höchsten Punkt der Flugkurve, jetzt quasi schwerelos, den Hosenbund hinauf. Nach der polternden Landung die Socken nicht vergessen, hinein in die Schuhe, und als er sich das Hemd zuknöpft, wetzt er schon die sechs Stockwerke zum Ausgang hinunter.
»Griaß eana, Herr Poliziiist!«, grüßt die alte Loringer, die ihm mindestens einmal täglich im Stiegenhaus auflauert. Langsam glaubt er, sie steht ein bissl auf ihn. »Na, Sie haben’s aber wieder eilig! Ist grad ein Kasten umgfalln bei Ihnen droben, weil’s so g’scheppert hat, oder was?«
»Grüß Gott, Frau Loringer! Jaja, leider! Äh, nein, wieso?«, ruft er zurück und ist schon draußen aus dem Haus.
Wenn der Arno eines kann, dann kann er rennen. Da drehen sich selbst in Wien die Köpfe nach ihm um, wenn er an den Fußgängern vorbeifliegt wie der sprichwörtliche Pfitschipfeil. Er sprintet die Liechtensteinstraße entlang, schafft die Fußgängerampel an der Kreuzung Althanstraße nicht mehr so ganz bei Grün, ignoriert ein hupendes Auto, das ihn fast auf die Haube legt, weiter, immer weiter, immer schneller, der Fahrtwind, also Laufwind, rauscht nur so in seinen Ohren, und am Liechtenwerder Platz muss er einen Laternenpfahl zur Hilfe nehmen, damit er das Eck noch schafft. Er rennt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Und so schafft er’s tatsächlich noch vor acht in seine Dienststelle.
»Guten Morgen!«, hechelt er zum Gruß, ganz stolz auf seine sportliche Meisterleistung.
Schweigen. Ein ziemlich lautes Schweigen. Arnos Blick wandert durch den Raum. Wie üblich sind schon alle da: die Frau Reiter, der Herr Pospisil, die Frau Novak und Herr Major, der Chef. Sie sagen nichts, schauen ihn nur an wie ein Gespenst. Dann drehen sie sich wieder zu ihren Bildschirmen. Von Arnos heftigem Schnaufen abgesehen könnt man jetzt fast eine Stecknadel fallen hören. Und da beschleicht ihn zum ersten Mal an diesem Tag ein ganz ein ungutes Gefühl.
Er schaut auf die Uhr an der Wand, die in diesem Moment auf Punkt acht springt. Was ist denn?, möcht er sich fast empören, doch er bleibt still und geht zu seinem Platz.
»Herrräh … Bussi?«, grätscht ihm der Chef verbal in den Laufweg.
Er erstarrt. Das ungute Gefühl verstärkt sich, ist jetzt in etwa so, als hätte ihn der Lehrer beim Schwänzen erwischt und würde ihn vor allen anderen abkanzeln wollen, quasi ein Exempel statuieren. Dabei ist er doch pünktlich gewesen, haarscharf, aber trotzdem! Er dreht seinen Kopf. »Ja, Herr Major?«
»Kommen Sie einmal her.«
Eieiei!, denkt der Arno und folgt. Mit gesenktem Kopf stellt er sich vor den Schreibtisch, der so platziert ist, dass der Chef seinen Mitarbeitern auch schön auf die Bildschirme gaffen kann.
»Herrräh … Bussi, Sie möchten zu Oberst Wiesinger kommen.«
Der Arno erschrickt. Zum obersten Direktor soll er? Er? »Was … Wieso?«, stammelt er daher.
»Es geht wohl um Ihr … Versetzungsgesuch«, murmelt der Abteilungsleiter in den Schreibtisch hinein und würdigt ihn keines Blickes. Der Herr Pospisil räuspert sich im Hintergrund, die Frau Novak auch, wobei sie sich wie ein Papagei anhört. Ganz offensichtlich hat sich’s schon herumgesprochen, dass der Arno aus dieser Abteilung wegwill.
»Mhm?«, murmelt er und schaut gleich noch viel schuldbewusster, während die Neugier, vor allem aber die Hoffnung wächst. Wird er tatsächlich endlich versetzt?
»Na dann, gehen Sie halt, Herrräh … Bussi. Gehen Sie!«
Also geht der Arno halt.
Er ist nicht unglücklich darüber, dass er möglicherweise zum allerletzten Mal in diesem Raum hat gewesen sein müssen. Niemand hat ein letztes Wort für ihn übrig. Nicht die Frau Reiter, nicht der Herr Pospisil, nicht die Frau Novak und auch der Herr Major bleibt still. Aber das ist dem Arno egal. Mehr noch: Als er die Tür hinter sich schließt, grinst er übers ganze Gesicht. Ein Jahr, ein ganzes Jahr seines Lebens lang hat er bei diesen Sesselklebern in der Abteilung PKS – Polizeiliche Kriminalstatistik – arbeiten müssen, hat sich mit Excel-Tabellen und endlosen Listen herumgeplagt, statt Polizist sein zu dürfen. Aber damals ist ihm einfach jeder Job recht gewesen. Hauptsache, weg aus Tirol und hier in der großen Stadt, im angesehenen Bundeskriminalamt, den Fuß in die Tür bekommen. Und genau das wird sich jetzt endlich, endlich auszahlen. Er sieht sich schon im dunklen Anzug mit Sonnenbrille durch ganz Europa jetten. Heute Wien, morgen London, übermorgen Paris, internationalen Verbrecherbanden auf den Fersen – ein großartiger, großartiger Tag ist das, findet der Arno.
Jaja.
»Ich soll mich beim Herrn Direktor melden«, sagt er mit stolzgeschwellter Brust, als er in dessen Vorzimmer schreitet wie der römische Feldherr ins Kolosseum.
»Ach ja … der Herr Bussi, oder?«, antwortet die Sekretärin spitz und drückt mit ihren superlangen French Nails auf dem Telefonapparat herum. »Er ist da. … Der Herr Bussi. … In Ordnung. … Bitte schööön!«, sagt sie dann, steht auf, streicht ihr Kostüm zurecht und öffnet die gepolsterte Tür.
Der Arno tritt ein und wird von einem Geruchspotpourri aus Lederpolitur, Aftershave und Putzmittel empfangen. Vom Wiesinger sieht er nur den Kopf, der Rest ist irgendwie im Ledersessel hinter dem dunklen Schreibtisch versunken. Die Sekretärin macht die Tür zu.
Eine Weile passiert überhaupt nichts. Nur die Kuckucksuhr an der Wand tickt. Der Oberst stiert in seinen Bildschirm. Alle paar Sekunden klickt er mit der Maus, anschließend macht er ein schmatzendes Geräusch, gefolgt von einer elendslangen Pause, dann der nächste Mausklick. Jaja, der Jüngste ist er wirklich nicht mehr, der Herr Direktor. Das soll jetzt überhaupt nicht heißen, dass Alter und PC-Bedienung einander ausschließen müssen. Es gibt ja viele Menschen über sechzig, die das ausgezeichnet können. Man denke nur an Bill Gates. Aber so ein Talent ist dem Herrn Direktor wirklich nicht in die Wiege gelegt. Gerade wirkt er wie ein Waldkauz, der jeden Moment vom Ast kippen könnte. Sicher liegt’s auch an seinen Augen, die ein bissl zu eng zusammenstehen und stets weit aufgerissen sind. Dazu noch das grau melierte volle Haar, Ton in Ton mit dem Bart, der kaum etwas vom Gesicht übrig lässt, und fertig ist die Mensch gewordene Kauzigkeit.
»Kuckuck!«, kräht die Uhr an der Wand und lässt Arnos Herz fast stehen bleiben. Der Wiesinger reagiert gar nicht. Jaja, Vögel unter sich.
Jetzt will er’s aber endlich wissen, der Arno. Schließlich kann man mit ihm jetzt nicht mehr umspringen wie mit jedem x-beliebigen Statistiker. Zeit ist kostbar. Heute Wien, morgen London, übermorgen Paris! Er macht zwei demonstrative Schritte auf den Schreibtisch zu, wird aber immer noch ignoriert. Also räuspert er sich: »Guten Morgen, Herr Direktor. Ich soll mich bei Ihnen melden.« Bond, James Bond, schickt die innere Stimme nach.
