Zwei Hurensöhne - Helmut Wichlatz - E-Book

Zwei Hurensöhne E-Book

Helmut Wichlatz

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Beschreibung

Die Geschichte vom Joker und Askim Zwei Männer, die sich bis aufs Blut hassen. Sie sind Herzensfeinde. Doch sie verbindet mehr als ihr gegenseitiger Hass. Denn der Joker und Askim sind Menschen, die man nicht gerne zweimal trifft. Sie sind durch alte Schuld aneinander gekettet. Joker ist eine scharfe Handgranate in den Händen eines Irren, immer kurz vor dem Explodieren. Askim scheint unsterblich. Dabei ist seine Zeit längst abgelaufen. Doch es geht um nicht weniger als die Zukunft in einem Land, das aus dem Fugen geraten ist. Der Fall, an dem Kommissar Becker zu scheitern droht? Nach "Mordsclique" (2015) der zweite Fall von Kommissar Becker.

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Inhaltsverzeichnis

Vor/Nachspiel

Erster Akt: Jokers großes Spiel

Zwischenspiel: Scheiße passiert

Zwischenspiel 2: Zwei Prachtexemplare

Zwischenspiel 3: Askim erzählt

Zweiter Akt: Jokers Rückkehr

Zwischenspiel 4: Askim erzählt weiter

Dritter Akt: Der Joker verreist

Zwischenspiel 5: Askim erzählt noch mehr

Vierter Akt: Hausmann macht frischen Eiersalat

Fünfter Akt: Angebot und Nachfrage

Sechster Akt: Joker ist wieder da

Siebter Akt: Es spitzt sich zu

Achter Akt: Merkur wird erschossen

Neunter Akt: Becker ermittelt

Zehnter Akt: Falsche Freunde

Elfter Akt: Unter neuem Namen

Zwölfter Akt: Ungebremst und grundlos

Dreizehnter Akt: Grande Finale

Vor/Nachspiel

Becker sprang aus dem Wagen noch bevor Hausmann ihn zum Stehen gebracht hatte. Der Kies knirschte explosionsartig und schlug gegen den Wagen. Das zuckende Blaulicht gab der Szene etwas Unwirkliches. Becker spurtete los, vor ihm ragte das Hinterteil eines Lastwagens aus der Hauswand. Er hatte ein gewaltiges Loch in die Mauer gebrochen und steckte nun darin fest wie ein fetter Käfer. Die Nachbarn hatten zuerst den Unfall, dann Schreie und Schüsse gemeldet. Die Kollegen waren alarmiert und würden bald eintreffen. Becker und Hausmann hatten den Laster zuerst verfolgt, doch dann an einer Ampel verloren. Sich von einem Scheißlaster abhängen lassen, das kann doch nicht wahr sein! Hausmann hatte zurückgeschrien, doch was bringt das? Bevor sie den Wagen über die befahrene Kreuzung gebracht hatte, war der Laster längst um die Ecke verschwunden.

Egal, jetzt wusste er ja, wo er steckte. Es war nicht zu übersehen. Die Laterne warf ein kaltes Licht auf das Hinterteil des Eindringlings, das von blauen Zuckungen unterbrochen wurde.

Er hörte, wie Hausmann hinter ihm die Wagentür zuwarf und sich näherte.

„Geh vor, ich gebe dir Deckung“, rief sie und tauchte in geduckter Haltung neben ihm auf. Er warf ihr einen Blick zu und nickte. Langsam näherte er sich dem Lastwagen.

„Was ist denn da los? Soll ich die Polizei rufen“, hörte er auf einmal eine laute Männerstimme.

„Nicht nötig, wir sind die Polizei“, antwortete Hausmann.

„Deshalb die Lampe aufm Dach, wa?“, schloss er Mann messerscharf. Ja, aber dann ...“, setzte er noch einmal an.

„Hau ab, Mann!“, schrie Becker, der sich umgedreht hatte und nun aufrecht und ohne jede Deckung vor dem Haus stand. „Hast du was am Kopf oder verstehst du nicht, wenn man dir was sagt? Haut alle ab! Sofort ab ins Bett und Schnauze halten!“ Sein Blick wanderte zu den Gestalten in Morgenmänteln und Jogginganzügen, die einige Meter entfernt da standen und von denen sich tatsächlich einige langsam in Bewegung setzten. In die andere Richtung, wie er erleichtert feststellte. Sein Blick traf Hausmann, die bis auf wenige Meter herangekommen war, gerade genug, um gezielt schießen zu können und trotzdem den ganzen Bereich der Hausfront im Blick hatte. Beide nickten und Becker drehte sich wieder um. Er spürte sein Herz bis in die Stirn schlagen. Der Laster hatte sich eng ins Haus gebohrt. Da war kein Durchkommen. Er lief weiter zur Tür. Offen! Seitenwechsel, Waffe im Anschlag, schussbereit. Blick hinein. In der Tür lag ein junger Mann, dessen Rücken aussah, als ob jemand darauf einen reifen Kürbis zerschlagen hätte. Der hat eine richtige Ladung abbekommen, dachte Becker und stieg vorsichtig über den Toten. Dass der tot war, stand für Becker außer Frage. Da erübrigte sich der prüfende Griff an die Halsschlagader.

„Bin drinnen“, rief er nach hinten und sah sich um.

Rechts ging es ab zu dem Raum, in dem er auch das ramponierte Vorderteil des Lasters sehen konnte. Die Reifen standen auf den Resten eines Sessels, unter dem Fahrerhaus ragten zwei Füße hervor. An einem steckte noch ein abgewetzter Hausschuh. Dahinter sah er einen Torso, der halb unter dem Vorderrad des Lasters herausragte. Der Kopf musste dort gewesen sein, wo jetzt das Rad stand. Drei ausgeschaltet, dachte er und zuckte zusammen, als Hausmann neben ihm erschien.

„Drei ausgeschaltet“, sagte sie sachlich und bewegte sich nach links. Becker schlüpfte in den Raum rechts.

