Zwergenfluch - Frank Rehfeld - E-Book

Zwergenfluch E-Book

Frank Rehfeld

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Beschreibung

Wenn Zwerge zu tief schürfen …

Der Auftakt einer monumentalen Abenteuer-Saga von überwältigender Bildgewalt.

Tief unter dem Schattengebirge erstrecken sich die gewaltigen, kunstvoll verzierten Hallen des Reichs Elan-Dhor über unzählige Kilometer, und noch immer treiben die Zwerge ihre Minen weiter in den Fels. Bis sie eines Tages in ein völlig neues, unbekanntes Höhlensystem vorstoßen – und damit eine Bedrohung entfesseln, der Elan-Dhor so gut wie nichts entgegenzusetzen hat. Barlok, einer der größten Krieger des Zwergenreichs, sieht nur noch eine Möglichkeit, sein Volk zu retten – er muss die verhassten, arroganten Elben um Hilfe bitten ...

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Inhaltsverzeichnis
 
Kapitel 1 - DIE GOLDADER
Kapitel 2 - DAS KOMPLOTT
 
Copyright
1
DIE GOLDADER
Sie waren tiefer in den Leib der Erde vorgedrungen als je zuvor, vielleicht sogar tiefer, als überhaupt ein Zwerg jemals seit Anbeginn der Zeiten geschürft hatte. Der Gedanke erfüllte Barlok mit Stolz, aber auch einem vagen Gefühl von Unbehagen. Natürlich wusste er, dass die Geschichten von den Tiefenbestien nur reine Erfindung waren, Schauermärchen wie die von den Erzfressern und viele andere, die nur dazu dienten, Kinder zu erschrecken und davon abzuhalten, in ungesicherten Stollen zu spielen. Aber dennoch - auch ihm hatte man diese Geschichten als Kind erzählt, und etwas davon klang immer noch in ihm nach.
Mit einem unwilligen Kopfschütteln verdrängte Barlok diese Gedanken. Wenn irgendjemand wusste, dass es im Inneren der Erde, selbst innerhalb der sich ständig ausdehnenden Grenzen von Elan-Dhor, eine Vielzahl von Gefahren gab, dann war er es. Aber dabei handelte es sich nicht um irgendwelche Märchengestalten, sondern um höchst reale Gegner wie Gnome, Schrate, Goblins und vereinzelt sogar Höhlentrolle, und er selbst hatte nicht unwesentlich dazu beigetragen, die von ihnen ausgehende Bedrohung abzuwehren.
Ungeduldig beobachtete er, wie Nuran, der Anführer des Schürftrupps, und ein weiterer Arbeiter die Stabilität eines nicht besonders sicher aussehenden Gangabschnitts weiter vorne überprüften. Sie bearbeiteten den Fels vorsichtig mit Hämmerchen, drückten gegen größere Felsbrocken und rüttelten an Vorsprüngen. Sand und feines Geröll rieselten herab, vereinzelt lösten sich auch kleine Gesteinsbrocken von der Decke oder aus den Wänden, doch der von Barlok befürchtete Einsturz blieb aus.
»Mir gefällt das nicht«, raunte Warlon ihm so leise zu, dass nur er ihn hören konnte. »Das Ganze stinkt geradezu nach einer Falle.«
Barlok warf ihm einen raschen Blick zu. Er kannte Warlon seit vielen Jahren, hatte ihn genau wie alle anderen Krieger der Schutzeskorte persönlich ausgebildet. Der rothaarige Zwerg aus dem Hause Korrilan war sein mit Abstand bester Schüler und hatte sich im Laufe der Jahre bis zu seinem Stellvertreter hochgedient und sich den Titel eines Kampfführers erworben. Ein Feigling war er ganz gewiss nicht. Im Gegenteil, manchmal war er sogar noch zu verwegen und draufgängerisch und musste in seine Schranken gewiesen werden; ein Tribut an sein noch ziemlich geringes Alter von hundertneunzehn Jahren.
Gerade diese Tatsache verlieh seinen Worten jedoch zusätzliches Gewicht, ganz davon abgesehen, dass er genau das ausgesprochen hatte, was auch Barlok selbst durch den Kopf ging, und niemand würde auch nur im Traum auf die Idee kommen, gerade ihm Ängstlichkeit oder gar Feigheit zu unterstellen. Immerhin galt er als einer der größten lebenden Helden seines Volkes.
Kaum aus der Akademie entlassen, hatte er bereits am Kampf um die Rubinadern in den Nordstollen teilgenommen. Knapp ein Jahrzehnt später hatte er geholfen, die Schreckensherrschaft des schwarzen Barg und seiner Bande von Höhlentrollen zu brechen. Nicht nur zum ruhmreichen Helden, sondern zu einer lebenden Legende war er schließlich durch den unter seinem Kommando erfochtenen Sieg über die vereinten Streitkräfte der Gnome und Goblins in der Schlacht bei den goldenen Hallen geworden, wodurch er sich auch den Titel eines Kriegsmeisters erworben hatte, den höchsten Titel, den die Kriegerkaste zu vergeben hatte.
Bei all diesen und noch vielen anderen Kämpfen hatte er keinen Moment gezögert, der Gefahr tapfer entgegenzutreten. Zahlreiche Narben am ganzen Körper, davon allein zwei im Gesicht, kündeten noch heute davon. Jetzt jedoch, als Begleitschutz bei der Erforschung eines Gebietes, in dem es keinerlei sichtbares Anzeichen für eine Bedrohung gab, spürte Barlok ein Unbehagen, das er sich selbst nicht erklären konnte. Es war ein Instinkt, der ihn warnte, und im Laufe seines mittlerweile mehr als zweihundertfünfzigjährigen Lebens hatte er gelernt, solche Gefühle nicht einfach zu ignorieren. Mehr als einmal hatten sie ihm bereits das Leben gerettet.
»Mir geht es nicht anders, und ich bin froh, wenn wir heil wieder zurück sind«, erwiderte er ebenso leise. Warlon war der Einzige, dem gegenüber er solche Gefühle der Schwäche zugeben konnte, ohne befürchten zu müssen, dass man sie bei der ersten passenden Gelegenheit gegen ihn verwendete. »Ich traue keinem Schrat, und erst recht nicht, wenn er mit Geschenken kommt oder vorgibt, wertvolle Informationen für uns zu haben. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir ihn mit einem so kräftigen Fußtritt davongejagt, dass er erst im finstersten Pfuhl der Unterwelt wieder zum Halten gekommen wäre.«
Auch das war eine gefährliche Bemerkung, wie er sie keinem anderen gegenüber so offen auszusprechen gewagt hätte, richtete sie sich doch indirekt gegen König Burian. Immerhin hatte dieser den Schrat, der am gestrigen Tag um eine Audienz gebeten hatte, nicht nur empfangen, sondern seinen Behauptungen, er hätte knapp einen Tagesmarsch von den untersten Minenabschnitten Elan-Dhors entfernt eine Goldader von kaum vorstellbarer Größe und Ergiebigkeit entdeckt, Glauben geschenkt. Genug Glauben jedenfalls, um diese Expedition in bislang noch gänzlich unerforschtes Tiefenland auszuschicken - eine Entscheidung, die Barlok einfach nicht verstand.
Schrate waren als verschlagen und heimtückisch berüchtigt; kleine Kreaturen mit winzigen Ärmchen und Beinchen und einer faltigen, fast wie Felsgestein aussehenden Haut. Anders als Gnome und Goblins oder gar das Zwergenvolk hatten sie niemals eine eigenständige Zivilisation aufgebaut, sondern hausten fast wie Tiere in dunklen Höhlen. Obwohl kein Krieg mit ihnen herrschte, waren sie immer wieder für Ärger gut, vor allem, weil sie hauptsächlich von dem lebten, was sie irgendwo stehlen konnten und deshalb immer wieder Diebeszüge bis ins Gebiet von Elan-Dhor hinein unternahmen.
Zusätzliche Nahrung erhielt Barloks Misstrauen durch die strikte Weigerung des Schrats, sie zu dem angeblichen Fund zu führen. Er hatte ihnen lediglich den Weg beschrieben und war selbst unter fadenscheinigen Ausreden in Elan-Dhor zurückgeblieben. Aber auch das hatte König Burian nicht von seinem Entschluss abbringen können - seine Gier war stärker als das Misstrauen gewesen.
»Für Schrate ist Gold völlig wertlos«, gab Warlon zu bedenken. »Aber sie wissen, welchen Wert es für uns hat. Insofern liegt es nahe, dass sie Informationen über eine entdeckte Ader gegen Lebensmittel und andere Sachen tauschen.«
»Genau damit hat der König seine Entscheidung auch begründet«, brummte Barlok. »Aber, verdammt, es handelt sich um einen Schrat, und diesen Missgeburten ist nicht zu trauen...«
Er verstummte, als Nuran sich ihnen näherte.