Statt einer Antwort bekommt er nur ein Blatt Papier zugeschoben. Er nimmt es, dreht es, liest es:
Sehr geehrter Herr Gruppeninspektor Bussi, in Beantwortung Ihres Versetzungsgesuchs vom 21. Mai d.J. dürfen wir Ihnen per sofort Abgängigkeitssache AP17/91729 zur alleinverantwortlichen Betreuung übertragen. Die Zuweisung zu dieser bedeutsamen Sonderermittlung erfolgt in Würdigung Ihrer herausragenden Verdienste um die organisationsübergreifende Kommunikation wie auch Ihrer ortsspezifischen Kenntnisse. Des Weiteren freuen wir uns, Ihnen geschätzte Dienstwache Hinterkitzlingen in Tirol für die Zeit der Bearbeitung der Abgängigkeitssache zur Verfügung stellen zu können. Mit vorzüglicher Hochachtung, im Auftrag des Innenministers, Amtsrat Vasic.
Spätestens als er Hinterkitzlingen gelesen hat, sind dem Arno sämtliche Gesichtszüge gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen abgedampft. Er glaubt, er muss sich irgendwo hinsetzen. Kann er aber nicht. Hinterkitzlingen in Tirol. Ein Ort, über den man sich sogar in Tirol noch lustig macht, vor lauter weit entfernt vom hintersten A… der Welt. Und da soll er jetzt … was? Er liest’s noch einmal. Abgängigkeitssache … er soll also jemanden suchen?
Er starrt und liest und starrt und bleibt an den ortsspezifischen Kenntnissen hängen. Was für ortsspezifische Kenntnisse soll er denn bitte schön haben? Glaubt das Innenministerium vielleicht, ganz Tirol sei ein Dorf, in dem jeder alles und jeden kennt? Und was meinen sie überhaupt mit diesen herausragenden Verdiensten um die organisationsübergreifende …
Der Qualtinger!, kapiert er endlich. Herausragende Verdienste um die organisationsübergreifende Kommunikation. … Im Auftrag des Innenministers. Logisch! Das ist eine Retourkutsche, eine ganz eine hundsgemeine, und zwar dafür, dass der Arno mit der Qualtingerin quasi … herausragend und … übergreifend … kommuniziert hat!
Er schaut auf und erschrickt, weil ihn der Waldkauz jetzt anstarrt wie seine Beutemaus.
»Was sagen Sie, Bussi?«
»Ja, ich … äh … Hinterkitzlingen?«
»Hinterkitzlingen«, bestätigt der Direktor und schmatzt genüsslich. »Gratulation!«
»Wieso?«, hadert der Arno, statt auch nur einen Moment lang auf die Beglückwünschung einzugehen.
»Aber das wollten Sie doch immer? … Bussi?«
»Äh …«
»Seien Sie doch froh! Willkommen im aktiven Dienst.«
»Aber …« Heute Wien, morgen London, übermorgen Paris?, wimmert er in sich hinein, so kläglich, dass nur mehr das Mimimi fehlt.
»Jetzt stammeln Sie doch nicht herum, Bussi.«
Er darf nicht aufgeben. Möglicherweise kann er diesem Wahnsinn noch entwischen, mit einer rhetorischen Parade vielleicht, obwohl er in der Beziehung ein ähnliches Talent hat wie der Wiesinger auf seinem Computer. Er überlegt fieberhaft, wie er dem Direktor klarmachen kann, dass sich Hinterkitzlingen und aktiver Dienst quasi gegenseitig ausschließen. Da kann er ja gleich in der Kriminalstatistik bleiben, dann wär er wenigstens weiterhin in Wien und müsste nicht in den hintersten aller hintersten …
»Scheinbar haben Sie da jemanden im Innenministerium schwer beeindruckt, Bussi«, provoziert ihn der Wiesinger weiter. Dabei weiß der doch ganz genau, dass diese Hinterkitzlingen-Sache alles ist, aber kein Karriereschritt. Er war ja selbst in der Villa vom Innenminister anwesend, als der Arno mit dessen Frau auf frischer Tat ertappt worden ist, wie sie quasi herausragend … und übergreifend … soll heißen, wie sie fast rein gar nichts miteinander angestellt haben, blau wie die Schlümpfe noch dazu.
»Aber ich hab geglaubt, die Sache sei erledigt?«, sagt er, um die unrühmliche Geschichte direkt anzusprechen.
»Bussi, Bussi«, antwortet der Wiesinger in einer Art, dass nur mehr das Tststs! fehlt. »Da kennen Sie den Friedolin aber schlecht.«
Friedolin. Da hat er’s. Innenminister Friedolin Qualtinger. Und der Wiesinger macht sich auch noch über ihn lustig!
»Und jetzt?«, fragt der Arno und beißt seine Zähne zusammen, weil er genauso gut schreien und gleichzeitig losweinen könnt, vor lauter Gemeinheit, die ihm da gerade widerfährt.
Der Waldkauz bläst die Luft aus, greift hinter sich und streckt ihm eine dünne Fallakte entgegen. »Jetzt heißt’s raus ins Feld, Bussi!«
»Aber … die Statistiken?«, greift er nach dem allerallerletzten Strohhalm und merkt selbst, wie armselig er sich gerade anhört.
Der Direktor grinst nur. »Anreise nach eigenem Ermessen. Dienstantritt in Uniform, Hinterkitzlingen, morgen früh, Punkt acht Uhr. Alles Gute, Bussi. Und …«
»Ja?«
»Glückwunsch noch mal!«
Mit hängenden Schultern verlässt der Arno die Direktion. Die Sekretärin sagt etwas, aber er bekommt’s nicht mehr mit. Er fühlt sich, als wär er von Kopf bis Fuß in Watte eingepackt. Besser gesagt in Stahlwolle, mit einem winzig kleinen Schaufenster vorne dran. Jaja, der berühmte Tunnelblick, der einen schnurstracks ins Verderben rennen lässt, immer dem nächsten Lemming nach. Sein Gesicht ist heiß, unterm Hemd beginnt’s gleich zu dampfen, und seine Hände fühlen sich merkwürdig taub an. Er schleicht durch die Gänge wie der sprichwörtliche arme Tropf und besteigt den Aufzug, der ihn ins Erdgeschoß bringt. Draußen auf dem Josef-Holaubek-Platz bleibt er stehen und liest sich den Einsatzbefehl noch einmal durch. Und noch einmal. Aber es wird und wird nicht besser.
Nicht Wien, nicht London und auch Paris nicht.
Tirol.
Ausgerechnet Tirol!
Jetzt heißt’s ja so schön, die Zeit heilt alle Wunden, und wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her. So ein Schmarrn. Arnos Laune ist und bleibt im Keller, und weder die Zeit noch irgendein blödes Lichtlein könnten auch nur ein winziges bissl dran ändern.
Er sitzt seit Stunden auf seiner hellblauen Dreihunderter-Vespa und braust quer durchs ganze Land. Das Wetter ist herrlich, die Landschaft beeindruckend, die Straßen frei, aber der Arno ist immer noch am Boden zerstört. Dabei gibt’s ja normalerweise gar kein besseres Anti-Krisenmittel als seinen Roller. Wenn alles nichts mehr hilft, wenn die ganze Welt über ihm einzustürzen droht, dann setzt er sich drauf und ein paar Kurven später sind normalerweise alle Sorgen vergessen. Also hat er sich gedacht: Wenn der Wiesinger ihm schon die Anreise nach eigenem Ermessen gestattet, dann wird er die 600 Kilometer nach Tirol eben verdammt noch einmal mit der Vespa fahren, und zwar ohne einen einzigen Autobahnkilometer. Mehr Krisenbewältigung geht ja gar nicht. Wie gesagt, hat er gedacht.
Und in Wahrheit ist’s dann so gewesen:
Zwischen Hinterbrühl und Heiligenkreuz im Wienerwald hat er sein Schicksal noch nicht wahrhaben wollen. Ein böser Traum sei das, sonst nichts. Eine Verwechslung. Ein kleines Scherzerl vom Herrn Innenminister, alle lachen herzlich und morgen darf er wieder heim. Aber je mehr er sich an diese Vorstellung zu klammern versucht hat, desto klarer ist ihm geworden, was Sache ist, und zwar das hinterste Tiroler Kaff, heute, morgen, übermorgen. Vielleicht sogar für immer. Für … immer? Starr vor Entsetzen hätt er bei Alland fast eine schwarze Katze überfahren, und kurz nach Hafnerberg wär ihm die einzige Haarnadelkurve weit und breit beinahe zum Verhängnis geworden. Blanke Wut in Kaumberg, der Helm ist ihm richtig zu eng geworden, als er losgebrüllt hat, wieder und immer wieder, bis ihm in Rainfeld die Tränen kamen. Tankstopp und Taschentücher kaufen in Scheibmühl. Blindwütiger Zorn zwischen Kirchberg an der Pielach und Lunz am See, blanke Angst in Admont, wieder nachtanken in Trautenfels. Ehrfurcht beim Anblick des Grimming im Dachsteingebirge, dazu so ein komisches Gefühl, so ähnlich wie … ja, fast wie Freude. Eindeutig die Folge schwerer Dehydrierung, also in Schladming eine Riesenflasche Mineralwasser gekauft und hinuntergestürzt. Bis St. Johann im Pongau ist ihm dann vor lauter Kohlensäure im Bauch ordentlich schlecht gewesen, immerhin – so hat sich’s doch gleich viel besser aushalten lassen alles. Pinkelpause auf Schloss Mittersill, depressive Verstimmung beim Überfahren der Tiroler Landesgrenze, Kitzbühel, Kirchberg, Westendorf und der ganze Singsang, einmal noch auftanken in Wörgl und dieselbe Gefühlsachterbahn wieder von vorn.
