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Lange Zeit galt als ausgemacht, dass der Zweifel schädlich für den Glauben, möglicherweise sogar eine Sünde sei. In letzter Zeit wird der Zweifel jedoch verstärkt positiv gesehen: Er sei wesentlich für einen reflektierten und toleranten Glauben, er könne sogar zum Wachstum des Glaubens führen. Offensichtlich ist in Sachen Zweifel etwas in Bewegung geraten und es lohnt sich, einmal genauer hinzuschauen: Wie kommt es zu diesen Veränderungen? Wie wurde und wird Zweifel verstanden? Ist nur ein zweifelnder Glaube tolerant? Und kann es heute überhaupt noch Glauben ohne Zweifel geben? Dabei wird in diesem Buch kein schlichtes Plädoyer "für" oder "gegen" den Zweifel gehalten, sondern zum eigenen Nachdenken eingeladen. Ein Buch für Glaubende, Nichtglaubende und solche, die an ihrem (Nicht-)Glauben zweifeln. Expertenwissen verständlich aufbereitet!
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Veronika Hoffmann
Ein -Buch aus der
© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2018
Alle Rechte vorbehalten
Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift,
vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe
© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
Gestaltung und Satz: wunderlichundweigand
Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Lípová 1965,
737 01 Český Těšín, Tschechische Republik
Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH,
Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart
www.caminobuch.de
ISBN 978-3-96157-074-4
eISBN 978-3-96157-975-4
Guter Zweifel? Böser Zweifel?
1. Warum »Glauben Sie an Gott?« manchmal die falsche Frage ist
»Noch glauben« und »nicht mehr glauben«?
»Säkular« oder »postsäkular«?
Ein »säkulares Zeitalter«
Eine »Kultur der Authentizität«
Ausblick
2. Alte Feinde und neue Freunde? Verhältnisbestimmungen von Glaube und Zweifel
Heilige als Glaubensvorbilder? Was Katharina von Alexandrien und Teresa von Kalkutta unterscheidet
Das Ideal der Glaubensgewissheit und die Sünde des Zweifels
Menschlicher Zweifel und gottgewirkte Anfechtung
Das unbedingte Ja, wenn Gott im Zweifel untergegangen ist
Glaube und Zweifel im »Konflikt der Interpretationen«
Lob des Zweifels
3. Und was sagt die Bibel? Biblische Miniaturen zu Glaube und Zweifel
Die Bibel befragen
Der »ungläubige Thomas« (Joh 20,24–29)
»Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?« (Mt 14,22–33)
»Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!« (Mk 9,14–27)
Hat Jesus gezweifelt?
Biblische Perspektiven
4. »Zweifel«? Das kann viel heißen
Zweifel als intellektuelle Auseinandersetzung
Zweifel als Misstrauen und Ungehorsam
Zweifel als Glaubensprüfung
Zweifel als Begrenztheit des Erkennens
Zweifel und Glaubensentwicklung
Zweifel und Selbstbestimmung im Glauben
Zweifel im Konflikt der Weltdeutungen
Und was ist jetzt Zweifel?
5. Macht ein »zu starker« Glaube intolerant? Macht Zweifel tolerant? Rückfragen zu scheinbar eindeutigen Zusammenhängen
Macht ein »zu starker« Glaube intolerant?
Gründe für religiöse Intoleranz
Religiöse Gründe für Toleranz
Wahrheit, Heil, Bedeutsamkeit
6. Glaubensgewissheit?
Glaubensgewissheit: verdächtigt und gesucht
Gewissheit: Heute (un)möglich?
Unbezweifelbare Erfahrung?
Gewissheit auf dem Weg
7. Mein Leben – mein Glaube – mein Zweifel
Narrative Identität
Identität und Glaube
Zweifel als Störung der Kohärenz
8. Im Zweifel glauben
Aus der Perspektive des Glaubens
Glaube, Zweifel, Gnade
Zweifel: eine kleine Diagnostik
Anmerkungen
Literatur
Der Zweifel lässt kaum jemanden kalt. Für die einen gehört er geradezu zu ihrem Lebensgefühl, zu ihrer intellektuellen Identität. »Man wird doch wohl noch fragen dürfen.« – »Ich mache mir meine eigenen Gedanken.« Den anderen geht er auf die Nerven: »Muss man immer alles hinterfragen, kritisieren, anzweifeln?« – »Brauche ich nicht gewisse Grundsicherheiten, auf die ich mich verlassen kann?« So erleben die einen den Zweifel als Bedrohung: Er zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg. Andere erleben ihn als Befreiung: zum Selberdenken, zur Beweglichkeit, zur Kreativität. Zweifel hat deshalb höchstens auf den ersten Blick etwas mit kühler Wissenschaftlichkeit zu tun, die kritisch prüft, um zu belastbaren Ergebnissen zu kommen. Er ist oft hoch emotional besetzt – vor allem, wenn es um religiösen Glauben geht.
Diese Frage, wie Zweifel zu verstehen und wie er zu bewerten ist, wird sich durch das ganze Buch ziehen. Ich will dabei nicht einfach eine Position verteidigen, auch wenn ich als Autorin natürlich eine habe. Ich möchte vielmehr die Leserinnen und Leser dazu einladen, über die eigene Position nachzudenken, und dazu Informationen und Hintergründe bieten.
Geschrieben ist das Buch aus der Perspektive einer katholischen Theologin und damit des christlichen Glaubens. Aber die grundlegenden Fragen können, so meine ich, auch für Leserinnen und Leser interessant sein, die etwas anderes oder nicht glauben. Zum einen kann man an allen Grundüberzeugungen zweifeln, nicht nur an einem religiösen Glauben. Zum anderen gehe ich davon aus, dass die Frage nach dem Zweifel auch deshalb so aktuell ist, weil alle unsere Überzeugungen heute in einer Welt vertreten werden müssen, in der keine von ihnen selbstverständlich ist. Insofern hoffe ich, dass auch Leserinnen und Leser, die sich nicht als christlich verstehen, Gewinn aus der Lektüre ziehen. Ich habe diesen weiteren Horizont immer wieder versucht, ausdrücklich mit zu formulieren. Manchmal würde der Text aber zu umständlich und zu mühsam zu lesen, wenn konsequent »glaubende und nichtglaubende Weltsichten« o.ä. genannt würden. Man möge es mir deshalb nachsehen, wenn manchmal vereinfachend nur von »Glauben« die Rede ist.