Sein Blick raste von einer Ecke zur anderen. Niemand da, bis auf einen weiteren Toten, der in der Ecke an der Wand lehnte als sei er dort eingeschlafen. „Gesichert“, sagte er halblaut und schlich weiter. Vier! Oh Mann, das kann heiter werden, dachte er. Hinter der nächsten Tür erwartete ihn die Küche, diesmal ohne Tote. Es roch nach abgestandenem Essen. Ein Stuhl lag umgestürzt neben dem Küchentisch, auf dem sich benutzte Teller stapelten. Vom Geruch musste Becker ein wenig würgen. Aber wenigstens keine Toten.

„Hier im Schlafzimmer liegt einer“, meldete sich Hausmann durch den Flur. „Tot!“

Er wechselte in den Flur. Hausmann kam ihm entgegen, kreidebleich. Noch zwei Räume zwischen ihnen.

Becker erreichte den ersten Raum und sah drei Leichen, die grotesk übereinanderlagen, als seien sie lebend hier hineingestolpert und auf engstem Raum erschossen worden. Acht!

„Acht verdammte Leichen“, sagte er, als er wieder im Flur stand und sich gegen die Wand lehnte.

„Neun“, sagte Hausmann, als sie neben dem letzten Raum stand. Sie schien mit ihrem Mageninhalt zu kämpfen und zeigte auf den Boden neben ihm. Er drehte sich und schaute in den leeren Blick einer Frau, die an die Wand gelehnt dort saß. Ihre Stirn zierte ein großes Eintrittsloch. Der Hinterkopf fehlte zu weiten Teilen.

„Boah, Scheiße“, entfuhr es Becker. Er folgte der Blutspur an der Wand und befühlte seine Schulter.

„Verdammt, alles voll. Jette bringt mich um. Die neue Jacke …“

Hausmann würgte. Der Döner vom Mittag war auf dem Weg hinaus, und zwar auf demselben Weg, den es auch hineingenommen hatte. Sie konnte einem leidtun. Leichen waren eben gar nicht ihr Ding.

Er drängte sich an ihr vorbei in das Zimmer, ein Schlafzimmer. Auf dem Bett lag ein Mann mit dem Gesicht nach unten. Er trug eine grüne Bomberjacke, wie sie früher die Rechten getragen hatten. Sein Rücken war blutverschmiert. Hinter dem Bett lag ein weiterer Mann, offenbar Südländer, seitlich zwischen Heizkörper und Bettkasten in einer riesigen Lache.

Das Fenster stand offen, die Gardinen wehten sanft wie Engelsflügel. Durch das Fenster müssen die Schützen entkommen sein. Becker beugte sich über den Toten am Boden und schaute hinaus. Im Dunkeln konnte er die Konturen eines Schuppens und Stangen sehen, an denen man bei Tageslicht wahrscheinlich Wäscheleinen sehen würde. Er fragte sich, ob jemand, der eben ein Blutbad angerichtet hat, wirklich daran denkt, dass im Dunkeln irgendwo in Kopfhöhe gespannte Wäscheleinen auf seinen Hals und Kehlkopf warten, wenn er sich davonmacht. Seltsam. Er hörte ein Würgen im Flur. Hausmann. Jetzt hatte sich der Döner in Bewegung gesetzt.

„Komm erstmal hier raus“, beschloss Becker resolut, sicherte und verstaute seine Pistole und packte seine Kollegin am Arm „Wir können auch draußen auf die Kollegen warten. Die frische Luft wird uns guttun.“

Hier konnten sie sowieso keinem mehr helfen. Und wenn, dann würde zumindest er es sich zweimal überlegen. Schließlich waren die Melnikows eine durch und durch kriminelle und rücksichtslose Bande. Ursprünglich aus Weißrussland oder Tschetschenien. So genau wollten sie sich nicht festlegen. Im Rahmen einer der letzten Flüchtlingswellen waren sie hier im Landkreis angespült worden und hatten sich sofort aufgemacht, ihr Territorium zu erobern. Zuerst hatten sie sich durch Schrotthandel einen Namen gemacht, wobei sie zumeist mit geklauten Kabelrollen oder anderen hochwertigen Metallen handelten. Dann waren Zuhälterei und Drogen dazugekommen. Von den rund 15 angeblichen Kindern, Neffen und anderen Anverwandten saßen immer ein paar im Knast und trotzdem wurden es stetig mehr. Längst wusste man nicht mehr, wer wirklich zu denen gehört oder wer sich nur in ihrem Fahrwasser aufhält. Für die chronisch unterbesetzte Polizei im Kreis Heinsberg waren sie längst zu einem ernsthaften Pro-blem geworden.

Und für die bis dahin in bestimmten Gegenden etablierten Gruppen, allen voran die Türken. Die hatten ordentlich bluten müssen. Allein in den letzten drei Jahren waren fünf oder sechs von denen auf sehr brutale Weise ausgeschaltet worden. Die bisherige Szene befand sich in der Auflösung und man wartete darauf, dass die Melnikows alles übernehmen. Damit war jetzt nicht mehr zu rechnen, wie es aussah. Von denen weinte er keinem auch nur eine Träne nach. Schade nur, dass ihm diese beiden Amokläufer durch die Lappen gegangen waren. Egal, die würde er später erwischen.

Neben ihm erbrach Hausmann ihren Mageninhalt auf ihre und leider auch seine Füße.

„Mensch, Mädchen, wir haben Zuschauer“, murmelte er und hielt sie stützend am Arm, während er hinüber schaute zu den Nachbarn, die sich angezogen hatten und nun warteten, wie es wohl weitergeht.

„Wat sensibel mit dem Magen, die Kleine, wa?“

Die Frage kam von dem Mann im Morgenmantel.