Jaja, der Arno und Tirol, das ist keine große Liebesgeschichte. Seit er in Wien lebt, ist er nur zwei-, dreimal hier gewesen, und das eigentlich auch nur, um seine Mama zu besuchen. Dass er in die Stadt gezogen ist, liegt nämlich nicht ausschließlich an der ersehnten Polizeikarriere, der bergfreien Landschaft und der viel gerühmten Lebensqualität Wiens. Es gibt da noch einen viel spezielleren Grund, und der heißt Florine. Aber dazu später.
Etliche Stunden nach seinem Aufbruch fährt der Arno von der Landesstraße ins Kitzlingtal ab. Er legt sich in die ersten Bergkurven hinein, so schräg, dass schon der Hauptständer am Asphalt kratzt, gibt Gas und bremst kurz darauf die nächste Kurve an. Die Vespa schnurrt, wohin sie soll, und bald hat er den Taleingang hinter sich gelassen. Unter anderen Umständen würde ihm das ja wirklich einen gewaltigen Spaß machen. Aber unter anderen Umständen würde er auch beim Tal hinein- und auf der anderen Seite über den Großen Kitzling gleich wieder hinausfahren.
Er ist schon früher ein paarmal hier gewesen, bei gemeinsamen Ausfahrten mit dem Vespaklub. Die Straße führt entlang des Kitzlingbachs taleinwärts. Es riecht nach feuchtem Waldboden. Sonnige Teilstücke wechseln sich mit schattigen Abschnitten, in denen die Fahrbahn so rutschig ist, als hätte sie jemand mit Schmierseife eingerieben und nur schlampig wieder abgespritzt. Aber überhaupt kein Problem für den Arno und seine Vespa, die zusammen schon viele Tausend Kilometer auf dem Buckel haben. Da kann kommen, was will, die beiden finden immer einen Ausweg. Links, rechts, wieder links, wieder rechts, dann geradeaus durch den ersten Ort: Vorderkitzlingen. Vereinzelt Menschen, nur ganz wenige Fahrzeuge. Aber mehr Details bekommt der Arno nicht mit, weil: Er hat schon wieder schwer den Tunnelblick. Das Grauen liegt jetzt direkt voraus. Nach einer langen, freien Strecke, in der er sich duckt und die Vespa noch einmal richtig fliegen lässt, kommt der Ort, in dem er schon morgen seine Strafe antreten soll.
Hinterkitzlingen.
Vorm Ortsschild bremst er auf fünfzig herunter und richtet sich auf. Rechts oben liegt ein Bauernhof, rundherum sieht man viele kleine, weiße Punkte – eine Schafherde, die die Felder abgrast. Der Hof und seine Nebengebäude wirken für eine Tiroler Landwirtschaft fast schon überdimensioniert.
Er schaut nach vorn. Baumreihen umgeben die Ortseinfahrt auf beiden Seiten. Fast wirkt’s, als wolle sich die Gemeinde vor neugierigen Blicken verstecken, und bestimmt hat sie auch allen Grund dazu. Die ersten Häuser tauchen auf, zuerst nur einzelne, dann wird die Bebauung langsam dichter. Es sind alte, schwere Kästen, die nicht nur den Tiroler Winter, sondern garantiert auch jede andere Katastrophe aushalten können. Riesige Satteldächer, die Obergeschoße mit dunklem Holz verkleidet, so wie’s halt im letzten Jahrtausend arg in Mode gewesen ist. Kein einziger Neubau. Kein Fertighaus und nichts vom Architekten. Jaja, die Landflucht, denkt der Arno, und wenn man ihn fragt, hat die junge Generation auch jeden Grund zu fliehen. Damit das Alte und Schwere nicht gar so viel aufs Auge drückt, hängen an den Balkonen Holzkisten mit Blumen in allen Farben. Man kann sich halt alles irgendwie schöndekorieren.
Der Arno kennt das alles. Auch die getrockneten Maiskolben, die er an einem Bauernhaus entdeckt. Der Blumenschmuck scheint hier fast aus dem Gebäude herauszuquellen. Als hätte im Inneren eine Pflanzendetonation stattgefunden, die die Mauern zerrissen hat. Vorm Haus steht eine Holzbank, auf die man sich nur noch den bärtigen, Pfeife rauchenden Altbauern denken muss. Alte Feldgeräte und hölzerne Handkarren sind an der Seite ausgestellt, womit das Haus fast wie ein Freiluftmuseum wirkt.
Der Arno fährt weiter und entdeckt eine weitere Spezialität seiner alten Heimat: die geballte Heiligkeit. Kreuze hier, Kreuze dort, an den Häusern, unter einem großen Baum in einem abgezäunten, unbebauten Grundstück und natürlich auch auf dem riesigen, nadelspitz zulaufenden Turm der Kirche.
Wie schon gesagt, er kennt das alles. Ein Dorf wie jedes andere in Tirol. Eines wie das, in dem er bis vor einem Jahr noch Dienst getan hat. Eines, in dem Viehtriebe, Blasmusik und katholische Prozessionen so fix dazugehören wie die Festspiele zu Salzburg. Hier ein Hydrant, dort eine Anschlagtafel mit Werbung für irgendein Platzkonzert. Überall verwitterte Lattenzäune.
Alle Häuser im Ort stehen auf der höheren Talseite, aus Arnos Fahrtrichtung rechts gesehen. Ein Holzschild weist zum Gemeindeamt hinüber, und deshalb weiß der Arno jetzt, dass die Polizeiwache nicht mehr weit sein kann. Er hat nämlich schon in Wien danach gegoogelt. Da soll eine Sackgasse kommen, links hinunter, mit einer eigenen Brücke über den Bach … und wie er sich daran erinnert, hat er sie auch schon entdeckt und biegt ab.
Die Wache schaut kein bissl weniger deprimierend aus als auf dem Satellitenfoto im Internet. Mehr Siebziger-Plattenbau-Baracke als sonst was. Ein kleines, fleckig weißes, frei stehendes Gebäude unterhalb des Ortszentrums, angebaute Garage mit Parkplatz und Feldern drumherum. Das obere Stockwerk hat in etwa die Hälfte der Fläche des Erdgeschoßes. Ein Flachdach schließt die Haus gewordene Tristesse nach oben hin ab.
Er seufzt, setzt den Blinker, als würde es irgendjemanden in diesem gottverdammten Tal interessieren, fährt über die schmale Brücke und hält zwanzig Meter weiter, am Ende der Sackgasse, auf dem kleinen Parkplatz an.
Als er absteigt und die Vespa auf den Hauptständer schiebt, merkt er erst, wie gerädert er ist. Die letzte Pause liegt Stunden zurück. Der Rucksack, in dem er nur das Notwendigste für ein paar Tage mithat, scheuert schon die ganze Zeit an seinen Schultern. Wie er sein Kreuz durchstreckt, kracht’s laut im Gebälk, und seine vier Buchstaben sind ihm schon vor einer ganzen Weile eingeschlafen.
Er setzt seinen Helm ab und hängt ihn über den Gasgriff. Bevor er sich überlegt, wie’s denn jetzt weitergehen könnte, gähnt er erst einmal ausgiebig, reibt sich das Gesicht und …
»Bussi?«
Als er seinen Namen hört, stellt’s ihm gleich die Nackenhaare auf. Er taucht aus seinen Händen auf. »Ja?«
Ein junger Kollege in Uniform steht am Eingang. »Wissen’S, wie lang ich schon auf Sie warte? Es hat geheißen, Sie kommen am Nachmittag. Jetzt ist schon bald halb neun am Abend!«, schimpft er und wirft einen geringschätzigen Blick auf Arnos Vespa. »Sie sind jetzt aber nicht damit von Wien bis hierher gefahren, oder?«
»Doch!«, antwortet der Arno und geht an diesem Empfangspfosten vorbei ins Innere der Wache, wo ihm ein seltener Mief den Atem raubt.
