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Ich möchte nichts mehr, als in der Welt umherzuirren und nicht zu wissen wo wir sind oder hingehen. Das ist Freiheit! Ich bin glücklich, wirklich.... Aber das Hungergefühl, der knurrende Magen, die schmerzenden Beine, die Zweifel, ob wir nachts einen sicheren Schlafplatz finden, dass die Hoffnung auf das Gute in jedem Menschen immer weniger und die Aussichtslosigkeit auf ein besseres Leben immer mehr werden, löst oft ein Gefühl von Sehnsucht nach einem „normalen Leben“ - welches aber nicht meine Bestimmung ist – in mir aus. Ich weiß nicht, ob ich glücklich bin oder es einfach nur versuche, aber ich weiß, dass diese Reise das einzig Richtige ist, um zu finden, wonach ich suche. Was auch immer es ist. Wir sind zusammen und das ist das Wichtigste. Dort wo du bist, ist mein Zuhause...
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Seitenzahl: 322
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Wenn die Seele
ein Zuhause gefunden hat,
dann ist es Liebe...
Die Sonne brennt auf meinen Körper, am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen. Ich werde von den Menschen, die rund um die Kirche tanzen und zuschauen, angestarrt. Auch wenn ich mich in diesem Land mehr zuhause fühle, als in meinem, bin ich auch hier nicht wie sie, nur dass es zum ersten Mal an meinem äußerlichen Erscheinungsbild liegt. Meine Hautfarbe ist auch nach einem Jahr in Mexiko noch immer nicht dunkel genug und außerdem hat die Sonne meine Haarspitzen rötlich - blond gefärbt. Die Mexikaner sind Großteils dunkelhäutig und haben fast alle schwarzes Haar.
Das aztekische Tanzfest, auf dem ich mich befinde, dauert von Donnerstag bis Sonntag und endet, sobald die Tänzer ihre großen, schweren Kreuze am letzten Morgen auf die Gipfel der Berge getragen haben. Bei jeder Gruppe liegt ein großes Kreuz aus Holz auf Ablagemasten, als wäre es gerade frisch gestrichen und geschmückt geworden. Laut Bebé, werden sie in der letzten Nacht nicht tanzen, sondern Lobesgesänge an das Kreuz singen, während ein paar von ihnen auf einer Mandoline spielen, deren Rücken aus dem Panzer eines Gürteltieres besteht. Die Gruppen wechseln sich nachts ab, sodass vier Tage lang ohne Unterbrechung immer jemand auf dem Platz vor der Kirche tanzt.
Bebé und einige Tänzer vom Zocalo haben mich in eine Herberge mitgenommen, in der wir Tänzer kostenlose Unterkunft und Essen bekommen. Wir schlafen zwar draußen auf der Terrasse auf Kartons, aber da es warm ist, ist es angenehm.
Am Freitagmorgen werde ich dort von einem Mann darauf aufmerksam gemacht, die schönste Frau zu sein, die er je gesehen hat. Ich muss kurz über diesen Kommentar lachen. Wäre eine blonde, blauäugige Frau neben mir gestanden, hätte er mich wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen.
Am späten Nachmittag, als er mich unter den Tänzern widerfindet, möchte er unbedingt meine Telefonnummer, weil er jetzt abreisen muss und anscheinend ohne mich nicht mehr leben kann. Ich bin genervt, schaffe es nicht ihn abzuhängen und kann mich kaum noch auf das Tanzen konzentrieren, doch mein Freund Bebé schafft es nach längerem Zusehen, ihn mir mit einer Handbewegung zu vertreiben.
So groß und stark wieBabyfaceist, legt sich bestimmt niemand mit ihm an.
Ich habe es aufgegeben, fremde Männer hier anzulächeln, denn die Mexikaner sind fast alle darauf aus, ein Mädchen wie mich zu erobern. Die meisten denken doch eh nur, sie könnten Profit daraus schlagen, mich kennenzulernen.
Jede noch so kleine, nette Geste, oder ein Lächeln ist für sie eine Einladung mir näher zu kommen und ich möchte nicht mehr, dass mir jemand nahekommt. Ihre Art, hellhäutige Menschen als wertvoller und schöner zu betrachten, ist kaum zu ertragen.
In wenigen Monaten startet mein Flug zurück nach Österreich. Ich habe bereits mit diesem Land abgeschlossen, habe hier nicht gefunden, wonach ich gesucht habe und auch wenn ich bis jetzt nicht weiß, was ich überhaupt suche, bin ich mir fast sicher, es nicht mehr hier finden zu können. Meine Reise hat mich letzten Endes wieder dorthin geführt, wo ich angefangen habe, nämlich nachChalma.
Vor genau einem Jahr war ich zum ersten Mal bei diesem aztekischen Tanzfest und wer hätte je gedacht, dass ich eines Tages selbst dabei sein werde.
»Zum ersten Mal und zum letzten Mal«, bestätigen mir die Stimmen in meinem Kopf. Dies hier ist mein Abschiedstanz von Tonantzin, der Mutter der Erde Mexikos...
Die Trommelschläge lassen mein Herz höherschlagen, so wie am allerersten Tag, an dem ich sie hörte. Die Federn über den Köpfen der Tänzer schwingen wild umher, es macht mich fast traurig, dieses bunte, fröhliche und vor allem warme Land mit diesen warmherzigen, offenen Menschen wieder gegen das graue und langweilige Österreich einzutauschen.
Eine Treppe führt von der Kirche hinunter, auf einen weiteren großen Platz, auf dem ebenfalls getanzt wird. Ich gehe nicht hinunter, sehe mir nur die Tänzer an, schließe meine Augen und atme diese Freiheit, die sie ausstrahlen, wenn sie so wild tanzen, ganz tief in mich ein. Mein Blick gleitet hinüber auf die Berge. Ich habe beim ersten Mal, als ich hierherkam, schon bemerkt, dass auf jedem Gipfel eines jeden Berges ein oder mehrere geschmückte Kreuze stehen und erinnere mich nur zu gut daran, wie meine damalige Unterkunftgeberin mir zum ersten Mal von diesem Fest erzählt hat. Der kulturelle aztekische Tanz lies mein Herz schon höherschlagen, als ich ihn noch nicht mal kannte und diese mysteriösen Berge zogen mich von Anfang an schon in ihren Bann.
Ich weiß nicht, was sie an sich haben, aber sie verbergen ein Geheimnis, da bin ich sicher.