Becker wandte sich ihm zu und schaute ihn abschätzend an. Vor zwanzig Jahren wäre der ein harter Brocken gewesen, mit Muskeln von der harten Arbeit unter Tage und nicht zimperlich beim Austeilen von Kellen mit seinen großen Händen. „Sie waren nicht wirklich weg, als wir da drinnen waren, oder?“

„Nö.“

„Und wenn da drinnen geschossen worden wäre?“

„Wurde ja.“

„Da waren Sie auch schon hier?“

„Na klar. Seit die mit dem Laster da reingedonnert sind. Wird ja jeder von wach, von dem Radau. Wie soll ein anständiger Mensch denn da noch schlafen können, wa?“

„Und während da drinnen geballert wird stehen Sie hier rum und schauen sich das an.“

„Klar. Geht mich ja nix an, halt ich mich raus, kann mir nix passieren.“

„Haben Sie wenigstens die Polizei alarmiert?“

„Nö, wieso? Sie sind ja da.“

„Dachte ich mir.“

„Soll ich mal´n Aufgesetzten holen? Meine Frau schluckt dat Zeug schon seit Jahren wie Medizin, und die kotzt nie.“ Dabei deutete er auf Hausmann, die gebeugt im Vorgarten stand und würgte.

Dieser einleuchtenden Logik konnte sich Becker nicht entziehen, also bestellte er einmal „Antikotz“ für seine Kollegin und für sich einen extrastarken Kaffee, wenn´s geht mit Weinbrand. Zufrieden drehte sich der Nachbar um und zog ab. Durch diese Aufgabe war er sozusagen Teil der Ermittlungen geworden.

Hausmann hatte neben ihm fertiggewürgt, als Becker mehrere Martinshörner näherkommen hörte. Einen Augenblick später tauchte das Blaulicht der nahenden Einsatzwagen die an sich idyllische Szene vor dem Tatort in blau eingefärbte Hektik. Die Nachbarn wurden auseinandergetrieben und Flatterband gespannt.

Den Kaffee mit Schuss konnte er wohl vergessen. Na klasse, dachte er und freute sich schon auf den Rest dieser verdammten Nacht.

Die Kollegen verbreiteten Hektik, was an sich dem Umstand angemessen war, dass da drinnen etliche Leichen lagen. Nach einer Weile trat Mercks von der Spurensicherung auf Becker zu und steckte sich eine Zigarette in den Mundwinkel.

„Und was sagst du?“, begann er das Gespräch.

„Was soll ich sagen?“, antwortete Becker und wandte den Blick von seiner Kollegin ab, die etwas abseits anscheinend immer noch gegen ihre Übelkeit ankämpfte. „Wir haben da drinnen neun Tote und allem Anschein nach sind die Täter getürmt.“

„Sieben“, korrigierte ihn Mercks und nahm einen Zug an der Zigarette.

„Was sieben?“, erwiderte Becker irritiert.

„Na, wir haben da drinnen sieben Tote, nicht neun“, erklärte der bullige Mittfünfziger, nahm noch einen Zug und schnippte die Zigarette mit einem „Scheißzeug“ angewidert weit über das Flatterband auf die Straße.

Becker starrte ihn verwundert an. „Neun. Da liegen neun Tote in dem Haus, ich habe sie doch selbst gezählt.“

„Dann hast du dich verzählt, kann ja mal vorkommen“, erwiderte Mercks gleichgültig. „Da drinnen liegen sieben Kunden, nicht einer mehr oder weniger.

Kannst gerne nochmal nachzählen. Aber dann streif dir bitte Überzieher über die Schuhe.“

Auf dem Weg zum Haus listete Becker die Leichen in den Zimmern auf. Mercks trottete neben ihm her und strich sie jedes Mal für sich mit einem knappen „jepp“

ab.

„.. im hinteren Flur linker Raum, drei Leichen übereinander.“

„Jepp.“

“Dann die Frau im Flur.“

„Jepp.“

„Daneben im letzten Raum noch zwei …“

„Negativ.“

„Wie bitte?“ Becker blieb stehen und schaute seinen Kollegen entgeistert an. „Na klar, einer mit so `ner Bomberjacke, der lag auf dem Bett. Und neben dem Bett am Heizkörper noch so ein südländischer Typ. Es war zwar dunkel, aber so viel konnte ich erkennen.“

„Ich weiß nicht, wo du die gesehen haben willst, aber der Raum ist leer. Allerdings hat jemand reingepinkelt. Am Bett ist eine große Lache“, entgegnete Mercks und setzte sich wieder in Bewegung.

„Und latsch jetzt bitte nicht da rein. Du kannst nachher die ganzen Fotos haben, als Erster, versprochen.“

Das Fenster. Die Wäscheleine. Becker setzte sich in Bewegung ums Haus herum. Vielleicht waren seine beiden Leichen ja hinten rum verduftet. Ein Uniformierter kam ihm entgegen, bei dem er sich eine Taschenlampe lieh. Über uneben verlegte Bodenplatten ging es am Haus vorbei in den offenen Garten. Im Strahl der Lampe entdeckte Becker schnell die Wäscheleine vor dem Fenster. Vielleicht konnte die ja was über die beiden verschollenen Gewaltopfer erzählen.

„Was suchst du hier?“, hörte er Hausmanns Stimme hinter sich.

„Zwei unserer Toten“, lautete seine abwesende Antwort, denn er suchte schon mit dem Scheinwerfer den Boden rund um die Wäscheleine ab. „Laut Mercks haben wir nur sieben Tote da drinnen und nicht neun, wie wir gezählt haben.“

„Aha?“, sagte Hausmann und ihre Stimme klang irritiert. „Aber wir haben doch durchgezählt, bevor ich … naja.“ Sie brach den Gedanken ab und schaute ihn ernst an. „Ben, ich muss dir was sagen. Ich bin schwanger, weißt du?“

„Aha.“

„Aha?“

„Ja, und da wollte ich mal schauen, wohin sich die beiden anderen verdrückt haben. Sie können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben und bis neun zählen kann ich immer noch“, fuhr Becker abwesend fort und leuchtete auf den Boden. Da war die Auskunft. Unter der Leine auf dem Boden waren Rutschspuren. Da hatte sich einer beim Weglaufen verheddert. Und etwas verloren. Auf dem Boden glitzerte etwas im Schein der Taschenlampe.

„Sag mal, hast du eben gesagt, dass du schwanger bist?“, schoss es ihm auf einmal durch den Kopf und er drehte sich zu Hausmann um. Sie war nicht mehr da.