»Wenn wir ein paar Stützbalken einziehen könnten, wäre mir wohler, aber zumindest besteht keine akute Einsturzgefahr«, berichtete er. Nuran war ein ausgesprochen kleingewachsener Zwerg, gut einen halben Kopf kleiner als Barlok, und auch sein Bart war dünn und sah wenig beeindruckend aus. Dennoch bekleidete er als Erzmeister einen hohen Rang in der Arbeiterkaste, auch wenn er diesen in erster Linie seiner Zugehörigkeit zum angesehenen Haus Saloris zu verdanken hatte. Im Grunde war sein Rang sogar zu hoch, um an einer Expedition wie dieser teilzunehmen, aber die Aussicht, seinen Namen mit einem großen Goldfund zu verbinden - und vermutlich auch die Gelegenheit, Barloks Nerven nach Kräften zu strapazieren - hatte ihn so sehr gereizt, dass er sich freiwillig gemeldet hatte.
»Also gut, gehen wir weiter«, entschied Barlok gegen seine innere Überzeugung. Fast wäre es ihm lieber gewesen, wenn sich eine Durchquerung des Ganges als zu gefährlich erwiesen und sie zur Umkehr gezwungen hätte. Nichts hier war künstlich bearbeitet worden, es handelte sich nur um natürlich entstandene Risse im Fels, wie es sie aufgrund der Gesteinsstruktur überall unter dem Schattengebirge gab, die hier jedoch ein gewaltiges unterirdisches Labyrinth bildeten, das selbst im Laufe von Jahrtausenden erst zu einem kleinen Teil erforscht worden war. Diese Gegend, die noch jenseits des Tiefenmeeres lag, hatten erst wenige Zwerge überhaupt jemals betreten. Die Stollen verliefen in willkürlichen Windungen, und selbst die grobe Richtung, in die sie führten, ließ sich oft nur schwer abschätzen. Viele endeten einfach im Nichts, aber meist gab es zahlreiche Abzweigungen, die sie wiederum mit anderen Gängen verbanden.
Auch kam es oft vor, dass Stollen durch herabgebrochenes Gestein verschüttet waren, oder sie verengten sich so stark, dass ein Zwerg sie nicht mehr passieren konnte. Aus diesem Grund bestand ihr Trupp hauptsächlich aus Arbeitern, denen lediglich eine Eskorte aus fünf Kriegern zur Seite gestellt worden war. Die Aufgabe der zehn Arbeiter bestand zum einen darin, falls nötig den Weg freizuräumen - was ihnen im Falle eines Hinterhalts natürlich wenig nützen würde. Wenn es die Goldader wirklich gab, sollten die Arbeiter außerdem deren Größe, Reinheit und Ergiebigkeit schätzen und Proben des Fundes nehmen. Bislang jedoch hatte es für sie kaum etwas zu tun gegeben. Trotz der Beschreibungen des Schrats hatten sie nicht damit gerechnet, hier unten so überwiegend breite und sichere natürlich entstandene Gänge vorzufinden, sondern waren von wesentlich mehr Grabungsarbeiten ausgegangen, sonst wäre ihr Erkundungstrupp vermutlich kleiner ausgefallen. Barlok wünschte, es wäre so und er hätte keine oder nur wenige Arbeiter, dafür aber mehr Krieger bei sich. Dann bräuchte er weniger Rücksicht zu nehmen und sich vor allem nicht mit Nuran herumzuärgern, der noch nie einen Hehl aus seiner Verachtung für die Kaste der Krieger gemacht hatte.
Die Tonnen von Gestein über ihren Köpfen, die Barlok für gewöhnlich ein Gefühl von Sicherheit vermittelten, drückten schwer auf ihn herab, als wollten sie ihm zeigen, wie verloren sein kleiner Kampftrupp in diesem riesigen, unerforschten Labyrinth war.
Trotz Nurans Bericht gingen sie unwillkürlich schneller, bis sie die unsichere Stelle hinter sich gelassen hatten. Auch danach warf Barlok immer wieder skeptische Blicke zur Decke hinauf. Er war stets bemüht, sich in einen Gegner hineinzuversetzen, und den körperlich nicht allzu starken Schraten fiele es am leichtesten, sie zu töten, wenn sie die Zwerge unter einem Steinschlag begraben würden.
Aber nichts geschah. Vorbei an verschiedenen Abzweigungen drangen sie unbeschadet weiter vor, bis der Gang nach einiger Zeit plötzlich an einer Felsplatte endete. Lediglich ein kaum zwei Handspannen messender Spalt zog sich noch von der Decke bis zum Boden durch das Gestein. Für einen Schrat stellte es vermutlich keine Schwierigkeit dar, sich hindurchzuquetschen, für einen Zwerg jedoch war es unmöglich.
»Verdammt, davon hat die kleine Missgeburt nichts erwähnt«, fluchte Barlok.
»Sieht so aus, als wäre der Weg hier für uns zu Ende. Wir können höchstens versuchen, die Stelle durch einen der Seitenstollen zu umgehen, aber das dürfte eine Menge Zeit kosten.« Der Zorn in Warlons Stimme war nicht zu überhören.
»So leicht gebe ich nicht auf. Das sehe ich mir erst einmal genauer an«, knurrte Barlok und nahm ihm die Laterne aus der Hand. Normalerweise verbreitete die in ihrem Inneren brennende Flamme ihr Licht in alle Richtungen, doch durch ein System eingebauter Spiegel und eine kunstvoll geschliffene Linse ließ es sich zu einem hellen Strahl in eine einzelne Richtung bündeln. Barlok nahm die entsprechenden Einstellungen vor und trat bis ans Ende des Stollens. Dort richtete er den Lichtstrahl direkt auf den Spalt und spähte selbst etwas höher einige Sekunden lang hindurch.
»Nur eine herabgebrochene Felsplatte, hinter der sich der Gang fortsetzt«, berichtete er. Mit der Axt kratzte er etwas lockeres Gestein weg. »Ziemlich brüchig, das dürfte uns nicht lange aufhalten. Los, räumt den Weg frei!«
Er ging zur Seite und gab Warlon die Laterne zurück. Zwei Männer der Schürfgruppe traten vor und begannen, mit ihren Spitzhacken auf die Wand einzuschlagen. Wie erwartet setzte der Fels ihnen keinen großen Widerstand entgegen, und schon nach wenigen Minuten hatten sie den Spalt so weit verbreitert, dass ein Zwerg ihn mühelos passieren konnte.
»Na also, manchmal ist es besser, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, als erst mühsam einen Umweg zu suchen«, sagte Barlok grinsend.
Sie drangen tiefer in den Stollen vor, wobei Warlon und er wie bisher an der Spitze der kleinen Gruppe gingen, während die drei übrigen Krieger den Abschluss bildeten, um die Arbeiter nach vorne und hinten bestmöglich zu schützen. In der Luft jenseits des Spalts lag der schwere Geruch von altem, feuchtem Gestein, als wäre hier seit Jahrhunderten kein atmendes Geschöpf mehr entlanggegangen. Nach einigen Dutzend Schritten packte Warlon plötzlich Barloks Arm und streckte die andere Hand mit der Laterne noch ein wenig weiter nach vorne.
»Da!«, keuchte er. Im Lichtschein der Lampe war ein schwacher, gelblicher Glanz zu entdecken, der vor ihnen von der rechten Wand des Ganges ausging und sich mit jedem weiteren Schritt verstärkte. »Es scheint hier wirklich Gold zu geben. Womöglich hat der Schrat doch nicht gelogen.«
Noch bevor Barlok etwas sagen konnte, drängte sich Nuran an ihm vorbei und hastete auf die Stelle zu, von der der Glanz ausging.
»Gold, ohne jeden Zweifel!«, stieß er nach einer kurzen Untersuchung triumphierend hervor. »Und offenbar tatsächlich eine gewaltige Ader.«
Barlok verzichtete darauf, ihn wegen seiner groben Missachtung der Sicherheit zurechtzuweisen. Auch ihn selbst packte Aufregung über die Entdeckung. Noch vor wenigen Minuten hätte er ohne zu zögern einen ganzen Jahreslohn darauf gewettet, dass sie außer einem Hinterhalt hier unten nichts vorfinden würden, doch nun sah er das Gold mit eigenen Augen vor sich. Es handelte sich um zwei etwa handbreite Streifen, die das Gestein durchzogen, sich rasch verbreiterten und schon nach wenigen Schritten zu einem fast meterbreiten Streifen verschmolzen. Auch in der linken Wand zeigten sich vereinzelt bereits goldene Flecken.
Kurz darauf erreichten sie eine kleine Grotte. Der Anblick, der sich ihnen dort bot, raubte selbst Barlok den Atem. Überall durchzogen Goldadern die Wände, die Decke und sogar den Boden, so groß und in so geringem Abstand, dass nur noch vereinzelt Gestein zu sehen war und man das Gefühl haben konnte, sich im Inneren eines einzigen gewaltigen Goldbrockens zu befinden. Es gab nur einen weiteren Zugang, der sich fast genau auf der gegenüberliegenden Seite befand.