Mit einem euphorischen Lächeln erinnere ich mich an die langen Wanderungen zurück, wo ich mich in diesen Bergen und Wäldern verlierte, ohne mich dabei jemals zu verirren. Ich wollte dieses Geheimnis finden, weil ich das Gefühl hatte, dass es nur darauf wartet, von mir gefunden zu werden. Ein Schatz vielleicht? Ein geheimer Durchgang zwischen den Felsen, der mich in ein verstecktes Paradies führt? Ein Sternentor, das mich in eine andere Zeit reißt, oder ein Schamane, der in einer Höhle lebt, mich schon vor Jahren in seinen Visionen sah und dort im Dschungel irgendwo auf mich wartet. Diese Gedanken sind schön, aber leider viel zu schön um wahr zu sein und schon finde ich mich in der Realität, in welcher die Magie meiner fantastischen Gedanken kaum durchdringen kann, wieder.
Mein ganzes Leben habe ich immer nach etwas gesucht. Nach etwas Besonderem. Ich weiß noch immer nicht, auf was ich warte, warum ich hierhergekommen bin und wozu das alles gut war, aber vor allem quält mich ein Gedanke. Was wird jetzt aus mir?
Was soll ich machen, wenn ich wieder zurück bin? Werde ich in meinem sogenannten »Heimatland« denn jemals wieder glücklich sein können, nach allem, was ich hier gesehen und erlebt habe?
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht hierbleiben möchte, aber ich weiß auch, dass ich nicht in Österreich leben will. Ich habe die Wahl und entscheide mich doch für die sichere und einfachere Variante, so wie die meisten Menschen es tun würden. Der einfache, längere Weg. Der sichere Weg. Nicht der kürzere, schwierigere Weg, welcher immer das sein mag, aber mit Sicherheit der, der mich schneller ans Ziel bringen würde.
Im Grunde genommen, bin ich doch nur genauso wie alle anderen. Warum sollte dann etwas Besonderes auf mich warten? Warum denke ich überhaupt, dass ich es verdient hätte, etwas Besonderes zu bekommen?
Die einzige Wahrheit ist doch, dass ich nur egoistisch bin, wenn ich denke, auf mich würde etwas Besonderes warten und es nur denke, weil ich es glauben will. Glauben, nicht nur eine von vielen zu sein, deren Leben bedeutungslos an der Geschichte der Menschheit vorüberzieht. Glauben, dass mein Leben einen besonderen Sinn hat und der nicht ist, so zu sein und zu leben wie die anderen.
Nicht zu überleben, oder vor sich hinzuleben, sondern zu leben. Etwas zu tun, was noch nie jemand getan hat, etwas Großartiges zu schaffen und vor allem etwas hier zu lassen, wenn ich am Ende wieder gehe. Das ist doch alles nur Blödsinn. Ich bin doch nur genauso, wie alle anderen. Ich kenne mein Ziel nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht ständig von anderen abhängig sein möchte, für andere arbeiten, oder ihnen meine wertvolle, so kurze Zeit hier auf der Erde verkaufen möchte. Ich könnte ohne nichts weiterreisen und hoffen, dass irgendwann ein Wunder geschieht, aber ich habe so sehr an dieses Wunder geglaubt und es ist mir doch nicht begegnet. Oder vielleicht habe ich es einfach nicht bemerkt und bin daran vorbeigerast.
Ich möchte nicht mehr auf ein Wunder warten. Ich möchte aufgeben, habe keine Geduld mehr. Zu oft habe ich mir auf meiner Reise einnormales Lebengewünscht und konnte mich selbst aufgrund dieses Wunsches nicht mehr ertragen. Es ist einfach zu traurig. Nicht zum Weinen traurig, anderstraurig...
Ich kann nicht weinen, weil ich mich leer und verloren fühle und diese Leere hat nicht die Kraft, Tränen auszulösen. Ich habe alles, bis auf die Freiheit, einfach zurück nach Hause zu fliegen, doch genau das ist es, was mir so sehr fehlt. Mein Zuhause, meine richtige Familie, die in einer anderen Welt auf mich wartet. Ich kann sie hier in meinem Körper kaum erreichen. Die Sehnsucht nach ihnen kann manchmal so schön sein und manchmal so unerträglich weh tun und dann fühle ich sogar Traurigkeit in den Momenten des Glücks, weshalb ich selbst in den schönsten Augenblicken immer wieder in eine melancholische Stimmung zurückfalle.
Wenn ich das Glück alleine fühle und nicht mit ihnen teilen kann, ist es nicht dasselbe. Die Sehnsucht, es mit jemanden teilen zu können, lässt das Glücklichsein oft einfach nicht zu und manchmal glaube ich, dass ich es nie schaffen werde...
Durch die Tänzer hindurch dränge ich mich weiter zur Kirche vor, ich spüre die Blicke und starre deshalb nur geradeaus, oder auf dem Boden. Ich möchte niemandem begegnen, der mich nur aufgrund meines äußeren Erscheinungsbildes kennenlernen möchte. Würde jemand erst mal das Chaos sehen, das in mir herrscht, würde er höchstwahrscheinlich sowieso schnellstmöglich die Flucht ergreifen. Ich weiß nicht, was ich will, wohin ich gehe und oft weiß ich nicht mal mehr, was ich jetzt und hier mache und wer ich bin.
Ich bin nur noch meine Hülle, die durch irgendetwas vorangetrieben wird, weitergeht und versucht, in einer Welt wie dieser irgendwie zu überleben.
Ich kann mich für nichts mehr begeistern und nichts interessiert mich mehr. Ich wünschte, ich könnte mich jetzt einfach in einen Adler verwandeln und wegfliegen, aber selbst dann wäre ich wahrscheinlich nicht glücklich. Die ersten Tage wäre es vielleicht schön, so um die Berge zu kreisen, doch dann würde ich mich langweilen und mich fragen, warum ich das mache und welchen Sinn es hat und ob ich wirklich nur hier bin, um den ganzen Tag von dort oben aus nach Futter Ausschau zu halten, nur um mich selbst am Leben zu erhalten. Ist ein Leben, dass nur darauf ausgerichtet ist, dass es einem selbst gut geht, denn überhaupt lebenswert? Ich meine, man kommt hierher, lebt und geht wieder und niemand weiß, dass man überhaupt hier war...