*

Die Kette mit dem Amulett lag in einer Plastiktüte auf dem Schreibtisch. Becker stellte die Tasse daneben ab und stand auf. Es handelte sich bei dem Kleinod um die „Hand der Fatima“, das hatte er mittlerweile dank Google und einer türkischstämmigen Kollegin herausbekommen. Der Anhän-ger hatte die Form einer Hand, in deren Mitte ein Auge eingearbeitet war. Ein Glücksbringer, der den Besitzer vor den Dämonen des Alltags beschützen sollte – und anscheinend vor tödlich herumfliegenden Pistolenkugeln. Mit seiner Geschichte von den beiden verschwundenen Leichen hatte Becker bei den Kollegen nur Hohn geerntet.

Niemand wollte ihm glauben. Vor allem nicht, weil er bisher in dem Fall eine ziemlich jämmerliche Figur abgegeben hatte.

Er wartete darauf, dass Köhler reinstürmt und ihm vor der versammelten Schar der Kollegen einen zwischen die Hörner gibt. Hausmann hatte auch nicht wirklich Partei für ihn ergriffen. Ihr war es peinlich genug, dass die Kollegen sie kotzend am Tatort angetroffen hatten. Becker nahm ihr nicht übel, dass sie sich im Hintergrund hielt und nicht darauf beharrte, wie viele Leichen sie in der Wohnung gezählt hatte. Sie hielt sich fern von ihm und er bekam die ganze Packung kollegialer Häme alleine ab. Er war froh, dass die blöden Bemerkungen ihn ablenkten und er einen Grund hatte, sich vor der Entschuldigung bei seiner Kollegin und dem unausweichlich folgenden Gespräch zu drücken. Er wusste ja, was sie sagen würde.

Dass er sie nicht als Kollegin akzeptiere und sie sich nicht ernstgenommen vorkomme, dass er sie durch sein Verhalten ausbremsen würde, dass sie ein gutes Team sein könnten, wenn er sich nur mehr öffnen und auch mal erzählen würde. Wovon sollte er erzählen? Dass er sie nicht als Kollegin wollte? Dass ihm Hermanns als Partner lieber gewesen war, der sich aber auf eine Stelle beim LKA beworben hatte? Dass er mit ihr ins Bett gehüpft war, aber nicht zusammenarbeiten wollte? Dass es ihm egal war, ob sie schwanger war und von wem? Schwer zu vermitteln.

Da sei ihm wohl die Düse gegangen, als er die vielen Toten gesehen hatte, hieß es. Und das sei ja auch normal für einen Provinzbullen wie ihn. Dabei hatte der Kommentar auch noch so geklungen, als ob wirkliches Verständnis mitschwang. Verständnis, so eine Scheiße! Er fühlte sich wie eine Lachnummer. Aber er war sicher: Es waren neun Leichen gewesen, nicht eine weniger. Und schon gar nicht zwei! Es war zum Verrücktwerden. Da hatten sie ihn richtig reingelegt.

Er war in eine Falle getappt, die nicht funktioniert hätte, wenn er sich an die Vorschriften für einen solchen Einsatz gehalten hätte. Natürlich hätte er für ausreichende Lichtverhältnisse sorgen und die angeblichen Leichen nach Vitalfunktionen überprüfen müssen. Verdammt, das wusste er selbst. Aber draußen auf dem Flur stand Hausmann neben einer Leiche und hätte zu kotzen begonnen, wenn er sie nicht an die frische Luft gebracht hätte. Und ihm war längst klar, wer die beiden Phantomleichen waren, die ihn nun zum Gespött der Kollegen machten. Die übelsten Kommentare waren von den Kollegen aus Aachen gekommen, die noch in derselben Nacht eingeschaltet worden waren. Sie hatten zum Besuch eines Psychologen geraten und sich dabei grinsend angeschaut, als sie von Beckers verschwundenen Leichen gehört hatten. Immerhin hatte man auf sein Geheiß hin bei Tagesanbruch hinter dem Haus nach verwertbaren Spuren gesucht, aber der nächtliche Regenguss und die Kollegen, die zuerst am Tatort waren, hatten ganze Arbeit geleistet.

„Hey Becker, draußen fliegen ein paar Leichen herum, sind das die, die du suchst?“ Becker schaute auf und in das Gesicht des Kollegen Meier, der seinen Kopf grinsend zur Tür herein gesteckt hatte, ihn aber schnell wieder zurückzog, als die Kaffeetasse gefolgt von einer flatternden Fahne dunkelbrauner Flüssigkeit auf ihn zugeschossen kam.

Diese Scheiße würde ihm noch eine Weile nachlaufen, da war er sich sicher. Dann steckte Köhler seinen Kopf durch die Tür.

„Wie sieht das denn hier aus?“, platzte es aus seinem Chef heraus. „Sorgen Sie dafür, dass das weggemacht wird und dann kommen Sie bitte mal in mein Büro, Herr Kollege Becker. Ich habe das nicht zu unterdrückende Verlangen, mich mit Ihnen und Ihrer Kollegin zu unterhalten.“

Auch das noch. Becker vergrub das Gesicht in beiden Händen und rieb es, um wieder ein wenig Farbe zu bekommen.

„Hey, Becker“, hörte er auf einmal Hausmanns Stimme. Er schaute auf und sah ihren Oberkörper halb hinter der Tür. „Ich wollte es dir selbst sagen, bevor der Alte es gleich tut.“

„Ja“, unterbrach er sie etwas genervt. „Was denn noch?“

„Ich höre auf.“

„Was?“ Er starrte sie fassungslos an. „Was tust du?“

„Das ist schon alles mit Köhler besprochen“, sagte sie ruhig. „Ich packe gleich meine Sachen in einen Karton und bin verschwunden.“

„Ja, aber …“, begann er fassungslos. „Wieso?“

„Weil du ein Arschloch bist, Becker“, antwortete sie ruhig. „Sogar ein Riesenarschloch. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben.“ Dann war ihr Oberkörper verschwunden und die Tür wurde ins Schloss gezogen.

Er starrte fassungslos auf die Tür, als ob sie ihm auch noch etwas mitzuteilen hätte.

