Zwillingsherzen - Ela Maus - E-Book

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Ela Maus

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Beschreibung

Er ist ihr Entführer, sie eine Angehörige der Reichen. Trotzdem schlagen ihre Herzen im Gleichtatkt.

Obwohl Cleo dem privilegierten Teil ihrer Gesellschaft – den Reichen – angehört,  fühlt sie sich nach dem Tod ihres Bruders im strikten Zweiklassensystem verloren.  Er war ihr Zwilling, der Träger ihres seelenverwandten Herzens, und durch nichts zu ersetzen. Das dachte sie zumindest.
Als sie fernab ihrer Heimat von einer Diebesbande ins abgeschottete Armen-Gebiet verschleppt wird, ist es ausgerechnet der geheimnisumhüllte Anführer der Räuber, Eric McLeen, der vom ersten Augenblick an eine magische Anziehungskraft auf sie ausübt. Ähnlich der ihres verstorbenen Zwillings. Ist es möglich, dass Cleo in ihm einen zweiten Seelenverwandten gefunden hat? Und was hat es mit den Träumen auf sich, die sie Nacht für Nacht in eine andere Welt entführen?
Allein völlig aufgeschmissen, bleibt Cleo nichts anderes übrig, als sich auf einen Deal mit Eric einzulassen. Wie weitreichend dessen Folgen sind, soll sie erst verstehen, als sie ihr Zwillingsherz längst an den gefährlichen Rebell verloren hat.

- Packende New-Adult-Romance in einer dystopischen Welt zwischen Arm und Reich -

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ela Maus

Zwillingsherzen

Wenn wir träumen

Dieser Roman ist für all meine Wegbegleiter auf den südafrikanischen Straßen. Danke, dass ihr diese Zeit unvergesslich gemacht habt.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

Man sagte, wer seinen Zwilling traf, würde von purem Glück durchflutet. Das Leben würde das Zwillingspaar immer zusammenführen, egal, wie lange es getrennt gewesen war. Bestimmte fanden ihr Zwillingsherz in einem Verwandten; andere in völlig fremden Personen. Manche Zwillinge gehörten dem gleichen Geschlecht an; andere nicht.

Es hieß, damit Zwillingsherzen im selben Takt schlagen konnten, bedurfte es einer räumlichen und emotionalen Nähe, weshalb sie nicht selten unter derselben Anschrift zu finden waren. Für sie zählte allein, dass sie zusammen sein konnten. Manche teilten ihren Haushalt mit den Lebensgefährten ihres Gegenstückes, mit Kindern und Verwandten. Sie bildeten Patchworkfamilien, die ebenso untrennbar waren wie das Zwillingspaar selbst. Andere fanden ihr Zwillingsherz in einer Person, mit der sie selbst eine Familie gründeten. Egal, in welcher Konstellation die Seelenverwandten aufeinandertrafen - ihre Lebenspfade waren vom Tage ihrer Begegnung an fest miteinander verflochten.

Man sagte, einigen Zwillingsherzen gelang es, durch ihre Vereinigung eine solche Stärke zu entwickeln, dass sie übernatürliche Dinge zu leisten vermochten. Diese Zwillinge wurden Teil eines übersinnlichen Bündnisses. Sie waren in der Lage, die Kraft ihrer Verbindung für Außenstehende sichtbar zu machen.

 

Es stimmte, was die Legenden erzählten. Mein Zwilling war seit der Geburt an meiner Seite. Mit unserem ersten gemeinsamen Herzschlag waren unsere Seelen untrennbar verbunden und unsere Leben von Glück erfüllt gewesen. Mein Bruder Cley und ich gegen den Rest der Welt. Wir waren alles, was wir brauchten.

Bis zu dem Tag, der alles änderte.

Neuanfang

Kapstadt, Südafrika, im Mai 2186

 

Scarletts roter Kleinwagen quetschte sich von ganz allein in die einzige freie Parklücke, die er in Kapstadts langen Straßen hatte finden können. Es war Freitagabend. Die Innenstadt war rappelvoll mit feierlustigen Jugendlichen, gestressten Erwachsenen, die sich auf ein Feierabendbier trafen, und Touristen, welche sich unter das südafrikanische Volk mischten. Und da war ich: Das Mädchen aus Deutschland, das nichts anderes wollte, als sich ins Bett zu kuscheln und ein gutes Buch zu verschlingen.

»Siehst du das? Die Vereinten Nationen haben nicht umsonst alle mit Müll überfüllten Grünflächen Südafrikas in Betonklötze verwandeln lassen. Aber dann kommen solche Leute daher und es geht von vorne los«, fluchte Scarlett, während sie den Knopf für die Zeitanzeige drückte und mit der anderen Hand auf einen Mann im Anzug deutete. Er hatte seinen Müll einfach neben unserem Auto auf den Bürgersteig geworfen, statt ihn in dem Mülleimer zwei Meter weiter zu entsorgen. Den liegengebliebenen Plastikverpackungen schenkte er nicht mal mehr einen Blick, während er seinen Weg fortsetzte und hinter der langen Parkreihe verschwand.

»Deswegen arbeite ich lieber mit Tieren«, schimpfte sie weiter. »Genau das ist der Grund. Alle sagen immer, die Tiere aus dem Tierheim wären unzivilisiert und keiner könnte was mit ihnen anfangen. Aber weißt du was? Das da ist unzivilisiert. Der Mensch ist das schlimmste Tier von allen.«

»Hm«, murmelte ich, nicht wissend, was ich sagten sollte. Genau das war der Grund, weshalb ich lieber im Wohnheim geblieben wäre, schoss es mir heimlich durch den Kopf.

Scarlett hatte darauf bestanden, mich am ersten Wochenende meines neuen Lebens mit in die Innenstadt zu nehmen. Einen Abend zum Kennenlernen, hatte sie gesagt. Dabei hatte ich schon an meinem ersten Tag in Kapstadt, der vergangenen Montag gewesen war, alles von ihr erfahren, was es zu wissen gab. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und lebte seit fünf Monaten im Wohnheim für Auslandsaushilfen. Von dort aus fuhr sie jeden Morgen zum Tierheim, wo sie mit Eifer und Begeisterung Freiwilligenarbeit leistete. Den Rest ihrer Zeit verbrachte sie mit Videotelefonaten, bei denen ihre Stimme vor aufgeregter Freude so piepsig wurde, dass sie bis in mein Zimmer nebenan schallte. Danach stand auf ihrer Freizeitliste das fotographische Festhalten sämtlicher Augenblicke ihres Lebens, um sie mit der großen weiten Welt zu teilen. Ihre fröhliche offene Art bescherte ihr jeden Tag neue Freunde, mit denen sie sich treffen und über Gott und die Welt reden konnte. Und wenn ihre Zeitspanne dafür nicht reichte, musste eben das Videotelefon herhalten.

»Ach komm schon, Cleo. Jetzt zieh nicht so ein Gesicht. Wenn du heute keinen Anschluss findest, wird das während deiner ganzen Zeit in Südafrika nichts. Also los. Beweg deinen hübschen Popo raus aus meinem Wagen.« Sie stieß mir gegen die Schulter und ihre braunen Schokoaugen machten mir unmissverständlich klar, dass es keine Option war, zurück zum Wohnheim zu fahren.

Seufzend trat ich auf die Straße und betrachtete die grauen Fassaden der hohen Häuser, die uns von allen Seiten umgaben. Gebäude an Gebäude reihten sich gigantische Fensterfronten aneinander. Sie starrten auf uns herab wie gierige Augen. Beeindruckt und eingeschüchtert zugleich zog ich die Jacke enger um meinen Körper, obwohl mir nicht kalt war.

Mit den Jahren war so gut wie jede Pflanze aus den Innenstädten unseres Planeten verschwunden. Der Anblick einer saftigen Grünfläche war so selten geworden wie ein Blatt Papier und gleichermaßen so kostbar wie der teuerste Rennwagen der Welt. Sogar hier in Kapstadt - ein Ort, den man einst mit Naturwundern bunt wie Regenbogenfarben verbunden hatte - entdeckte ich nur noch schmale Streifen Grüns, die sich am Rande des Tafelbergs zum Himmel emporstreckten. Sie waren weit entfernt von den grauen Fassaden und doch ständig präsent vor unseren Augen, denn der Berg prangte wie eine schützende Hand über den Dächern der Wolkenkratzer.

Scarlett stapfte an mir vorbei, hin zu dem liegengelassenen Müll. Während sich ihr Wagen geräuschlos verschloss, hob sie das Plastik auf und warf es in die Tonne. »Ein Jammer, dass sowas noch nicht mit einer Geldstrafe geahndet wird. Der Staat würde Millionen daran verdienen.«

»Du kannst es ja mal vorschlagen«, sagte ich und trottete hinter ihr her. Sie betrat die Fußgängerzone, lief hinein in den Block voller Hochhäuser, in deren Erdgeschossen eine Bar auf die andere folgte.

Während der fünf Tage, die ich bisher in Kapstadt verbracht hatte, waren meine einzigen Aufenthaltsorte das Wohnheim und die Apotheke gewesen, in welcher ich als Auslandsaushilfe angestellt war. Zwischen meinen unregelmäßigen Schichten hatte ich bislang keine Zeit gehabt, mehr von der neuen Heimat zu erkunden. Umso überwältigter war ich von der Masse an Eindrücken, die auf unserem Weg in die Tiefe der Häuserblöcke auf mich einprasselten. Die Stadt kam mir viel lebhafter vor, als ich es aus Deutschland gewohnt war. Trotz des Graus der Häuser wirkte sie bunt, denn ihre Bewohner brachten leuchtende Farben auf den eintönigen Hintergrund. Sie wuselten durch die Fußgängerzone wie ein Haufen farbenfroh bemalter Ameisen.