Wenn ich ein Adler wäre, würde ich mich fragen, ob das Leben der kleinen Tiere die ich töte, denn weniger wert ist, als das meine und ich würde nach der eigenen Erkenntnis letzten Endes vor Hunger sterben. Oder einfach nur dem Instinkt folgend töten, um zu überleben. Ich erkenne hier keinen Unterschied zum Menschen, nur dass er die Wahl hat, Bewusstsein vor Instinkt zu stellen und dadurch, dass er es nicht tut, zur größten Plage auf diesem Planeten wird. Als Adler würde ich wahrscheinlich gar nicht denken. Warum denke ich überhaupt darüber nach, ob ich als Adler denken würde?
Ich möchte doch gar nicht über solche Dinge nachdenken! Verdammt, haltet doch endlich den Mund dort drinnen in meinem Kopf!
Plötzlich werde ich von der Seite unabsichtlich angerempelt und falle fast nach vorne. Ich kann mich gerade noch selbst aufrechterhalten. Es sind so viele Menschen, dass es nicht mal jemand bemerken würde, wenn ich dort unten, irgendwo zerquetscht unter ihren Füßen läge, aber wahrscheinlich würden sie mich aufgrund meiner wundervollen Hautfarbe doch bemerken und mir schnell helfen, während zur selben Zeit neben mir ein dunkelhäutiger Mensch zertrampelt wird.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder nach vorne und sehe im gleichen Moment unabsichtlich einem jungen, mir entgegenkommenden Tänzer in die Augen. Wir müssen irgendwie aneinander vorbeikommen und ich muss automatisch lächeln, als sich unsere Blicke treffen. Was zum Teufel mache ich da? Er sieht ja sympathisch aus, aber wie immer, fühle ich überhaupt nichts dabei. Hoffentlich geht er einfach weiter.
Ich bereue jetzt schon mein unkontrolliertes und unabsichtliches Lächeln. Das ernste Gesicht des halbnackten, tätowierten Mannes beginnt zu strahlen, als er kurz mein Lächeln erwidert, was ihn nur noch sympathischer macht.
Gott sei Dank geht er aber trotzdem einfach weiter und spricht mich nicht an. Ich habe wirklich keine Lust, mich mit irgendjemandem außer meinen Freunden, die ich bereits vom Zocalo kenne, zu unterhalten.
Heute erst sehe ich mir die Kirche, die das Zentrum dieses Festes darstellt, von innen an. Das Ambiente ist durch die vielen Kerzen wunderschön, aber auch herzzerreißend traurig, weil es wie immer, gar nichts in mir auslöst und weshalb ich mich wieder unter die Leute mische.
»Hola!« Es ist tätowierte Mann von vorhin. Verdammt! Warum habe ich ihn nur angelächelt!?
Ich versuche, nicht zu genervt zu wirken, denn letzten Endes ist es ja nicht seine Schuld, sondern meine eigene.
»Tanzt du auch?«, fragt er mich, natürlich auf Spanisch.
»Ja«, antworte ich kurz.
»Du kommst nicht von hier, oder?«
Wie kann es sein, dass er nach einem einzigen „Si“ schon weiß, dass Spanisch nicht meine Muttersprache ist, obwohl man bei so einem einfachen Wort nicht einmal auf irgendeine Weise den Akzent heraushören könnte? Ich meine, wäre es ein Wort mit „r" gewesen, hätte ich es verstanden. Das „r" mit der Zunge am Gaumen zu rollen, schaffe ich bis heute nicht. Wieder bin ich enttäuscht, dass ich nicht einmal den Mund aufmachen kann, ohne sofort als Ausländerin identifiziert zu werden. Noch immer gehöre ich hier nicht her und das werde ich auch nie.
»Doch. Ich komme auch von hier, so wie du«, schmunzle ich und füge gekonnt hinzu: »Von der Erde.«
Das Lachen des jungen Mannes ist so sympathisch, dass ich nicht anders kann, als es zu erwidern. Er hat mit dieser Antwort nicht gerechnet, seinem Gesichtsausdruck zufolge, scheine ich ihn damit aber schwer beeindruckt zu haben. Seine Sympathie regt mich dazu an, ihm dann doch die langweilige Antwort, die er hören wollte, zu geben. »Ich komme aus Österreich, aber inzwischen bin ich schon über ein Jahr hier und wohne momentan in Mexiko-Stadt bei einer Freundin«
»Und wie bis du zum Tanzen gekommen?«
»Ich habe es mit den Tänzern am Zocalo gelernt. Der Tanz hat mich von Anfang an in seinen Bann gezogen«
»Wow. Das ist beeindruckend. Es gibt kaum Menschen aus dem Ausland, die sich so sehr für unsere Kultur interessieren, aber sei vorsichtig, die anderen könnten es als störend empfinden, dass du hier mitmachst. Ich finde es großartig, aber es gibt hier einige Leute, die das mit der Kultur sehr verbissen sehen. Wenn du Probleme hast, kannst du zu mir kommen. Meine Gruppe tanzt dort unten.«
»Danke, aber Ich will einfach nur tanzen«, antworte ich unmissverständlich, drehe ihm den Rücken zu und mische mich wieder unters Volk.
Wir treffen uns erst am nächsten Morgen wieder, wo er mich auf einen Tanz in seine Gruppe einlädt. Bisher habe ich mich in mehrere Gruppen gemischt, aber hauptsächlich in Bebés Gruppe, da ich selbst Probleme vermeiden wollte. Ich nehme die Einladung des sympathischen Tänzers glücklich an und bemerke dabei, dass er dafür verantwortlich ist, die anderen Tänzer in seiner Gruppe auf die richtige Position zu weisen. Es ist eigentlich nicht viel Arbeit, nur ein Halbkreis um den Trommler herum und neben jedem Mann muss eine Frau stehen.
Nach dem Tanz bietet er mir Mittagessen an, welches er an seine Gruppenmitglieder verteilt.
»Hast du dir die Tattoos selbst gemacht?«, möchte ich von ihm wissen, während wir zusammen, im Stehen essen.
»Ja«
»Wo wohnst du?«
»Auch in Mexiko-Stadt«, antwortet er.
»Ich habe auch einige Entwürfe für Tattoos. Würdest du´s mir gratis machen?«
»Natürlich, gerne!«
Wir beide lachen über meine seltsame Frage.