„Weißt du, was du mich mal kannst? Du kannst mich am Arsch lecken, du blöde Kuh!“, platzte es aus ihm heraus. „Ich komme ohne dich sowieso besser klar!“

Das war gelogen und das wusste er.

„Hör mal, der redet wieder mit seinen unsichtbaren Leichen“, hörte er eine dumpfe Stimme auf dem Flur.

Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er stand auf. Köhler wartete in seinem Büro darauf, ihn zusammenscheißen zu können. Darauf wollte er ihn auf keinen Fall zu lange warten lassen.

*

Erster Akt Jokers großes Spiel

Joachim Jaguschek, genannt Joker, war klar, dass er es diesmal übertrieben hatte. Um ihn herum waren Kälte und Dunkelheit. Vor ihm lag die Millicher Halde. Er schmeckte das Blut im Mund und fühlte mit der Zunge an der Stelle entlang, wo bis vor ein paar Minuten noch sein rechter Schneidezahn und dessen linker Nachbar gesessen hatten. Sein linkes Auge war nahezu ganz zugeschwollen, sodass er den Weg kaum sehen konnte, auf dem er entlang gestoßen wurde.

Auch das Atmen fiel schwer durch die immer mehr zugeschwollene Nase. Bingo und Bongo hatten ganze Arbeit geleistet. Dabei hatte es am Anfang wirklich gut ausgesehen. Fünf Kilotüten mit Pulver, die oberste voll mit verschnittenem Speed. Aber von der Qualität her alle Male ausreichend, um die Paviane hinters Licht zu führen. Der Rest war Babypuder gemischt mit Scheuermittel. Damit es zuerst beißt. Es hätte klappen müssen, aber Askim, der misstrauische Sack, hatte zielsicher die unterste der fünf Tüten aus dem Rucksack hervorgekramt, ihn breit angegrinst, sie angeschnitten und seinen angefeuchteten Zeigefinger in das Pulver gestoßen. Bei dem Anblick und der Gewissheit, was folgen würde, hätte sich Joker am liebsten in die Hose gemacht. Askim hatte geschnupft, große Augen gemacht und mit einem Nicken seinen beiden Gorillas zu verstehen gegeben, dass es an der Zeit war, dem Joker die Grubenlampe auszupusten.

Das Grinsen war noch breiter geworden, fast zufrieden. Als ob er genau das getan hätte, was Askim von ihm erwartet hatte. Dann war alles sehr schnell gegangen.

Während er noch nachdachte, was er wohl sagen könnte, traf ihn der erste Schlag mitten ins Gesicht. Es folgte eine ganze Reihe von Schlägen, doch nach dem dritten in die Magengrube hatte sich der Joker erst einmal auf den Boden vor sich übergeben, bevor seine Beine unter ihm wegklappten. Sie hatten sich auf dem Parkplatz der Millicher Halde getroffen, um den Deal durchzuziehen. Der Ort war ideal geeignet, abseits der Straße und durch Bäume vor Blicken geschützt. Spät am Abend traf man dort niemanden an und man konnte schnell wieder verschwinden. Jetzt wusste er, was er nicht bedacht hatte: nämlich, dass man eben spät am Abend niemanden antrifft und schnell wieder verschwinden kann. Er kam sich vor, als ob er sich selbst ein Bein gestellt hätte. Und da war er wieder, der altbekannte Moment, in dem man merkt, dass man Scheiße gebaut hat und sich nichts sehnlicher wünscht, als die Zeit und Ereignisse zurückdrehen zu können bis zu einem bestimmten Punkt. Dem Punkt, an dem er Askim gestern vor der Shisha-Bar den diskreten Treffpunkt für ihr Geschäft selbst genannt hatte. Lass uns um zwei bei McDonalds einen Kaffee trinken und dabei alles Weitere regeln. Das hätte er sagen sollen. Wie zur Bestätigung bekam er einen halbherzig ausgeführten Tritt gegen die Rippen. Schüler-Kungfu. Eher symbolisch. Aber das würde sich ändern, sobald sie oben waren, da war er sich sicher.

Nach oben schleppen wollte ihn von den Clowns sicher keiner.

Die Idee, sich mit Askim und seinen Leuten einzulassen, war nicht seine beste gewesen. Vor allem nicht, weil er von Anfang an vorgehabt hatte, sie abzuziehen. 25 000 Euro hätte ihm die Nummer eingebracht.

Abzüglich der dreitausend, die er den Bikern in Roermond für die Tüte echten Stoffs schuldete, war es das wert gewesen. Er stolperte und wurde hochgezogen. Irgendwas geht immer, hämmerte er sich ein, während er weiter das erste Teilstück der Himmelleiter hochgeschubst wurde. Vor ihm Askim und sein Adjutant Hassan, hinter ihm Bingo und Bongo, die schon jetzt ihren Spaß hatten.

Die Millicher Halde war Stein und Schotter gewordene Bergbaugeschichte. Das, was die Kumpel im Laufe von nicht einmal 90 Jahren aus der Erde geschaufelt hatten, um an die begehrte Kohle zu kommen. Im Laufe der Jahre begrünt und bewaldet war die Halde nun auf dem Weg, ein Stück des touristischen und Naherholungsangebotes der Stadt Hückelhoven zu werden. Vom Parkplatz aus hatten sie den Anstieg über die Himmelstreppe begonnen. Ein viel zu schöner Name für das Metallgestell, das außen an der alten Abraumhalde hoch führte zur Aussichtsplattform, von der aus man bei gutem Wetter einen guten Blick ins Land hatte. Sogar das neue Stadion der Mönchengladbacher Borussia konnte man sehen.

Die ersten fünfzig Stufen auf dem Weg zur Aussichtsplattform lagen hinter ihnen. Sein verschwommener Blick schweifte über die Bäume und Büsche, die nun auf der Halde wuchsen und zur Fremde kaum noch erahnen ließen, dass es sich hier nur um den Abraum von weniger als einem Jahrhundert Bergbau handelte.