»Wieso bleiben wir nicht hier? Diese Bar sieht ganz gut aus«, schlug ich vor und blieb mit dem Blick an den weitgehend leeren Tischen meines favorisierten Lokals hängen, während Scarlett daran vorbeilief.

»Da treffen sich die Streber der Uni. Dort drüben ist die Bar, zu der wir gehen. Nur im Speicer kannst du das richtige Nachtleben der Kapstädter kennenlernen. Die coolen Leute gehen dorthin.«

Beunruhigt folgte ich ihrer Andeutung. Die Lichter der Bar leuchteten uns wie tanzende Sterne entgegen und die Musik schallte weit auf die Straße hinaus. Gelächter drang zu uns herüber und überzog meine Arme mit Gänsehaut. Seit über einem Jahr war ich nicht mehr in einem solchen Lokal gewesen. Genaugenommen mied ich seit genau dieser Zeit jede größere Ansammlung von Menschen, weswegen es im ersten Moment sehr beängstigend war, sich jetzt in das Getümmel zu stürzen.

Scarlett zog mich trotzdem mitten hinein. Wie eine Diva stolzierte sie mit ihren hochhackigen Schuhen zwischen den Tischen hindurch und ergatterte die letzten freien Plätze auf der Außenterrasse, wo ich mich schweren Herzens ihr gegenüber niederließ. Von hier aus hatten wir sowohl Blick ins Innere des Lokals sowie auf die Straße, wo lauter kleine Grüppchen vorbeizogen.

»Und? Was sagst du?« Ihre geschminkten Augen blitzten mich verzückt an, als wäre ganz klar, dass ich vor Begeisterung platzte.

In Wahrheit befand sich meine Euphorie in weiter Ferne, was weniger an den nett eingerichteten Räumlichkeiten als vielmehr an der Enge meines Herzens lag. Dieses sehnte sich schmerzend stark nach den alten Zeiten, als ich noch gerne von vielen Menschen umringt gewesen war. Als es uns keinen Abend Zuhause gehalten hatte, weil das berauschende Gefühl des Beliebtseins und die Freude am gemeinsamen Zusammensitzen einfach zu verlockend nach uns gerufen hatten. Damals, als alles gut gewesen war.

»Ist schön hier«, versuchte ich, tapfer zu klingen.

Scarlett nahm mir meine Lüge ab. Sie zuckte die Schultern. »Hier triffst du Gott und die Welt. Alle kommen irgendwann mal hierher, weil das Speicer so bekannt ist. Damit ist der erste Punkt auf deiner Kapstadtliste schon mal abgehakt.«

Auf meine Lippen schlich sich ein verhaltenes Lächeln. »Was steht denn ansonsten so drauf?«

»Wenn ich dir das alles aufzähle, sitzen wir morgen noch hier. Umso wichtiger ist, für mich zu wissen, welchen Zeitraum ich einplanen kann, um dir alles zu zeigen.«

»Du meinst, wie lange ich in Südafrika bleibe?«

»Exakt, meine Liebe. Und jetzt sag nicht, dass du nächsten Monat schon wieder verschwindest, so wie das letzte Mädchen, das dein Zimmer bewohnt hat. Für sie habe ich diese Liste erstellt und dann war sie weg, bevor wir überhaupt ein Viertel davon abarbeiten konnten.«

Mein Mund verzog sich unsicher, während ich das Gefühl bekam, für Scarlett eine Art Sozialprojekt zu sein, um neben der Arbeit mit den Tieren hilfsbedürftige Menschen nicht zu vernachlässigen. »Bisher habe ich noch keinen Termin, wann es zurückgehen soll. Wobei meine Eltern-«

Sie unterbrach mich begeistert: »Na das ist doch mal ein Wort. Scheiß auf die. Entschuldige. Aber hey, Eltern wollen ständig, dass man schnell wieder nach Hause kommt. Du solltest erst mal deine Zeit in Kapstadt genießen. Und glaub mir: Es wird eine Bombenzeit.«

Ich musste über ihre Euphorie lachen. Eine Person wie Scarlett war genau das, was ich brauchte. Wäre sie nicht da, hätte ich den ersten Freitagabend allein in meinem Zimmer verbracht, was weiterhin eine sehr verlockende Vorstellung war. Doch ich wollte raus aus meinem einsamen Trott und etwas anderes wagen. Ich brauchte einen Neuanfang, um wieder nach vorne blicken zu können. Daher ließ ich mich von ihr überzeugen, einen Cocktail zu bestellen. Sowas hatte ich seit über einem Jahr nicht mehr getrunken. Seitdem mein Leben sich so drastisch verändert hatte, war Alkohol ein Fremdwort für mich geworden. Jetzt sollte Schluss damit sein. Ich musste wieder anfangen, alles zu genießen.

Das war der Grund, weshalb es mich nach Kapstadt verschlagen hatte. Die riesige Stadt lag am südlichsten Zipfel von Südafrika. Einem Land, dem man nachsagte, dass es dem technischen Fortschritt der letzten Jahrhunderte hinterherhinkte. Hier waren die Grenzen zwischen dem Raum der Armen und dem der Reichen sehr viel greifbarer als auf meinem Kontinent, der hauptsächlich von zweiteren besiedelt wurde. Zuhause in Deutschland hatte ich keinerlei Kontakt zu denjenigen, die nicht vom Aufschwung unserer Welt profitieren durften, weil sie kein Teil der funktionierenden Gesellschaft waren. In Kapstadt - so hatte ich gelesen - konnte es durchaus passieren, dass jemandem wie mir arme Leute ab und an auf der Straße begegneten, denn hier waren die Slums der unteren Schicht unmittelbar neben den Villen der Reichen. Sie hatten sich über die Jahre drastisch ausgedehnt und dadurch den letzten Rest der vielfältigen Natur des afrikanischen Kontinents verdrängt.

Obwohl es meinen Eltern widerstrebt hatte, mich in diese Gegend gehen zu lassen, die obendrein auf der anderen Hälfte der Erdkugel lag, brauchte ich genau das: den Abstand. Die Andersartigkeit. Die Aufregung, etwas völlig Neues kennenzulernen. Anders konnte ich den Verlust in meinem Leben nicht vergessen.

Dazu kam, dass die Organisation Heimatort, in der ich seit einem halben Jahr ein treues Mitglied war und die mich seitdem häppchenweise versucht hatte aufzubauen, in Kapstadt eine Partnerorganisation hatte. Es war überaus einfach gewesen, durch diese an eine südafrikanische Apotheke vermittelt und in eine Wohngemeinschaft für Auslandsaushilfen eingegliedert zu werden. Nach einer erfolgreich absolvierten Aushilfszeit in der medizinischen Einrichtung würde ich das begehrte Auslandszertifikat für eines der wenigen verbliebenden sozialschwachen Länder erhalten. Damit öffneten sich mir Zuhause alle Türen für meine berufliche Zukunft im Bereich der Medizin.

Und nun saß ich hier: Unbehaglich zusammengepfercht auf einem Stuhl, mit einem Cocktail in der Hand, der mich in Nullkommanix besoffen machen würde, dutzende laute Jugendliche um mich herum und eine Freundin vor mir, die ich nur flüchtig kannte. Mit den übrigen Mitbewohnern des Heims verhielt es sich nicht anders. Insgesamt gab es dort fünf Mädchen, inklusive mir und Scarlett, und genauso viele Jungs, die in etwa meinem Alter entsprachen. Uns alle hatte es nach dem erfolgten Abschluss der Universität zur Auslandsarbeit nach Kapstadt gezogen, aus welchen Gründen auch immer.

»Du bist schon zweiundzwanzig, richtig?«, fragte mich Scarlett, nachdem sie ihr Getränk aus allen möglichen Perspektiven fotografiert hatte, bevor sie mit einem Schnappschuss zufrieden gewesen war. »Was hast du vorher gemacht?«

Ich schlürfte an meinem Cocktail, um ein bisschen Zeit für die Antwort zu gewinnen. »Bis zwanzig war ich in der Uni und hab‘ meinen Abschluss im Fachbereich Medizin gemacht. So wie … alle Jugendlichen«, brachte ich stockend hervor. Es war normal, dass Kinder vom ersten bis zum zehnten Lebensjahr in die Grundschule gingen, worauf zehn Jahre Universität folgten. Diese lehrte in den letzten zwei Jahren fachspezifisch, wonach jeder frei entscheiden konnte, welchen Berufszweig er erklimmen wollte. Zumindest war dieser Bildungsweg für uns Reiche vorgesehen. Arme hatten keine Grundschulen, geschweige denn Universitäten, denn solche Einrichtungen waren teuer und demnach nur jenen gegönnt, deren Eltern das nötige Kleingeld besaßen. Dies traf auf die beherrschende Hälfte der Weltbevölkerung zu: den Reichen.