Aber so überwältigend der Anblick auch war, Barlok war zu sehr Krieger, als dass er auch nur für einen Moment seine Pflichten vergessen hätte. Rasch fuhr er herum, bevor die laut jubelnden Arbeiter hinter ihm blindlings in die Höhle stürmen konnten.
»Keinen Schritt weiter!«, befahl er mit grimmiger Miene. »Morlos, Solan und Okran, ihr sichert den Eingang hier, Warlon und ich nehmen uns den zweiten vor. Erst wenn ich ein Zeichen gebe, könnt ihr anderen euch umsehen und Proben nehmen, aber nicht früher.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stapfte er zusammen mit Warlon los. Der Stollen, der auf der anderen Seite der Höhle abzweigte, unterschied sich kaum von dem, durch den sie gekommen waren, sah man davon ab, dass die Wände auch hier fast ausschließlich aus Gold bestanden. Für Barlok noch wichtiger aber war, dass es auch hier keinerlei Hinweis auf eine drohende Gefahr gab.
Dennoch zögerte er. Sein Unbehagen war keineswegs verflogen, sondern hatte sich eher noch verstärkt, ohne dass er eine Erklärung dafür fand. In seinen Augenwinkeln geisterten Schatten über die glitzernden Wände- das vielfach gebrochene und gespiegelte Gezappel der aufgeregten Arbeiter vor dem Laternenschein. Dieser Goldfund war einfach zu schön, um wahr zu sein, Freudentaumel hin oder her. Trotz des ungeheuren Reichtums um sie herum, der nur darauf zu warten schien, von ihnen abgebaut zu werden, sollten sie nicht hier sein. Es gab eine Gefahr hier, das spürte Barlok deutlich, auch wenn er nicht die geringste Vorstellung hatte, welcher Art sie sein mochte. Dennoch war er sich sicher, dass er sich nicht nur etwas einbildete. Selbst wenn es sich nicht um eine Falle der Schrate handeln sollte, gab es noch genügend andere Bedrohungen, die in unerforschten Bereichen der Tiefenwelt lauerten. Ungeheuer, die nicht über die Intelligenz der Gnome, Goblins oder auch Schrate verfügten, auf ihre Art aber ungleich schrecklicher waren.
Unwillkürlich legte er die Hand auf den Griff Knochenbrechers, der an seinem Gürtel festgehakten kurzstieligen Streitaxt. Dabei blickte er sich noch einmal aufmerksam um, ehe er schließlich widerwillig einen Arm zum Zeichen hob, dass alles in Ordnung wäre. Er konnte diese Expedition nicht einfach wegen eines unbehaglichen Gefühls abbrechen.
Sofort begannen die Arbeiter in der Höhle auszuschwärmen. Mit Hämmern und Hacken brachen sie Goldbrocken aus den Wänden, um herauszufinden, wie tief sich die Adern erstreckten, und steckten Proben in ihre Taschen als Beweis ihres Fundes und um nach ihrer Rückkehr die Reinheit des Goldes zu untersuchen.
»So viel Gold! Es ist einfach unglaublich!«, rief einer der Arbeiter ihnen zu. »Eine derart gigantische Ader, und sie wartet nur darauf, von uns ausgebeutet zu werden. Von nun an wird nichts mehr sein wie zuvor.«
»Diese Entdeckung wird uns ein Vermögen einbringen«, pflichtete einer der anderen Schürfer ihm ebenso überschwänglich bei. »Damit wird Elan-Dhor wieder zu früherer Macht und Bedeutung aufsteigen! Man wird sich wie in den alten Tagen darum reißen, mit uns Handel zu treiben. Alles wird sich für unser Volk von nun an zum Besseren wenden!«
Zustimmende Jubelrufe klangen auf.
»Was hältst du davon?«, wandte sich Barlok an Warlon.
»Ich denke, sie haben Recht«, antwortete der jüngere Zwerg und strich sich über den rötlichen Bart. »Hier liegt mehr Gold, als sich in einem ganzen Zwergenleben abbauen lässt. Wir werden alle -«
»Das meine ich nicht«, fiel Barlok ihm ins Wort und runzelte unwirsch die Stirn. »Ich spreche nicht von dem Gold, sondern von unserem Auftrag.«
»Und was ist damit? Es läuft doch besser, als wir uns erträumt haben. Alles, was der Schrat gesagt hat, hat sich als wahr erwiesen, und nichts deutet auf eine Falle hin. Auch scheint es hier nirgendwo Gnome oder anderes Gesindel zu geben, das uns den Fund streitig machen könnte. Nicht mal Zarkhane scheinen sich in der Nähe aufzuhalten.«
In dem Augenblick, da Warlon es aussprach, wurde Barlok klar, wie gespenstisch ruhig es hier unten war. Seit sie den Spalt durchquert hatten, war ihnen kein einziges Lebewesen mehr begegnet - kein huschendes Pelzgetier war vor dem Lichtschein ihrer Laternen geflohen und das sonst allgegenwärtige Knacken von Insektenbeinen war einer bedrückenden Stille gewichen.
»Hast du jemals von einem Goldvorkommen wie diesem gehört?«, fragte Barlok unbehaglich. »Einer Ader, die so groß ist, dass sich nicht nur lange Stollen, sondern sogar ganze Höhlen in ihrem Inneren gebildet haben?«
»Gehört habe ich noch nicht davon, aber ich sehe jetzt eine mit eigenen Augen. Komm schon, fällt es dir so schwer, dich einfach mal mit allen anderen zu freuen?«
Barlok zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht. Irgendetwas gefällt mir nicht. Ich spüre es ganz deutlich, aber es ist nur eine vage Ahnung. Ich kann einfach keine Ursache dafür ausmachen.«
»Du und deine Ahnungen!« Warlon lachte. »Du bist einfach zu sehr Krieger. Du kannst dich über nichts freuen, weil du hinter allem Guten Täuschung und Verrat witterst, und je einfacher und besser etwas läuft, desto größer wird dein Misstrauen.«
»Und oft genug zu Recht!«
»Sicher. So wie bei dem Abkommen mit den Goblins, das du mit allen Mitteln zu verhindern versucht hast, das uns aber seit mittlerweile zwei Jahrzehnten Frieden mit den Kerlen beschert.«
»Weil sie wissen, dass sie uns kein weiteres Mal täuschen können und den Untergang ihres ganzen Volkes riskieren, wenn sie noch einmal die Grenzen Elan-Dhors verletzen.« Barlok winkte ab. »Aber darum geht es jetzt nicht. Uns droht irgendein Unheil, und zwar ein großes, aber ich weiß nicht, aus welcher Richtung. Wir sollten hier nicht sein, Gold hin oder her. Dieser stille, leere Gang ganz aus Gold. Das riecht falsch - wie eine Zwergenfalle. Am liebsten würde ich auf der Stelle umkehren und mit einem größeren Trupp nur aus Kriegern zurückkehren, um die gesamte Umgebung zunächst auf mögliche Gefahren zu untersuchen.«
»Damit kämst du niemals durch.« Warlon deutete auf die Arbeiter, die sich nach wie vor in einem regelrechten Freudentaumel befanden. »So wie sie wird sich jeder verhalten, sobald sich herumspricht, welche Mengen an Gold es hier gibt. Nur weil du ein schlechtes Gefühl hast und wieder einmal allzu misstrauisch bist, wird König Burian den Beginn der Schürfarbeiten sicherlich nicht auf unbestimmte Zeit verschieben. Dafür müsstest du schon etwas Konkretes vorweisen können.«
»Ich weiß. Das ist ja gerade das Problem«, presste Barlok hervor und schüttelte den Kopf. »Vielleicht bilde ich mir ja wirklich nur etwas ein, aber du kennst meinen Leitspruch: Lieber stets etwas vorsichtiger als nötig als ein einziges Mal zu nachlässig.«
»Ich glaube, während meiner Ausbildung ist kein Tag vergangen, an dem du mich nicht mindestens einmal daran erinnert hast.« Warlon lachte noch einmal, dann wurde er rasch wieder ernst, als sich Nuran ihnen näherte.