Die Halde war zu Zechenzeiten abgesperrt und ein weißer Fleck auf der Stadtkarte von Hückelhoven. Die Millicher hatten sich wüste Sachen erzählt, die die Bergbaubosse oben auf der Halde veranstalten würden und hatten das Gelände jahrelang als wilde Müllkippe genutzt. Ganze Wohnungseinrichtungen und zerlegte Autos waren hier entsorgt und irgendwann zu einem überwucherten Teil der künstlichen Landschaft geworden. Die holländischen Lumpenhändler hatten das Areal kurz nach der Freigabe für die Öffentlichkeit durchpflügt und manchen wertvollen Fund abtransportiert. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis man ihn finden und wie er dann aussehen würde. Sein Axe würde sicher nicht so lange reichen, obwohl er sich großzügig damit eingesprüht hatte, weil er vor Angst einen ganz sauren Körpergeruch abgesondert hatte. Oben auf der Halde würden sie ihn töten. Wie passend. Ihn, den ehemaligen Bergmann, der seine besten Jahre auf der Zeche und unter Tage verbracht hatte, würden sie auf dem Gipfel des Abraumberges töten, zu dessen Entstehen er, sein Großvater, sein Vater und seine beiden Onkel bestimmt einige Meter beigetragen hatten. Etwas wehmütig dachte er an seine Kindheit im Schatten der Fördertürme. Bergmann in dritter Generation hatte er werden wollen. Doch dann hatte die Zechenschließung den Plan vereitelt.

Vorher hatte er schon ein wenig Kontakt zur heimischen Unterwelt gepflegt. Doch ab dann war es schlagartig bergab gegangen. Ein wenig Dealen hier, ein paar Brüche dort, mal Schmuggel im Auftrag seiner Geldgeber. Er hatte eine ziemlich erbärmliche Karriere hingelegt – und sich dabei auch noch wie eine ganz große Nummer gefühlt. Klar, er war Anfang 30 gewesen, als sie ihn mit einer Abfindung auf die Straße gesetzt hatten. Und bereit zu allem. Schnell hatte er seinen Spitznamen weg: Joker. Wenn einer bekloppt genug ist, das zu machen, dann der Joker, hatten die schweren Jungs in den einschlägigen Kneipen gesagt und er hatte es auch noch als Kompliment empfunden. Bis er zum ersten Mal eingefahren war.

Nicht in den Stollen, aber in die JVA. 14 Monate wegen Einbruchs. Als er rauskam, war seine Frau Biggi mit Jessica und dem letzten Ersparten über alle Berge.

Egal, irgendwas geht immer, hatte er sich gesagt und seine Bemühungen, ein passabler Kleinkrimineller zu werden, noch intensiviert. Askim und seine halbseidene Truppe hatte er schon früher kennen gelernt. Und weil sie ihm vertrauten – so dachte er zumindest – waren sie die idealen Opfer, um ausgenommen zu werden. Das war wohl nichts. Und jetzt würden sie ihn oben fertigmachen. Hoffentlich würde es schnell gehen. Aber Askim war abartig genug, um seinen Spaß zu haben, wenn es ein wenig länger dauern würde. Und Bingo und Bongo waren brutal und bekloppt genug, um ihrem Chef sicherlich eine gute Show zu bieten.

Dabei kannte er diesen Askim schon, seit er ein kleiner Türkenjunge in Doveren gewesen war. Immer eine Rotznase, die Haare strubbelig und einen frechen Blick. Er hatte ihn früher ab und zu gesehen, wenn er Ali nach Hause gebracht hatte. Ali war Askims Vater und schon lange tot. Er konnte sich erinnern, dass er auf dem abgetretenen Rasen vor dem Mietshaus mit dem Kleinen Fußball gespielt hatte. Ali hatte Lammkoteletts auf den Grill geworfen und die Nachbarn hatten laut die Fenster zugeknallt. Schon wieder der Gestank nach Ziegenfleisch. Ali hatte gelacht und seine Frau hatte frischen Salat in einer großen Schüssel aus dem Haus getragen, bevor ihn der Gummiball mit dem Logo der Bergbaugewerkschaft an der Stirn traf. Er hatte den Jungen gesehen, der wie wild herumhüpfte und sich über seinen Schuss freute, und er hatte gelacht. Dann kamen der verdammte Tag im Herbst und das Unglück mit dem verdammten Förderkorb beim verdammten Schacht 3. Wer hätte auch ahnen können, dass die Blockiervorrichtung ausgerechnet in dem Moment ihren Geist aufgeben würde, als er den Aufzugshebel bediente, um die Kumpels hochzuholen. Das Gefühl würde er nie vergessen, als der Hebel klemmte und gleichzeitig der Luftzug des herunterstürzenden Förderkorbs ihn frontal traf. Auch Ali wurde frontal getroffen, jedoch vom Förderkorb.

War nicht viel von ihm übrig geblieben, als sie endlich den Korb weggeräumt hatten. Jeder in der Schicht hatte gewusst, dass es seine Aufgabe gewesen wäre, den verdammten Korb und seine Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Und er hatte es auch immer getan, bis auf dieses eine Mal. Dieses eine verdammte Mal, das Ali das Leben und seinem Kumpel Hacki den rechten Arm gekostet hatte. Der kleine Askim war damals gerade zehn, wenn überhaupt. Er hatte ihn nur noch einmal gesehen, bei der Trauerfeier für Ali. Den Blick, den der Kleine ihm zugeworfen hatte, hatte er zu vergessen gesucht. Und trotzdem war er jeden Tag wieder da gewesen. Dieser verdammte Blick. Er war selbst noch ein junger Kerl gewesen, gerade erst ein paar Jahre auf der Zeche beschäftigt. Und er hatte weitergelebt, sie hatten ihm ja nichts beweisen können, weil er das Wartungsprotokoll gefälscht hatte.

Dann hatte er ein paar Wochen auf Psyche krankgefeiert und dann so getan, als ob nicht passiert wäre.

Irgendwann wächst Gras selbst über die übelsten Schweinereien. Warum er für seinen großen Coup dann ausgerechnet Alis Sohn und dessen Jungs ausgesucht hatte, konnte er sich selbst nicht erklären. Sie hatten ihn magnetisch angezogen und er hatte nachgegeben. Er hatte sie umkreist und beobachtet, in den Shisha-Bars und Spielhallen. Umkreist und eingekreist, dann den Hals lang gemacht. Riesengeschäft.