Scarlett runzelte die Stirn. »Und dann? Hast du etwa zwei Jahre lang nur herumgesessen?«

»Nein, ich … ich habe eine Ausbildung bei der Apotheke angefangen.«

Hellhörig lehnte sie sich nach vorne, um mich mit ihren großen Augen anzustarren, als witterte sie den Auftakt einer dramatischen Story. »Und wieso hast du sie nicht zu Ende gemacht? Dauert sowas normalerweise nicht fünf Jahre? Was ist passiert?«

Cool bleiben, rief ich mir ins Gedächtnis und rührte mit meinem Strohhalm durch das fruchtige Getränk. »Dann ist mein Bruder gestorben.«

»Oh.« Sie glitt erschrocken zurück, sichtlich berührt. »Mensch Cleo, das tut mir leid. Ich wusste ja nicht …«

»Schon gut.« Längst hatte ich mit der mitleidvollen Reaktion anderer abgeschlossen. Sie fielen immer gleich aus und spendeten mir weder Trost, noch zogen sie mich bemerkenswert runter. Lediglich die Erinnerungen, die unweigerlich durch das vorsichtige Nachhaken meiner Mitmenschen aufkamen, brannten mir in der Seele wie ein loderndes Feuer, das der Luft jeglichen Sauerstoff entzog. Ich musste gierig nach dem sachten Herbstwind haschen, der meine Haare anhob.

»Was ist denn passiert?«

Mit den Fingern fuhr ich an der nassen Oberfläche des Cocktailglases hinab, sodass kühle Tropfen daran zurückblieben. »Ein Autounfall.«

Stille auf der anderen Seite. Ich blickte auf und sah das überraschte Runzeln auf Scarletts makelloser Stirn. »Ich habe neulich gelesen, dass wir seit der letzten Aktualisierung unserer gängigen Automodelle eine Unfallquote von null-Komma-null-irgendwas Prozent haben. Und das weltweit«, murmelte sie ungläubig.

Ich nickte. Natürlich kannte ich diese Statistik und selbstverständlich hatte ich mir hunderte Artikel über Autounfälle durchgelesen, die alle auf das gleiche Ergebnis kamen: Seit Autos nicht mehr von Menschen gefahren wurden, sondern diese lediglich beförderten, waren die Straßen sicher. So sicher, dass die Wahrscheinlichkeit an der Null kratzte, dass jemand durch einen solchen Unfall starb. »Ich weiß«, erwiderte ich betrübt. »Die Polizei sagt, es habe ein technischer Defekt vorgelegen.«

Scarletts entrüsteter Gesichtsausdruck glich exakt dem meinen, als ich es damals erfahren hatte. Heutzutage gab es so etwas nicht mehr. Das hatte ich jedenfalls gedacht. Die winzige Prozentzahl, von der mein Gegenüber gelesen hatte, sprach jedoch von genau diesen Mängeln und es war ein schicksalhaftes Pech, dass einer davon meinem Bruder zum Verhängnis geworden war.

Letztlich wandte sie ihren Blick betroffen in ihr Glas und verzog mitleidig den Mund. »Oh Mann, das tut mir so leid. Du denkst sicher oft an ihn.«

»Jeden Tag«, hauchte ich verletzt. Wie könnte ich nicht? Durch den grauenhaften Unfall war nicht nur mein Bruder gestorben, sondern auch ein Teil meiner Seele. Jener Teil, der schon immer Cley gehört hatte. Seither hatte ich das Gefühl, dass mein Herz nur noch halb so schnell schlug. Die Hälfte der lebenswichtigen Schläge waren mit ihm ins Jenseits gegangen und ließ mich ausgelaugt zurück. Ohne Energie, die mich antreiben könnte, mein Leben weiterzuleben. Die Reise nach Kapstadt war mein erster aktiver Versuch, mich aus dieser Trägheit zu befreien.

John, der Leiter von Heimatort, hatte mich dazu überredet, einen Neuanfang zu wagen. In Gruppensitzungen und Einzelgesprächen hatte er mich immer wieder  aufgefordert, mein Leben umzukrempeln. Etwas Neues zu probieren, um das Alte zu vergessen. Du musst Cley hinter dir lassen, hatte er beharrt, auch wenn er dein Zwilling ist.

Du weißt nicht, wie es ist, einen Zwilling zu verlieren, war meine Antwort gewesen und ich hatte mich neidisch an den Gedanken geklammert, dass seine Frau und er das perfekte Zwillingspaar abgaben. Doch mit jedem zitierten Satz aus Johns mystischem Buch der Lebensweisheiten und mit jeder neuen Sitzung voller aufbauender Worte war mir klarer geworden, wie notwendig es war, seine Forderung umzusetzen. Also hatte ich den Schritt gewagt und war auf seinen Vorschlag hin nach Kapstadt geflogen.

Meine Gedanken wurden von einem lauten Klirren zerrissen. Überrascht starrte ich zur anderen Seite der Fußgängerzone, wo die Glastür eines Mehrfamilienhauses in Millionen Stücke zerbrochen war und mit einer dunklen Gestalt scheppernd auf dem Asphalt der Straße landete. Das erschrockene Kreischen der Leute aus unserer Bar übertönte fast die wütenden Worte, welche dem Mann hinterher schallten. Er versuchte, sich stöhnend aus den Scherben aufzurappeln, wobei seine blutverschmierten Unterarme einen Rucksack umklammert hielten, dessen Inhalt ihm enorm wichtig zu sein schien. Bedeutsamer jedenfalls als der wutentbrannte Mann, der ihm mit einem langen Küchenmesser in der Hand hinterher gestürzt kam.

Einen kurzen Moment lang konnte ich das Gesicht des Blutenden erkennen. Unsere Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Nur einen Herzschlag lang. Im nächsten Augenblick passierte alles ganz schnell: Der Mann mit dem Messer ging auf den Gestürzten los, erwischte sein Gesicht knapp mit der Klinge und wurde dann von einem dritten Beteiligten niedergerissen, der den beiden gefolgt war. Sie stürzten allesamt auf den Boden. Schreie ertönten sowohl von ihnen, als auch von den erschrockenen Zuschauern. Die Männer wandten sich hin und her. Plötzlich hallte das Geräusch eines harten Schlages zu uns herüber. Die Insassen des Lokals waren totenstill geworden, denn alle gafften starr vor Schock zum Geschehen hinüber.

Mein Herz hingegen klopfte wie wild, während ich beobachtete, wie sich zwei der Gestalten aufrappelten. Der Mann mit dem Rucksack musste seinen Kameraden stützen, um mit ihm fliehen zu können. Erst, als das zittrige Stöhnen des Liegengebliebenen nach Vergeltung schrie, kam wieder Bewegung in den Rest der Welt. Es war, als hätte ein Film von Zeitlupe auf normale Geschwindigkeit umgestellt, sobald irgendwelche Leute aus unserer Bar hinausrannten; manche hin zu dem Geschädigten, andere hinter den zwei Flüchtigen her.

Nur meine Welt blieb in Zeitlupe. Immer wieder sah ich die Szene vor meinen Augen, bis sie sich zu stark mit dem Gesicht des Rucksackträgers vermischte, um klar reflektieren zu können, was geschehen war. Der junge Mann hatte nur ganz kurz zu uns herübergesehen, doch seine dunklen Augen hingen in meinem Kopf fest wie ein alter Kaugummi.

»Das ist eine Seite von Kapstadt, die du jetzt noch nicht kennenlernen solltest«, ertönte Scarletts Stimme dumpf in meinen Ohren.

Ich wandte die weit aufgerissenen Augen zu ihr und betrachtete den entrüsteten, aber weitaus gelasseneren Ausdruck in ihrem Gesicht. Als ich nichts hervorbrachte, sagte sie: »Sowas kennst du aus Deutschland sicher nicht. Ging mir jedenfalls so. Hier gehört das leider zum traurigen Alltag.«

Verwirrt schüttelte ich den Kopf, um meinen Verstand zurechtzurücken. Noch immer schlug mein Herz rasend schnell und ich konnte mir nicht erklären, ob es an der Aufregung oder an der beißenden Angst lag, die mich urplötzlich heimsuchte. »Was ist da passiert?«, brachte ich hervor.

Scarlett zuckte unbeeindruckt ihre Schultern. »Die haben ihn wohl ausgeraubt. Diese Diebesbanden sind überall. Es scheint für die Armen ein lukratives Geschäft zu sein, uns zu beklauen. Wobei ich zugeben muss, dass man das Klauen selten mitbekommt. Meistens merkt man erst dann, dass einem was fehlt, wenn man es gerade braucht. Er hat sie offenbar auf frischer Tat ertappt. Hat ihm aber auch nichts geholfen. Jetzt hat er zum Verlust wahrscheinlich noch eine Gehirnerschütterung dazu bekommen.«

Mein Blick glitt verstört zu dem verwundeten Mann, der derweil inmitten der Scherben an der Hauswand lehnte und von immer mehr Menschen umringt wurde. Seine Wehrmaßnahme war in der Tat nicht von Erfolg gekrönt, aber zumindest hatte er sich an den Dieben insoweit gerächt, sie genauso zu verletzen, wie sie ihn. Der Rucksackträger würde bestenfalls mit einigen Narben davonkommen, wenn er nicht jene Medikamente nutzte, die uns Reichen zugänglich waren. Und der andere hatte so stark gehumpelt, dass ich auf eine schwere Blessur am Bein tippte. Wahrscheinlich hatte ihn das Messer dort erwischt.

»Du solltest die wichtigsten Sachen stets nahe am Körper tragen«, lehrte mich Scarlett und zog meinen Blick damit zurück zu ihrem hübschen Gesicht. Als sie in ihr leeres Cocktailglas hinab blickte, fielen die dunklen Haarsträhnen beinahe dort hinein. »Du weißt schon. Das Handy, deine Personalien und sowas. Und wenn mal jemand nach deiner Tasche greift, mach bloß nicht den Fehler und setz dich zur Wehr. Du hast gesehen, wie brutal die Armen sind.«

»Ja, ist klar«, gab ich knapp zurück. Diese Predigt hatte ich mir tausende Male von meinen Eltern anhören müssen, bevor sie mich hatten ins Flugzeug steigen lassen. Obendrein war ich nicht blöd. Auf diese einfachen Tipps wäre ich auch allein gekommen.