»Ich hab ja keine Ahnung, was jemand in dieser hundsalten Bude noch verloren hat«, erklärt der Empfangspfosten, »die ist ja schon vor zehn Jahren stillgelegt worden. Aber die in Wien werden’s schon wissen. Ich soll Ihnen alles zeigen und die Schlüssel aushändigen. Können wir das bitte ruckzuck erledigen? Ich muss jetzt echt nach Imst zurück.«
Schauschau, Imst!, denkt der Arno. Gut eine Stunde mit dem Auto. Wenn dort der nächstgelegene Polizeiposten sein sollte, dann habe die Ehre, wenn im Kitzlingtal einmal etwas passiert. Aber so ist’s halt in den Nullerjahren Mode gewesen: Alle entlegenen Posten schließen und Steuergelder sparen, weil ja eh nichts passiert im Heiligen Land. Jaja. Tirol mag in der Volksmeinung so heilig sein, wie es will, mit seinen ganzen Kirchen, Kreuzen und Traditionen, aber alle Heiligen zusammengenommen haben es bisher nicht geschafft, das Böse auszurotten. Und selbiges taucht ja meistens genau dort auf, wo man es am wenigsten erwartet. Das scheint die hohe Politik eine Zeit lang vergessen zu haben. Aber was will der Arno jetzt dran ändern.
Das uniformierte Bürscherl hält jetzt sein Handy ans Ohr und verwandelt sich wie auf Knopfdruck in ein sanftes Lämmlein. »Hallo Schatzi! Ich wär dann jetzt fertig … Ja, Schatzi! … Ich weiß schon, Schatzi. … Aber Schatzi! … Schatzi, holst mich bitte trotzdem schnell ab, bitte? … Schatzi!«
Bevor der Arno fragen kann, was dem geschätzten Schatzi denn so quersitzt, hat der andere seine Fassung schon wiedergefunden und winkt ihn hinter sich her. In Windeseile bekommt der Arno eine Gebäudeführung, vom Wachzimmer über die Arrestzelle in den ersten Stock, wo eine kleine Dienstwohnung im Siebzigerjahre-Stil auf ihn wartet – vergilbte Vorhänge, Linoleumboden und ein riesiger Aschenbecher auf dem Sperrholztisch. Und: Tapeten. Ta-pe-ten. Psychodelische Bahnen, psychodelisch tapeziert. Die Fenster sind aufgerissen, es zieht wie in einem Vogelhaus, aber die Luft ist trotzdem zum Schneiden.
»Die Dienstwaffe plus Munition soll ich Ihnen aushändigen. Sie kennen sich aus?«
Der Arno nickt. Glock 17, eine andere haben die uniformierten Polizisten in Österreich ja nicht. Die, die er da bekommt, ist schon abgewetzt und voller Kratzer.
»Hier brauch ich eine Unterschrift. … Uniform in Ihrer Größe finden Sie im Magazin. Wenn was Technisches ist: alles im Keller. Hier sind noch die Schlüssel zum Einsatzwagen. Ich hab ihn in die Garage gestellt.«
»Einsatzwagen?«
»Ja, es hat geheißen, wir sollen Ihnen einen zur Verfügung stellen. Aber wir … äh … haben jetzt nicht unbedingt einen besonders mo…«
»Hm? Einen besonders ›mo‹ was?«
»Nix, nix. Das Garagentor klemmt ein bissl. Also dann, alles Gute, Herr Bussi!«
»Und Sie?«, versucht der Arno, den jungen Mann zu bremsen.
»Meine Freundin holt mich gleich ab.«
»Dann sehen wir uns morgen?«
»Wir? … Uns?«, staunt der junge Mann, schüttelt den Kopf und ist auf und davon.
Jetzt heißt’s ja, nirgendswo auf der Welt sei es stiller als in der Wüste. Wer das behauptet, der kann noch nie in Hinterkitzlingen gewesen sein.
Da ist der Arno gestern todmüde auf die modrige Matratze gefallen, keine Stunde nach seiner Ankunft, völlig überzeugt, sofort einschlafen zu können. Aber dann. Dann kam die große Hinterkitzlinger Stille über ihn. Da war nichts. Rein gar nichts. Nicht einmal den Bach hat er durchs offene Fenster gehört. Null, niente, nada. Kein Hintergrundrauschen, keine Autos, keine Menschen, keine Vögel, keine Blätter im Wind, und auch im Haus selbst war’s mucksmäuschenstill. Ein komplettes Geräuschvakuum. Der Arno hat sich sogar räuspern müssen, um sicherzugehen, dass er nicht plötzlich taub geworden ist.
Man könnt ja meinen, wunderbar, der zivilisierte Mensch ist ja eh schon so ein furchtbar lärmgeplagtes Wesen, da ist diese Stille doch ein ganz seltenes Geschenk. Na, viel Spaß damit, wenn man wie der Arno den ganzen Tag lang das Gedröhne des Vespamotors im Ohr gehabt hat und noch dazu den Kopf voller Sorgen. Dann kann so ein Geräuschvakuum ganz schnell zur Folter ausarten.
Und genau so ist’s dann auch gekommen. Plötzlich hat er das Blut in seinen Ohren pulsieren gehört, zuerst nur ein bissl, dann lauter, immer lauter, Po-Poch, Po-Poch, Po-Poch!, schließlich dröhnend wie Urwaldtrommeln – und da hat er gewusst, dass Hinterkitzlingen und er auch noch ein ernsthaftes akustisches Problem miteinander bekommen werden, wenn er nicht sofort etwas dagegen tut. Zuerst hat er nur mit den Füßen an der Matratze gerieben und die Decke hin- und herbewegt, um Geräusche zu produzieren, aber mach das einmal die ganze Nacht und schlaf dabei. Viel Glück.
Doch der Arno, nicht blöd, hat sein Handy gezückt. Weil auf YouTube, da gibt’s nicht nur Schlaumeier, Urheberrechtsklau und Katzenvideos, sondern auch richtig sinnvolle Sachen. Wie zum Beispiel Hintergrundgeräusche. Eines seiner liebsten ist eine achtstündige Zugfahrt quer durch Sibirien. Man hört das Abrollen der Räder auf den Gleisen, den Fahrtwind, das typische Rattern dazwischen, To-Tock, To-Tock, To-Tock – und hin und wieder ächzt Metall. Normalerweise deckt er damit störendere Lärmquellen zu, zum Beispiel wenn die Nachbarn feiern oder Kreissägenmopeds ihre Runden drehen. Gestern hat er’s gebraucht, damit er vor lauter Hinterkitzlinger Totenstille nicht eingeht wie das Pflänzlein ohne Wasser. Und ja, der Pawlow’sche Hund ist echt ein Hund. Kaum dass es losging mit der Zugfahrt durch Sibirien, sind dem Arno auch schon die Lider schwer geworden. Und so ist die Ermittlungsakte, die er noch schnell einmal zur Hand genommen hatte, keine zehn Minuten später kreuz und quer über den Fußboden verteilt gewesen …
Als der Arno erwacht, ist einiges anders als beim Einschlafen. Keine sibirischen Zuggeräusche mehr. Jetzt rauscht’s, und zwar gewaltig. Irgendwo tropft etwas. Als er seine Augenlider auseinanderzwängt und den Kopf hebt, sieht er, wie ein Windstoß den Vorhang bläht und Regen ins Zimmer hereinträgt. Viel kälter ist’s als gestern noch beim Einschlafen. Dabei hat’s doch geheißen, das Wetter soll … ja, was hat’s denn eigentlich geheißen? Da fällt ihm ein, dass er ganz ohne den Wetterbericht zu beachten nach Tirol losgefahren ist.
Er springt aus dem Bett und schließt das Fenster. Etwas klebt an seinem Fuß – ein Foto aus der Akte, vom Mann, nach dem er suchen soll. Er streift es weg.
Draußen ist alles grau in grau. Der Regen macht dieses Kaff noch viel deprimierender als gestern. Er ballt seine Hände zu Fäusten und bläst Atemluft hinein, reibt sich die Oberarme, dann versucht er, die Zentralheizung aufzudrehen. Aber der Griff ist wie festgeschweißt. Selbst wenn er sich drehen würde, müsste der Arno wohl erst die Heizungsanlage im Keller in Gang bringen, und rein handwerklich, da ist er ähnlich geschickt wie der Wiesinger an seinem PC. Es kann halt nicht immer jeder alles können. Also lässt er’s bleiben, sammelt die Akten zur AbgängigkeitssacheAP17/91729 zusammen und geht ins Wachzimmer hinunter, wo er gestern eine Kaffeemaschine gesehen hat.