»Also, Kriegsmeister Barlok, was sagt Ihr nun? Hätte der König auf Euch gehört, hätte Euer Misstrauen uns um den wohl größten Fund gebracht, der seit Jahrhunderten gemacht wurde! Hat Euch Euer Spürsinn verlassen, oder war es vielleicht doch nur die Schwarzseherei eines verbitterten alten Mannes, der hinter allem Verschwörungen, Fallstricke und Betrug wittert?« Ein verschlagenes Lächeln erschien auf Nurans Gesicht. »Nun, König Burian wird sich sicherlich noch lange an Euren guten Rat erinnern. Kehren wir um, ich kann es kaum erwarten, von diesem ungeheuerlichen Fund zu berichten.«
»Noch haben wir unsere Aufgabe nicht erfüllt!«, widersprach Barlok heftiger als beabsichtigt, ein deutliches Zeichen für seine Nervosität. »Wir können bis jetzt noch nicht einmal annähernd abschätzen, wie groß die Ader ist und wie viel Gold hier liegt«, fügte er in gemäßigterem Tonfall hinzu. »Und wir können noch keine Aussagen über eventuelle Gefahren treffen, was zumindest für mich weitaus entscheidender ist.«
»Gefahren?« Nurans Stimme klang schrill, und er machte eine weit ausholende Geste mit der Hand. »Wo sollen denn hier Gefahren lauern? Seid Ihr immer noch nicht bereit, Euren Irrtum einzugestehen? Ich sage, wir kehren sofort um und erstatten Bericht.«
Es ging gar nicht darum, wie sie sich verhalten sollten, erkannte Barlok. Nuran witterte Oberwasser, weil im Moment alles zu seinen Gunsten sprach. Diesen Triumph wollte er auskosten, um ihn zusätzlich zu demütigen, indem er es auf eine Machtprobe ankommen ließ. Barlok wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte, aber er war nicht bereit, sich so einfach geschlagen zu geben.
»Und was bringt Euch zu der Vermutung, dass Ihr das zu entscheiden hättet, Erzmeister?«, fragte er und schob sein kantiges Kinn noch ein wenig mehr vor, während er auf den kleineren Zwerg hinabblickte.
»Ihr seid nur als unsere Eskorte hier, und ich habe das Kommando für dieses gesamte Unternehmen!«
»Falsch«, entgegnete Barlok grinsend. »Eure Aufgabe besteht allein in der Untersuchung der Goldader. Meine und die meiner Männer aber ist nicht nur Euer Schutz, sondern auch eine Bestimmung potentieller Gefahren, und dieses Gebiet gilt erst dann als sicher, wenn ich sage, dass es sicher ist. Und jetzt sage ich, dass ich noch nicht genug gesehen habe, um eine solche Entscheidung zu treffen. Also kümmert Euch um Eure Belange und lasst mich meine Arbeit so erledigen, wie ich es für richtig halte! Ist das klar?«
Einen Moment lang starrte Nuran ihn noch zornig an, dann wandte er sich wortlos ab.
»Das war nicht besonders klug«, sagte Warlon leise. »Dass er dich nicht leiden kann, ist allgemein bekannt, aber jetzt hast du dir einen Feind geschaffen.«
»Vor solchen Feinden habe ich keine Angst. Der Kerl ist ein aufgeblasener Dummkopf. Er beruhigt sich schon wieder. Bei all dem Gold um uns herum wird sein Zorn nicht lange andauern.«
»Und was hast du jetzt vor?«
Barlok antwortete nicht direkt, sondern ging ein paar Schritte auf und ab, ehe er wieder vor Warlon stehen blieb.
»Das Sinnvollste wäre es, wenn wir alle zusammenblieben, um im Falle eines Angriffs eine möglichst wirkungsvolle Verteidigung aufbauen zu können«, sagte er. »Aber so, wie die Dinge liegen, werde ich das genaue Gegenteil tun müssen. Sieh mal nach dort!« Barlok deutete in den Stollen, vor dem sie standen. »Da vorne gabelt sich der Gang gleich mehrfach.«
Warlon sog scharf die Luft ein. »Du hast doch nicht etwa vor...«
»Obwohl es mir widerstrebt, bleibt mir keine andere Wahl«, erklärte Barlok. »Falls ich keine stichhaltigen Einwände vorbringen kann, werden unmittelbar nach unserer Rückkehr Tausende von Arbeitern hier mit dem Schürfen beginnen, und wahrscheinlich werden mindestens noch einmal so viele aus der Krieger- und der Gelehrtenkaste herkommen, nur um sich diese unvorstellbar gewaltige Goldader mit eigenen Augen anzusehen. Um das Risiko gering zu halten, dass sie geradewegs in ihr Verderben laufen, müssen wir ein möglichst großes Gebiet überprüfen. Uns bleibt also nichts anderes übrig, als uns in mehrere Gruppen aufzuteilen und darauf zu hoffen, dass wir nicht angegriffen werden. Jeder Krieger, uns beide eingeschlossen, begleitet jeweils zwei Arbeiter, und dann nehmen wir uns getrennt die verschiedenen Stollen vor.«
»Aber das ist verrückt! Wenn wir wirklich auf eine Gefahr stoßen -«
»Vielleicht ist es das«, fiel ihm Barlok ins Wort. »Aber wie ich schon sagte, uns bleibt leider keine andere Wahl. Ich werde auf keinen Fall umkehren, bevor ich herausgefunden habe, was hier unten nicht stimmt!«
 
 
Je weiter sie vordrangen, desto beschwerlicher wurde der Weg. Der Boden war uneben und voller Spalten, hin und wieder stieg er an, um anschließend steil um manchmal mehr als einen halben Meter abzufallen, und war teilweise von Geröll übersät. An einigen Stellen hing die Decke so niedrig, dass Barlok und seine beiden Begleiter sich bücken mussten, und mehr als einmal rückten die Wände so nah zusammen, dass sie sich nur mit Mühe seitlich hindurchzwängen konnten. Der Fels schien eine eigene Feuchte abzusondern und ließ Barloks Hände und sein Gesicht, das er eng an den Stein hatte pressen müssen, klamm zurück. Aber sie konnten froh sein, überhaupt so günstige Bedingungen vorzufinden. Die bestehenden Gänge auszubauen würde wesentlich einfacher sein, als selbst erst mühsam Stollen anzulegen. Noch immer gab es nicht einmal Spuren von Höhlengetier, das gerade an solch feuchten Stellen hätte hausen müssen.
In unregelmäßigen Abständen stießen sie auf weitere Abzweigungen. Auch dort schienen die Wände zum allergrößten Teil aus purem Gold zu bestehen. Manche endeten bereits nach wenigen Metern, wie im gebündelten Licht der Laterne zu erkennen war, andere mochten sich wer weiß wie weit erstrecken. Offenbar gab es ein regelrechtes Labyrinth natürlicher Gänge und Grotten, in dessen düsterer Weite der kleine, helle Strahl ihres Laternenlichts wie ein einsamer Wegweiser wirkte.
Seit sie sich von den anderen getrennt hatten, hatten sie gut zweihundert Schritte zurückgelegt, und noch immer hatten sie kein Ende der Ader erreicht. Sie musste wahrlich gigantisch sein. Obwohl Barloks ganze Leidenschaft dem Kriegshandwerk galt, konnte auch er sich der Wirkung der ihn umgebenden Schätze nicht völlig entziehen. Das Volk der Zwerge bildete eine engere Gemeinschaft als irgendein anderes Volk, abgesehen vielleicht von den Elben, über die nur noch wenig bekannt war. Ging es der Gemeinschaft gut, dann auch jedem einzelnen Zwerg, gleichgültig, welcher Kaste und welchem Stand er angehörte. Im Überfluss wurde alles ebenso gerecht geteilt wie in der Not. Nur so konnte ihre Gesellschaft im Inneren der Erde, weitgehend abgeschottet vom Rest der Welt, überleben. Für Barlok selbst würde sich zumindest kurzfristig wenig ändern, da er anders als die meisten seines Volkes kaum Wert auf materielle Besitztümer legte. Langfristig jedoch …
In einem Punkt hatte Nuran völlig Recht: Sie standen an einem Scheideweg, nichts würde in Zukunft noch so sein wie zuvor. Einst hatte es zahlreiche unterirdische Städte wie Elan-Dhor gegeben, gewaltige vielstöckige Minen voller prachtvoller Hallen, verziert mit allem Prunk, den die unvergleichliche Kunstfertigkeit der Zwerge zu schaffen vermochte.
Doch die große Zeit ihres Volkes lag lange zurück. Einige Städte waren aufgegeben worden, als die Minen ausgebeutet waren und alles Graben keine neuen Vorkommen an Erzen, Edelsteinen oder anderen Schätzen mehr hatte zutage fördern können. Andere waren von Feinden erobert und geplündert worden, ihre Bewohner vertrieben oder getötet. Und von einigen wenigen - wie dem einst prächtigen Zarkhadul, der größten und schönsten Zwergenmine, die es je gegeben hatte - wusste man nicht einmal, was mit ihnen geschehen war, denn sämtliche Zugänge waren unter so vielen Tonnen von Gestein verschüttet, dass es niemandem gelingen würde, sie jemals wieder freizulegen.