»Ist das die Jungfrau von Guadalupe?« Ich zeige auf das Tattoo an seiner Brust. Die Jungfrau von Guadalupe ist sozusagen die Maria Mexikos. Im Grunde genommen ist sie hier das wichtigste religiöse Symbol und anstatt Kreuzen mit Jesusfigur sieht man überall die Jungfrau von Guadalupe, welche eine dunkelhäutige Frau mit gefaltenen Händen und einem grünen Umhang darstellt.
»Ja, aber eigentlich ist sie die bildliche Version von Tonantzin. Bevor die Europäer in Mexiko alles an sich rissen, gab es keinen katholischen Glauben, was bedeutet, auch keine Maria und keinen Jesus. Die Azteken glaubten an eine höhere Macht, die sieTonantzinoder übersetztMutter Erdenannten.
Die Europäer, also hauptsächlich Spanier und Portugiesen, die mit Schiffen nach Amerika kamen und Mexiko, sowie ganz Mittel- und Südamerika eroberten, drohten den ´Mexicas´ - das ist das aztekische Wort für ´Mexikaner´ - nicht mit dem Ermorden ihrer Leute aufzuhören, solange nicht alle ausnahmslos die Jungfrau von Guadalupe als ihre neue Gottheit akzeptierten.
Um es ihnen leichter zu machen, haben die sie das Bild von Maria einfach in der Hautfarbe der Méxicas dargestellt und gemeint, dass dies jetzt deren neue ´Tonantzin´ sei, jedoch durfte die alte, einheimische Sprache ´Nahuatl´ nicht mehr benutzt werden, also wurde ausTonantzin´die Jungfrau von Guadalupe´. Heute wissen das nur wenige und alle beten sie an, als wäre sie Teil der typischen, traditionellen mexikanischen Kultur. Natürlich ist sie Teil der Geschichte Mexikos, aber Teil einer aufgezwängten Geschichte.
Das sogenannte ´Halloween´ zum Beispiel ist auch nichts anderes als eine Verarsche der USA von dem ´Dia de los Muertos´ – oder dem ´Tag der Toten´, welcher von der mexikanischen Kultur abstammt.
An diesem Tag werden hier mit den schönsten Zeremonien die Verstorbenen erinnert. Ihnen zu Ehren werden Gaben, wie Süßigkeiten, Früchte, Pan de Dulce, Kerzen und Blumen den Toten auf ihrem Grab und im Haus auf einem Tisch vorbereitet. Die Geister der Toten würden in dieser Nacht, an der sie ganz intensiv von ihren Liebsten erinnert werden, zurück zur Erde kommen und sich über diese Gaben freuen. Hast du schon mal einenDia de los Muertoshier verbracht? Falls nicht, könnte ich dir Ende Oktober einiges zeigen. Es ist wirklich unglaublich schön. Aber wie gesagt, was viele heutemexikanischnennen, ist in Wirklichkeiteuropäisch, denn es kam von den Europäern und ihrer Kultur, welche unsere Kultur Großteils zerstörte.«
Ich bin still, habe keine Geschichtsstunde erwartet und bin mir nicht ganz sicher, ob ich als Europäerin jetzt auch Schuld daran habe, dass sein Land und seine Kultur im Arsch sind. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir leid, vielleicht? Nein lieber nicht, das klingt seltsam. Was würde er von mir denken? Ich werde mich doch nicht für etwas entschuldigen, was vor Hunderttausend Jahren passiert ist und nun wirklich gar nichts mit mir zu tun hat. Warum interessiert es mich überhaupt, was er von mir denkt?
Es ist selten, dass mich ein Mensch noch überraschen kann, aber dieser hier ist hat es gerade getan.
Er ist intelligent und gebildet, das merkt man sofort, wenn man ihm zuhört. Wahrscheinlich ist er nur äußerlich ein langhaariger, tätowierter Mafioso Tänzer mit seinem seltsamen Mafioso Bart und innen drin ein Nerd, der Hunderte von Büchern zuhause rumliegen hat.
Ich kann nur hoffen, dass er mich nichts zu der Geschichte meines Landes fragt, denn ich habe in der Schule nie aufgepasst. Alles, was ich lernen musste und mir aufgezwängt wurde war für mich uninteressant. Ich weiß so gut wie gar nichts über die Geschichte oder
Politik meines Landes und habe auch nie verstanden, warum ich es wissen muss.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragt mein Gegenüber jetzt interessiert und ich bin froh, dass er das Thema wechselt und das Schweigen zwischen uns bricht, erzähle ihm von meiner Arbeit in Chalma, meiner aussichtslosen Reise ohne Ziel und meiner Suche nach etwas, das ich nicht gefunden habe. Der Mann ist sofort hin und weg von meiner Geschichte und meint, dass er auch schon immer einfach mit Zelt und Rucksack losziehen wollte, ohne ein Ziel vor den Augen. Nur, dass es bisher niemanden gab, der sich für so eine Reise animierte und alleine wollte er dann doch nie.
»Ich bin schon öfters mit meinen Kunsthandwerken umhergezogen, habe mir so das nötige Kleingeld für die Reise verdient, aber immer nur für ein paar Tage und nie so weit weg von Mexiko-Stadt.«
Ganz kurz kommt mir der Gedanke, mit ihm weiterzureisen, aber ich sage nichts, habe die Hoffnung ohnehin schon aufgegeben und mich dafür entschieden, ein stinknormales, langweiliges Leben zu führen.
»Kann ich dir meine Nummer geben?«, frage ich ihn, ohne zu zögern. »Und du meldest dich, wenn du Zeit für die Tattoos hast?«
»Natürlich«, antwortet er mit einer Selbstverständlichkeit und zu meiner Überraschung sogar ohne ein hinterlistiges Lächeln auf den Lippen. Ich hatte während unseres gesamten Gesprächs nicht einmal das Gefühl, er würde irgendetwas von mir wollen. Im Gegenteil. Seine freundliche, zurückhaltende und sehr respektvolle Art ist für mich alles andere als energieabsorbierend.
Ich habe seinen Namen schon wieder vergessen, oder bin gar nicht sicher, ob er ihn mir überhaupt gesagt hat und traue mich nicht, noch einmal danach zu fragen, da er sich an meinen erinnert, und beim Speichern meiner Nummer noch einmal sicher geht.
»Andrea, richtig?« Ich bejahe und tu dann so, als würde ich seine Nummer auch unter seinem Namen einspeichern, tippe aber als Namen einfach nur »Chalma« ein.