Jetzt ist’s ja leider so: Ein Haus, das nicht bewohnt wird, ist wie ein Mensch, der nur im Bett herumliegt und frisst. Irgendwann wiegt er fünfhundert Kilo, dann kommt die Feuerwehr mit großem Tatütata und holt ihn mit dem Kran aus dem Obergeschoß, die Nachbarn lachen, der Dorfreporter macht sein Foto und der Chirurg, der ihm das Band um den Magen herumoperieren soll, zuckt nur mehr mit den Schultern.
Na ja, so ähnlich jedenfalls. Weil: Wie der Arno die Kaffeemaschine mit Wasser befüllen will, spuckt der Wasserhahn minutenlang nur braune Soße aus. Schließlich geht’s halbwegs. Als Nächstes schnuppert er an den Kaffeebohnen, die noch im Gerät sind, aber da riecht gar nichts mehr nach Kaffee. Es könnten genauso gut dunkel angemalte Stangenbohnensamen sein. Er schaut die Kästen durch und findet natürlich keine frische Packung. Egal, denkt er, drückt vorfreudig den Schalter und hört zu, wie das Innenleben des Vollautomaten zum Leben erwacht, sich dehnt und streckt, ächzt – und kracht. Worauf sämtliche Lichter gleichzeitig zu blinken beginnen. Er öffnet die Wartungsklappe und kann die Teile, die ihm entgegenfallen, gar nicht alle gleichzeitig auffangen.
Kaffeemaschinen-Harakiri.
»Mistding!«, schimpft er und überlegt. Er braucht Koffein. Die alten Bohnen in den Mund zu werfen und drauf rumzukauen, ist keine Lösung. Irgendwo im Ort wird’s wohl ein Frühstück geben, denkt er und geht ins Magazin, um die Uniform anzuziehen, so wie’s der Wiesinger ihm befohlen hat. Er reißt die Cellophanpackungen auf, steigt in die Hose, streift das Hemd über, knöpft es zu, bindet sich die Krawatte um – alles wie Fahrradfahren. Genau wie mit der Dienstwaffe, die er ja als Statistiker nicht gebraucht hat, obwohl manchmal – na ja. Er prüft, lädt, repetiert und steckt sie schussbereit ins Holster, ganz nach Vorschrift.
Und wie er sich so im Ganzkörperspiegel betrachtet, kann er’s fast nicht glauben, dass seit seinem letzten Einsatz als uniformierter Beamter schon ein ganzes Jahr vergangen sein soll. Damals, als er nach der sechsmonatigen Weiterbildung zum dienstführenden Beamten freiwillig in Tirol geblieben ist, in dieser kleinen Polizeiinspektion am Achensee, um seiner Florine nahe sein zu können. Jaja, seiner Florine, hat er damals gedacht. Schwerer Irrtum …
Da hämmert jemand von draußen gegen die Eingangstür.
»Um Gottes willen!«, brüllt eine Frau mit der Inbrunst einer Opernsängerin und dem Klang einer Kreissäge. »Ist da jemand? Bussi? Herr Inspektor Bussi, sind Sie da? Hal-looo!«, scheppert sie.
Der Arno würd sich am liebsten tot stellen. Wobei ihn die Dienstwaffe auf noch viel dümmere Gedanken bringt. Zweimal Bussi in aller Herrgottsfrühe – das wär doch einmal ein Milderungsgrund. Aber woher weiß die Kreissäge überhaupt schon, dass er hier ist, und noch dazu, wie er heißt?
»Herr Bussi! Hallo! Hallohallo-ho?«
Er bläst die Luft aus und zählt. Eins, zwei, drei …
Oben auf der Straße rollt eine Gruppe Motorräder vorbei. Zweizylinder-V-Motoren, ziemlich sicher Harleys, der Arno hört so etwas. Als er bei zehn angekommen ist, geht er zur Tür, sperrt sie auf und macht sein freundlichstes Gesicht, das ihm ohne Koffein möglich ist. »Guten Morgen. Wie kann ich Ihnen hel…«
Der Anblick des Störenfrieds würgt ihn mitten im Satz ab. Weil: Begegnung der dritten Art. Neongrüne Lockenwickler, blonde Haare mit dunklem Ansatz, blitzblaue Augen, knallrotes Gesicht, rosa Bademantel, barfuß in Flipflops. Lila Zehennägel.
»Herr Inspektor, Gott sei Dank. Sie müssen sofort mitkommen. Es ist so schrecklich!«
Für einen Moment steht er dermaßen neben sich, dass er’s nicht schafft, sich vom Anblick der Füße loszureißen. Schrecklich, ja genau!, denkt er, aber er wüsst jetzt auch nicht, wie er ihr helfen soll, schließlich ist er ja nicht Guido Maria Kretschmer und sie nicht bei Shopping Queen. Jeder Laut, den sie macht, verursacht ein ungutes Gefühl in seinen Ohren. Wie mit den Fingernägeln, die eine Tafel entlangkratzen, oder Gummihandschuhen auf einem Luftballon. Jedenfalls laufen ihm die Schauer nur so bei den Ohren heraus und den Buckel hinunter.
»Herr Inspektor Bussi!«
Endlich schafft er es, ihr ins Gesicht zu schauen. »Äh, ja?«
»Was ist mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«
»Doch, äh …« Wie kann man nur so im Dorf herumlaufen?, wundert er sich.
»Inspektor Bussi, jetzt kommen Sie schon mit! Schnell!«, befiehlt sie, dreht sich um und wetzt los.
Er zögert. Was soll hier, am Allerwertesten der Welt, schon groß passiert sein? Ist die Kuh umgefallen? Der Traktor im Graben gelandet? Aber was nützt’s. Er wird sich ihr Problem wohl oder übel anschauen müssen und erst später damit beginnen können, nach dem verschwundenen Kerl zu suchen. Was seinen Aufenthalt in diesem Tal natürlich unnötig in die Länge zieht. Er seufzt, schlüpft schnell in die Jacke, greift nach der Schirmmütze und rennt nach draußen.
Kaum zu glauben, aber wahr: Er kennt die Kreissäge. Resi Schupfgruber. Das ist die mit dem Schnitzelparadies. Wenn’s einen Menschen im Kitzlingtal gibt, den man kennen könnte, dann sie. Wobei: In den Niederlanden ist sie noch viel, viel berühmter als in Österreich und Deutschland. Das hat mit einer holländischen Kochshow zu tun, die vor einigen Jahren aus ihrem Schnitzellokal übertragen worden ist. Resis Art, nennen wir sie einmal resch, ist in den Niederlanden gleich so gut angekommen, dass Endemol, immerhin der zweitgrößte TV-Produzent auf der Welt, sie für einige weitere Auftritte verpflichtet hat. Die Resi, nicht blöd, spricht zwar kein Wort Holländisch, aber mit ihren Händen und Füßen und ein paar auswendig gelernten Floskeln hat sie die Herzen da droben im Sturm erobert. Und seither haben die Niederländer nicht nur die Schnitzel, sondern auch einen seltenen Narren an der Resi gefressen.
Jaja, die Resi, der Exportschlager der heimischen Gastronomie, das hätt sich so auch keiner gedacht. Wobei, ihre Wiener Schnitzel sind schon echt gewaltig. Nicht nur, was die Portionen betrifft. Außen knusprig, innen saftig, und dazu der beste selbst gemachte Kartoffelsalat zwischen München und Verona, ach, auf der ganzen Welt wahrscheinlich. Ein Gedicht! Aber die Resi und ihre Kochkünste sind längst nicht alles. Das Schnitzelparadies hat noch eine ganz andere Attraktion zu bieten. Und was für eine … aber dazu später.
»Jetzt kommen’S, Inspektor Bussi!«, kräht die Resi, und er geht schneller.
Das Wetter ist noch schlechter geworden. Nebelfetzen kriechen das Tal herauf. Die Felswände sind vom Regen dunkel. Und laut Wetterbericht, den der Arno zwischendurch auf seinem Handy aufgerufen hat, soll es noch viel schlimmer kommen. Dabei ist jetzt schon alles nass: die Häuser, die Wiesen, die Berge, die Straßen, die Schupfgruber Resi und gleich auch er selbst.