Einzig Elan-Dhor hatte die Zeit überdauert, die letzte Heimstatt eines Volkes, das einst stark genug gewesen war, es selbst mit den Elben aufzunehmen, das nun jedoch nur noch wenige zehntausend Angehörige zählte. Hungersnöte, Kriege und Naturkatastrophen hatten die Bevölkerung dezimiert. Der Abbau von Erz und Edelmetallen war immer aufwändiger geworden, die Ausbeute geringer. Wertvollere Güter schienen unter dem Schattengebirge fast gar nicht mehr zu finden zu sein, sodass in den vergangenen Jahrhunderten auch der Handel mit den Oberflächenbewohnern, vor allem den Menschen, immer mehr abgenommen hatte und mittlerweile fast ganz zum Erliegen gekommen war.
Doch nun dieser Fund in so ungeheurer Tiefe, Gold in solchen Mengen, wie man sie sich in den kühnsten Träumen nicht ausmalen konnte! Sowohl der Bergbau als auch das Kunsthandwerk der Zwerge würden eine neue Blüte erleben. Man würde sich darum reißen, wieder mit Elan-Dhor Handel zu treiben - und der überwältigende neue Reichtum würde Heerscharen von Neidern anlocken.
Der Gedanke ernüchterte Barlok ein wenig. Er hatte keinen Zweifel daran, dass die Entdeckung des Goldvorkommens über kurz oder lang auch Krieg bedeuten würde. Feinde würden aus vielen Richtungen kommen. Weder die anderen Bewohner der Tiefenwelt noch die Menschen an der Oberfläche würden der Verlockung widerstehen können, und es ließ sich nicht vorhersehen, wohin dies führen würde. Vielleicht war es dieses unbewusste Wissen um die zukünftigen Gefahren, die der Erzfund mit sich brachte, das Barloks Unbehagen so befeuert hatte. Möglicherweise würde der Fund des Goldes, von dem sie sich eine Stärkung der Macht und Bedeutung des Zwergenvolkes erhofften, in Wahrheit den Beginn eines Weges markieren, an dessen Ende sein Untergang stand.
»Habt Ihr endlich genug gesehen, dass wir umkehren können?«, erkundigte sich Nuran, als der Stollen, dem sie folgten, schließlich an einer Felswand endete. Obwohl Barlok keineswegs erpicht auf seine Gegenwart war, hatte er den Führer des Schürftrupps in seine Gruppe geholt, um zu verhindern, dass dieser anderswo Stimmung gegen ihn machen konnte. »Ich werde mich beim König über Euch beschweren!«
»Tut das, wenn es Euch Freude bereitet«, antwortete Barlok unbeeindruckt. Er wusste, dass sein Ansehen bei Hofe trotz des kurzzeitigen Triumphes des Erzmeisters wesentlich höher als das Nurans war, das nur auf dessen vornehmer Abstammung, nicht aber auf eigenen Verdiensten gründete, sodass die Drohung ihn wenig schreckte.
Im Grunde war Barlok inzwischen durchaus zu einer Rückkehr bereit. Noch immer verspürte er das anfängliche Unbehagen, doch glaubte er selbst kaum noch, dass sie auf eine konkrete Bedrohung stoßen würden, selbst wenn sie noch Stunden durch die Stollen streiften. Anscheinend täuschte sein Gefühl ihn in diesem speziellen Fall. Ausschließlich Nurans wegen zögerte er jedoch noch, einen entsprechenden Befehl zu geben, da dieser jedes Entgegenkommen als ein Zeichen von Schwäche auslegen würde.
Barlok wurde der Notwendigkeit enthoben, eine Entscheidung zu fällen, da in diesem Moment das laute Schallen eines Horns an seine Ohren drang, verzerrt zwar durch den Widerhall in den Stollen, doch unverkennbar ein Zwergenhorn. Er selbst hatte den Befehl gegeben, dass jeder seiner Krieger ein Horn mit sich zu führen hatte. Der Schall trug weit in den unterirdischen Gängen, und es war der einfachste Weg, Hilfe herbeizurufen, wenn man in Gefahr geriet oder eine besondere Entdeckung machte. Kalt und seltsam entstellt in diesem goldenen Labyrinth fraß sich der Klang in Barlok hinein, als hätte sich sein lauerndes Unbehagen in diesem klagenden Ton verfestigt.
»Folgt mir!«, befahl Barlok. Ohne sich um seine Begleiter zu kümmern, hastete er los, so schnell es ihm in seinem schweren, klobigen Kettenpanzer möglich war.
An einem der abzweigenden Stollen verharrte er einen Moment und lauschte. Sicherer wäre es, zu der Gabelung zurückzukehren, an der sie sich getrennt hatten, doch zweifelsohne war das noch immer andauernde Schallen des Horns aus dem Seitengang deutlich lauter zu hören. Vielleicht handelte es sich um eine Abkürzung. Dieses Risiko musste er auf sich nehmen.
»Hier entlang!«, rief er und drang in den Stollen ein.
»Was hat das zu bedeuten?«, keuchte Nuran neben ihm. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt.
»Das werden wir gleich herausfinden«, antwortete Barlok grimmig und bemühte sich, sich seine Besorgnis nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Noch stand nicht fest, dass es sich um ein Alarmsignal wegen einer drohenden Gefahr handelte. »Auf jeden Fall muss etwas Außergewöhnliches passiert sein.«
Schon nach kurzer Zeit mündete der Gang in einen anderen Stollen, breiter und höher als alle vorherigen. Das Horn ertönte nun in direkter Nähe, offenbar hatten sie den Weg wirklich beträchtlich abgekürzt. Als Barlok nach links blickte, entdeckte er in knapp hundert Schritten Entfernung Warlon, der vor einem Durchbruch in der Goldwand am Ende des Stollens stand. In der einen Hand hatte er seine Streitaxt, mit der anderen setzte er das Horn an die Lippen. Einer seiner beiden Begleiter stand mit schreckensbleichem Gesicht neben ihm. Er hielt seine Laterne mit beiden Händen wie einen Schutzschild vor sich. Der zweite Arbeiter lag reglos vor ihnen auf dem Boden.
Barlok eilte auf ihn zu, kniete neben ihm nieder und untersuchte ihn flüchtig, doch für den Mann kam jede Hilfe zu spät. Er war tot. Etwas Spitzes, Dünnes hatte sein Herz durchbohrt. Etwas wie ein Dolch oder eine Schwertklinge …
»Was ist passiert?«, fragte er und richtete sich wieder auf. Auch die drei übrigen Trupps kamen mittlerweile herbeigeeilt, und Warlon ließ sein Horn sinken. Sein Gesicht war von Schrecken gezeichnet. Er brachte keine Antwort zustande und wandte den Blick nicht von dem Durchbruch. Auch Barlok starrte angespannt auf das gezackte Loch im Gestein, konnte aber keine unmittelbare Gefahr entdecken.
Sein Gefühl jedoch hatte ihn nicht getäuscht, obwohl es ihm in diesem Fall weitaus lieber gewesen wäre, er hätte sich geirrt. Die Gefahr, die er schon die ganze Zeit spürte, war real und hatte ein erstes Todesopfer gefordert. Barlok hatte den Arbeiter vor diesem Tag noch nie gesehen, kannte nicht einmal seinen Namen, sodass er keine persönliche Trauer verspürte, wohl aber eine tiefe Betroffenheit. Der Erkundungstrupp stand unter seinem Kommando, und damit trug er die Verantwortung für dessen Schutz. Das Leben und die Sicherheit der Männer waren ihm anvertraut worden, aber nun war einer von ihnen tot. Obwohl Barlok sich keiner Vernachlässigung seiner Pflicht schuldig gemacht hatte, wertete er den Verlust dennoch als persönliches Versagen.
»Wir... wir erreichten das Ende des Stollens und wollten bereits umkehren«, berichtete Warlon endlich stockend. Barlok entging nicht, dass der junge Krieger auch während des Sprechens seinen Blick ständig zu dem Durchbruch schweifen ließ. Die Bruchkanten des Gesteins verrieten, dass dieser erst frisch geschaffen worden war, doch was sich dahinter befand, konnte Barlok nicht erkennen, da die Dunkelheit wie eine undurchdringliche Mauer war, die alles vor seinen Blicken verbarg. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch, nur wenig kälter als die Umgebungsluft, wehte aus dem Spalt.
»Aber dann schlug Talos ein paarmal mit seiner Hacke gegen die Wand«, fuhr Warlon fort und deutete auf den toten Arbeiter zu seinen Füßen. »Der hohle Klang verriet uns, dass das Hindernis nicht besonders dick sein konnte. Wir brauchten nur wenige Minuten, um die Wand einzureißen, und dahinter...« Er schauderte. »Es gibt dort eindeutige Spuren künstlicher Bearbeitung. Du musst sie dir selbst ansehen. Man kann sie unmöglich beschreiben, so fremdartig und grausam sind sie. Deshalb habe ich sofort den Befehl zum Rückzug gegeben. Talos ging als Erster, und kaum war er wieder in den Stollen zurückgekehrt... Es ging alles zu schnell, keiner von uns konnte etwas erkennen. Von einem Moment auf den anderen war er tot!« Warlons Blick begann zu flackern, und er sah immer wieder zu dem Wanddurchbruch hinüber. »Ich schwöre, ich habe meine Pflicht nicht verletzt, was immer ihn getötet hat, muss unsichtbar und unglaublich schnell sein und -«
Barlok erkannte, dass die bislang mühsam unterdrückte Panik von dem Krieger Besitz zu ergreifen drohte. Mit der gepanzerten flachen Hand schlug er ihm seitlich gegen den Helm. Das laute Scheppern brachte Warlon zum Verstummen und beendete auch das furchtsame Raunen, das seine Worte bei den übrigen Zwergen ausgelöst hatte.