In der letzten Nacht gehe ich nur kurz hinunter zur Kirche, um die Lobesgesänge ein Weilchen zu betrachten. Überall auf dem Kreuz und auf dem Boden um es herum brennen Kerzen. Die Tänzer stehen um das Kreuz herum und singen, während einige von ihnen auf der Mandoline spielen. Niemand tanzt mehr und obwohl es ein sehr magischer Moment ist, bleibe ich nicht länger als eine halbe Stunde.
Es ist schon wieder so schön, dass es mich traurig macht und ich kann es nicht länger ertragen.
Am letzten Morgen begleite ich die Tänzer hinauf auf den Berg. Auch oben angekommen wird erneut um das Kreuz herum gesungen.
Ich mache mich auf den Rückweg in die Herberge, hole meinen Rucksack von der Terrasse und als ich an den wenigen übriggebliebenen Tänzern, die sich noch auf dem Platz befinden, vorbeigehe, treffe ich dort noch einmal auf »Chalma«.
»Habt ihr euer Kreuz schon hochgetragen?«, frage ich ihn, mich wundernd, da ich dachte, sie wären jetzt oben auf dem Berg.
»Ja. Ganz früh am Morgen, gleich als wir mit den Lobesgesängen fertig waren. Gehst du schon?«
»Ja. Wann fährst du denn zurück in die Stadt?«, möchte ich von ihm wissen, in der Hoffnung, wir könnten vielleicht zusammenfahren.
»Ich fahre erst am Nachmittag, aber wahrscheinlich nach Toluca, zu meiner Familie«, antwortet Chalma zu meiner Enttäuschung.
»Also brauche ich nicht auf dich zu warten?«, stelle ich fest, lächle und verabschiede mich mit einem Händedruck. »Melde dich wegen den Tattoos, ja?«
»Natürlich. Versprochen!«
»Bis bald!«, rufe ich ihm noch zu und habe dann das dringende Bedürfnis, mich noch einmal umzudrehen, als ich mich von ihm entferne. Ohne zu zögern tu ich es, wir beide sehen uns an und ohne es zu wollen, muss ich schon wieder lächeln, strecke meine Hand in die Höhe und winke ihm zu. Chalma strahlt und winkt ebenfalls.
Ich hoffe wirklich, dass er sich bei mir meldet. Es ist nicht nur wegen den Tattoos.
Ich weiß nicht warum, aber ich bin gerne in seiner Nähe und habe dabei fast schon vergessen, wie alleine ich bin. Noch dauert es fast drei Monate bis zu meinem Rückflug und vielleicht kann er mir dabei helfen, die Zeit etwas zu verkürzen.
Ich dränge mich wieder durch den Markt in Richtung Terminal. Während ich im Bus die vorbeiziehende Landschaft beobachte, überkommt mich ein seltsames Gefühl. Ein leicht elektrisierendes Kribbeln im Bauch, das ich vorher noch nie gespürt habe, ich weiß überhaupt nicht, woher es kommt und was es zu bedeuten hat. Ist es wegen Chalma?
Also Chalma, dem Mann, nicht Chalma, dem Ort.
Ich kann das Gefühl nicht identifizieren und denke mir nur, dass es nicht wegen ihm sein kann, da ich weder eine Art von Anziehungskraft, noch sonst etwas Außergewöhnliches spüre, das mich mit diesem Menschen verbindet. Ein unkontrolliertes Lächeln bildet sich in meinem Gesicht. Ich weiß nicht warum, aber ich bin heute einfach nur glücklich.
Erst als ich in meiner Unterkunft in Mexiko-Stadt ankomme, verschwindet dieses Glück sofort. Ich verziehe mich in mein Zimmer. Obwohl niemand da ist, möchte ich nicht, dass wenn jemand kommt, dieser Jemand mit mir spricht. Ich weiß schon, dass ich in zwei Wochen wegen einer gewissen Tante, die es wahrscheinlich gar nicht gibt, mein Zimmer räumen muss. Keine Ahnung wo ich danach hin soll. Ich habe keine Ersparnisse mehr übrig, um ein Hotel zu bezahlen.
Es vergeht ein weiterer Tag, bis eine Nachricht von Chalma kommt, doch ich kann darin überhaupt nichts lesen, weil jedes seiner Worte abgekürzt wurde und mein Spanisch noch nicht gut genug ist, um es entziffern zu können. Verzweifelt zeige ich Elsa den Text und sie übersetzt ihn für mich.
Chalma möchte mich zum Karneval nach Toluca einladen. Dort könnten wir dann auch noch alles Weitere zu meinen Tattoos besprechen. Ich soll morgen im Terminal »Observatorio« unter der Uhr bei der Metro um 12:00 Uhr warten, wenn ich mitkommen möchte.
Ich überlege nicht zwei Mal, antworte sofort, denn ich möchte einfach nur raus hier und nicht alleine sein. Voller Freude packe ich schon mal meinen Rucksack für morgen. Ich bin so froh über diese Einladung, da ich ohnehin den ganzen Tag nur auf der Straße spazieren gehe, um irgendwie die Zeit zu vertreiben und zu vermeiden, in diesem Haus zu sein, in dem ich ohnehin längst unerwünscht bin.
Ich kann die Uhr nicht finden, unter der ich warten soll, gehe über die Brücke durch die Halle und auf der anderen Seite die Treppen wieder hinunter. Hilflos und verloren sehe ich mich um und es passiert schon wieder, dass ich mich nicht an das Gesicht erinnere, das ich jetzt gleich sehen werde. Wie soll ich ihn nur wiedererkennen? Alle sehen doch gleich aus! Verdammt!
Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. »Wo bist du?«
»Bei den Treppen«, antworte ich nervös. Wahrscheinlich steht er schon dort vorne irgendwo und ich erkenne ihn nicht. Es vergehen weitere zwei Minuten, bis aus der Menschenmenge endlich ein vertrautes Gesicht hervorkommt. Ja, dieses Lächeln ist unverwechselbar. Chalma kommt mit offenen Armen auf mich zu und seltsamerweise umarmen wir uns, wie alte Freunde, die sich schon ewig kennen und sich schon ewig nicht mehr gesehen haben.
Im Busterminal warten wir in der Schlange, die sich schleichend vorwärtsbewegt, während ich ihm die Tattoo- Entwürfe zeige und er begeistert über meine Zeichenkünste staunt.