Er denkt an die Aufgabe, der er sich bald stellen wird müssen. Eine regelrechte Mission Impossible ist das. Er weiß ja nicht einmal, wo er damit beginnen soll, nach dem verschwundenen Nachbarsbürgermeister zu suchen. Laut Akte hat man vor zwei Tagen jeden Winkel des Kitzlingtals nach ihm durchkämmt. Die riesige Suchaktion mit Hubschrauber, Spürhunden und Hunderten von Helfern hat aber nichts gebracht. Da wird jetzt ausgerechnet der Herr Polizist vom Bundeskriminalamt draufkommen, wo der Kerl steckt. Genau.
Aber natürlich rechnet überhaupt niemand in Wien mit seinem Erfolg. Im Gegenteil. Dem Qualtinger und seinem Spezl, dem Wiesinger, wär’s bestimmt am liebsten, der Arno würde bis ans Ende seiner Tage hier verrotten …
»Kommen’S schon!«, bellt die Frau über die Schulter.
Er wundert sich über das Tempo, das die Schnitzelwirtin in ihren Flipflops schafft, joggt ein paar Schritte und stülpt den Kragen seiner Uniformjacke hoch. Sie gehen mitten auf der Straße, weil: erstens gibt’s keinen Gehsteig und zweitens links und rechts nur Matsch. Es wär gescheiter gewesen, das Polizeiauto zu nehmen, das ihm die Kollegen aus Imst zur Verfügung gestellt haben. Aber jetzt ist’s auch schon zu spät. Die Resi stampft in ein Schlagloch, dass es nur so spritzt, sie stolpert und flucht, rennt weiter, er ihr nach, ums Schlagloch herum.
Er weiß schon, warum er in die große Stadt gezogen ist. Dort gäb’s das alles nicht. Dort könnt er sich jetzt irgendwo unterstellen. Einen Regenschirm besorgen, mit der U-Bahn fahren oder gleich ein Taxi rufen – und sich auf dem Weg noch einen heißen Kaffee besorgen. Er könnte mit Gleichgesinnten über das Wetter lamentieren, sich von einem Straßenclown aufmuntern lassen und über die Neurosen manches Passanten staunen. Asphalt, Marmor und Metall statt Dreck, Pflanzen und Getier. Jaja, Städte sind halt um den Menschen herum gebaut, während man auf dem Land immer nur ein Fremdkörper bleibt. Niemals mehr wäre er freiwillig in ein Kaff wie Hinterkitzlingen gekommen. Niemals!
Er schüttelt den Kopf, als könnte er damit die trüben Gedanken vertreiben. Eigentlich passen die gar nicht zu ihm. Aber ohne Koffein ist der Arno eben nicht der Arno. Er muss schauen, dass er schnellstens einen Espressokocher für die Wache auftreibt. Und frische Bohnen. Und …
»Aaah, die Resi!«, hört er eine Männerstimme und schaut auf.
Der Parkplatz vor Resis Schnitzelparadies ist trotz der Uhrzeit und des miesen Wetters erstaunlich voll. Eine Gruppe Harley-Davidson-Fahrer – sicher die, die vorhin an der Wache vorbeigerollt sind – wartet vor dem Lokal. Den Nummernschildern nach handelt sich’s, Surprise, Surprise!, um Holländer. Zwei Männer, einer mit polierter Glatze, der andere scheinschwanger, hämmern gegen die Eingangstür.
»Ja, ja, ich komm ja schon!«, brüllt die Resi nach vorne. Weitere Motorradfahrer drehen sich um und johlen so ausgelassen los, wie man es sonst nur von Faschingsumzügen oder Fußballspielen kennt. Ihr Atem kondensiert zu kleinen Wolken und ihre Maschinen dampfen wie eine Bisonherde in den verschneiten Rocky Mountains.
»Rrräsi! Challi Challo!«, erschallt’s im Dialekt.
»Jööö, die Rrräsi!«
»Rä-si! Rä-si! Rä-si!«
Und immer wieder dazwischen: das Wort Schnitzel. Schnitzel! Um halb neun in der Früh! Dem Arno würd’s glatt den Magen umdrehen. Gleich heben sie die Resi wahrscheinlich noch auf ihre Schultern und veranstalten einen Triumphzug, so frenetisch wie sie tun.
»Ihr Herzen, ihr müsst’s bitte ein bisschen warten. Ich hab noch geschlossen«, vertröstet sie die Bande und windet sich durch, als wär’s das Leichteste auf der Welt. Der Arno gibt sein Bestes, ihr zu folgen, schiebt einen Lederjackenrücken nach dem anderen zur Seite, da landet ein Ellenbogen in seinen Rippen. Ob Absicht oder nicht, weh tut’s auf jeden Fall. Während die Wirtin schon im Eingang steht und die Meute im Zaum hält, steckt er mitten in Holländern fest.
Jetzt reicht’s!, denkt er, brüllt »Polizei!«, als könnten sie’s nicht eh schon sehen, und wühlt sich mit der linken Hand durch die Menge, die rechte an der Dienstwaffe, nicht weil er schießen will, sondern um zu verhindern, dass irgendeiner dieser Clowns noch auf dumme Gedanken kommt und sie ihm herauszieht. »Zurücktreten! Lassen Sie mich durch! Polizei!«
Keiner tritt zurück, keiner lässt ihn durch. Als hätten sie ihn gar nicht gehört! Womit ihm die Gesamtsituation gleich noch viel mehr auf die Nerven geht. Manch ein Holländer ist ja schon hinter dem Lenkrad seines Autos schwer zu ertragen, aber als Möchtegern-Hells-Angel, noch dazu ausgehungert, wird er unausstehlich. Klischee hin oder her, das Klischee da muss weg.
»Schnit-zel-bak-ken! Schnit-zel-bak-ken!«, skandiert der Mob.
»Jetzt lasst’s den Inspektor Bussi halt endlich durch!«, befiehlt die Resi. »Außerdem brat ich meine Schnitzel und back sie nicht, damit das klar ist. Ich werd euch später frische Schnitzel braten! Jetzt kommen’S schon, los, Inspektor Bussi!«
»Bussi?«
»Inspektor Bussi?«
»Bussi, sagst du?«
»Jööö, Bussi! Bussi … wie Kussi, ja?«
»Bussi Bussi! A-ha ha haaa! Jo jo, Bussi, Bussi!«, kommt’s von allen Seiten.
Einer dieser superlustigen Gelegenheitskomiker streckt ihm seinen bärtigen Kussmund entgegen. Der Arno schiebt das Gesicht weg und drängt sich mit aller Kraft zwischen den Leuten durch. Er hört hier ein »He!«, dort ein »Ho!« und merkt zu spät, wie ihm jemand die Schirmmütze vom Kopf zieht. Er versucht noch, sie sich wiederzuholen, aber da ist sie schon drei Stationen weiter. Egal. Hauptsache, er kommt jetzt endlich in diese verdammte …
»Pfuh!«, stöhnt er, nachdem er fast noch in Resis Armen gelandet wäre. Dann muss er der Wirtin helfen, die Tür von innen mit aller Kraft zuzuziehen …
Und geschafft. Keuchend stehen sie im Inneren des Schnitzelparadieses, als wären sie gerade einer Horde wild gewordener Kühe entkommen. Womit hab ich das nur verdient?, bedauert der Arno sein Schicksal. Warum kann er nicht einfach in Wien sein, seine Statistiken pflegen und das Stadtleben genießen? Wieso hat er unbedingt dieses blöde Versetzungsgesuch schreiben müssen? Wieso …
»Pfuh!«, echot die Resi und lächelt ihn an.
»Also, was wollten’S mir jetzt so unbedingt zeigen, Frau Schupfgruber?«
Ihr Gesicht verfinstert sich schlagartig – als hätte sie den Grund der Aufregung im Männertumult ganz vergessen gehabt. »Kommen’S einmal mit«, sagt sie so eisig, dass ihm gleich noch kälter wird.
Instinktiv macht er sich groß, Brust raus, Schultern breit, fährt sich durchs zerzauste Haar und folgt der Wirtin den Gang entlang, durch eine Tür, auf der Privat steht, in die Küche und weiter in den düsteren Vorratsraum, wo sich mehrere Regale und Tiefkühltruhen befinden.
»Da drinnen!«, sagt sie und deutet auf eine der Truhen, öffnet sie aber nicht.
Also muss er wohl. Der Arno tritt an die riesige Truhe heran, hebt den Deckel, hört das Zischen vom Druckausgleich und spürt die kalte Luft an seinen Fingern. Licht dringt durch den Schlitz. Es riecht nach Tiefkühlware, Schnitzelfleisch wahrscheinlich. Aber er weiß, dass da noch mehr sein muss. Gleich wird er’s erfahren …
»Jetzt machen’S schon!«, bellt die Resi ihn so laut von hinten an, dass er vor lauter Schreck den Deckel wieder fallen lässt.