Unverschnitten. Unschlagbar günstig. Was hatte ihn geritten? Wollte er die Alpträume loswerden, die ihn seit Alis Tod regelmäßig heimsuchten? Jetzt würde Askim auf jeden Fall das Versprechen einlösen, das der Blick des Jungen an der Hand seiner weinenden Mutter vor über 25 Jahren gegeben hatte. Und er selbst hatte sich zum Schafott geführt mit dieser selten blöden Idee. Schöne Scheiße, dachte er sich. Dann krachte es. Der Schlag riss den Joker aus seinen düsteren Betrachtungen. Er traf ihn an derselben Stelle, wo auch schon seine Vorgänger eingeschlagen waren. Der Schmerz wurde dadurch nicht weniger. Askim spazierte im feinen Zwirn vorneweg mit Hassan, als hätten sie mit denen, die ihnen da folgten, nichts zu tun.

Sie unterhielten sich entspannt, als seien sie auf einem Sonntagsspaziergang, wobei sie ihn und das, was sie ihm oben anzutun gedachten, völlig ignorierten.

Wie hatte Askim gesagt? „Du hast mich enttäuscht, weißt du. Du bist kein Freund mehr, weiß du? Du bist nicht einmal mehr ein Mensch. Du bist schon jetzt nur noch totes Fleisch, weißt du? Keiner bescheißt Askim, keiner!“ Zugegeben, sein Plan war von Anfang an nicht der sicherste. Aber vielleicht hatte ihn genau das gereizt. Und er hatte überreizt. Andererseits fragte er sich, wie aus dem süßen Jungen von damals so ein Arschloch werden konnte.

„Ey, trab voran, du Opfer. Musst ja nicht mehr viel gehen in dein´ Leben“, hörte er Bingo von hinten.

Oder war es Bongo? Die beiden sahen aus wie Affen, die demselben Wurf entstammten. Sogar die wuchtigen Bärte schienen, als stammten sie aus derselben Produktion. Wieso tragen diese Bekloppten eigentlich alle neuerdings diese hässlichen Oberschenkelbesen?, fragte er sich. Als ob das in seiner Situation wichtig sei. Dann der schon erwartete Schlag gegen seinen Hinterkopf. Er stürzte nach vorne auf die Treppenstufen und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen.

„Pass auf, Arschloch!“, knurrte Askim, der ihn nun doch bemerkte. „Wenn du meine Hose vollblutest, dauert es gleich nur noch länger, klar?!“ Damit war die Hoffnung auf ein schnelles Ableben schon gestorben. Askim war ein eitler Geselle, der davon ausging, dass sein Wort Gesetz war. Wenn er belustigt werden wollte, dann wurde er belustigt. Seine drei Kumpane versuchten, ihm in Nichts nachzustehen, auch nicht in modischen Dingen. Deshalb sahen sie auch aus wie Bilderbuch-Gangster aus dem Musikvideo. Die Jacken trugen große Abzeichen, die sicher irgendwelche asiatischen Worte darstellten.

Die Hückelhovener Kleinkriminellen, die etwas auf sich hielten, kauften in Roermond in einem Laden ein, der für diese lächerlichen Dinger ein Schweinegeld verlangte. Doch unter ihren geckenhaften Jacken hatten sie geladene Waffen. Er hatte nur einen von oben bis unten schmerzenden Körper und die Gewissheit, bis zum Hals in der Scheiße zu stecken. War es das, was er in Wirklichkeit gewollt hatte? Dass die Gestalten um Askim nicht ganz dicht waren, war bekannt.

Sie waren die einzigen, die allen Ernstes meinten, für ihre kleinen Geschäfte mit Waffen auflaufen zu müssen. Den anderen reichten Baseballschläger, Askims Jungs brauchten Ballermänner. So waren sie schnell zu auffälligen Nummern geworden, zumal sie auch gerne mit den Euros um sich warfen wie in Hiphop-Videos. Vielleicht war es das gewesen, was den Joker so an ihnen gereizt hatte. Neid.

Er rappelte sich auf und wurde sofort weitergeschubst.

Er wollte sich mit der Hand über den Mund wischen, doch sie war voller Dreck. Er rieb sich kleine Steinchen in die aufgeplatzte Unterlippe und spuckte aus.

Hassan pfiff eine türkische Melodie und schaute sich anerkennend nickend um. „Die Hückelhovener Alpen sind das, verstehst du?“, sagte er zu seinem Boss, der den Gag mit einem gegrunzten Lachen kommentierte.

Am liebsten hätte der Joker auch etwas dazu gesagt.

Warum nicht? Verscheißen konnte er es sich mit denen sowieso nicht mehr. Aber er verkniff es sich und wartete auf den nächsten Schlag von hinten.

Sie hatten das zweite Teilstück der Treppe gerade passiert und standen kurz nach Luft schnappend auf dem schmalen Landabsatz, bevor es weiterging. Dem Ende entgegen. Aber Irgendwas geht immer, hämmerte er sich ein und schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. Wartete er auf ein Wunder? Irgendwas geht immer. Irgendwas geht immer. Er zwang sich, sein Mantra herunterzubeten. Immer wieder. Glaubte er noch daran? Ja! Er glaubte daran, musste daran glauben. Wenn man sonst schon nichts mehr hat, dann glaubt man eben an irgendeinen Scheiß.

Schlag, Tritt, Wanken, Treppe steigen. Die letzte Choreografie seines Lebens.

Sein Ende hatte er sich ganz anders vorgestellt. Im Kreise seiner Familie, die um ihn trauern würde. Mit seiner Frau, der dreckigen Schlampe, die natürlich keine Schlampe wäre. Und seiner kleinen Jessika, die dann natürlich nicht mehr klein sein würde. Ein paar Enkel, gesichtslos, spielten in dieser Fantasie auch eine Rolle. Nun würde er keine Zeit mehr haben, ihnen Gesichter zu verleihen, an die er gerne denken würde. Da oben auf der Halde würde es Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis ihn jemand aus Zufall fand.