Damit sind wir bereits beim nächsten Problem: »Glaube« und »Zweifel« sind große Begriffe und einigermaßen unklare, wenn man genauer hinschaut. Darauf, was mit »Glaube« gemeint sein soll, werde ich im folgenden ersten Kapitel eingehen. Was »Zweifel« alles bedeuten kann, ist Thema des ganzen Buches. Aber es ist doch sinnvoll, hier eine erste Abgrenzung vorzunehmen, damit klar wird, worum es im Weiteren geht – und worum nicht.
Für eine erste Annäherung können wir die Definition eines philosophischen Wörterbuchs aufgreifen: Unter »Zweifel« versteht man gewöhnlich »den mentalen Zustand der Ungewissheit und den Akt des Infragestellens (Bezweifelns).«1 Aus dieser kurzen Definition ergeben sich zwei wichtige Folgerungen:
1. Manchmal wird im religiösen Zusammenhang »Zweifel« mehr oder weniger gleichbedeutend mit »Unglaube« verwendet. Das sind aber verschiedene Dinge – was man schon daran sieht, dass auch Nichtglaubende an ihrer Position zweifeln können. Es geht nicht um die Ablehnung einer Position, sondern um die Unsicherheit ihr gegenüber. Glaubende wie Nichtglaubende können sich unsicher sein und zweifeln oder absolut gewiss sein und deshalb nicht zweifeln.
2. Der Zweifel selbst ist keine Position, sondern eben ein »Akt des Infragestellens«. Ich möchte in diesem Buch Zweifel weniger als eine Haltung verstehen, sondern mehr als eine Bewegung: eine – denkerische, zumindest als Möglichkeit ins Auge gefasste – Bewegung von einer Position weg. Was das genauer bedeutet, zeigt sich bei der Weiterbestimmung des Begriffs, die ich vornehmen möchte, um das Thema handhabbarer zu machen. Drei mögliche Verständnisse bleiben dabei außen vor:
•der rein »methodische Zweifel«, bekannt geworden v.a. durch den Philosophen René Descartes. Descartes benutzt den Zweifel als denkerisches Instrument, um sichere Einsicht zu gewinnen: »Ich bezweifle alles und teste damit, was wirklich stabil gewiss ist.«
•Skepsis. Unter Skepsis versteht man, sehr vereinfacht gesprochen, eine erkenntnistheoretische, möglicherweise auch existenzielle Haltung, die sich kein Urteil erlaubt: »Ich weiß es nicht, weil man es nicht wissen kann.« Skepsis ist also keine Bewegung, sondern eine Haltung.
•bloße Unsicherheit. Alltagssprachlich bezeichnen wir mit »Zweifel« manchmal auch eine Unsicherheit, die aber auch keine Bewegung ist oder auslöst: »Ich bin mir nicht sicher, ob Lomé wirklich die Hauptstadt von Togo ist. Ich versuche aber auch nicht, es definitiv herauszufinden – möglicherweise, weil es für mich nicht besonders wichtig ist, hier Sicherheit zu gewinnen.«
Im Unterschied zu diesen drei Varianten von Zweifel werden wir den Blick auf die »Zweifelsbewegung« richten, die von einer (eigenen), fragwürdig gewordenen Grundposition wegführen will. Eine solche Grundposition kann, wie gesagt, eine glaubende wie auch eine nichtglaubende sein. Den Zweifel zeichnet dabei aus, dass noch unklar ist, wie es letztlich enden wird: Bleibe ich vielleicht doch bei meiner Position, kehre ich zu ihr zurück oder nehme ich eine neue ein? Es kann sein, dass es gerade diese neue Möglichkeit ist, die mich überhaupt zweifeln lässt: »Bisher habe ich selbstverständlich Fleisch gegessen, aber die Bilder von Massentierhaltung lassen mich zweifeln, ob das richtig ist. Sollte ich Vegetarierin werden?« Vielleicht stellt diese neue Möglichkeit auch weniger meine alte in Frage – diese ist eigentlich nicht schlechter als vorher. Aber die neue wäre vielleicht noch besser: »Ich war bisher politisch klar bei dieser Partei verankert, aber jetzt gibt es eine neue, deren Programm mir noch besser gefällt.« Es ist aber auch möglich, dass mir einfach nur meine jetzige Position zweifelhaft wird: »Das überzeugt mich nicht mehr«, ohne dass sich schon abzeichnete, welche neue Sicht an die Stelle der alten treten könnte.
Das Buch richtet den Fokus auf diese Bewegung des Zweifels selbst, nicht das, was bezweifelt wird (»Existiert Gott?«; »Ist Jesus wirklich von den Toten auferstanden?«). Zwar steht Zweifel nicht in sich, er ist immer Zweifel »an«. Aber es lohnt sich, einmal nicht das »an« in den Mittelpunkt zu rücken, sondern das Zweifeln selbst. Denn das wird im Unterschied zu vielen Büchern zu »Bezweifelbarem«, die es bereits gibt, erstaunlich selten gemacht. Es trägt außerdem dazu bei, dass die Überlegungen nicht auf religiösen Zweifel begrenzt gelesen werden müssen, denn man kann eben auch an jeder anderen Weltsicht zweifeln.
Wenn wir einen Moment spezifischer auf den Zweifel als Anfrage an den christlichen Glauben schauen, dann könnte man noch eine weitere Unterscheidung machen: zwischen Glauben als einer Überzeugung, die sich auf bestimmte Inhalte oder Aussagen bezieht, und Glauben als einer Beziehung des Vertrauens zu Gott. Diese Unterscheidung ist im Christentum wichtig und wir werden immer wieder darauf stoßen, dass Zweifel im Blick auf die eine oder andere Form des Glaubens verschieden aussieht. Aber es wird im Folgenden um beides gehen. Denn nicht nur betrifft der Zweifel beide Formen, sie sind auch in der Regel gar nicht scharf voneinander zu trennen, sondern greifen ineinander.
Eine letzte Abgrenzung ist hingegen wichtig: Zweifel ist etwas anderes als Indifferenz. Das eine ist die Frage, ob ich von etwas überzeugt bin, mir darin sicher oder ob ich es in Frage stelle. Etwas anderes ist, wie wichtig mir etwas ist: ob es zum Beispiel existenzielle Bedeutung für mich hat oder ob es mir im Gegenteil mehr oder weniger gleichgültig ist. Das heißt auch, dass Zweifel nicht dasselbe ist wie ein »schwacher Glaube«, oder allgemeiner gesprochen, eine »schwache Überzeugung«. Ich kann mir einer Position völlig sicher sein, ohne sie wichtig zu finden, und ich kann mit meinem Zweifel oder der Schwäche meines Glaubens ringen, weil dieser Glaube für mich von lebensentscheidender Bedeutung ist.