»Reiß dich zusammen!«, herrschte Barlok ihn an und zwang sich zu einem geordneten Vorgehen, um der Bedrohung zu begegnen, die in spöttischen Schatten über die Wände zu tanzen und mit dem kühlen Lufthauch aus dem Spalt seinen Geist zu vernebeln schien. »Wir sind Krieger, vergiss das nicht!« Er fuhr herum. »Und ihr anderen sichert gefälligst das Terrain! Bin ich denn nur von unfähigen Dummköpfen umgeben?«
Hastig postierten sich die drei übrigen Krieger so, dass sie die Gruppe der Arbeiter zum offenen Ende des Ganges hin abschirmten. Barlok schüttelte grimmig den Kopf und versuchte zu vergessen, dass er selbst erst gewaltsam die Beklemmung von sich hatte stoßen müssen, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Gerade weil er die Männer alle persönlich ausgebildet und trainiert hatte, erwartete er entsprechend viel von ihnen, und entsprechend unnachgiebig reagierte er auf jeden Schlendrian oder anderes Fehlverhalten. Selbst innerhalb der Kriegerkaste war er deshalb nicht unumstritten. Manche hielten ihn für zu hart und seine Erwartungen für übertrieben, ein Relikt aus einer früheren, kriegerischeren Zeit. Barlok kümmerte sich nicht darum. Er verlangte von anderen nie mehr, als er auch selbst zu leisten vermochte, und damit war er stets gut gefahren. Seine Erfolge sprachen für sich. Kriege waren kein Zuckerschlecken, und ein Krieger, der das vergaß, war oft genug innerhalb kürzester Zeit ein toter Krieger. Diese Lektion durfte man in diesem Handwerk niemals vergessen.
»Und wir beide werden uns jetzt auf der anderen Seite umsehen!«, wandte Barlok sich wieder an Warlon. Schrecken zeichnete sich auf dessen Gesicht ab, doch Barlok kümmerte sich nicht darum. Feigheit war in seinen Augen ein noch viel größeres Vergehen als Nachlässigkeit. »Lass dir eine Lampe geben. Du wirst mir zeigen, was ihr entdeckt habt.«
2
DAS KOMPLOTT
»Und ich sage, er hat seine Weisheit verloren«, beharrte Tharlia. »Gewiss, über viele Jahre hinweg war Burian ein großer und gerechter König, dem niemand seinen Platz in den Annalen unseres Volkes streitig machen will, ich am allerwenigsten. Aber gerade deshalb müssen wir handeln! Er ist alt und senil geworden, gibt sich lieber zweifelhaften Vergnügungen hin, statt sich um die Staatsgeschäfte zu kümmern. In seinem eigenen Interesse müssen wir ihn daran hindern, dass er seinen Ruf und sein hohes Ansehen durch Alterstorheit verspielt und nicht als großer Führer, sondern als Narr in die Geschichte eingeht. Es liegt in unseren Händen, wie die Nachwelt über ihn urteilen wird.«
Gebannt musterte sie die Anwesenden, wartete angespannt ab, ob ihre Argumente eine Wirkung zeigen würden. Ihre fünf Gäste verfügten über hohes Ansehen und Einfluss innerhalb der Arbeiterkaste. Aus diesem Grund - und weil Tharlia sicher war, dass sie genau wie sie selbst nicht damit einverstanden waren, wie König Burian regierte - hatte sie sie eingeladen. Sie mochten verwundert darüber gewesen sein, aber niemand lehnte ohne zwingenden Grund die Einladung eines hohen Mitglieds des Hauses Lius ab, einem der ältesten und mächtigsten Häuser Elan-Dhors. Nicht einmal dann, wenn sie von der Hohepriesterin Li’thils stammte, der obersten der Hexen, wie die Priesterinnen halb furchtsam, halb herabwürdigend oft genannt wurden. Nicht zuletzt deshalb hatte Tharlia anstelle des Dunkelturms, in dem sie sich ihrer Stellung gemäß meist aufhielt, die Heimstatt ihrer Familie als Austragungsort für dieses Treffen gewählt. Sie trug nicht einmal den Schleier, den alle Priesterinnen den Regeln ihres Ordens nach in der Öffentlichkeit zu tragen hatten. Aber dies war ja kein öffentliches Treffen, ganz im Gegenteil.
Um Unterstützung zu erhalten, musste sie ihre Zugehörigkeit zum oft mit Misstrauen und Ablehnung beäugten Hexenorden in den Hintergrund treten lassen und ihre Abstammung hervorheben, das hohe Ansehen des Hauses Lius in die Waagschale werfen. Tharlias Vorfahren hatten zu den ersten Zwergen gehört, die einst in die Katakomben unter dem Schattengebirge gezogen waren, um hier eine neue Stadt zu gründen, die mittlerweile zur letzten Heimstatt ihres Volkes geworden war.
Um ihre Gäste zu beeindrucken, hatte sie sie in der blauen Grotte empfangen, einem der prachtvollsten Räume des größtenteils aus weißem Marmor errichteten Anwesens. Wasser ergoss sich in kunstvollen Kaskaden über die Wände aus bläulichem Quarz, das dem Zimmer seinen Namen verlieh, und sammelte sich in kleinen Teichen, zwischen denen sie auf mit sündhaft teurer importierter Seide bezogenen Kissen um einen Quarztisch saßen und Wein tranken. Nicht das heimische, aus Gärmoos hergestellte Gebräu, das diesen Namen kaum verdiente, sondern einen gleichfalls importierten edlen Tropfen aus den von Menschen bewirtschafteten Weinanbaugebieten entlang der Ufer des Cadras, wie es ihn seit dem Rückgang der Handelsbeziehungen in Elan-Dhor kaum noch gab.
Tharlia hoffte, dass ihre Gäste nicht allein deshalb noch bei ihr blieben, obwohl das Unbehagen der Geladenen so deutlich spürbar geworden war, nachdem sie ihnen den Grund für dieses Treffen enthüllt hatte.
Nichts von dem, was sie zuletzt gesagt hatte, entsprach der Wahrheit, mit Ausnahme der Tatsache, dass Burian tatsächlich alt geworden war. Aber er war niemals ein bedeutender König gewesen, seine Herrschaftszeit war von Vetternwirtschaft, Korruption und Fehlentscheidungen geprägt, hatte den Niedergang Elan-Dhors noch beschleunigt, statt ihn aufzuhalten. Sein Ansehen war verheerend, und das Urteil der Nachwelt über ihn würde so oder so gnadenlos ausfallen.
Und dennoch stellten ihre Worte einen geschickten Zug dar, nachdem ihre auf Tatsachen beruhenden Argumente und ihre Appelle an die Vernunft nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hatten. Sah man von den Ausgestoßenen ab, galten Ehre und Ansehen bei allen Zwergen als hohes Gut, gleichgültig, welcher Kaste sie angehörten. Sie wusste, dass ihre sorgsam ausgewählten Gäste alle mit Burians Art der Regierung nicht einverstanden waren, dennoch würde es alles andere als leicht werden, sie für ihren Plan zu gewinnen. Dass sie ihr Vorhaben jedoch als eine selbstlose Tat hinstellte, die letztlich sogar im ureigenen Interesse des Königs und seines Ansehens lag, mochte manchem einen Vorwand liefern, seine Skrupel zu überwinden und sein Gewissen zu beschwichtigen.