»Himmel, Herrschaftszeiten!«, flucht sie, bugsiert ihn mit ihren kräftigen Oberarmen zur Seite und reißt die Truhe auf.
Er macht zwei Schritte zurück, als könnt ihm der Inhalt an die Gurgel springen.
»Da, jetzt schauen Sie sich das an, Inspektor Bussi!«, schimpft sie, als wär er schuld. Aber woran eigentlich?
Er schaut und schaut. Zuerst sieht er überhaupt nichts, weil die kalte Luft zu Nebel kondensiert und das Licht der Truhenlampe blendet, vor allem aber, weil sich die Resi drüberbeugt, mit bloßen Händen in der randvollen Truhe herumwühlt und einen Fleischpack nach dem anderen auf den Boden wirft, dass es nur so kracht. Er macht sich schon Hoffnungen, dass sie bloß übergeschnappt ist und er nur einen Krankenwagen zu rufen braucht – da zieht sie einen noch viel größeren Sack heraus und hält ihn direkt vor sein Gesicht.
Ein Kopf.
Ein Menschenkopf, das sieht der Arno sofort. Nicht, weil ihn das Ding anstarren würde, von Antlitz zu Antlitz quasi, und schon gar nicht, weil er jetzt die Zenzi, den Franz, den Fritz, die Amalia oder wen auch immer erkennen könnt, sondern allein aufgrund der äußeren Form des Plastiksacks. Nase, Ohren und Mund lassen sich erahnen. Der Inhalt ist dunkel, fast schwarz. Gefrorenes Blut wahrscheinlich.
»Legen Sie das sofort wieder hin!«, ruft er mit sich überschlagender Stimme. Unwillkürlich macht er einen Schritt zurück und zwingt sich zum Nachdenken.
Beweismittel! Fingerabdrücke!, fällt ihm gleich als Erstes ein. Sollten sich jemals welche auf dem Plastiksack befunden haben, hat die Wirtin sie wahrscheinlich gerade erfolgreich vernichtet.
»Haben Sie hier kein besseres Licht?«, fragt er und ist fast froh, dass sie verneint. Aber es hilft ja nichts. »Dann brauch ich eine Lampe, möglichst hell. Und fassen’S nichts mehr an! Verstanden?«
»Na, Inspektor Bussi, das dürfte aber ganz schwer werden, wenn ich gleich den Herd anmache und nicht an meine Vorräte komm«, protestiert sie. »Was tu ich denn mit den ganzen hungrigen Mäulern vorm Haus? Vielleicht im Regen stehen lassen?«
Am liebsten würde er einfach Ja, genau das! sagen, verkneift sich’s aber. »Wir brauchen mehr Licht, Frau Schupfgruber. Schnell, bitte.«
»Ja, ja, schon gut«, antwortet sie und trottet davon.
Jetzt hat die Wirklichkeit ja selten etwas mit Fernsehkrimis zu tun, wo man quasi von einem Toten über den nächsten stolpert. Am Achensee zum Beispiel, wo der Arno sechs Jahre lang als einfacher Polizist gearbeitet hat, ist er überhaupt nur vier- oder fünfmal als erster Beamter am Fundort einer Leiche gewesen. Wobei Fundort ist jetzt auch übertrieben ausgedrückt, weil: Meistens sterben die Leute ja bei ihnen daheim im Bett. Da muss man sie nicht lang suchen. Und so gut wie immer ist Mutter Natur die Täterin. Okay, einmal war sie’s nicht. Einmal, ein einziges Mal, haben sie einen Mord gehabt, da hat sich der Chef dann sofort aufgepudelt wie Derrick, quasi Arno, fahr den Wagen vor. Dabei war der Fall damals eigentlich gar keiner, da hätt sich jeder Krimiautor schiefgelacht, weil: So platte Plots kann eigentlich nur das Leben schreiben.
Aber jetzt? Leiche ja, Gewaltverbrechen ja, Fall ja. Und der Arno allein im Kitzlingtal. Theoretisch weiß er natürlich, wie’s geht. Aber Theorie und Praxis, das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe.
Er muss versuchen, systematisch vorzugehen. Erster Schritt: so viele Eindrücke wie möglich sammeln. Für den Kopf in der Vorratskammer braucht er Licht. Also verschafft er sich zuerst einmal ein Bild von der Küche, die er sich nie im Leben so groß vorgestellt hätte. Lange Edelstahltische, unterbrochen von einer ganzen Batterie Gasbrenner. Spülbecken, in denen man ein Babyschwimmen veranstalten könnte, und die größten Pfannen, die er je gesehen hat. Gewaltige Messer, die mit Magneten an der Wand angebracht sind. Alles wirkt wie für Riesen gemacht. Aber logisch: Für Riesenschnitzel braucht’s halt auch eine Riesenküche.
Der obere Bereich einer Außenwand ist komplett verglast. Man kann nur den Himmel durch den Fensterstreifen sehen, gerade jetzt aber vor allem Wasser. Schwere Tropfen, die gegen das Glas klatschen. Das Blechdach rauscht, die Regenrinne gluckert …
Unwichtig.
Der Arno geht zum Schneidetisch. Die Edelstahloberfläche ist picobello poliert. Vielleicht sogar zu sauber. Überall riecht’s nach Butterschmalz, völlig klar, der Geruch setzt sich fest. Aber sonst nichts. Keine Spritzer, keine Flüssigkeiten und schon gar keine Leichenteile, die offen herumliegen und seine Arbeit leichter machen würden. Ist der Körper hier zerlegt worden? Und wo steckt dann der Rest? In den anderen Truhen? Oder irgendwo hier in der Küche? Er zieht seinen rechten Hemdsärmel nach vorn und nimmt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger, um damit eine Schublade aufzumachen.
Schneidbretter aus Plastik, auch die klinisch rein. Sonst nichts.
»Pff …«, fährt’s aus ihm heraus. Eigentlich völlig unlogisch, den Kopf in einem Beutel einzufrieren und dann den Rest irgendwo anders hineinzustecken wie Mr. Bean sein Beef Tartar. Ohne Kaffee kann er einfach nicht klar denken. Er spürt zwar das Adrenalin durch seine Venen rauschen, doch ohne Koffein ist auch das beste Adrenalin nichts wert.
Weil die Wirtin immer noch auf sich warten lässt, sucht er die anderen Kästen und Schubläden ab, wobei er sich bemüht, so wenig wie möglich anzufassen. Er findet nichts, das nicht in eine Küche gehören würde. XXL-Kochutensilien und Vorratsdosen, Töpfe, Deckel und diverser Krimskrams. Alles blitzsauber an seinem Platz. Und genau diese Sauberkeit wundert ihn irgendwie.
»So, ich hoffe nur, das Ding funktioniert noch«, sagt die Resi, als sie lautstark hereinpoltert und einen Deckenfluter hinter sich herschleift, von dem es dicke Staubflusen schneit.
»Haben Sie irgendwo Plastikhandschuhe, Frau Schupfgruber?« Die Kollegen von der Spurensicherung werden ihn lynchen, wenn es hier drin nur noch Spuren von ihm und der Resi zu finden gibt. Geschickter wär’s ja, alles zu versperren und die Profis machen zu lassen. Aber dann reitet ihn doch die Neugier.
»Selbstverständlich«, antwortet sie, lässt den Deckenfluter stehen, wischt sich die Hände am rosa Bademantel ab und bückt sich. Ihr voluminöses Hinterteil blinkt ihm derart entgegen, dass er gar nicht weiß, wohin er zuerst wegschauen soll. Sie kramt in einer der unteren Schubladen herum, dann gibt sie ihm ein Paar schwarzer Einweghandschuhe, wie er sie schon lange sucht, aber noch nie hat finden können. Er zieht sie an und bedeutet der Wirtin, es ihm nachzumachen.
Schließlich gehen sie gemeinsam zur Tiefkühltruhe. Die Resi steckt den Flusenstrahler an und dreht ihn auf. Es wird hell. Viel zu hell, denn sofort ist klar, dass da tatsächlich ein Menschenkopf liegt.
»Sie müssen bitte entschuldigen, wie schmutzig die Lam…«, bricht die Resi ihren Satz ab, bestimmt, weil auch sie’s gerade erkennt. »Schrecklich«, sagt sie noch, dann ist sie still.
Zu still?
Der Arno fürchtet schon, gleich unter ihrer Last begraben zu werden. »Geht’s Ihnen gut?«, fragt er, dreht sich halb um und schaut in ihr ganz und gar nicht mehr rosiges, dank Make-up trotzdem farbenfrohes Gesicht. Die Wirtin nickt tapfer und bleibt ruhig.