Scarlett lächelte mich sachte an. »Keine Sorge. Ganz so schlimm geht es hier eigentlich nicht zu. Außerdem wollen wir uns davon nicht den Abend versauen lassen. Willst du noch einen?« Kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, tippte sie schon auf dem elektronischen Bestellmenü herum, das für jeden Gast im Tisch integriert war.

Ich murmelte ein unschlüssiges »Ja«, weil ich eh keine andere Chance hatte, und war bemüht, das ungute Gefühl in meiner Kehle herunterzuschlucken. So leichtfertig wie Scarlett konnte ich den Vorfall nicht vergessen, zumal mein Herz weiterhin hämmerte wie eine aufgebrachte Elefantenherde. Es schlug und schlug. So schnell, wie es seit einer Ewigkeit nicht mehr geschlagen hatte.

Eindringling

Eine Woche später hatte mich der Arbeitsalltag in der Apotheke so sehr in seine Zwänge genommen, dass der Vorfall in der Fußgängerzone vergessen war. Überwältigt von den vielen Eindrücken, die jeden Tag aufs Neue wie ein unbändiger Gewitterhagel auf mich einprasselten, verbrachte ich meinen zweiten Freitagabend in meinem neuen Zimmer. Die Beine eingekuschelt in eine Decke und auf dem Schoß ein elektrisches Lesegerät, in dem sich ein dicker Wälzer versteckte, lümmelte ich auf dem breiten Bett.

»Wie? Du bist ganz allein in dem Wohnheim?« Die Stimme meiner Mutter klang durch das Telefon ungemein schockiert und ich war froh, dass ich die Videofunktion nicht eingeschaltet hatte. So sah sie nicht, in welcher Kleidung ich um acht Uhr an einem Freitagabend im Bett hockte. Es war jedenfalls keine, mit der ich üblicherweise ausging.

Mein Mund verzog sich ertappt. »Ich fühle mich nicht so gut. Hat aber nichts mit Kapstadt zu tun, sondern … na ja, Mädchenprobleme halt.« Eine gekonnte Lüge.

»Ist niemand bei dir geblieben?«

»Was sollen sie denn machen, Mom?«, fragte ich belustigt. »Händchenhalten und Lieder singen? Ich komme schon klar. Außerdem habe ich gestern ein neues Buch angefangen, das ganz interessant ist. Kennst du Das Rauschen der Zwillingsmagie? Das ist ein Liebesroman, der auf erwiesenen Tatsachen beruht.«

»Du lenkst wieder einmal ab, Cleo. Hätte ich gewusst, dass es so um dich steht, hätte ich mich heute schon früher gemeldet.«

Entrüstet blickte ich vom Lesegerät auf, auf dem ich während unseres Telefonats zehn Mal den gleichen Satz gelesen hatte. »Es steht gut um mich. Mach dir keine Sorgen. Außerdem bin ich gar nicht ganz allein.«

»Doch nicht?«

»Nein.« Mein Blick glitt lächelnd zum Fußende, von wo aus das gleichmäßige Schnurren eines grauen Fellknäuels ertönte, der sich ab und an zu meinen Füßen streckte. Sobald ich mit meinen in die Decke gewickelten Zehen an seinem Nacken wackelte, begann das Schnurren mit neuer Kraft und Energie. »Fussel ist bei mir.«

»Wer um Gotteswillen ist denn Fussel?« Mom sprach den Namen aus, als gehörte er keinem Lebewesen, sondern einem Produkt.

»Eine meiner Mitbewohnerinnen jobbt im Tierheim. Von dort hat sie einen Kater mitgebracht. Ich schicke dir nachher ein Foto von ihm. Dann verstehst du, warum er so heißt«, scherzte ich und tätschelte den Kopf des Tieres mit meinem großen Zeh.

Schon am ersten Tag im Wohnheim hatte ich ihn in mein Herz geschlossen. Er war der erste Besuch in meinem neuen Zimmer gewesen und hatte sich aufgeführt, als sei es etwas ganz Normales, dass ich mich darin aufhielt. Beinahe, als hätte er nur auf meine Ankunft gewartet. Mit seinem beruhigenden Schnurrkonzert und dem zärtlichen Anschmiegen an meinen Körper gab er mir das Gefühl, in diesem Haus herzlichst willkommen zu sein. Wir teilten die Einsamkeit an diesem Abend - er und ich - und irgendwie hatte ich die Vermutung, dass wir sie beide genossen.

Mom begann zu kichern. »Bring mir aber kein Katzenviech mit nach Hause. Papa würde durchdrehen.«

»Ja, ich weiß«, sagte ich betrübt. Ich mochte Tiere, doch wir hatten nie eines besessen. Dad hatte eine Allergie gegen Tierhaare, sodass er seit eh und je eine natürliche Abneigung gegen alle möglichen Vierfüßler hegte. Obwohl kurz nach meiner Geburt ein Mittel gegen seine Überempfindlichkeit erfunden worden war, hatte er seine Einstellung nie geändert, was zur Folge hatte, dass Cleys und mein Traum von einem Haustier stets einer geblieben war.

»Hat sich John schon bei dir gemeldet?«

»Er ruft jeden zweiten Tag an. Selbst das Chaos mit meinen Seminartickets hat er geregelt. Ich musste mich noch gar nicht an die Railer-Organisation wenden.«

Ich hörte an ihrer Stimme, wie erleichtert sie war, dass eine starke Hand wie die von John sogar von Deutschland aus gewaltig genug war, um mir zu helfen. Ihre war seitdem Tod ihres einzigen Sohnes nicht mehr stark. Jedenfalls nicht kräftig genug, um ihr letztverbliebenes Kind zu beschützen. »Umso besser, wenn alles glatt läuft. Falls ich ihn am Sonntag im Gottesdienst sehe, werde ich ihm dafür danken. Aber jetzt muss ich in die Küche. Das Essen müsste gleich fertig sein.«

Ich lächelte Fussel an, dabei galt mein Lächeln eigentlich Mom. »Okay. Grüß Papa von mir.«

»Das mache ich, meine Kleine. Ich hab‘ dich lieb.«

»Ich dich auch.«

Und dann war Mom weg und die Einsamkeit legte sich über Fussel und mich. Ich seufzte, als ich mein Handy neben mich in die Kissen fallen ließ und die Beine ausstreckte. Der Kater stockte beim Schnurren, ehe er seinen Rücken eifrig gegen meine umwickelten Knöchel drückte und umso lauter mit seinem Konzert begann. Das Geräusch erinnerte mich an einen Hubschrauber, der stets in gleicher Entfernung durch die Lüfte schwebte. Es erfüllte den Raum mit einer einschläfernden Atmosphäre, die sich, verstärkt durch das gedämpfte Licht der Nachttischlampe, heimlich in meinen Körper schlich.

Trotzdem legte ich mich nicht schlafen, denn ich liebte das abendliche Lesen. Die warm eingekuschelten Füße am Ende des Bettes und das melodische Widerhallen altertümlicher Textzeilen in meinem Kopf gaben mir das Gefühl von Geborgenheit zurück, welches seit Cleys Tod aus unserem Haus in Deutschland verschwunden war. Viel zu oft hatte ich mich demzufolge in die Scheinwelt dicker Bücher rund um alte Mythen und Legenden geflüchtet, nur um nicht in meiner düsteren Realität leben zu müssen. Zwar wollte ich diese Flucht durch den Neuanfang in Kapstadt einschränken, nicht aber völlig aus meinem Alltag verbannen. Mein Lesegerät war daher, trotz Johns gegenteiligen Beharren, in meinem Gepäck gelandet.

Wenn ich die vier in meiner Favoritenliste gespeicherten Bücher nach ein paar Tagen durch hatte, würde ich mir neue Romane besorgen, die von südafrikanischen Autoren stammten. Ich wollte mich ein wenig mehr mit den Sitten meiner Umgebung befassen und war gespannt auf die Geschichten aus einem weit entfernten Land. Vielleicht waren sie anders wie alles, was ich je gelesen hatte.

Die südafrikanische Sprache machte mir dabei glücklicherweise keinen Strich durch die Rechnung, denn seit einem knappen Jahrhundert war sie der in Deutschland gesprochenen gleich. Genaugenommen war sie die Gleiche, wie die jedes erdenklichen Staates auf der Erde, seit die Vereinigten Nationen beschlossen hatten, statt vieler unterschiedlicher Landessprachen nur noch eine Weltsprache zuzulassen. Dies hatte den Meilenstein für Gleichheit und Einigkeit auf der Erde gelegt. Bisher waren die Grenzen zwischen den Ländern nie so nachgiebig gewesen wie in meinem Zeitalter. Ich konnte nicht sagen, wie es früher vonstattengegangen war, denn ich hatte die grausamen Jahrhunderte nicht erlebt. Nur vom Hörensagen und aus der Universität wusste ich, wie viel besser der heutige Zustand war. Auch wenn er nicht alle Menschen in gleicher Weise erreichte.