»Was Ihr sagt, hat Gewicht«, ergriff Torgan nach einigen Sekunden schier unerträglichen Schweigens als Erster wieder das Wort, nachdem er behutsam sein Weinglas auf dem Quarztisch abgestellt hatte. Ausgerechnet Schürfmeister Torgan, außer ihr selbst das einzige anwesende Mitglied des Hohen Rates und Vorsteher des ebenfalls äußerst angesehenen Hauses Walortan. Bei ihm war sie sich seiner Haltung am unsichersten und hatte am längsten gezögert, ihn einzuladen, aber gerade seine Unterstützung brauchte sie am dringendsten. Wenn er sich gegen ihr Vorhaben aussprach, würden auch die anderen seinem Beispiel folgen. »Aber mir scheint, Ihr habt eins nicht bedacht«, fuhr er fort. »Es dürfte für einen König wohl kaum eine größere Schmach geben, als seines Amtes enthoben zu werden. Soweit mir bekannt ist, ist dies erst zweimal in der Geschichte unseres Volkes geschehen, aber darüber dürftet Ihr als Angehörige der Gelehrtenkaste sicherlich selbst am besten Bescheid wissen. Ich verstehe nicht, wie wir das Ansehen des Königs schützen könnten, indem wir ihm eine solche Ungeheuerlichkeit antun.«
Tharlia nickte und bemühte sich, sich ihren Ärger nicht anmerken zu lassen. Torgan war nicht dumm, und sie durfte ihn keineswegs unterschätzen. Das hatte er bewiesen, indem er zielsicher den größten Schwachpunkt ihrer Argumentation entdeckt und zur Sprache gebracht hatte. Aber auch darauf war sie vorbereitet.
»Ihr habt Recht, es ist für einen König schmachvoll, durch den Hohen Rat seines Amtes enthoben zu werden«, pflichtete sie ihm bei. »Aber sehen wir uns die beiden anderen Fälle an, in denen ein solches Vorgehen unvermeidbar war. Da wäre zunächst Korlos, der sein Amt nicht mehr ausüben konnte, weil er im hohen Alter den Verstand verlor. Seinem hohen Ansehen hat diese Tragik dennoch kaum geschadet - aufgrund seiner früheren Taten gilt er nach wie vor als Held und einer unserer größten Führer.« Sie machte eine kurze Pause, ehe sie mit verächtlicher Stimme weitersprach. »Und dann war da noch Voran, der den Thron wegen des Todes seines Vaters in viel zu jungen Jahren bestieg. Ein eingebildeter, arroganter Narr, der sich selbst hoffnungslos überschätzte und unser Volk in den vier Jahren seiner Regentschaft an den Rand des Verderbens führte, wobei die verlorene Schlacht um die Quarzadern nur den traurigen Höhepunkt darstellte. Als er abgesetzt wurde, hatte er ohnehin bereits jegliches Ansehen verloren. Nur deshalb wird sein Name stets mit Schmach bedacht sein.«
»So wie auch Burian unserem Volk seit vielen Jahren mehr geschadet als genützt hat«, warf Lamar ein, der Jüngste ihrer Runde und der Einzige, dessen voller Unterstützung Tharlia sich nahezu sicher sein konnte. Seine schmachtenden Blicke, sowohl an diesem Abend wie auch bei den wenigen Anlässen, bei denen sie sich vorher schon begegnet waren, waren ihr nicht entgangen, und sie wusste, dass sie ihn mit etwas Geschick mühelos um den Finger wickeln konnte. Der verliebte Dummkopf würde alles für sie tun, wenn sie ihm auch nur die geringste Hoffnung ließ, dass seine Gefühle von ihr nicht unerwidert blieben.
Im Moment jedoch hätte sie ihm am liebsten den Hals umgedreht. In seinem Übereifer merkte er nicht einmal, dass er mit seiner Bemerkung ihre sorgsam geplante Argumentation unterlief.
»Das kann man so generell nicht sagen«, widersprach sie. »Denkt nur an das Abkommen mit den Goblins, das uns nach Jahrhunderten ständiger Auseinandersetzungen endlich Frieden mit ihnen gebracht hat. Das war eine Tat von historischer Größe, die für immer mit seinem Namen verbunden sein wird.«
Und wahrscheinlich die einzige, fügte sie in Gedanken hinzu, zudem war der Friedensschluss am wenigsten ihm zu verdanken. Im Gegenteil, längst schon hatten die Goblins erkannt, dass er ein schwacher Herrscher war, und in den letzten Jahren mehrten sich bereits wieder Übergriffe. Obwohl sie geschickt vorgingen und man ihnen nie etwas nachweisen konnte, gab es kaum einen Zweifel, wer hinter dem spurlosen Verschwinden mehrerer Patrouillen und anderen Überfällen steckte.
»Gerade wegen heroischer Taten wie dieser ist es wichtig, ihn daran zu hindern, sein eigenes Ansehen durch Misswirtschaft und Fehlentscheidungen zu beflecken«, sprach sie weiter. »Auch wenn es kaum jemand auszusprechen wagt, sind viele mittlerweile von ihm und seiner Art der Regierung enttäuscht, und es werden immer mehr. Je länger er noch auf dem Thron sitzt, desto stärker wird man sich an seine Fehler und Schwächen erinnern, während seine früheren Leistungen in den Hintergrund treten. Wir würden ihm einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir dies zuließen.«
Wieder trat ein unbehagliches Schweigen ein. Tharlia spürte, dass ihre Worte Eindruck hinterlassen hatten, und es gab keinen Zweifel daran, dass jeder der Anwesenden sich König Burians Abdankung lieber heute als morgen wünschte. Aber sie hatten Angst, und diese war nur zu berechtigt. Auch Tharlia selbst fühlte sie. Worum es hier ging, war immerhin nicht weniger als ein Komplott zum Sturz des Königs, auch wenn sie es mit freundlicher klingenden Worten wie Absetzung zu umschreiben versuchte. Würde Burian davon erfahren, würde er sie ungeachtet ihres Ranges oder Ansehens zweifellos augenblicklich hinrichten lassen. Dass keiner der Anwesenden bislang gegangen war, obwohl ihre bloße Anwesenheit sie schon zu Mitwirkenden dieses Komplotts machte, wertete Tharlia als Zeichen, dass sie ihrem Vorhaben zumindest nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstanden. Die Blicke der Besucher allerdings hingen an den importierten Gemälden, die die Wände zierten, an den edlen Gläsern aus Kristall - aber niemals wagten sie es, sich gegenseitig oder gar Tharlia in die Augen zu sehen.
»Zwei Mitglieder des Hohen Rates sind hier anwesend«, ergriff Erzmeister Sorus erstmals das Wort und strich sich bedächtig durch den Bart, während sein Blick in weiter Ferne weilte, als ginge ihn das ernste Gespräch nur am Rande etwas an. »Aber was ist mit den anderen? Und was ist generell mit der Kriegerkaste, die traditionell eine besondere Loyalität dem Thron gegenüber hegt? Für eine Absetzung ist die Zustimmung des gesamten Rates notwendig, das dürfte Euch bewusst sein. Außer dem ehrenwerten Torgan gehört diesem jedoch keiner von uns an, deshalb frage ich mich, warum Ihr uns überhaupt zu diesem Treffen geladen habt.«
Tharlia nickte. Offiziell hatte der Hohe Rat, zusammengesetzt aus jeweils zwei Vertretern aller drei Kasten, nur beratende Funktion für den König, aber es gab kein Gesetz in Elan-Dhor, das den Rat ermächtigte, ihn abzusetzen, auch wenn dies schon zweimal geschehen war. Aber ein König, der die Unterstützung aller Ratsmitglieder und damit auch aller Kasten verlor, stand auf haltlosem Posten. Gerade deshalb war es für Tharlia ungeheuer wichtig, alle anderen Ratsmitglieder hinter sich zu vereinen. Weigerte sich auch nur einer - oder womöglich gar eine ganze Kaste -, drohte im Falle einer Machtprobe eine Spaltung des Reichs, schlimmstenfalls ein Bürgerkrieg. Diese Gefahr wollte sie nicht eingehen, und sie wusste, dass es auch keiner der anderen tun würde. Es gab nur ein geeintes Vorgehen oder gar keines.
»Ich bin sicher, dass ich Selon, das zweite Ratsmitglied der Gelehrtenkaste, dazu bewegen kann, sich uns anzuschließen. Von Euch erhoffe ich mir, dass Ihr dank Eures Einflusses Euer zweites Ratsmitglied, den ehrenwerten Artok, überzeugen könnt, sich unserer Sache ebenfalls anzuschließen. Und was die Loyalität der Kriegerkaste betrifft - es mag sie früher gegeben haben, aber es ist unübersehbar, dass der größte Teil der Krieger mittlerweile nur noch wenig Sympathien für König Burians Herrschaft hegt. In den letzten Jahrzehnten hat er gegen ihren Willen das Heer immer weiter verkleinert und die Mittel für Waffen und Ausrüstung zusammengestrichen«, erklärte sie. »Außerdem ist einer der berühmtesten Helden unseres Volkes mein Großonkel. Barloks Einfluss innerhalb seiner Kaste kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die meisten Krieger vergöttern ihn geradezu.«
»Nur gehört er nicht dem Hohen Rat an«, warf Vilon ein, wie Torgan ein Schürfmeister, was den höchsten Titel der Arbeiterkaste darstellte.