Einer der beiden Gorillas riss ihn erneut aus seinen Gedanken.

„Ey, Scheiße ey, guck dir die Scheiße an, ey!“ Seine vier Begleiter blieben stehen und auch er drehte sich automatisch um. Bongo stand da und schaute fassungslos an seinem rechten Bein herunter. Im Mondlicht konnte man dunkle Flecken auf der Hose erkennen. „Ist das Hundescheiße oder hat der mich vollgekotzt?“ Die drei wollten es mit eigenen Augen sehen.

Hassan machte einen Schritt an Joker vorbei und drückte ihn wie einen lästigen Passanten im Schlussverkauf zur Seite. „Zeig mal.“

„Ey, du bist mir ein Gangster“, begann Askim und folgte Hassan. „Ist das nicht scheißegal, was da an deiner Hose klebt? Wir wollen den da umlegen, klar?!“

„Der da“ war auf einmal hellwach. Jetzt oder nie. Er nahm alle Kraft zusammen und spurtete los. Die Treppe hoch. Er rammte mit der Schulter Hassan zur Seite, der gegen das Geländer knallte. „Ey, pass auf“, „Ey, bleib stehen!“ „Schieß doch, du Idiot!“, hörte er sie hinter sich. Dann setzte er zum Hechtsprung über das Treppengeländer an. Hinter sich hörte er Getrappel und türkische Wortfetzen. Gleichzeitig schlug seine Hüfte gegen das Metallgeländer. Er landete hart auf dem steinigen Boden, rappelte sich wieder auf und hechtete ins Gebüsch. Er sah Sterne. PLOPP, PLOPP machte es hinter ihm. Sie schossen. Das war Askims Luger mit Schalldämpfer. Er stürzte durch die dornigen Büsche und stolperte vorwärts. Dann ein lautes Krachen. Bongos Magnum! Neben ihm knickten Äste ab und Blätter standen für Sekundenbruchteile in der Luft. Treffer. Dann ein stechender Schmerz am linken Ohr. Keine Zeit für Schmerzen, weiterlaufen. Er fühlte nach dem Ohr, fand es aber nicht mehr. Weiterlaufen. Wieder Ploppen und Krachen, sie feuerten weiter.

Irgendwas geht immer! Jetzt muss dir was einfallen, dachte er. Dann stolperte er. Ein Reifen, mitten im Gebüsch! Er nahm ihn und schleuderte ihn verzweifelt in die Büsche den Hang herunter. Krachende und rutschende Geräusche, die nach unten flossen.

Die Aktion hatte Erfolg. „Der Sack will wieder runter, los!“, schrie Askim und seine beiden Gorillas trabten los, dem Krach des fallenden Reifens nach, während der Joker weiter nach oben lief. Irgendwas geht immer! Mit einem Blick über die Schulter erkannte er, dass sich auch Hassan in Bewegung gesetzt hatte.

Seine Chance. Jetzt bloß kühlen Kopf bewahren. Gebückt kroch er den steilen Hang hinauf bis zu einer etwas flacheren Stelle. Gleich bist du oben, dann hast du es geschafft, dann ….

… traf ihn ein Schlag auf die bereits schmerzende Nase. Er sah noch mehr Sterne fühlte nichts. Fiel.

„Du bist mir ja `ne Marke“, hörte er Askims Stimme.

Er war nicht auf den Trick reingefallen und weiter nach oben gelaufen. Scheiße! „Mann, die Leute haben Recht, mit dem, was die sagen“, begann Askim und seine Stimme klang beinahe freundlich. Er schaute mit gesenktem Kopf vor sich und kam langsam den Hang herunter. „Weißt du, was die sagen? Die sagen: Der Joker ist total plemplem.

Das sagen die. Du bist so ein Psycho, einer mit Flatterblick und vor Angst immer ganz eng am Körper klebenden Eiern, so einer bist du. Deshalb wirst du auch nie das ganz große Ding schaffen. Du wirst immer nur so ein bekloppter kleiner Automatenknacker bleiben, der- ..“ Askims Augen weiteten sich. Ungläubig schaute er zu Joker herunter, der das Ende einer Eisenstange in der Hand hielt. Das andere hatte er ohne nachzudenken wütend nach vorne gerammt, es steckte in Askims Bauch.

„Boah, Alter, du bist ja komplett bescheuert…“, murmelte Askim mit ungläubigem Blick und schaute an sich herunter. Auch der Joker konnte nicht fassen, was er da getan hatte. Askims Waffe fiel auf den Boden. Dann raffte er sich auf, drückte den Rücken durch. Er schaute irritiert auf seine blutigen Hände, mit denen er gerade versucht hatte, die Blutsuppe wegzuwischen, die an seinem Bauch herunter auf die Hose lief. Die schöne neue Hose. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper und er richtete sich langsam auf.

„Bruder, hilf mir! Ich hab das Schwein!“

Er grinste den Joker wieder dumpf an. „Mann, bist du – eine – Pf-Pf – Oh Scheiße“, murmelte er und sackte nach vorne auf den Joker zu. Der fing ihn notgedrungen ab. Askims Hand krallte sich in seine Schulter.

„Du bist wenigstens konsequent“, brachte er gepresst hervor. „Erst den alten Ali umbringen und dann noch seinen einzigen Sohn, Mann.“

„Das war ein Unfall, das weißt du“, verteidigte sich Joker. Wie bescheuert, dachte er gleichzeitig. Ich ramme dem Typen eine Eisenstange in den Wanst und rechtfertige mich für den Tod seines Vaters. Von unten hörte er Füße die Treppe hocheilen.

„Jetzt machen meine Jungs dich …. f-fer-tig“, presste Askim mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor. „Hast du eine …A-Ahnung, wie ich das Sch-Scheißding wieder rauskriege?“

„Das wird schon“, murmelte Joker und schaute sich um. Irgendwie musste er den siffenden und blutenden Askim loswerden. Denn wenn die von da unten wieder hier oben ankamen, hatte er ein größeres Problem als bisher.