Die Minuten flogen dahin. Zeilen voll harmonischer Worte eilten ihnen hinterher. Ich genoss die Ruhe um mich herum, bis sie von einem leisen Knacken im Erdgeschoss unterbrochen wurde. Irritiert blickte ich auf. Wenn sich die elektrische Haustür nach erfolgreicher Gesichtserkennung öffnete, machte es normalerweise ein surrendes Geräusch, das bis in die oberen Schlafräume klang, wenn es so still im Haus war wie jetzt. Das Knacken hatte sich anders angehört. Vielleicht war es die Waschmaschine im gegenüberliegenden Bad, die das Ende des Waschgangs durch das Aufpoppen der Tür bekanntgegeben hatte?

Meine Augen schossen zu Fussel, dessen Ohren rege zuckten, während sich unten leise Geräusche entfalteten. Als er aber wie üblich weiter schnurrte, senkte ich meinen Blick zurück auf den Roman und verfolgte die Liebesszene zwischen den Protagonisten. Dann knackte es erneut lauter wie gewohnt und das Geräusch riss mich vollkommen aus der Geschichte hinaus. Unverständliche Laute raunten im Erdgeschoss umher. Sie stammten von tiefen Männerstimmen. Vielleicht waren es Craig und Luke, die heimgekommen waren? Oder Oliver, der laut Scarlett schon an meinem ersten Tag im Wohnheim ein Auge auf mich geworfen hatte? Er hatte sich heute Abend mit Lorenzo, dem einzigen Spanier in unserem Heim, auf den Weg in einen Club gemacht. Ihre Einladung, sie zu begleiten, hatte ich dankend abgelehnt. Möglicherweise waren sie gerade zurückgekehrt.

Abermals erklangen einige Worte deutlicher als die anderen und mir gefror das Blut in den Adern: »Geht nach oben und schaut euch dort um.« Der Mann redete anders als jeder Mitbewohner des Heims und ich kannte die Stimme nicht. Sie sandte eine tödliche Bedrohung zu mir rauf, die mich lähmte wie eine Ziege in der Todesstarre.

Ein paar Sekunden verstrichen, ohne dass irgendein logischer Gedanke in meinem Kopf entstand, ehe ich das dumpfe Aufsetzen von Füßen auf der Treppe vernahm. Damit war meine Starre gebrochen. Hektisch wirbelten meine Beine nach oben, wodurch Fussel beinahe vom Bett geschmissen wurde. Er rettete sich an die hinterste Kante, während ich so schnell ich konnte, durch den Raum hetzte, ohne zu wissen, wo ich eigentlich hin wollte. Vor Aufregung völlig verwirrt, blickte ich mich in meinem kleinen Zimmer um. Ich hatte keine Chance, mich zu verstecken. Das Bett war zu niedrig, um darunter zu kriechen, mein Kleiderschrank proppenvoll und sonst gab es keinerlei Möglichkeit, sich unsichtbar zu machen.

Wer sind diese Leute?, schoss es mir durch den Kopf. Die Frage wurde sogleich von der unschönen Erinnerung an den Vorfall in der Fußgängerzone beantwortet: Sicherlich waren es Einbrecher, die sich von reichen Auslandsaushilfen einige Schätze versprachen. Nur warum es gerade unser Heim erwischte, konnte ich mir nicht erklären.

Der Kater gab ein klagendes Miauen von sich, während er unglücklich am Bettrand stand und mich verwirrt beobachtete. Kurz blickte ich zu ihm, bis mich ein ängstlicher Stoß durchfuhr und ich auf den Schrank zustürmte. Ich hatte darin nicht nur all die übliche Kleidung, sondern auch mein komplettes Schuhwerk und sämtliche Jacken verstaut, was ihn aus allen Nähten platzen ließ. Trotzdem schaffte ich es, mich dazwischen zu quetschen. Ich nahm in Kauf, dass die Hälfte der Kleiderbügel hinunterfiel und ein paar Kleidungsstücke unter der Tür hindurch guckten, als ich diese mühsam hinter mir zuzuziehen versuchte. Es blieb ein kleiner Spalt offen, durch den ich panisch in den schummrig erleuchteten Raum starrte.

Das ängstliche Pochen meines Herzens übertönte beinahe alle Geräusche, die außerhalb meines Zimmers das Haus erfüllten. Hier und da hörte ich ein Poltern. Dann ein paar Wortwechsel. Mal kamen sie näher, mal waren sie weiter weg. Wenn ich doch nur mit den anderen gegangen wäre, klagte ich innerlich und spürte, wie Tränen über meine Wange rannen. Ich versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken, aber mein Brustkorb zog sich so stark zusammen, dass mein Körper seinen Schmerz laut kundtun musste. Danach hielt ich zittrig die Luft an und lauschte.

Es war kaum wahrzunehmen, wie sich meine Zimmertür öffnete. Ich bemerkte es nur an der Atmosphäre, die sich mit einem Schlag verdüsterte. Und an Fussel, der die hereinkommende Person - weltoffen, wie er war - mit einem Miauen begrüßte, nur um dann an ihr vorbei in den Flur zu tapsen. Ein Mann, dunkel gekleidet und groß gebaut, huschte durch mein schmales Sichtfeld. Er grummelte etwas über Katzen dahin, ehe er auf der Fensterseite in meinem Regal zu stöbern begann.

»Hast du hier was?«, ertönte eine Stimme vom Flur. Die dazugehörige Person trat durch die offene Tür ein.

Während ich verzweifelt die Luft anhielt, spürte ich, wie Tränen mein Gesicht benetzten. Unaufhaltsam rannen sie hinab und ich fürchtete, dass bald ein Bach unter der Schranktür hervorbrechen würde, der meine Anwesenheit verriet. Ich glaubte, vor Angst sterben zu müssen, so elend kam ich mir vor. Es war wie ein Albtraum, einer der schlimmsten meines Lebens. Ähnlich wie damals, als ich von Cleys Tod erfahren hatte, und doch ganz anders.

Derweil hatte der erste Mann meine Handtasche gefunden, in der sich meine Bankkarte und ein paar Papiere für mein restliches Vermögen verbargen. Vielleicht würden sie danach das Zimmer verlassen und ich könnte ungesehen im Schrank verbleiben, bis sie das Haus leergeräumt zurückließen. Dieser Hoffnungsschimmer währte ungefähr eine Sekunde in meinem Kopf. Dann rasselte neben mir etwas von dem Kleiderhaufen herunter, der durch mein Eindringen gefährlich aufgetürmt worden war. Es landete klappernd an der Holztür und mein Herz setzte einige Schläge aus.

Dumpf vernahm ich, wie sich dem Schrank Schritte näherten. Einer. Zwei. Drei. Dann wurde die Tür aufgerissen und zwei ungläubige Augenpaare starrten mich an, wie ich eingepfercht zwischen Pullovern, Jacken und Hosen in einem Tränenmeer ertrank.  Danach sah ich nur noch, wie der Zimmerboden in Zeitlupe auf mich zukam. Den Aufprall spürte ich nicht mehr.

Entführt

Ein dumpfes Murmeln drang in meinen Traum. Es war einschläfernd, aber nicht genug, um mich zurück in die Ohnmacht zu treiben. Daneben gab es ein kontinuierliches Hintergrundgeräusch, das einem heulenden Seehund ähnelte. Mit ihm wurde auch das Gemurmel immer deutlicher, bis ich Wörter heraushörte, die mich mit einem Mal elektrisierend in die Realität zurückrissen.

»Was sollen wir denn jetzt machen? Scheiße verdammt. Die ganze Zeit ist es gut gegangen und jetzt - gerade jetzt - tauchen die Bullen auf?«

Schnappartig sog ich die Luft ein, als mir bewusst wurde, was geschehen war. Ich riss meine Augen auf, bewegte mich in irgendeine Richtung und hoffte, dass sie mich nach oben brachte. Kaum hatte ich den Kopf über meine Schultern gehoben, knallte ich gegen etwas Hartes, was mir die Sicht für Sekunden stahl. Das Rauschen in meinen Ohren vermischte sich mit dem Pochen meines aufgeregten Herzens, bis ich die Augen wieder öffnen konnte und in ein Dutzend düstere Gesichter starrte.

Ich hockte noch immer vor meiner offenen Schranktür und spürte, dass deren Kante mir am Hinterkopf eine dicke Beule bescheren würde, während sich eine ganze Horde fremder Männer in mein winziges Zimmer drückte. Ihre Gesichter schauten unschlüssig zu mir hinab. Einige schienen erschrocken zu sein, so, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen. Andere strahlten pure Feindseligkeit aus. Langsam drang das Heulen des Seehunds wieder in mein Bewusstsein, nur dass es keiner war, sondern eine Sirene. Die Polizei musste in unmittelbarer Nähe des Wohnheims sein. Gott sei Dank.

»Wir müssen jetzt was machen. Noch können wir fliehen. Verdammt, wir können noch abhauen! Eric, was machen wir? Was soll mit ihr passieren?« Es war ein ziemlich aufgebrachter Mann von Mitte fünfzig, der sich nach hinten wandte. Ich konnte nicht sehen, wen er anblickte, denn in meinem Kopf drehte sich alles. Nur schemenhaft nahm ich wahr, dass neben den vielen Männern Taschen und Rucksäcke auf dem Boden lagen, die mit allem gefüllt sein mussten, was sie als wertvoll erachteten. Es schüttelte mich, wenn ich darüber nachdachte, welche meiner Wertgegenstände sie während meiner Ohnmacht durchwühlt hatten.

Stille herrschte. Mein Atem stockte ebenfalls und ich wünschte, ich würde erneut in Besinnungslosigkeit fallen. Vielleicht wäre ich dann schon befreit, wenn ich die Augen wieder öffnete. Doch mein Bewusstsein saß bombenfest hinter meinem Verstand und das Drehen ließ nach. Ich wusste, ich durfte jetzt kein Wort sagen. Nicht mal einen Mucks von mir geben. Einzig und allein Tränen liefen unentwegt über meine Wangen und tropften lautlos auf den Boden hinab.