Ich habe meine Tabletten fürs Busfahren vergessen und bin nervös. Ungern würde ich bei unserem ersten „Date“ gleich kotzen.
Wir müssen auf den nächsten Bus warten, der gleich, nachdem der volle Bus wegfährt, bereit zum Einsteigen ist und da wir jetzt ganz vorne in der Schlange stehen, können wir uns unseren Platz aussuchen. Während der Fahrt versucht Chalma mein Sternzeichen im aztekischen Kalender herauszufinden. Dazu muss er mir jedoch erst mal den Kalender erklären. Er redet so viel, wie das ganze Jahr über noch nie jemand mit mir geredet hat. Woher weiß er das alles und wie kann man sich das alles nur merken? Im aztekischen Kalender sind wir beide dasselbe Zeichen, nämlich »Affe«.
Ich bin wirklich interessiert, das Problem ist nur, dass ich aus dem Fenster schauen muss und meinen Kopf nicht andauernd hin und her drehen sollte.
Ich versuche, es auszuhalten und mir nichts anmerken zu lassen, doch als mir schon viel zu schlecht ist, rücke ich mit der Wahrheit raus und bitte ihn, für einen Moment ruhig zu sein, weil ich mich auf die Fahrt konzentrieren muss. Chalma versteht sofort, entschuldigt sich, obwohl es überhaupt nicht seine Schuld ist und versucht, mir zu Liebe seinen Mund zu halten.
Nach Einer Stunde habe ich die Fahrt überstanden. Am Terminal in Toluca angekommen meint Chalma dann, dass wir noch einen Bus nehmen müssen.
»Nein bitte! Können wir nicht zu Fuß gehen?«
Er ist überrascht und sogleich überglücklich, als wäre es ein Wunder, dass ich das gesagt habe. »Wir müssen nachTotocuitlapilco. Ungefähr eine Stunde zu Fuß«
»Das ist mir egal, nur bitte kein Bus mehr! Wo geht´s lang?«
Chalma lächelt, weist mir den Weg und geht neben mir her.
»Noch nie gab es jemanden außer mir in meinem Leben, der gerne seine Beine benutzt und zu Fuß geht«, strahlt er mich an.
»Wir beide sind Affen. Wir müssen uns bewegen. Ich würde mich auch sofort auf Lianen dorthin schwingen, wenn es welche geben würde«, scherze ich.
Auf den Straßen, die vom Terminal wegführen, gibt es viele kleine Marktstände, an denen die Leute alles Mögliche verkaufen. Es ist bunt, laut und es gibt viel zu sehen. Mein Begleiter kauft eine winzig kleine Süßigkeit für einen Pesos.
»Es ist aus Kokos. Das musst du probieren!«, bittet er mich und strahlt dabei bis über beide Ohren. Ich bedanke mich für das süße Geschenk, welches tatsächlich sehr gut schmeckt. Diese kleinen Aufmerksamkeiten des Lebens sind doch die allerschönsten.
Wir unterhalten uns die ganze Zeit über und immer wieder reagiert Chalma überrascht und begeistert, als er meine Meinung zu den Dingen hört. Es kommt mir fast so vor, als hätte er sein Leben lang auf jemanden gewartet, der das Leben genauso sieht, wie er.
Ich weiß, dass er nicht nur so tut, denn die Energie, die ihn umgibt ist echt und rein, fast wie die eines Kindes. Bis jetzt hatte ich noch immer nicht das Gefühl, er würde sich irgendetwas von unserer Begegnung erwarten, was ihn mit jedem weiteren Gespräch sympathischer macht. Ich fühle mich wohl in seiner Nähe und komischerweise noch viel besser, als er dann beginnt, von seiner Vergangenheit zu erzählen, welche mit Drogen und Gangs zu tun hat. Wie kann jemand, der seine dunkelsten Seiten und sein Gangsterleben offenbart, ohne damit anzugeben, denn falsch sein?
Die Tür in den Vorhof ist versperrt. Chalma schnappt sich einen Stein vom Boden und klopft damit auf das Blechtor. Hundegebell ertönt. Nach längerem Warten schwingt er sich geschickt von der rechten zur Linken Mauer, hüpft aufs Dach und erinnert mich dabei an einen Wandsprung bei »Super Mario«. Ich dachte nicht, dass das wirklich funktionieren kann.
Chalma fragt, ob ich keine Angst vor Hunden hätte, wartet meine Antwort ab, öffnet dann den Riegel von Innen und bittet mich herein, während mir vier bellende Bullterrier stürmisch entgegenlaufen.
Ich begrüße die Tiere, die sich so sehr über etwas Aufmerksamkeit freuen, dass sie mir nicht mehr von der Seite weichen. Im Haus werde ich seiner Mutter und Schwester vorgestellt, welche etwas überrascht, aber freundlich auf den unerwarteten Besuch reagieren.
Der Karneval beginnt am Nachmittag. Es ziehen viele Wagen mit verkleideten Menschen vorbei, die eine oder andere Gruppe auch tanzend oder Musikinstrumente spielend zu Fuß. Es ist mit einem Faschingsumzug in Österreich zu vergleichen, allerdings so wie alle anderen Unterschiede auch, viel bunter, wilder, lauter und verrückter.
Da ich Chalmas Familie nun schon öfters seinen Namen sagen hörte, ändere ich diesen schnell in meiner Kontaktliste, bevor ich in wieder vergesse. Chalma heißt nämlich eigentlich »Omar«.
»Warum heißt du eigentlich Omar?«, frage ich ihn am späten Nachmittag, als wir außerhalb des Dorfes spazieren gehen.
»Bist du so ein Öl- Scheich?«, scherze ich.
»Schön wär´s«, antwortet mein Begleiter lachend. »Meine Eltern wollten mir eigentlich einen aztekischen Namen geben, doch die katholische Kirche hat dies nicht erlaubt, also habe ich jetzt einen arabischen.«
»Eine Frechheit! Jeder sollte seine Kinder so nennen dürfen, wie er möchte!«
»Und warum heißt du Andrea?«
»Dazu gibt es keine besondere Geschichte. Ich sollte eigentlich Sandra heißen, aber im letzten Moment entschied sich meine Mama für meinen jetzigen Namen.«
»Das ist doch gut. Du bist die erste Andrea, die ich kenne und ich kenne sehr viele Leute, unter ihnen bestimmt schon vier Sandras«. Ich muss wieder unkontrolliert Lächeln. Diese einfache Aussage lässt mich ganz kurz wieder wie etwas Besonderes fühlen.