Wir haben also genau genommen drei Ebenen, die wir unterscheiden sollten: 1. den Inhalt meiner Überzeugung, die inhaltliche Ausrichtung meines Glaubens (»Ich glaube an den dreifaltigen Gott«); 2. die Gewissheit oder Zweifelhaftigkeit dieser Überzeugung (»Ich bin mir absolut sicher, dass Gott nicht existiert«, oder: »Ich habe Zweifel, ob Gott existiert«), 3. die Frage der persönlichen Bedeutsamkeit dieses Glaubens oder dieser Überzeugung (»Ich denke schon, dass es irgendein höheres Wesen gibt, aber es spielt für mich keine Rolle«). Zwischen diesen Ebenen gibt es wahrscheinlichere und unwahrscheinlichere Kombinationen. So ist es vermutlich wahrscheinlicher, dass für jemanden, der sich seiner Position sicher ist, diese auch bedeutsam ist. Aber das ist nicht zwingend. Ich kann auch in einer existenziellen Krise um meinen Glauben ringen, an dem ich zweifle, und die Krise rührt gerade daher, dass er mir so wichtig ist. Umgekehrt gerate ich vielleicht im Blick auf etwas, das für mein Leben keine Rolle spielt, gar nicht erst in Zweifel: Was nicht relevant ist, muss auch nicht angezweifelt werden.
Den Ausgangspunkt für dieses Buch bildete eine Beobachtung: Der Zweifel wird sehr verschieden verstanden und bewertet. Diese Unterschiede scheinen auch daher zu rühren, dass sich in den letzten Jahrzehnten etwas verschoben hat. Denn zumindest im Christentum gab es hier lange Zeit keine große Kontroverse. Es galt weitgehend als ausgemacht, dass der Zweifel schädlich für den Glauben, möglicherweise sogar Sünde sei. Vermutlich ließe sich zeigen, dass das die gesamte bisherige Christentumsgeschichte hindurch die Mehrheitsposition war. In jüngster Zeit finden sich dagegen zunehmend theologische und spirituelle Texte, die den Zweifel positiv werten, indem sie ihn als konstitutives Element oder notwendiges Korrektiv des Glaubens verstehen. Und auch in Gesprächen über religiösen Zweifel, die ich führe, lautet der Grundtenor häufig: Man solle sich bloß seiner Zweifel nicht schämen, das sei ja ganz normal, sogar etwas Gutes.
Zugleich haben Menschen, die so sprechen oder schreiben, nicht selten den Eindruck, dass sie gegen die allgemeine Meinung stehen. Sie halten ihre Sicht weiterhin für eine Minderheitenposition – was möglicherweise gar nicht mehr der Fall ist. Empirisch wäre ein solcher Nachweis zwar schwierig zu führen, und das Ergebnis hinge auch sehr davon ab, ob man z.B. deutsche Protestanten oder US-amerikanische Evangelikale befragt. Deshalb ist es auch wenig sinnvoll, eine »Globalperspektive« auf den religiösen Zweifel zu versuchen. (Darauf, warum eine solche Globalperspektive in Sachen Religion grundsätzlich nicht sinnvoll ist, wird das erste Kapitel gleich zurückkommen.) Das Buch richtet den Blick im Wesentlichen auf das europäische Christentum, v.a. im deutschsprachigen Raum. Aber auch wenn der statistische Nachweis wohl nicht zu führen ist, scheint mir in Sachen Zweifel sehr deutlich etwas in Bewegung geraten zu sein, sodass es sich lohnt, genauer hinzuschauen.
Dieses Buch ist kein wissenschaftliches Buch. Ich habe die Anmerkungen auf ein Minimum beschränkt und versucht, die Gedankengänge so zu formulieren, dass sie allgemeinverständlich sind. Das schließt manchmal notwendige Vereinfachungen ein. Für differenziertere Darstellungen und weiterführende Literatur verweise ich auf meine bisher veröffentlichten Arbeiten zum Thema.2
Ich habe in den letzten Jahren mit vielen Menschen über Zweifel und Glaube gesprochen. Diese Gespräche, vor allem das Interesse am Thema und manchmal die persönliche Betroffenheit, die mir entgegenkamen, haben zum Entstehen dieses Buches beigetragen. In besonderer Weise um den Text verdient gemacht haben sich aber zwei Menschen, denen deshalb mein ausdrücklicher Dank gebührt: Hans-Ulrich Weidemann, der aus exegetischer Sicht mit mir das Kapitel zum Zweifel in der Bibel diskutiert hat, und Britta Müller-Schauenburg CJ, die viel Zeit (die sie eigentlich gar nicht hatte) in eine akribische Lektüre des Gesamtmanuskripts investiert hat.
»Glauben Sie an Gott?« – Es gibt inzwischen ziemlich viele Umfragen, die diese und andere Fragen zu unserer religiösen Orientierung gestellt haben. Das religiöse Feld in Europa ist insgesamt religionssoziologisch gut ausgeleuchtet. Dabei scheint mindestens ein Ergebnis unbezweifelbar: Immer weniger Menschen glauben heute an Gott oder Göttliches oder bezeichnen sich in anderer Weise als religiös – die angebliche »Wiederkehr der Religion« hat daran bislang nichts geändert.3
Das gilt freilich in dieser einfachen Form nur für Westeuropa. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gelernt, dass Religion ein zu komplexes Feld ist, als dass man allzu pauschal angebliche »globale Trends« beobachten könnte – dazu gleich mehr. Zumindest in Europa scheint es aber so zu sein: Es gibt Menschen, die »noch« glauben oder sich als religiös verstehen. Und es gibt mehr und mehr Menschen, die es »nicht mehr« tun. Eine solche Rede von »noch« und »nicht mehr« lädt zu einer Bewertung ein, die freilich sehr verschieden ausfallen kann. Beispielsweise: Die »noch Glaubenden« sind die Beständigen, die an Bewährtem festhalten, gegen den Orientierungsverlust derer, die »nicht mehr« glauben. Oder aber: Die aufgeklärte Selbstbestimmung derer, die sich von einer überholten Religiosität emanzipiert haben, steht gegen eine rückwärtsgewandte Beharrung solcher, die an ihr festhalten.
In kirchlichen Kreisen herrscht nicht selten das deprimierte Gefühl: Früher waren die großen Mehrheiten bei uns, jetzt werden wir zur Minderheit. Das kann zur Selbstbeschuldigung führen: Wir machen etwas falsch, weil die Menschen nicht mehr zu uns kommen. Oder man beschuldigt andere: Die heutige Gesellschaft ist schlecht, weil sie den Wert des Glaubens nicht mehr erkennt.