»Eric?«

Ein Rascheln ertönte, als sich in der hinteren Ecke des Raumes jemand erhob. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er dort auf dem Stuhl am Schreibtisch gesessen hatte. Als sich unsere Augen trafen, setzte mein Herz aus. Es war der Mann mit dem Rucksack aus der Fußgängerzone. Sein markantes Gesicht, das für den Altersdurchschnitt der übrigen Männer viel zu jung war, ließ keinen Zweifel zu. Zwischen seinen dunklen Bartstoppeln waren hier und da kleine Krusten zu erkennen und über das rechte Jochbein zog sich eine schmale, geradlinige Wunde. Dort hatte ihn die Klinge des Küchenmessers erwischt.

Unsere Blicke hingen lediglich einen kurzen Moment aneinander, aber als er ihn von mir losriss, fühlte es sich an, als würde mir mein Herz aus der Brust springen. Es begann wild umher zu schlagen; wirbelte in mir wie ein Hurrikan, der in die Freiheit entlassen werden wollte. Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich fühlen sollte, denn auf einmal war es weder Angst, die mich lähmte noch Verzweiflung. Im Gegenteil: Ich war verwirrt wie ein wehrloses Lamm, als sich der junge Mann einen Weg durch die Räuber bahnte. Er steuerte genau auf mich zu.

»Nehmt eure Sachen«, wies er sie an, kurz bevor er sich zu mir hinab beugte und meinen Arm komplett umfasste. Er zog mich ruckartig hoch und ich taumelte wimmernd. »Wir gehen raus.«

»Was hast du vor, Eric?«, raunte ein Kerl, der uns ganz nah stand. Derweil ergriffen die anderen die Taschen.

Der Angesprochene erwiderte nichts. Seine Hand drückte fest meinen Arm, als er sich zum Gehen wandte. »Bitte nicht«, raunte ich und winselte kläglich, während wir mein Zimmer verließen.

Die Sirene wurde lauter, als wir das Erdgeschoss erreichten, weshalb ich annahm, dass die Polizei in unmittelbarer Nähe war. Das würde mich jedoch nicht retten können. So entschlossen, wie die Hand meinen Arm gepackt hielt, würde sie mich nicht einmal loslassen, wenn die Beamten auf Eric schossen. Er schien fest von seinem Vorhaben überzeugt, als er seine Anhänger anwies: »Geht hinten raus und verschwindet. Ich verschaffe euch Zeit und komme sofort nach.«

»Eric«, wollte ihn jemand zurückhalten, aber da riss er schon die Haustür auf und schob mich vorweg ins Freie.

Ich sog panisch die kalte Luft ein. Meine Gedanken setzten aus, doch das Bewusstsein schwebte dicht über mir und ließ mich wie eine Fremde zusehen, wie mein Leben im Sande verlief. Hinter mir machte Eric irgendwelche Bewegungen, die ich nicht zuordnen konnte, bis er mich ruckartig vor seine Brust zog. Mit einem Mal hielt mich nicht nur seine starke Hand gefangen, sondern auch eine Klinge, die sich scharf an meinen Hals drückte. Unkontrolliert begann ich zu röcheln, dabei presste er mir nicht einmal die Luft ab. Es drang trotzdem kein Sauerstoff in meine Lungen.

Durch den schillernden Tränenschleier erkannte ich, wie die Blinklichter der Polizei an den Fensterscheiben der umliegenden Häuser reflektiert wurden. Die Sonne war vollständig untergegangen und ließ die Gegend in einer mystischen Dunkelheit daliegen, die nur allzu gut zur Düsterheit in meinem Kopf passte. Das ohrenbetäubende Heulen der Sirene erschütterte Mark und Bein. Wir stolperten über den Gehweg, auf die verkehrsberuhigte Straße, um mitten darauf stehenzubleiben und uns den näherkommenden Fahrzeugen zu stellen. Sie würden uns erfassen, sobald sie um die Kurve schossen. Diese lag unmittelbar vor uns und wurde von der Ecke eines Hauses verdeckt. Wollte er uns etwa umbringen?

Ich hörte meinen Tod auf mich zu rasen und schloss die Augen, als ich begann, die Sekunden zu zählen. Eine Sekunde - die Sirene kam näher. Zwei Sekunden - ich fühlte die Wärme der Brust hinter mir. Drei Sekunden - Erics Herzschlag donnerte gegen meinen Rücken. Vier Sekunden - das Messer drückte sich so fest an meinen Hals, dass Blut über mein Dekolleté rann. Fünf Sekunden - die Polizeiwagen schossen um die Ecke.

Quietschen, Knallen, Schreie. Die Beamten riefen so laut, dass ihre Angst gedämpft durch die Autotüren zu uns drang. Einen Augenblick lang herrschte eine rasselnde Stille. Meine Augen öffneten sich vorsichtig, nur um zu sehen, wie knapp das erste Auto vor uns gehalten hatte. Ganz automatisch drückten meine Lungen erleichtert Luft hinaus.

Als sich Eric daraufhin raschen Schrittes mit mir nach hinten bewegte, verstand ich plötzlich, worauf er gesetzt hatte: Die erstklassige Technik der Autos hatte beim Auftauchen des Hindernisses auf der Straße sofort reagiert. Und das schneller, als es die Beamten im Inneren jemals gekonnt hätten. Diese waren stattdessen benommen in die Gurte gerissen und vollständig von Luftkissen eingepfercht worden. Gerade, als ich mir darüber bewusst wurde, dass nun die einzige Chance gekommen war, nach Hilfe zu rufen, riss mich Eric mit sich. Ich begann zu schreien.

»Stehen bleiben oder wir schießen!«, hielt uns eine Stimme auf.

Mein Entführer stockte. Ich fürchtete den Moment, wenn der Mann seine Drohung wahrmachen würde. Vielleicht verfehlte er sein Ziel und traf statt des Verbrechers mich. Mein Peiniger wandte sich in einer rasanten Drehung um und schlagartig war ich unmittelbar in der Schussbahn der Polizisten. Einige von ihnen waren nicht bei Bewusstsein, was ich durch die von Straßenlaternen beleuchteten Autofenster erkennen konnte. Der Aufprall auf den Luftkissen war zu hart gewesen. Nur die Insassen des hintersten Wagens waren genug bei Verstand, um sich, durch die offene Autotür geschützt, meiner Rettung zu widmen. Ihre Pistolenläufe glänzten in dem Schein der Straßenlampen.

Erschrocken zuckte ich zusammen, als sich mir ein kratziges Kinn an die Wange drückte. »Sag ihnen, dass sie uns gehen lassen sollen, sonst wirst du dafür büßen«, raunte eine tiefe Stimme in mein Ohr.

Ich war völlig erstarrt und zu sehr im Schock versunken, um Erics Aufforderung nachzukommen. Abermals wiederholte der Polizist seine Androhung, woraufhin sich das Messer mit Nachdruck an meine Kehle schmiegte. Zittrig öffnete ich meinen Mund und brachte, so gut ich konnte, hervor: »Lassen Sie uns gehen, sonst tut er mir etwas an.« Ich glaubte kaum, dass nur die Hälfte der Wörter bei den Beamten ankam, denn obwohl es sich anfühlte, als hätte ich sie geschrien, waren sie nur leise hervorgedrungen.

»Lassen Sie sie los«, brüllte der Polizist zurück.

Der Druck an meinem Hals erhöhte sich erneut, sowie sich auch die pochende Brust fester gegen meinen Rücken presste. Ich wurde fast eins mit dem Mann hinter mir und paradoxerweise hatte ich dadurch das Gefühl, seine Belange ohne Worte verstehen zu können. Zum Beispiel begriff ich auf einmal, dass er sich vor den neumodischen Ermittlungstechniken fürchtete, die sogar über Stimmfrequenzen erstklassige Identitätsprüfungen vollziehen konnten. Also musste ich für ihn sprechen, was ich vor allem deshalb tat, weil ich seiner Drohung glaubte: Er würde mich büßen lassen, wenn ihn die Polizisten angriffen.

»Wenn Sie uns nicht gehen lassen, tut er mir etwas an«, wiederholte ich diesmal lauter. Jetzt hatten sie mich verstanden, aber es führte nicht dazu, dass sie ihre Lauerstellung aufgaben. Im mittleren Wagen konnte ich eine Bewegung ausmachen, die auf das Erwachen der Insassen hindeutete. Gleich darauf zog mich Eric ein paar langsame Schritte zurück. Röchelnd von dem Schmerz an meinem Hals folgte ich.

»Stehen bleiben«, schrien die Beamten. Doch mein Peiniger verharrte nicht.

Ich registrierte völlig von Sinnen, dass meine Socken beim Berühren der abendlich feuchten Wiese des Vorgartens durchnässt wurden und dachte daran, dass ich mich bei diesem Wetter schnell erkälten konnte. In der letzten Woche war das kalte Klima des nahenden Winters endgültig einmarschiert. Auf der Terrasse einer Bar zu sitzen, war aufgrund der eisigen Temperaturen undenkbar geworden. Doch das brauchte mich jetzt alles nicht mehr zu interessieren. Wichtig war die Realität, in der sich mehr und mehr Polizisten aufrappelten und Stellung bezogen.