»Vielleicht sollten Sie sich besser hinsetzen«, meint er und wendet sich wieder der Packung zu. Jetzt lassen sich mehr Einzelheiten erkennen. Ein Mann, völlig klar. Die Haut und die Stoppelhaare des armen Kerls blutverschmiert, die Augenlider geschlossen. Der Arno glaubt, einen Stoppelbart zu erkennen. Aber ohne den Plastiksack aufzuschlagen, wird er nicht weiterkommen. Vorsichtig sucht er das offene Ende des Beutels, hebt es an, zieht es auseinander und stülpt die Ränder nach unten, so weit es geht, was heißt, bis knapp unter die Nase.
Ein großer Kerl muss das gewesen sein. Einen richtigen Hauklotz hat der aufgehabt. Seine Frisur ist so kurz, dass man eine Narbe an der Kopfhaut sehen kann.
Das dürfte die Identifizierung leichter machen, denkt er und gibt den Blick frei. »Kennen Sie ihn?«, fragt er die Resi, die immer noch steht, obwohl er ihr ja ausdrücklich geraten hat, sich … egal.
Sie antwortet nicht. Er hört sie schwer atmen, ihr Brustkorb pumpt schnell und schneller. Dann legt sie eine Hand an den Mund und lässt sich an der Vorderseite einer Truhe auf den Boden hinunterrutschen.
»Kommen’S, ich bring Sie hinaus«, sagt er, fasst unter ihre Achseln und versucht, die Schupfgruber Resi zu bewegen, aber keine Chance. Sie vergräbt ihren Kopf mit den neongrünen Lockenwicklern zwischen den Knien. Noch wimmert sie nur, aber er befürchtet, sie könnte gleich Rotz und Wasser heulen und damit weitere Spuren vernichten.
»Los jetzt!«, drängt er. Aber der Arno ist ja kein Unmensch, also legt er sanfter nach: »Sie müssen sich hinlegen, Frau Schupfgruber. Kommen Sie.«
Wieder beugt er sich zu ihr hinunter und berührt sie an der Schulter, aber die Resi tut gar nichts mehr. Plötzlich dämmert ihm etwas. »Sie kennen ihn, Frau Schupfgruber?«
Sie schnieft und nickt.
»Wer ist es?«
»…«
»Frau Schupfgruber? Wenn Sie wissen, wem der Kopf gehört, dann müssen’S mir das jetzt sagen!«
Die Schnitzelwirtin bringt kein Wort heraus. Sie schnieft so heftig durch die Finger ihrer rechten Hand, dass er ihr ein Taschentuch geben möchte, aber er hat keines.
Sie tut ihm leid. Und ein bissl tut er sich auch selber leid, weil er schon ahnt, was auf ihn zukommt. Es heißt ja, Mordermittlungen dauern immer dreimal länger als man glaubt. Dafür geht es umso schneller, sich zu blamieren. Aber den Gefallen wird er dem Qualtinger und dem Wiesinger bestimmt nicht tun.
Er dimmt die Lampe runter, legt seine Hand erneut auf Resis Schulter und wartet, will ihr die Chance geben, den ersten Schock zu verdauen, während er schon an die nächsten Schritte denkt: Fundort sichern. Landeskriminalamt verständigen. Auf Spurensicherung und Verstärkung warten. Erhebungen einleiten.
Vor allem aber: Keinen Mist bauen!
Zwei Minuten darauf keucht die Resi immer noch, wird aber langsam ruhiger. Seltsam friedlich ist es jetzt. Die Pflicht muss warten, alles kann warten, da ist nur der Regen, Resis Atem, sein Atem, sonst ni…
»Ja, was ist denn hier los? Um Gottes willen!«, kreischt jemand in Arnos Rücken, direkt ins Mark hinein, wie in der wildesten Geisterbahn, die man sich nur vorstellen kann. Wenn Menschen vor Schreck tot umfallen, dann genau jetzt.
Nach dem ersten Adrenalinstoß packt ihn die Wut, er schießt hoch, hebt die Fäuste und dreht sich um – aber der Anblick, der sich ihm bietet, entwaffnet ihn sofort.
Da steht sie. Die Granate von Kellnerin, die genauso zu den Attraktionen von Resis Schnitzelparadies gehört wie die Schnitzel, vielleicht sogar noch über den Schnitzeln liegt. Die paar Male, die der Arno mit dem Vespaklub hier eingekehrt ist, hat er seinen Blick nicht von ihr reißen können, und die anderen genauso wenig.
Diese Augen … dem Arno wird’s ganz lyrisch zumute …
Wie ein Sonnenaufgang in den Bergen leuchten sie über den pastellgetünchten, hohen Wangen, umrahmt von Sommersprossen, die selbst Rubens zur Verzweiflung getrieben hätten …
Jaja, die Eva, die haut nicht nur den Arno um. Das muss man schon einmal klipp und klar sagen: eine bildhübsche Frau. Volle Lippen, pechschwarze Haare und eine Figur, die man sich kaum zu erträumen vermag. Und wie sie tut, was sie tut! Mit welcher Anmut sie Schnitzel und Bierkrüge stemmt, wie souverän sie auf blöde Anmache reagiert, wie sie jedem Gast das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein. Ja, diese Frau ist so attraktiv, sexy, aufgeweckt, anziehend, freundlich, frech, warmherzig und liebenswert, dass einem die Adjektive in null Komma nichts ausgehen, und dann sitzt man an seinem Tisch, nagt an seinem Schnitzel herum und leidet an verbaler Ladehemmung.
Genau wie der Arno jetzt.
»Hallo?«, versucht sie, ihm auf die Sprünge zu helfen, aber nichts. Also schaut sie hinunter zur Resi. »Mama? Mama, was ist denn passiert? Wer ist das in dem Sack? Mama?«
»Der Mario«, antwortet die.
Also so ein toter Kopf im Haus ist schon ein echter Stimmungskiller. Da soll einmal wer versuchen, einen eleganten Satz zu sagen, wenn er mit zwei geschockten Frauen am Tisch sitzt und auf den Rückruf von der Spurensicherung wartet. Alles Gute dafür.
Der Arno hat den Mario, besser gesagt dessen oberes Ende, wieder in die Kühltruhe gepackt. Wo der Rest der Leiche steckt, tät ihn schon interessieren, aber herumgewühlt haben sie eh schon viel zu viel. Also hat er sich mit der Resi und ihrer Tochter in die Gaststube gesetzt. Die Eva wirkt gefasst, sitzt mit gefalteten Händen da, so anmutig, dass man’s in Stein hauen möcht, wenn man’s nur könnt. Eine so eine seltene Grazilität! Neben ihr die Resi … als wär sie nicht schon optische Zumutung genug, hat sie jetzt statt des rosa Bademantels einen viel zu engen, glänzend grünen Trainingsanzug mit pinken Bommeln an, Marke Presswurst. Die blitzblauen Augen, die eilig nachgeschminkten Wangen, der dunkle Lippenstift: Also wenn das hier ein Film wäre, dann müsste man an der Stelle dringend die Farbe herausdrehen. Na ja, Geschmack hat man halt, oder man hat ihn eben nicht …
Aber zurück zum Toten. Der Mario ist Mario Unterberger, der vermisste Bürgermeister des Nachbarorts. Ja, genau der, den der Arno mit seinem Spezialauftrag hätte finden sollen. Jetzt könnt er spitzfindig werden und sagen, gesagt, getan, Mission erfüllt und ab die Post, raus aus diesem Jammertal. Aber er ist ja der einzige Polizist weit und breit. Und rein kriminalistisch gesehen ist so ein abgetrennter Kopf schon etwas, das ordentlich aufgeklärt gehört. Also nichts mit schnellem Ende seiner Mission.
Er denkt an die paar Eckdaten aus der Akte zurück, die er im Kopf hat behalten können. Mario Unterberger war der Bürgermeister von Vorderkitzlingen. Noch dazu Hotelier. Ein einflussreicher Mann. Womit man ohne langes Nachdenken auf mögliche Motive kommt. Politische Rivalität. Geld. Familienfehden, die in engen Tälern wie diesem ja quasi vorprogrammiert sind.
Aber vielleicht muss er gar nicht so weit schauen. Vielleicht sitzt der Mörder ja gerade mit ihm am Tisch, weil: Die einfachsten Lösungen sind ja meistens die besten …
Er will schon zu einer Frage ansetzen, da heult draußen der Wind auf und etwas fällt um. Der Arno schaut durchs Fenster, kann aber nicht erkennen, was es war. Wer wohnt bitte freiwillig in einem solchen Tal?,