Wir schlendern außerhalb des Dorfes auf einem Feldweg entlang, da Omar mich zu einem See führen möchte. Plötzlich kommt mir ein unerträglicher Gestank in die Nase. »Was ist das?«, frage ich entsetzt und halte mir Nase und Mund gleichzeitig zu.
»Es gibt mehrere Müllhalden in der Nähe, oder besser gesagt, die Leute schmeißen ihren Müll einfach dort in die Natur, um ihn loszuwerden. Früher war das hier so ein schönes Gebiet. Gleich in der Nähe gibt es einen Bach, aber leider werden die Abflüsse der Haushalte in das Wasser geleitet.«
»Du meinst, alles was man im Klo runterspült?«
»Ja, das auch.«
»Gibt’s keine Kläranlage, oder wenigstens unterirdische Kanäle für sowas?«
»Nein. Hier nicht. Die Kanäle hier sind die Bäche, oder besser gesagt, es wird einfach irgendwann alles in die Bäche abgeleitet, die sich zu unerträglichen, stinkenden Kanälen verwandeln und in welchen kein Leben mehr die
Chance hat, zu existieren.«
»Was? Und in diesen Häusern dort neben dem Bach leben Menschen?«
»Ja. Sie riechen das gar nicht mehr.«
Wir entfernen uns weiter von dem stinkenden Gebiet, bis wir zu dem See kommen.
»Ist der denn auch sauber?«, frage ich noch immer geschockt.
»Ja, schau!«, ruft Omar und macht mich auf die Fische aufmerksam.
Ich ziehe mich bis auf die Unterwäsche aus und stürze mich ins Wasser. Mein Begleiter bekommt es mit der Angst zu tun. »Sei Vorsichtig!«
»Was hast du?«
»Da sind jede Menge Algen und Pflanzen, die vom Grund nach oben wachsen. Du könntest dich mit den Füßen darin verfangen und hinuntergezogen werden.«
»Geh bitte, das passiert doch nur in den Filmen«, rufe ich ihm zu während ich auch schon zur Mitte des Sees schwimme.
Auch Omar zieht sich aus, doch anstatt einer Unterhose hat er ein komisches, weißes, langes Stoffteil umgebunden, das aussieht, als wäre er ein Einheimischer, der irgendwo im Dschungel lebt.
Ich bemerke kaum seinen glatten, haarlosen Oberkörper, weil ich nur auf dieses seltsame Teil starre.
Später, als wir dann zusammen auf der Wiese sitzen, beobachte ich weiter seine kaum vorhandene Körperbehaarung.
»Warum hast du kein einziges Haar auf der Brust? Rasierst du dich?«
»Nein, das ist die Genetik der Mexikas.«
»Du hast ja weniger Haare auf den Beinen und unter den Achseln als ich, das ist unfair«, stöhne ich und sehe mir seinen Körper ganz genau an.
»Was hast du da eigentlich an?« Ich starre auf das weiße, seltsame Teil zwischen seinen Beinen, dass zwar vorne alles verdeckt, aber hinten kaum.
»Das nennt sichMaxtla, die traditionelle Kleidung der Azteken«
Darauf antworte ich nicht. Es gefällt mir, wie sehr er seiner Kultur treu bleibt, obwohl es wirklich seltsam aussieht.
»Trägst du das immer?«, möchte ich wissen, und weiß gar nicht warum.
»Nein, nicht immer, ich trage auch ganz normale Unterhosen, wie jeder normale Mensch.« er lacht und es freut mich, dass ihn das Thema überhaupt nicht zu stören scheint.
»Du warst die Erste, die mit mir in diesen Teich gegangen ist«, sagt er wenig später, als wir uns auf den Rückweg machen.
»Warum hattest du Angst?«
»Ich kann nicht so gut schwimmen und habe etwas Angst vorm Wasser, da ich vor ein paar Jahren fast ertrunken wäre.«
»Du kannst nicht schwimmen? Lernt man das bei euch nicht in der Schule?«
»Was? Nein! Bei euch etwa?«
Ein langes Gespräch über die Unterschiede unserer Schulsysteme artet aus, wobei ich auch erfahre, dass die Englischlehrer selbst nicht gut Englisch können, oder die USA verachten und ihre Schüler aufgrund der Aussprache auslachen.
Am Ende bezahlt der Schüler den Lehrer für eine gute Note. Darum sprechen die Mexikaner kaum Englisch, obwohl ihr Land doch an die USA grenzt.
»In Österreich sprechen wir Deutsch, obwohl auch fast alle der neuen Generation mit der englischen Sprache vertraut sind, und sie fast fließend sprechen«, erkläre ich.
Omar legt einige Decken auf den Boden ins Wohnzimmer. Wir sehen gemeinsam einen Film und versuchen dann zu schlafen, aber noch immer haben wir uns so viel zu erzählen, dass wir uns auch nach dem Film noch stundenlang unterhalten.
Als es dann still zwischen uns wird, drehe ich mich auf die Seite, weg von ihm und während wir so nebeneinander liegen, habe ich das Bedürfnis, einfach nur von hinten umarmt zu werden, aber dieser Mann ist zu respektvoll, um sich nach einem einzigen Tag schon anzunähern und die Situation auszunutzen.
Ich bin froh darüber, denn auch wenn ich mich danach sehne, in seinen Armen einzuschlafen, ist es genau diese zurückhaltende und respektvolle Umgangsform, die ich so sehr an ihm mag. Hätte ich das nicht von Anfang an gespürt, wäre ich jetzt gar nicht hier.
Es ist das erste Mal seit Langem, dass ich nicht alleine einschlafen muss und nur das Gefühl, dass jemand da ist, beruhigt mich so dermaßen, dass ich anstatt ewig langer Einschlafversuche, sofort ins Land der Träume hinübergleite.
Zu Mittag des nächsten Tages gehen wir wieder zu Fuß zum Terminal, da wir beide ja anscheinend alle Zeit der Welt haben. Wir sprechen über die schlimme Situation der Straßenhunde und später erzähle ich von Murli, meinem Kater, welcher mich fast mein ganzes Leben, bis zu meiner Abreise begleitete.
»Ich glaube, er ist gegangen, damit ich gehen kann«, sage ich leise, kann kaum noch atmen und breche dann ungewollt in Tränen aus.