Ich möchte behaupten, dass diese Umfragen und ihre instinktiven Wertungen uns ein wenig in die Irre führen. Das heißt natürlich nicht, dass die Zahlen nicht stimmten, die den Rückgang von religiösen Überzeugungen und Praktiken belegen. Sie stimmen, jedenfalls wenn man nach Westeuropa schaut. Meine Behauptung ist: Der Vergleich zwischen »früher« und »heute« (wobei noch zu klären ist, was »früher« genau heißen soll) funktioniert nur bedingt, weil »glauben« »heute« und »früher« nicht dasselbe bedeutet. Es geht nicht einfach um veränderte Zahlen. Die Veränderung ist tiefergehend und betrifft alle: die Glaubenden und die Nichtglaubenden – und die, die sich in dieser Unterscheidung gar nicht einordnen können.4 (Warum auch die Grundunterscheidung Glaubende – Nichtglaubende heute schwierig ist, wird im Lauf des Kapitels noch zur Sprache kommen.)
Wer heute glaubt, glaubt anders als die Jünger zur Zeit Jesu, anders als eine Bäuerin im Europa des 14. Jahrhunderts, anders als noch die Karmelitin Thérèse von Lisieux in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese Andersheit wird durch Fragen wie »Glauben Sie an Gott?« eher verdeckt. Denn das suggeriert, dass sich nur die einen verändert hätten: Sie sind weggegangen, beispielsweise aus der Kirche ausgetreten, haben ihren Glauben aufgegeben. Aber schon das ändert die Lage auch für die, die »noch glauben«. Für manche von ihnen ist es schwerer geworden zu glauben, weil das Umfeld dem Glauben nicht mehr so freundlich gesinnt ist. Andere hingegen mögen ihren Glauben mehr als ihren eigenen, ganz persönlichen, empfinden, weil er nicht mehr selbstverständlich von allen geteilt und sozial erwartet wird. Schon hier zeichnet sich ab, dass die Veränderung in Sachen Glauben nicht nur eine quantitative ist, sondern sich auch die Weise geändert hat, wie man glaubt – oder nicht glaubt.
Die These lautet also: In Sachen Religion hat sich etwas für alle verändert. Diese Veränderungen liegen gewissermaßen vor Fragen wie »Glauben Sie an Gott?« und werden von ihr deshalb nicht richtig erfasst. Man muss hinter die Frage zu diesen tiefer liegenden Veränderungen zurückgehen, zu den gemeinsamen Bedingungen, unter denen heute in der einen oder anderen Weise geglaubt oder nicht geglaubt wird. Das ist nicht ganz unkompliziert, wie sich im Folgenden zeigen wird. Aber es lohnt sich, nach diesen geänderten Bedingungen zu schauen, wenn man die heutige religiöse Landschaft verstehen will.
Wer von »geänderten Bedingungen« spricht, muss mindestens zweierlei erklären: Geändert im Vergleich zu wann? Wann also war dieses »Früher«? Und geändert in welcher Weise? Was unterscheidet »heute« von »früher«? Um das zu erläutern, greife ich auf Analysen des kanadischen Philosophen Charles Taylor zurück.5 Seine Überlegungen bilden den Hintergrund für alles Weitere in diesem Buch. Wir können hier allerdings nicht sein umfangreiches Werk in allen Aspekten betrachten. Ich werde nur zwei Stichworte herausgreifen: sein Verständnis unserer Gegenwart als eines »säkularen Zeitalters« und seine Beobachtung einer »Kultur der Authentizität.«
Nun drängt sich ein Verdacht auf. Ist es nicht Schönfärberei zu behaupten, die Veränderungen in der religiösen Landschaft seien nicht adäquat erfasst, wenn man schlicht von einem Rückgang von Religion spricht, sie lägen tiefer? Immerhin sprechen die Statistiken schon lange eine eindeutige Sprache: Die Zahl derer sinkt, die sich als religiös verstehen und das auch praktizieren. Sollte man das nicht einfach anerkennen? Wird hier nicht eine Umdeutung vorgenommen: Wenn die Statistiken gegen uns sind, dann erklären wir sie eben für nicht relevant? Das mag Balsam sein für Kirchenverantwortliche, die gegenüber Mitgliederschwund und Traditionsabbruch bisher weitgehend hilflos sind. Aber ist das nicht Realitätsverweigerung? Unsere Gesellschaft ist, so scheint es, eindeutig eine säkulare, die immer noch säkularer wird.
Man kann aber auch umgekehrt fragen: Leben wir überhaupt in einer »säkularen Gesellschaft«? Das ist durchaus nicht unumstritten. So hat der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001 von einer »postsäkularen Gesellschaft« gesprochen.6 Das sei »von der deutschen Öffentlichkeit einhellig als Sensation wahrgenommen«7 worden, vermerkt dazu der Soziologe Hans Joas. Das Sensationelle rührt daher, dass Habermas nicht nur sich selbst bis dahin immer als »religiös unmusikalisch« bezeichnet hat. Er sah auch in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft keinen Ort mehr für Religion. Jetzt aber betrachtet Habermas unsere Gesellschaft als »postsäkular« und meint damit, dass sie sich »auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt«8. Religion werde also auch in den westlichen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts ein Faktor bleiben.
Die Basis für die frühere Annahme einer »säkularen Gesellschaft« bei Habermas und anderen war die klassische sogenannte »Säkularisierungstheorie«. Diese These war lange Zeit gesellschaftliches Allgemeingut. Im Kern lautet sie: Je moderner eine Gesellschaft wird und je aufgeklärter ihre Mitglieder sind, desto geringer wird die Bedeutung von Religion, bis sie schließlich nur noch in Restbeständen existiert oder ganz verschwindet.9 Religion war früher wichtig, aber alle ihre Aufgaben werden heute von anderen Instanzen übernommen. Religion diente beispielsweise dazu, Phänomene zu erklären, die wir heute naturwissenschaftlich erklären. Sie stiftete gesellschaftlichen Zusammenhalt, aber spätestens seit den reformatorischen Spaltungen des Christentums in Europa war Religion auch Motor gesellschaftlicher Spaltung. Als gemeinsame Basis einer Gesellschaft kann sie heute nicht mehr fungieren. Religion gab und gibt Menschen moralische Orientierung, aber auch hier ist sie nicht unersetzlich. Man kann auch moralisch sein, ohne an Gott zu glauben. Sie spendet Trost im Leid und angesichts des Todes. Aber sollte man das Leid nicht besser bekämpfen, statt es einfach zu akzeptieren, und spricht es nicht sogar gegen die Existenz Gottes? Aus all dem ergab sich die scheinbar logische Folgerung: Religion und Moderne, Religion und naturwissenschaftliche Weltsicht, Religion und ein demokratischer, toleranter Staat passen nicht zusammen. Die gesellschaftliche Entwicklung wird deshalb dazu führen, dass Religion nach und nach aus dem öffentlichen und dann auch aus dem privaten Bereich verschwindet.