»Auf eigenen Wunsch«, erwiderte Tharlia. »Man hat ihm dieses Amt schon mehrfach angeboten, doch er hat es stets ausgeschlagen. Seinen eigenen Worten nach fühlt er sich bei seinen Kriegern wohler als in der Gesellschaft von Höflingen und zieht seine Axt den Waffen der Diplomatie vor. Aber sein Einfluss ist deshalb eher noch größer. Die beiden Ratsmitglieder der Kriegerkaste hören auf seine Empfehlungen.«
»Er mag Euer Großonkel sein, allerdings hat er das Haus Lius schon vor langer Zeit verlassen, um ein eigenes Haus zu gründen«, fuhr Vilon unbeirrt fort. »Außerdem heißt es, dass sein Verhältnis zu Euch... nun ja, sagen wir angespannt ist.«
»Es ist taktlos von Euch, den tragischen Untergang seines Hauses hier zur Sprache zu bringen«, entgegnete Tharlia scharf. »Auch wenn ich mit Barlok nicht immer einer Meinung bin, so bleibt er dennoch mein Großonkel. Und die Ratsmitglieder der Kriegerkaste werden es nicht wagen, sich gegen ihn zu stellen.«
»Verzeiht, wenn ich Euch verletzt habe«, entschuldigte sich Vilon hastig. »Es lag nicht in meiner Absicht, alte Wunden aufzureißen. Wenn Barlok die Absetzung unterstützt, haben wir in der Tat gute Chancen, dass die Ratsmitglieder seiner Kaste diesem Beispiel folgen. Aber angesichts der Gefährlichkeit werdet Ihr sicher verstehen, dass wir die Zustimmung aus seinem eigenen Mund hören möchten und uns nicht allein auf Eure Verwandtschaft mit ihm verlassen.«
Tharlia atmete tief durch.
»Ich wollte zunächst die grundsätzliche Haltung von hohen Würdenträgern der Arbeiterschaft zu einer Absetzung Burians ergründen. Ein Treffen mit Angehörigen verschiedener Kasten in diesem frühen Stadium erschien mir unklug, weil es vermutlich nur in Streit und gegenseitigem Misstrauen geendet hätte«, erklärte sie. »Beim nächsten Mal mag das anders aussehen. Außerdem befindet sich Barlok derzeit auf einer wichtigen Mission, wie Ihr wohl wisst. Nach seiner Rückkehr werde ich mit ihm sprechen. Mir ist klar, dass Ihr Euch zum gegenwärtigen Zeitpunkt meinem Vorhaben nicht vorbehaltlos anschließen könnt, doch ich bitte Euch, zumindest über meine Worte nachzudenken, bis ich sie durch die Zustimmung weiterer Ratsmitglieder untermauern kann.«
»Das werden wir«, versprach Torgan und erhob sich. Die anderen schlossen sich seinem Beispiel an. »Damit dürfte dieses Treffen wohl beendet sein. Aber eines möchte ich ganz klarstellen: Wir erwarten, dass Ihr bei Gesprächen mit anderen nicht einen von uns beim Namen nennt. Solltet Ihr es dennoch tun, werden wir davon erfahren. Und sollte auf irgendeine Weise auch nur das Geringste von diesem Treffen an die falschen Ohren durchsickern, werden wir selbstverständlich abstreiten, dass wir jemals daran teilgenommen haben.«
 
 
Nachdem sie sich von den anderen verabschiedet hatte, hielt Tharlia Lamar unter einem Vorwand noch zurück. Sie wollte herausfinden, wie er wirklich zu ihr stand und war entschlossen, seiner Hoffnung neue Nahrung zu verschaffen, um ihn noch enger an sich zu binden. In Anwesenheit der anderen war ein allzu offener Flirt nicht möglich gewesen, sie hätten ihre Absicht sofort durchschaut und sich gegen sie gestellt.
»Ihr sagtet, Ihr müsstet noch mit mir sprechen. Worüber?«, erkundigte sich Lamar, als sie allein waren. Seine Nervosität war unübersehbar; unruhig knetete er seine Hände und musste sich beherrschen, um nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten. Dabei gelang es ihm kaum, sie anzusehen.
Armer, verliebter Dummkopf, dachte Tharlia spöttisch. Eine Krankheit hatte seine Eltern und viele seiner Verwandten dahingerafft, und obwohl seine Familie immer noch viele Mitglieder und Seitenzweige umfasste, war er der einzige Nachkomme des Hauptstammes und so trotz seines jungen Alters von kaum hundert Jahren zum Vorsteher des Hauses Tarkora geworden. Eine Bürde, die schwer auf seinen schmalen Schultern lastete.
Auch Tharlia wurde mit ihren erst hundertsiebenundfünfzig Jahren von manchen noch für zu jung erachtet, das verantwortungsvolle Amt der Hohepriesterin der Li’thil zu bekleiden. Anders als ihm war ihr diese Stellung jedoch nicht in den Schoß gefallen, sondern sie hatte sie sich durch Können, harte Arbeit und einige raffinierte Intrigenspiele erkämpft. Wobei sie sich besonders auf Letzteres meisterhaft verstand, ein Talent, das sie auch gegenwärtig nutzte, um ihre noch weitaus höheren Ambitionen zu verwirklichen.
»Ich wollte Euch nur für Eure Unterstützung vorhin danken«, sagte sie und senkte ebenfalls in gespielter Schüchternheit den Blick. »Ihr wart der Einzige, der meine Ansichten offen zu teilen schien.«
»Weil Burian ein schlechter König ist«, stieß der Junge hervor. »Ich bin sicher, dass auch die anderen das längst wissen, sie haben nur Angst, es offen auszusprechen und die Konsequenzen zu ziehen. Ich aber fürchte mich nicht!«
»Ihr seid wirklich bewundernswert tapfer.« Tharlia sah, dass das Kompliment aus ihrem Mund ihn erröten ließ. »Noch einen Schluck Wein?« Ohne eine Antwort abzuwarten, schenkte sie in ihrer beider Gläser nach und reichte ihm das seine. »Trinken wir auf Mut und Tapferkeit.«
»Auf Mut und Tapferkeit«, wiederholte Lamar und stürzte den edlen Wein in einem Zug hinunter. Er war nicht nur ein Dummkopf, sondern auch ein Barbar, stellte Tharlia fest, ließ sich ihr Missfallen aber nicht anmerken. Mochte er ruhig trunken werden, das würde ihr alles nur erleichtern. »Und wenn Ihr Bedenken habt, nicht die nötige Unterstützung für unser Vorhaben zu gewinnen, so kann ich Euch Hoffnung machen. Das Haus Walortan hat große Verbindlichkeiten meinem Haus gegenüber, und Schürfmeister Torgan weiß, dass er seine Schulden auf viele Jahre nicht wird zurückzahlen können, wenn überhaupt. Notfalls werde ich dies als Druckmittel gegen ihn einsetzen.«
»Das wäre ein starkes Argument, ihn auf unsere Seite zu ziehen«, erwiderte Tharlia. »Aber bringt ihn nicht gegen Euch auf. Durch Eure Beteiligung an dieser Verschwörung hat auch er ein Druckmittel gegen Euch in der Hand.«
»Ich werde sehr behutsam vorgehen und erst darauf zurückgreifen, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt.«
Tharlia nickte zufrieden.
»Gehen wir doch in den Garten«, schlug sie vor, ergriff seine Hand und zog ihn mit sich in ein benachbartes Gewölbe. Bedeutende, längst zu Staub zerfallene Künstler aus den Glanzzeiten Elan-Dhors hatten hier aus Fels detailgetreue Nachbildungen von Blumen, Büschen und anderen Pflanzen geschaffen, zwischen denen sich kiesbestreute Wege schlängelten. Säulen waren in detailgetreue Baumstämme verwandelt worden, und die gewölbte Decke über ihren Köpfen stellte ein steinernes Blätterdach dar. Ein Gesamtkunstwerk von ungeheurer Pracht und Schönheit, das seine Wirkung auf Besucher nie verfehlte.
In der Mitte der großen Grotte glitzerte ein Springbrunnen. Ihre Hand immer noch in Lamars, schlenderte Tharlia darauf zu. Abgesehen von ihren Schritten bildete das leise Plätschern der Fontäne das einzige Geräusch. Anmutig ließ sich Tharlia auf dem steinernen Brunnenrand nieder. Nach kurzem Zögern tat Lamar es ihr gleich. Er entdeckte, dass sich im Wasser sogar verschiedene kleine Fische aus dem Tiefenmeer tummelten. Sie streckte eine Hand ins Wasser und plätscherte damit leicht hin und her. In der Hoffnung auf einen Leckerbissen kam einer der Fische herangeschwommen, rieb sein Maul an ihren Fingern und schoss enttäuscht wieder davon, als er feststellte, dass sie leer waren.
»Euer Heim ist wunderschön, einfach überwältigend«,
Verlagsgruppe Random House
 
 
1. Auflage Originalausgabe April 2009 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2009 by Frank Rehfeld
Umschlagfoto: © Michael Welply Redaktion: Simone Heller HK · Herstellung: RF
eISBN : 978-3-641-02594-6
 
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