Sogleich war die raue Stimme wieder an meinem Ohr: »Sie sollen uns gehen lassen oder du stirbst.«

Mein Rücken wurde von einem kalten Schauer überflutet, der die Wärme zwischen unseren Körpern verpuffen ließ. Fortan zitterte ich nicht nur in der Stimme, sondern am ganzen Leib. »Lassen Sie uns gehen oder er bringt mich um«, flehte ich die Polizisten an.

Zeitgleich zog mich Eric weiter rückwärts, hin zur Ecke des Wohnheims, hinter der sich ein kleiner Garten befand. Ich konnte geradewegs in die unschlüssig angespannten Gesichter derer schauen, die mich nicht zu retten vermochten. Zu meiner Erleichterung verharrten sie in ihrer Position, denn sie nahmen Erics Drohung genauso ernst wie ich. Wie hätten sie auch anders gekonnt, wo doch mein Dekolleté von Blutfäden überzogen wurde, weil die Klinge mit jeder Bewegung tiefere Schnitte in mein Fleisch machte.

Als wir die Ecke erreichten, wirbelte mich Erics Hand herum. Das Messer verschwand von meinem Hals, denn er brauchte mehr Freiraum zum Rennen. Er zerrte mich mit einer überraschenden Stärke mit und ich konnte nichts anderes tun, als mich von ihm quer durch den Garten ziehen zu lassen. Mit einem Ruck riss er mich über den Zaun auf das Nachbargrundstück und ehe irgendwer meinen Hilfeschreien folgen konnte, waren wir auch von dort verschwunden.

Voller Verzweiflung bekam ich nicht einmal mehr mit, dass ich überhaupt schrie. Alles geschah wie in einem düsteren Traum. Es war mir kaum bewusst, was ich tat, und beeinflussen konnte ich es sowieso nicht. Also brachte ich Meter um Meter apathisch schreiend hinter mich, bis mich die Hand plötzlich herumschleuderte und ich mit einem harten Aufprall an einer Hauswand landete. Meine letzten Gedanken verpufften in Rauch. Die Luft drückte sich aus meinen Lungen heraus und ich rang verzweifelt nach Sauerstoff, der nicht kommen konnte, als sich starke Finger über mein Gesicht ausstreckten.

»Halt den Mund.« Ein Kopf, eingehüllt in eine schwarze Sturmmaske, schnellte auf meinen zu, nur um wenige Zentimeter davor zu halten. Ich hatte nicht bemerkt, dass Eric sie aufgesetzt hatte, um sein Gesicht vor den Polizisten zu verbergen. Aus den Löchern heraus funkelten mich dunkle Augen an. Sie waren so nah, dass ich selbst durch den Tränenfilm hindurch erkennen konnte, wie sie von einem rätselhaften Grün gespickt waren. Es wirkte fast schwarz und strahlte eine merkwürdige Tiefe aus. So tief, dass ich mich in dem Moment der Abwesenheit jeglichen Verstandes tatsächlich darin verlor.

»Wenn du still bist, passiert dir nichts.«

Sollte das ein Versprechen sein? War das etwa der Hoffnungsschimmer, an den ich mich klammern sollte? Ich wusste es nicht, denn gerade, als mein Denkvermögen begann, über die Antwort zu grübeln, riss mich Eric wieder mit sich und wir liefen weiter. Diesmal blieb ich still, da es mir klüger erschien, auf ihn zu hören. Obwohl ich keine Ahnung hatte, warum ich so empfand, kam mir seine Äußerung vertrauensvoll vor. Dabei hatte ich keinen Grund, ihm zu vertrauen, immerhin entführte er mich gerade aus einem Leben, in dem ich noch nicht mal gänzlich angekommen war.

Ob uns die Polizisten folgten oder nicht, konnte ich nicht ausmachen. Zu laut war das Rauschen in meinem Ohr und zu zerrissen meine Gedanken. Ich nahm nicht einmal wahr, woher mich der Mann führte. Selbst wenn er mich an diesem Ort zurückgelassen hätte, hätte ich den Weg zum Wohnheim niemals gefunden. Höchstens wäre ich auf die Polizisten gestoßen. Doch Eric würde mich nicht gehen lassen. Falls die Beamten wieder in Sichtweite kämen, könnte er mich als Schutzschild nutzen. Ich war die einzige Absicherung, die er hatte. Arme wurden für gewöhnlich nicht verschont, wenn sie geschnappt wurden, daher würde er seine Finger nicht eher von meinem Unterarm lösen, bevor wir sein Ziel erreicht hatten und er in Sicherheit war.

Meine Lunge brannte von der kühlen Abendluft, als wir endlich auf einen Parkplatz stießen. Darauf wartete ein schäbig aussehender Kleintransporter, dessen Türen für uns aufsprangen. Kraftlos stolperte ich in das Innere des Laderaums, wo ein Fuß nach dem anderen in meinem Weg stand. Eine mitten im Gang liegende Tasche gab mir letztlich den Rest. Ich konnte kaum so schnell gucken, da stürzte ich vornüber auf den harten Fahrzeugboden.

»Fahr los«, rief jemand, ehe die Türen zuknallten. Der Fahrer folgte dem Befehl und gerade, als ich mich aufrichten wollte, um denjenigen in die Gesichter zu schauen, die mich verschleppten, wurde ich schon wieder zur Seite geschmissen. Die nächste Kurve wirbelte mich erneut herum und ich war viel zu desorientiert, um mich zu retten.

Irgendwann schoben sich mir zwei Hände unter die Achseln. Sie zogen mich leichtfertig nach oben, bis ich wackelig auf die Füße kam und mit den Fingern in Richtung eines Griffs angeln konnte, der sich links von mir an der Wand befand. Schwer atmend schaffte ich es endlich, meine Umgebung zu registrieren.

Sie war dunkel. Die einzige Lichtquelle stellte das kleine Fenster hinter mir dar, welches in den Fahrerraum zeigte, von wo aus ab und zu das Licht von Straßenlaternen hineinfiel. Schemenhaft beleuchtete es die Gesichter der Einbrecher. Sie saßen auf beiden Seitenflächen des großen Laderaums auf verkleideten Radkästen, welche sich über beide Seiten zogen. Manche trugen vollgestopfte Taschen auf ihrem Schoß, andere hatten diese auf dem Boden abgelegt. Ihre Augen schweiften zwischen mir und Eric hin und her.

Dieser stand rechts neben mir an der Wand und starrte mich schwer atmend an. Als ich seinen Blick voller ungläubiger Verzweiflung erwiderte, zog er sich die Sturmmaske vom Kopf und ließ sich stöhnend auf die Bank sinken. Im nächsten Augenblick war es totenstill im Auto. Nur das Summen des Motors und unser Röcheln erfüllte die Umgebung. In der Ferne heulte die Sirene der Polizei, aber ich brauchte mir nichts vorzumachen - sie hatten unsere Spur verloren.

Mit dieser Erkenntnis sackten meine Knie zusammen. Ich glitt mit dem Rücken an der Fahrzeugwand hinab und fuhr mir verzweifelt durch die Haare. Wie hatte sich der Abend so rasant von einem gemütlichen Lesevergnügen zum schlimmsten Desaster aller Zeiten entwickeln können? Träumte ich in Wahrheit? Offenbar nicht, denn der Schmerz an meinem Hals und das Ruckeln des Autos unter meinen Füßen fühlten sich verdammt echt an. Realer, als ich je einen Traum erlebt hatte.

»Bitte«, hauchte ich atemlos. »Bitte lassen Sie mich gehen.«

Meine Augen richteten sich auf Eric, denn es schien, als hätte er das Sagen, obgleich er deutlich jünger war wie alle anderen. Was ihm dieses Prestige einräumte, konnte ich nicht feststellen. Überhaupt war es schwer, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen, sobald sich seine Augen von meinen angewinkelten Knien zu meinem Gesicht hinaufzogen. Sie starrten mich bedeutungsschwer an und ich erkannte, wie dahinter die Gedanken rotierten.

»Bitte«, versuchte ich es erneut. »Ich komme nicht mal von hier. Es gibt niemandem, dem ich etwas erzählen könnte. Ich werde ganz sicher nichts sagen.«

Ein ironisches Auflachen eines Mannes im hinteren Teil des Transporters riss meinen Blick von Eric los. »Tz, das glaubst du doch nicht im Ernst. Mal ehrlich, Eric.« Er lehnte sich vor, um seinen Boss anzuschauen, der am anderen Ende der Sitzbank schnaufte. »Was soll das werden? Wir sollten sie hierlassen, bevor sie noch mehr sieht.«

»Ja«, hauchte ich tonlos, doch meine Zustimmung wurde übergangen, als alle Männer plötzlich wild durcheinanderredeten.

»Bist du verrückt?«, fragte einer.

»Sie wird uns verpfeifen«, ein anderer.

»Wenn wir sie jetzt nicht mit uns nehmen und uns die Bullen kriegen, haben wir kein Druckmittel. Dann sind wir tot.«

Mehr schnappte ich nicht auf, denn mit jedem Wort, das sie über mich und mein Schicksal verloren, entglitt mir ein Stück meiner Selbstbeherrschung. Mein Körper begann zu beben wie im tiefsten Winter, die Tränen brannten wie Säure in meinen Augen und meine zitternden Lippen ließen wimmernde Laute hindurch, die in ihrer hitzigen Diskussion untergingen. Ich glaubte, erneut der Ohnmacht erliegen zu müssen.

Dann wurden alle Worte durch ein scharfes Zischen aus Erics Mund zerrissen: »Wir nehmen sie mit.«

Damit war es wieder still im Transporter und alles, was man hörte, war mein leises Schluchzen nach der Verkündung meines Urteils.