Das ist eine sehr vergröberte Darstellung der Säkularisierungsthese, aber in dieser grundsätzlichen Stoßrichtung war sie einige Jahrzehnte lang Standard in der religionssoziologischen Forschung. Außerhalb der Wissenschaft wird sie immer noch viel vertreten, aber unter Wissenschaftlern hat sie inzwischen massiv an Zustimmung verloren. Denn ein einliniger und zwingender Zusammenhang zwischen Prozessen der Modernisierung und abnehmender Religiosität lässt sich empirisch nicht nachweisen. Noch nicht einmal die Behauptung abnehmender Religiosität an sich, mit der das Kapitel begann, lässt sich erhärten, wenn man nicht nur auf Westeuropa schaut. Die Verhältnisse sind schlicht in verschiedenen Ländern mit ihrer je verschiedenen Geschichte, verschiedenen politischen Lage und verschiedenen religiösen Traditionen und Institutionen sehr verschieden. Joas fasst die neueren Forschungen so zusammen: »Trotz aller weiteren Verbreitung von Industrialisierung, Urbanisierung und Bildung in den letzten Jahrzehnten haben alle Weltreligionen in diesem Zeitraum ihre Vitalität erhalten oder gesteigert. Die wichtigen Ausnahmen sind bekannt: In einigen kommunistischen Ländern war die totalitäre Unterdrückung des religiösen Lebens erfolgreich, und die Folgen halten bis heute an; in weiten Teilen Westeuropas und einigen ex-kolonialen Siedlergesellschaften (wie Neuseeland und Argentinien) spielt sich spätestens seit den 1960er Jahren ein schleichender und nicht-erzwungener, langgezogener Abbau religiöser Bindungen ab. Aber es wäre eine gänzlich eurozentrische Perspektive, aus diesen Tatsachen auf einen globalen Trend zu schließen. Noch nicht einmal für alle Gesellschaften Europas träfe die Behauptung zu, sie scheiterte spektakulär am Fall der USA.«10
In den Augen von Joas und anderen ist die Säkularisierungsthese deshalb falsch. Religion ist, global gesehen, nicht im Rückgang begriffen, und es gilt auch nicht, dass ein Land umso säkularer wäre, je moderner es ist. Die Zusammenhänge sind viel komplexer. Wenn man von »postsäkular« spreche, könne das deshalb nicht eine veränderte Situation bezeichnen, sondern nur eine veränderte Einschätzung der Situation: »›Postsäkular‹ drückt dann nicht eine plötzliche Zunahme an Religiosität nach ihrer epochalen Abnahme aus – sondern eher einen Bewusstseinswandel derer, die sich berechtigt gefühlt hatten, die Religionen als moribund zu betrachten.«11 Wer wie Habermas von »postsäkular« spreche, fordert Joas, solle stattdessen besser zugeben, dass die Säkularisierungsthese eine religionssoziologische Fehldiagnose war.
Dass die klassische Säkularisierungsthese fragwürdig geworden ist, heißt aber nicht, dass wir in keinem Sinn in einem »säkularen Zeitalter« leben. Denn wir müssen auch fragen, was mit »Säkularität« überhaupt gemeint sein soll. Der Begriff kann sich nämlich auf sehr Verschiedenes beziehen. Das trägt dazu bei, dass die Debatte ziemlich unübersichtlich ist.12 Der kanadische Philosoph Charles Taylor unterscheidet drei Bedeutungen von »Säkularität«, wobei seine eigenen Überlegungen sich vorrangig auf die dritte Bedeutung beziehen.
Ein erstes Verständnis von Säkularität ist uns gerade schon begegnet: Häufig wird unter einer »säkularen Gesellschaft« eine verstanden, in der die Zahl der Menschen, die sich als religiös verstehen, im Rückgang begriffen ist. Gemäß Joas »Ausnahmen« sind v.a. Westeuropa und in besonderer Weise bekanntlich Ostdeutschland in diesem Sinn säkular.
Man kann »Säkularität« zweitens im Blick auf den Staat als einen »säkularen Staat« verstehen. So gibt es z.B. in Deutschland keine Staatsreligion. Und staatliche Schulen bieten zwar konfessionellen Religionsunterricht an, aber man muss an ihm nicht teilnehmen, es gibt Alternativen. Diese zweite Bedeutung von Säkularität hat mit der ersten nicht unbedingt etwas zu tun: Ein in der zweiten Bedeutung des Wortes säkularer Staat kann problemlos hochreligiöse Bürger haben, sodass dieser Staat in der ersten Bedeutung des Wortes nicht säkular wäre.
Wenn Taylor noch eine dritte Bedeutung von »Säkularität« einführt, tut er dies nicht in Konkurrenz zu den ersten beiden und meint damit auch nicht etwas völlig anderes. Es gibt durchaus Verbindungen zwischen den verschiedenen Begriffsverwendungen. Aber er will Zusammenhänge beschreiben, die mit den ersten beiden Bedeutungen noch nicht im Blick sind. Seine Begriffsverwendung ist etwas ungewöhnlich, weil »säkular« in diesem dritten Verständnis nicht einfach der Gegenbegriff zu »religiös« ist. Es bezieht sich vielmehr auf den gemeinsamen Rahmen, in dem sich heute alle Weltanschauungen bewegen, religiöse und nichtreligiöse. Dieser Rahmen ist heute »säkular« und war es früher nicht. »Säkularität« in der dritten Bedeutung des Wortes bezeichnet damit das von uns angezielte Gebiet »vor« der Frage »Glauben Sie an Gott?«. Die Entwicklung, die Taylor untersucht und die zu dieser dritten Bedeutung von Säkularität führt, beschreibt er in einem viel zitierten Passus in der Einleitung von Ein säkulares Zeitalter so:
»Der Wandel, den ich bestimmen und nachvollziehen möchte, ist ein Wandel, der von einer Gesellschaft, in der es praktisch unmöglich war, nicht an Gott zu glauben, zu einer Gesellschaft führt, in der dieser Glaube auch für besonders religiöse Menschen nur eine menschliche Möglichkeit neben anderen ist. Es mag mir zwar undenkbar vorkommen, den eigenen Glauben fallenzulassen, doch es gibt auch Menschen, zu denen vielleicht auch solche gehören, die mir überaus nahestehen, deren Lebensweise ich, wenn ich ganz aufrichtig bin, nicht einfach als verkommen, verblendet oder unwürdig abtun kann, obwohl diese Menschen keinen Glauben haben (jedenfalls keinen Glauben an Gott oder das Transzendente). Der Glaube an Gott ist heute keine unabdingbare Voraussetzung mehr. Es gibt Alternativen.«13
Wir werden gleich etwas genauer schauen, was Taylor mit diesem Wandel meint. Zuvor müssen wir jedoch noch einen kurzen Blick auf die verwendeten Begriffe werfen.