»Ich war nicht dabei, als er eingeschläfert wurde. Ich habe ihn in dem wichtigsten Moment alleine gelassen, obwohl er immer für mich da war!« Mein Schluchzen wird immer schlimmer, bis sich Omar plötzlich annähert und mich unerwartet umarmt. Zum ersten Mal herrscht eine lange Stille zwischen uns.
Ich fühle mich so geborgen und beschützt, wie noch nie zuvor in meinem Leben, möchte mich nie wieder aus dieser Umarmung lösen und sein ganzes T- Shirt vollheulen dürfen, einfach nur weinen und nie wieder damit aufhören. Ich weiß nicht, ob mich überhaupt schon irgendwann Mal jemand umarmt hat, als ich geweint habe.
Es fühlt sich so gut an, dass ich wünschte, ich könnte ewig so weiterheulen, damit dieser Moment nie aufhört.
»Er versteht das. Wenn du weinst, machst du ihn traurig, denn er ist jetzt glücklich und noch immer bei dir, nur in einer anderen Form. So wie damals, als er ging, möchte er auch jetzt, dass du glücklich bist.« Seine Worte lösen einen sofortigen Stillstand meiner Tränen aus, obwohl ich doch durch so berührende Worte noch viel mehr hätte weinen wollen. Wie viele Menschen hätten mich schon auf diese Art und Weise trösten können? Und dann kommt plötzlich er, nimmt mich in den Arm und sagt genau das richtige zur richtigen Zeit, obwohl doch nie jemand je das Richtige sagt...
Wenig später löse ich mich aus der Umarmung. Die letzten Tränen laufen noch über mein Gesicht, während mir Omar sein über die Schulter hängendes Hemd anbietet, um sie abzuwischen.
»Ich glaube, dass die Tiere hier sind, um unseren Lernprozess anzukurbeln. Sie helfen uns. Ohne sie, wäre der Mensch so einsam auf dieser Welt«, sage ich nach einigen Minuten des Schweigens und obwohl mein neuer Freund die ganze Zeit, seitdem ich ihn kenne, nicht aufgehört hat, zu sprechen, ist er noch immer bedächtig still.
»Worüber denkst du nach?«
Omar atmet tief ein. Ich bemerkte das Glitzern in seinen Augen, kurz bevor die erste Träne fällt, doch er hat sich im Gegensatz zu mir unter Kontrolle, als er anfängt zu erzählen. »Als ich 17 Jahre alt war, stand ich auf einer Autobahnbrücke und wollte springen. Die Drogen ließen mich die Welt nur für kurze Momente schön und perfekt erscheinen, aber am Ende befand ich mich doch wieder nur unter all diesen seltsamen Menschen, die nichts verstehen. Als ich kurz davor war zu springen, stand am Ende der Brücke ein dünner, dreckiger, verlassener und einsamer Straßenhund, der mich anstarrte.
Ich ging einen Schritt zurück, setzte mich auf den Boden, um ihn zu rufen und er kam auf mich zu. Ich entschied, nicht zu springen, weil ich sah, wie elendig es ihm ging und dass sein Leiden nicht mit meinem vergleichbar war. Diese Tiere geben aber trotzdem nicht auf, obwohl die Welt der Menschen für sie noch viel grausamer erscheinen muss, als für mich damals. Dieser Hund kämpfe noch immer weiter und nach allem, was er durchmachen musste, ging er noch immer auf uns Menschen zu und versuchte, zu helfen. Nach all dem, was sie ihm angetan haben! Ich denke mir so oft, dass wir diese Liebe gar nicht verdient haben.«
Die erste Träne bildet sich in Omars Augen. »Aus irgendeinem Grund ging der Hund dann einfach wieder weg und ich hatte das Gefühl, er wäre nur gekommen, um mich genau das zu lehren und mir das Leben zu retten.«
So sehr er auch versucht, stark zu bleiben und nicht zu weinen, er schafft es nicht und bricht nun in Tränen aus, erscheint im selben Moment so hilflos, wie nie zuvor. Ich habe mit so einem plötzlichen Gefühlsausbruch von jemanden, der so stark scheint, niemals gerechnet, bin zutiefst gerührt von seiner Geschichte, weiß aber nicht, wie ich reagieren soll. Es fällt mir so schwer, zu trösten, mich anzunähern, zu umarmen...
Was soll ich sagen? Ich kann meine Gefühle nicht aussprechen, weil es keine Worte dafür gibt und obwohl es für Omar, der ein so offener und lebensfroher Mensch ist, offensichtlich einfach ist auf andere zuzugehen und jemanden zu umarmen, fällt es mir verdammt schwer. So schwer, als hätte ich es selbst nie gelernt, als wäre ich selbst nie getröstet und in den Arm genommen worden, weshalb ich nicht weiß, wie es geht. Ich überlege schon zu lange, während er einfach nur dasteht und mit sich selbst zurechtkommen muss.
Ich sollte es einfach tun und auch wenn es sich komisch anfühlt, nähere mich langsam an und umarme ihn.
Es war gar nicht schwer. Es fühlt sich gar nicht komisch an und ich weiß ganz genau, wie dringend er diese Umarmung nötig hatte, denn ich kann nur zu gut nachempfinden, wie er sich fühlt.
Wir haben viel gemeinsam, obwohl unsere Vergangenheit nicht unterschiedlicher hätte sein können.
Auf der einen Seite stehe ich, die in einer perfekten, quadratischen
Welt aufgewachsen ist und genau das mir so viele Probleme bereitete. Es fehlte mir nie an materiellen Gütern und obwohl meine Familie nicht reich ist, musste ich trotzdem nie arbeiten, um zu überleben. Ich hatte die Wahl, was ich machen wollte und musste nichts tun, dass mich zerstört.
Omar hatte schon im Alter von acht Jahren seinen ersten Job, um seiner Familie mit den Ausgaben fürs Essen zu unterstützen, mit 16 Jahren verfiel er in den Drogen und Alkoholkonsum, weil er keinen Ausweg mehr sah, weil er nicht mit der Welt klarkam.
Wir beide sind aber auch so unterschiedlich. Er ist offen, herzlich, kommunikativ, liebt es wahrscheinlich unter Leuten zu sein, ist intelligent, interessiert und gebildet.
Und was bin ich? Keine Ahnung, aber ich fürchte, nichts davon. Ich bin nur hellhäutig und muss in diesem Land wahrscheinlich auch sonst gar nichts anderes sein, um begehrenswert zu sein.