Armen-Reich

Der Weg kam mir vor wie eine Reise in die Unendlichkeit. Sobald wir endlich von Dunkelheit umringt anhielten und einer der Männer die Türen des Transporters aufstieß, war ich mir absolut sicher: Ich befand mich im Gebiet der Armen. Irgendwo mitten in den Slums, wo mich die Polizei niemals finden würde.

Während der Fahrt hatte ich alle Körperflüssigkeit in Form von Tränen ausgestoßen, sodass ich mich nun ausgetrocknet und verdorrt fühlte. Mechanisch folgte ich den Männern aus dem Transporter. Vor uns tat sich eine schmale Garage auf, die gerade groß genug war, damit sich die Kerle in einer Reihe den Weg zur Tür bahnen konnten. Von einer Taschenlampe angeführt, stiefelten sie darauf zu. Das Licht, das beim Öffnen die Garage flutete, machte mich beinahe blind, so sehr hatten sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Von einer Hand gedrängt, stolperte ich den Räubern hinterher.

Als sich meine Augen an die Helligkeit angepasst hatten, bot sich mir ein unerwarteter Anblick: Ich trat in eine riesige Halle, die nach oben sowie zu den Seiten weiten Platz ließ. Über meinem Kopf stellten an Stahlseilen hängende Brücken Gehwege dar, über die man von der einen Hallenseite zur anderen gelangen konnte. Hier und da führte eine Stahltreppe zu diesen hängenden Wegen nach oben. Wie sonst hätte man die sich rundum an den Seiten der Halle befindliche Empore erreichen sollen? Darauf verlief ein schmaler Flur, über den man in rundumliegende Räume eintreten konnte, wo hier und da ein Licht hinter den Fenstern zum Halleninnern brannte.

Unter der Empore befanden sich Türme voller Kartons, gefüllten Stahlkästen und lose aufgehäufte Materialien, die ich nicht zuordnen konnte. Sie schienen nach einem ausgeklügelten System angeordnet zu sein und erstreckten sich bis unter die Böden der schmalen zweiten Etage. Dazwischen war der Raum, bis auf die hängenden Stahlbrücken und ein paar stählernen Stützpfeilern, nach oben offen. Spärlich wurde die hohe Decke durch einige uralt aussehende Lampen erleuchtet, die nichts mit den erneuerbaren Energien von heute zu tun hatten. Sie stammten aus anderen Zeiten. Greisenhaften, dreckigen, blutigen Jahrzehnten. Von solchen Leuchten hatte ich in meinen Büchern gelesen.

»Oh, da sind sie«, war eine aufgeregte weibliche Stimme von oben zu hören. »Habt ihr mir was mitgebracht?« Der Schwung, mit dem die Frau aus einem der oberen Räume stürmte, war genauso euphorisch wie ihre Sprechweise. Ihre langen braunen Haare wehten ihr hinterher, als sie über die erste Brücke eilte und von dort aus die Treppe zu uns herunter flitzte. Sie konnte nicht viel älter sein als ich.

Ihr Auftreten erinnerte mich an mich selbst, wenn es an der Tür klingelte und ich der festen Überzeugung war, dass dahinter der Bote mit meiner jüngsten Bestellung wartete. Als sie unten ankam und den ersten Mann mit einer Tasche in der Hand erreichte, begriff ich, dass es genau das war: Sie erwartete eine Kleiderlieferung und freute sich, dass sie endlich eingetroffen war.

»Hier«, sagte ein anderer Kerl und streckte den Arm mit einer großen gefüllten Reisetasche zu ihr aus. »Das ist für dich.« Seiner Hand wurde die Tasche entrissen, wonach sein Blick mit einem Hauch von Schuldbewusstsein zu mir glitt, als wäre es ihm unangenehm, jene Sachen zu verschenken, die er zuvor meinem Haushalt entwendet hatte.

Ganz unwillkürlich wurden dadurch auch die Augen der jungen Frau auf mich gelenkt und sie erstarrte in all ihrer Euphorie. »Mein Gott«, stieß sie erschrocken hervor, nachdem es totenstill um uns herum geworden war.

»Verstaut die Sachen.« Ein Mann von Anfang dreißig schickte die Diebe zum Rand der Halle, wohin sie sich schlurfend entfernten. Einige blieben mit ihren Blicken an mir hängen. Wissbegierig. Beinahe brünstig. Sie wollten nicht verpassen, wie es mit mir ausging. Vielleicht wollten sie mich auch behalten.

Als die Frau ihre Beute fallen ließ und mit riesigen Augen auf mich zuschritt, war schon an ihrem Gesicht zu sehen, dass sie ihren Schock nicht leise kundtun konnte. »Was um alles in der Welt habt ihr getan? Was soll denn das werden?« Sie stand unmittelbar vor mir, sodass ich ihren süßlichen Geruch wahrnehmen und das funkelnde Blau ihrer Augen gut betrachten konnte.

»Es wurde heikel«, erklärte der Mann. »Die Polizei war ganz in der Nähe. Eric brauchte sie, um uns Zeit zu verschaffen und dabei nicht erschossen zu werden.«

Ihre Augen huschten zum Anführer, der schräg hinter mir stand. Erst jetzt bemerkte ich, dass seine Hand von meinem Rücken verschwunden war. Ich stand frei da und könnte zurück zur Garage rennen. Aber was dann? Wo sollte ich hin? Außerdem bezweifelte ich, dass mich die Männer nicht binnen Sekunden wieder eingefangen hätten. Daher verwarf ich jeden Gedanken an eine Flucht und zog meine Schultern höher, als könnte ich mich zwischen ihnen verstecken. Was würde Cley wohl in meiner Situation tun?

»Mein Gott«, murmelte die Frau wieder, nachdem Eric nichts sagte. Ich zuckte erschrocken zusammen, als ihre Finger plötzlich mein Dekolleté berührten, wo das Blut im Saum meines T-Shirts verlaufen war. »Was hat er mit dir angestellt?«

Sollte das eine ehrliche Frage sein? Stumm schaute ich ihr geschocktes Gesicht an, während sie mich Stück für Stück musterte. Letztlich blieb ihr Blick an meinen Füßen hängen, die von durchnässten Socken verhüllt wurden.

»Wisst ihr was?« Sie blickte die Männer böse an. »Ich weiß nicht, wie knapp es war, und kann auch nicht beurteilen, wie notwendig es war, sie mitzunehmen. Ich war immerhin nicht dabei. Aber ganz ehrlich? Das hier ist eine Nummer zu groß. Und dann schleppt ihr sie auch noch so hierher? Hat ihr denn keiner ein paar Schuhe angeboten? Schaut doch, wie sie friert.«

»June«, stöhnte der Ältere von beiden. Von Eric jedoch war weiterhin kein Mucks zu hören. Ich wusste nicht, was ich von ihrer Fürsorge halten sollte, spürte aber, dass es guttat, wenn jemand mein Leiden bemerkte. Die Männer schienen es übersehen zu haben. Während des langen Weges hierher hatten sie in tiefen Gedanken über meine und ihre Zukunft gesteckt, nie aber gesehen, welche Schwierigkeiten mir das Hier und Jetzt bereitete. Dass ich nämlich am ganzen Körper zitterte, war ihren Augen verborgen geblieben. Dafür hatte ihr Blick alles andere an mir registriert: Meine schlanke Gestalt, die goldblonden Haare, jede Falte und Kurve meines Körpers. Sie hatten beinahe gierig gewirkt, diese Männer, und das machte mir Angst.

»Nein, Jack. Ihr habt Mist gebaut und jetzt überlegt euch gut, wie ihr ihn wieder ausbügelt. Ich gebe ihr in der Zwischenzeit was Warmes zum Anziehen. Es kann ja keiner mit ansehen, wie sie zittert.« Prompt hatte mich ihre Hand am Arm ergriffen und zog mich aus der Enge der zwei Männer heraus. Es war ein beklemmendes Gefühl, deren Blicke auf mir zu spüren und nicht zu wissen, ob es okay war, wenn ich mit June mitging. Sie schien nicht in der Position zu sein, Anweisungen erteilen zu dürfen, doch zumindest vermochte sie ihre Meinung unverblümt kundzutun. Keiner protestierte, als sie die Tasche voll Kleidung griff und mich mit sich zog.

Noch ehe wir die Stahltreppe erreichten, hörte ich hinter mir das leise Raunen von Jack: »June hat recht. Was sollen wir mit ihr machen? Sie kann weder hierbleiben noch können wir sie zurückschicken, jetzt, wo sie gesehen hat, wer wir sind und was wir tun.«

Erics Antwort konnte ich nicht mehr verstehen, denn wir waren zu weit entfernt. Oben ließ June meinen Arm los, um die Tasche mit beiden Händen tragen zu können. Sie war offensichtlich schwer. Dennoch flog ihr Blick unsicher zu meinem Gesicht. »Du greifst mich doch nicht an, oder?«

Ungewollt stieß ich Luft aus meinen Lungen. Wie kam sie auf die Idee, ich würde ihr etwas antun? Mir war Gewalt und Brutalität so sehr zuwider, dass ich sie mir nicht einmal im Traum zu Nutzen gemacht hätte. Viel zu groß war die Furcht vor dem Echo. Sie würde auf diesem Fleck Erde sicherlich nicht ausbleiben. »Nein«, erwiderte ich kraftlos.

»Hätte ich auch nicht von dir gedacht. Ihr Reichen seid nicht sonderlich aggressiv.«