1. Taylor spricht von »believer« und »unbeliever«, was in der deutschen Übersetzung zu »Gläubigen« und »Ungläubigen« wird.14 Mir scheint jedoch in der Rede von »Unglaube« oder »Ungläubigen« im Deutschen eine negative Wertung mitzuschwingen, die weder bei Taylor noch in diesem Buch gemeint ist. Der mögliche Alternativbegriff »Atheist« ist zu speziell: In der Regel versteht man unter einem Atheisten jemanden, der ausdrücklich die Existenz Gottes oder von Göttern leugnet. Ein »Ungläubiger« in Taylors Sinn kann aber z.B. auch jemand sein, der sich jeder Aussage über Gott oder Göttliches enthält. Deshalb wird hier der – zugegebenermaßen wenig elegante – Begriff des »Nichtglaubens« und des »Nichtglaubenden« gewählt.
2. Die Frage der Begriffe führt zu einer zweiten, schwierigeren: Was ist gemeint, wenn von »Religion« die Rede ist, was unterscheidet einen »Glaubenden« von einem »Nichtglaubenden«? Taylor hat nicht vorrangig explizite Glaubensbekenntnisse im Blick. Es geht ihm nicht um Glauben und Nichtglauben als konkurrierende Weltanschauungen, um Sammlungen von inhaltlichen Überzeugungen. Es geht ihm darum, wie Menschen ihre Erlebnisse ordnen, wie sie ihre Erfahrungen deuten und dadurch ihr Leben begreifen.
Vor der Unterscheidung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden steht zunächst ihre Gemeinsamkeit. Wir alle orientieren uns, so ist Taylor überzeugt, an Zielen, Vorstellungen, Erfahrungen, die sich mit dem Begriff der »Fülle« charakterisieren lassen. Jede Vorstellung vom menschlichen Leben trägt in sich ein Bild, »aus dessen Perspektive dieses Leben gut, unversehrt, richtig und angemessen erscheint.«15 Erfahrungen solcher Fülle können unspektakulär, aber doch von höchster Bedeutsamkeit sein, beispielsweise als innere Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein, das »richtige Leben zu leben«. Sie können auch einschneidend und überwältigend sein, z.B. als Erlebnis des Einsseins mit der Natur oder in einer ekstatischen Gotteserfahrung. In jedem Fall tragen solche Erfahrungen der Fülle wie auch ihr schmerzliches Fehlen dazu bei, »unserem Leben eine Richtung zu geben«16.
Was Glaubende und Nichtglaubende unterscheidet, ist wesentlich das Verständnis dieser Fülle und die Weise, wie sie erfahren wird. Noch einmal: Das meint nicht Inhalte, »an« die man glaubt oder nicht glaubt, sondern die Weise, wie man die Welt, sich selbst und die eigenen Erfahrungen versteht. Ausdrückliche »Glaubensinhalte« spielen natürlich eine Rolle, sie sind die Mittel, mit denen ich meine Welterfahrung lese. Aber sie liegen auf einer zweiten Ebene. Und es ist möglich, dass das Bekenntnis auf der Ebene des Bewusstseins und die tatsächliche eigene Welterfahrung auseinanderklaffen, dass z.B. jemand zwar ein ausdrückliches religiöses Bekenntnis spricht, es aber keinerlei Bedeutung für sein Streben nach der »Fülle« hat, keine Auswirkungen darauf, wie er sich und die Welt versteht. Für unsere aktuelle Suche nach dem Unterschied zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden ist wichtig: Der Unterschied liegt in der Frage, ob das jeweilige Welt- und Selbstverständnis einen Transzendenzbezug einschließt, das heißt: über rein innerweltliche Zusammenhänge hinausführt. Das kann in verschiedenen Formen geschehen: als Glaube an Gott oder an Götter, aber auch allgemeiner als Annahme einer »höheren« Wirklichkeit oder einer Tiefendimension der Welt. Eine nichtglaubende Perspektive wäre demgegenüber eine, die ganz in der Immanenz verbleibt: Diese konkrete Wirklichkeit ist die ganze Wirklichkeit, sie hat keinen Ursprung, kein Ziel, keine Dimension von Fülle, die über sie hinausreichen. Der Ort, um nach der Fülle zu suchen, ist dann ganz »im Inneren«: des Menschen, seines Lebens und seiner Welt.
Die Unterscheidung zwischen einem rein immanenten Verständnis der Welt, bei dem auch die Fülle menschlichen Lebens in dieser Immanenz liegt, und einem solchen, wo all dem auch eine transzendente Dimension zugesprochen wird, ist für Taylor die Leitunterscheidung für die Frage, wann eine Haltung »religiös« ist. Wie allgemein verwendbar dieser Religionsbegriff ist, darüber lässt sich streiten.17 Taylor will auch keinen universalen Religionsbegriff vorlegen, sondern nur einen, der sich für den Rahmen seiner Fragestellung eignet. Denn wenn er die Entstehung unseres säkularen Zeitalters nachzeichnet, dann versteht er darunter eben dies: ein Zeitalter, in dem es nicht mehr selbstverständlich ist, dass der Ort der Fülle in einer »höheren Wirklichkeit« liegt. Säkularität ist der »Wandel in der Auffassung dessen, was in meiner Terminologie ›Fülle‹ heißt: ein Wandel von einer Situation, in der unsere höchsten spirituellen und moralischen Bestrebungen unvermeidlich auf Gott verweisen und, wie man sagen könnte, ohne Gott keinen Sinn haben, hin zu einer Situation, in der es möglich ist, diese Bestrebungen mit einer Unmenge verschiedener Quellen in Verbindung zu bringen, und in der sie oft auf Quellen bezogen werden, die die Existenz Gottes bestreiten.«18
Greifen wir damit den Faden der Fragestellung wieder auf: Wie und warum geschieht es, dass sich die Bedingungen des Glaubens verändern?
Stellen wir uns vor, wir könnten für eine Umfrage zum Thema »Glauben Sie an Gott?« eine Zeitreise in die Zeit Jesu machen, also in den Mittelmeerraum des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Wir fänden wohl niemanden, der auf unsere Frage schlicht mit »nein« antwortete. Wenn Jesus im Neuen Testament Glauben fordert, will er nicht Atheisten bekehren. Es geht nicht um einen Zweifel an Gottes Existenz, sondern vielmehr darum, sich mit dem ganzen Leben auf diesen Gott einzulassen. Damals und auch über weite Strecken unserer abendländlichen Geschichte, ist der Glaube an Gott, Götter oder Göttliches selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich ist, dass es Mächte gibt, die unser Leben beeinflussen, wie Gestirne, Dämonen oder Engel. »Atheisten« im einen oder anderen Sinn gibt es höchstens als philosophische Randerscheinungen. Wieder hängt natürlich viel davon ab, wie man die Begriffe bestimmt. Wenn man aber »Religion« im gerade skizzierten Sinn versteht, dann steht sie bis in die Neuzeit hinein so gut wie nicht in Frage. Es ist nicht vorstellbar, dass die Welt gewissermaßen »in sich geschlossen« ist, dass es in keiner Weise etwas gibt, das über sie hinausreicht, dass Grund, Ziel und Fülle menschlichen Lebens ganz im Innerweltlichen liegen oder zumindest verbleiben können.
Natürlich kann man auf alle möglichen Weisen glauben, insbesondere auch von den offiziellen Glaubensverständnissen abweichen und sich dem Vorwurf der Häresie oder Ketzerei aussetzen. Die Selbstverständlichkeit des Glaubens bedeutet auch nicht, dass sich alle Menschen im praktischen Leben unbedingt viel um ihn gekümmert hätten. Aber das ändert nichts daran, dass die Perspektive auf die Welt grundlegend eine war, die eine transzendente Dimension annahm. Eine religiöse Weltsicht war nicht eigentlich eine Deutung der Welt, sondern sie ging allen Deutungen immer schon voraus. Sie war der Rahmen, der nicht hinterfragt wurde.
Um einen etwas zugespitzten Vergleich zu ziehen: Eine solche Selbstverständlichkeit, die allen unseren Deutungen der Welt schon vorausliegt, dürfte heute die Annahme sein, dass es eine äußere Welt gibt, in der wir uns bewegen. Dass wir in Wirklichkeit nur Gehirne sind, die in einer Nährlösung schwimmen und auf irgendeinem Weg zur Illusion einer äußeren Realität angeregt werden, ist ein interessantes Gedankenspiel fürs Kino und für Philosophen. Aber wohl niemand geht auch nur für einen Moment tatsächlich davon aus, ein solches schwimmendes Gehirn zu sein.
Taylor nennt das den »Rahmen des Selbstverständlichen«: einen Rahmen, innerhalb dessen alle unsere Weltdeutungen stattfinden und über den wir in der Regel nicht noch einmal eigens reflektieren. Zu diesem Rahmen gehörte lange die Ansicht, dass es transzendente Kräfte gibt, die auf die Welt und auf uns einwirken. Die Ordnung der Schöpfung, die Ordnung der Gesellschaft, die Ordnung der Familie: Sie stammen in dieser Sicht alle von Gott. Politik und Religion sind gerade nicht getrennt wie im modernen säkularen Staat. Dementsprechend wirkt Gott in den militärischen Siegen und Niederlagen. Ebenso wirkt er im Leben des Einzelnen unmittelbar, er schickt Krankheiten, um zu strafen, er ist verantwortlich für das Wetter, das eine gute oder schlechte Ernte beschert. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ist nicht scharf gezogen, sondern beides ist miteinander verflochten. Engel stehen den Menschen hilfreich zur Seite, während man sich der Dämonen erwehren muss. Die verstorbenen Heiligen sind insbesondere in ihren Reliquien anwesend und schützen »ihre« Kirchen.
Die Darstellung macht hoffentlich bereits deutlich, dass nicht eine »gute alte Zeit« beschworen werden soll, in der »noch alle Menschen fromm« waren. Die Vorstellung beispielsweise eines »christlichen Mittelalters« im Sinn einer allgemeinen kirchentreuen Frömmigkeit ist historisch unhaltbar. Die Variationsbreite religiösen Lebens war immer enorm, und wenn man überhaupt eine Wertung vornehmen wollte, dann findet man im von uns betrachteten historischen und geokulturellen Raum nicht wenige Praktiken, die aus heutiger theologischer Sicht fragwürdig aussehen.
Wie kommt es jetzt zur Veränderung dieses selbstverständlichen Rahmens und damit nach und nach zur Entstehung des »säkularen Zeitalters«? Taylor schlägt in seinem Werk einen großen kultur- und geistesgeschichtlichen Bogen.19 Ihm folgend wäre hier zum Beispiel über Konfessionskriege und die Aufklärung zu sprechen, über neue politische Theorien, die aufkommende Geschichtswissenschaft und die ebenso aufkommenden Naturwissenschaften. Aus diesem großen Panorama sei hier nur eine Entwicklungslinie beispielhaft herausgegriffen: die der Trennung von Gott und Welt.
Die vorangegangene knappe Skizze hat bereits erkennen lassen, warum man mindestens im jüdisch-christlichen Kontext immer wieder darum gekämpft hat, dass in einer Welt, die so »durchlässig« ist für die Transzendenz, die Gottheit Gottes gewahrt bleibt. Gott mag sich der Welt zuwenden, in ihr antreffbar sein, sie erschaffen und erhalten. Aber er ist kein Teil der Welt. Salomo baut Gott zwar einen Tempel, aber zugleich betet er: »Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.« (1Kön 8,27) Deswegen sind gemäß dem Bilderverbot auch alle Kultbilder von Gott verboten: »Du sollst dir kein Kultbild machen und keine Gestalt von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.« (Ex 20,4). Denn Gott lässt sich nicht angemessen durch etwas Weltliches darstellen. Er lässt sich nicht in ein Bild, eine Statue fassen, sodass man ihn verorten, dingfest machen, seine Anwesenheit erzwingen könnte.
Der Kampf gegen eine solche Vermischung von Gott und Welt ist also zunächst ein durch und durch religiöses Anliegen. Aber in einer gewissen Ironie der Entwicklung, so sieht es Taylor, führt das etwa seit Beginn der Neuzeit zu einer immer schärferen Trennung von Gott und Welt, einer Trennung zwischen immanenter und transzendenter Dimension, und läuft damit dem ursprünglichen Ziel religiöser Vertiefung entgegen. Gott rückte immer weiter weg in seinen Himmel, die Erde gehörte allein den Menschen. Man ging zwar noch davon aus, dass Gott die Welt erschaffen und ihr eine Ordnung gegeben habe. Aber er griff in diese Ordnung nicht mehr ein, weder im Großen des Weltgeschehens und der Natur noch im Kleinen des persönlichen Lebens. Es genügte die menschliche Vernunft, um diese Ordnung zu erkennen und sie den menschlichen Zielen zu Nutze zu machen. Auch die moralische Ordnung setzte zwar noch lange einen Gott voraus, der nach dem Tod belohnt oder bestraft. Aber man brauchte keine Offenbarung mehr, um zu erkennen, was das moralisch Gute ist. Die Quellen moralischen Handelns lagen jetzt im Menschen selbst, sie mussten ihm nicht mehr gewissermaßen von außen erschlossen werden. Schließlich wurde auch die Idee, dass der Mensch zutiefst ein Sünder und der Gnade bedürftig sei, von der Überzeugung abgelöst, dass er vielmehr aus sich selbst heraus zu moralisch gutem Handeln und zur Erreichung seiner Bestimmung als Mensch in der Lage sei. Auf mehreren Ebenen findet also eine »Verschiebung nach innen« statt, in das Wesen des Menschen und seine Vernunft. Hinzu kommt, dass die Welt ganz und gar aus ihren eigenen Gesetzen erklärt wird. Sie ist nicht mehr ein von Gott wohlgeordneter und mit Sinn ausgestatteter Kosmos, sondern ein von Kausalgesetzen gesteuerter Mechanismus, den menschliche Vernunft ergründet und sich nutzbar macht.
Zum einen entdecken also Menschen in ihrer menschlichen Natur und in ihrer Vernunft die Prinzipien der Moral und die Ideale für ihr Leben. Zum anderen wird auch das Einwirken göttlicher Mächte im Kosmos unplausibel und Gott zu einer immer mehr verblassenden Ordnungsvorstellung im Hintergrund.20 Damit wird die Grenze zwischen der Welt und den Menschen einerseits und dem Bereich Gottes andererseits nach und nach undurchdringlich. Was aber unterscheidet letztlich einen Gott, der weit weg und so transzendent ist, dass er sich an der Welt und der Geschichte die Hände nicht schmutzig macht, den man auch zur Begründung moralischer und gesellschaftlicher Ordnung nicht braucht, von einem Gott, der nicht existiert? So führt diese Entwicklung dazu, dass sich zum ersten Mal eine Welt denken lässt, die ganz ohne Transzendenz auskommt.
Das ist, wie gesagt, nur ein Ausschnitt aus den komplexen Entwicklungen, denen Taylor nachgeht, um die großen Veränderungen auf dem Weg in ein »säkulares Zeitalter« deutlich zu machen. Und diese Entwicklung verlief nicht geradlinig. Aber jedenfalls kommt es nach und nach zur Veränderung des »selbstverständlichen Rahmens« aller Welt- und Selbstdeutungen. Dieser ist jetzt nicht mehr einer, in dem überweltliche Kräfte, z.B. das Wirken Gottes, immer schon mitgedacht wären. Die Annahme Gottes ist nicht mehr der Rahmen aller Deutungen, sondern selbst eine von mehreren möglichen Deutungen der Welt. Der umfassende »selbstverständliche Rahmen« ist jetzt ein weltimmanenter. Es ist durchaus weiterhin möglich, der Wirklichkeit auch eine transzendente Dimension zuzusprechen. Aber man kann die Welt auch ganz und gar aus sich selbst erklären und davon ausgehen, dass die Ziele des Menschen und die Quellen seines Handelns ganz in ihm selbst liegen. So entsteht zum ersten Mal nicht nur für einige wenige Philosophen, sondern für die breite Masse der Menschen die Möglichkeit des Nichtglaubens. Der Glaube wird von einer Selbstverständlichkeit zu einer Möglichkeit: einer Möglichkeit unter anderen, die Welt zu verstehen.
Für die Suche nach der »Fülle«, von der im Blick auf Taylors Religionsbegriff die Rede war, hat das entsprechende Folgen: Auch diese lässt sich jetzt denken, ohne dass Gott dabei im Spiel wäre. Dass Gott, das ewige Leben oder Ähnliches das Ziel menschlichen Lebens ist, ist nicht mehr von vornherein ausgemacht. Man kann weiterhin davon ausgehen, dass die Welt gewissermaßen »nach oben offen« ist, dass es einen Gott gibt, der sie gewollt hat, der in ihr wirkt und auf den das menschliche Leben und die Suche nach der Fülle dieses Lebens ausgerichtet ist. Aber man muss es nicht mehr.
Die Pointe der Entwicklung ist folglich nicht schon die Möglichkeit des Nichtglaubens an sich. Entscheidend ist zum einen, dass wir zumindest in Westeuropa heute in einem Kontext leben, in dem es zu jeder Deutung der Welt Alternativen gibt. Und mindestens einige dieser Alternativen sind möglicherweise Anfragen an die je eigene Deutung. Und zum anderen geht es nicht einfach um eine Ablehnung, um die Leugnung des Transzendenzbezugs – der Begriff »Nichtglaube« kann einen hier auf eine falsche Fährte führen. Noch einmal mit Blick auf die »Fülle« gesprochen: Entscheidend ist nicht, dass die transzendente Verortung der Fülle in Frage gestellt wird, sondern dass es eine Alternative gibt, die die menschliche Fülle ganz und gar in der Immanenz verortet.21
Bei einer reinen Alternative zwischen religiösem Glauben in seinen überkommenen Formen und einer strikt immanenten Deutung der Welt bleibt es jedoch nicht, sondern es entsteht ab etwa dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine Vielfalt von verschiedenen Gestalten des Glaubens wie des Nichtglaubens. »Es sieht so aus, als habe der ursprüngliche Dualismus – die Forderung nach einer tragfähigen humanistischen Alternative – eine Dynamik (…) in Gang gesetzt, der eine immer größere Vielfalt moralisch-spiritueller Optionen hervorgebracht hat, die den ganzen Bereich des Denkbaren und vielleicht noch mehr umfassen. Diese Phase dauert bis heute an.«22 Wir werden die Gründe für diese Pluralisierung im nächsten Abschnitt unter dem Stichwort »Authentizität« näher betrachten. Jedenfalls ist es zu einfach, nur von einer Alternative zwischen Glauben und Nichtglauben auszugehen. Eine religiöse Lesart der Welt wird jetzt nicht nur herausgefordert durch andere Lesarten der Welt, die »die Hypothese Gott nicht brauchen«, sondern auch durch andere religiöse