Zwischen Approbation und Abseitsfalle - Paul Berger - E-Book

Zwischen Approbation und Abseitsfalle E-Book

Paul Berger

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Beschreibung

Paul Bergers unkonventioneller Weg zum psychologischen Psychotherapeuten geht weiter: Nachdem er unzählige staubtrockene Theorieseminare überstanden hat, widmet er sich vollends der Therapie psychisch kranker Menschen. In der psychiatrischen Klinik, der "Kastanie", muss Paul feststellen, dass Baklava nicht gegen Zwangsstörungen helfen und Gruppentherapien zuweilen einer Tour-de-France-Etappe gleichen. Auch die ambulante Therapie stellt Paul vor Herausforderungen: Behandelt Paul möglicherweise einen hochgefährlichen Straftäter mit einem dunklen Geheimnis? Und können die Zaubertricks eines Patienten Pauls angeknackste Beziehung zu seiner Freundin Josefine retten? Zum Glück hat Paul Berger weiterhin seine Freunde an der Seite. Der Klempner und eisenharte Libero Manni fungiert Paul auch in den schwersten Stunden als Mentor. Mit dem feierwütigen Charmeur und Ausbildungskollegen Lukas macht er die Unipartys unsicher und stellt fest, dass bildhübsche Wirtschaftsstudentinnen mitunter kuriose Vorlieben haben können. Pauls Ausgleich zum kräftezehrenden Therapeutenjob ist nach wie vor der Kreisligafußball mit den dazugehörigen ausufernden Trinkgelagen. Doch die Grenzen verschwimmen: Als angehender Therapeut wird Paul unfreiwillig in die Rolle des Vereinspsychologen gehievt. Mit völliger Ahnungslosigkeit bemüht er die psychologische Trickkiste, um antriebslose Jugendspieler abzuhärten, die eigene Mannschaft frenetisch zu motivieren und ihr die Angst vor afrikanischen Kriegern zu nehmen. Die milde, empathische Grundhaltung und das wohlwollende Menschenbild stoßen in der robusten, kernigen Fußballwelt nicht immer auf Begeisterung. "Zwischen Approbation und Abseitsfalle" erzählt nicht nur die Geschichte eines bequemen, jungen, trinkfreudigen Kreisligafußballers, der Psychotherapeut werden will. Auf Paul Bergers Weg geht es auch um Freundschaft, das Erwachsenwerden, die Liebe, eigene Sinnkrisen, um Vorbilder und Toleranz. Paul sichtet Phantome der kriminellen Unterwelt, flüchtet vor einem Stalker und schließt eine Brieffreundschaft mit seinem Geschlechtsteil. Meistert der tollpatschige Paul die Approbationsprüfung der Ausbildung? Verkraftet er den Abschied von seinem treusten Weggefährten? Endlich Psychotherapeut, endlich Silberrücken... oder?!

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Inhaltsverzeichnis

Dirk Lottner mit links…

Radikaler Schwiegersohn

„Siamesen kann niemand trennen…“

Der Scheitan liebt Baklava

Die letzten Worte des Paul Berger

Hungerast am Galibier

Magie im Schnitzelkaiser

Das innere Kind

Darth Vader

Das innere Team

Nirgendwo in Afrika

Brieffreundschaft mit Paulinchen

Marek Mintal und Sankt Martin

Invasion der Müslifresser

Der Silberrücken

Dirk Lottner mit links…

„Paul Berger, der feine Psychologe, was kann ich für dich tun, mein Freund? Wie immer, ja?“, grinst Hassan, der Frisör meines Vertrauens, während er zu dem im Hintergrund laufenden „Nummer 1“ von Zuna lässig mit dem Kopf nickt und mir den Umhang anlegt.

„Ja, genau, einfach ganz normal, wie immer. Seite zwölf Millimeter mit der Maschine und dann mit Übergang, oben einfach mit der Schere, bisschen länger lassen.“ Während Hassan mit seinen lockeren, geschmeidigen Bewegungen im nächsten Musikvideo eines aufstrebenden Rappers mitspielen könnte, sitze ich verkrampft auf dem Frisörstuhl und fühle mich dabei wie bei einem Polizeiverhör in einem schlechten Film, bei dem in einem dunklen Raum nur eine Glühbirne von der Decke hängt. Frisörbesuche sind mir immer maximal unangenehm. Ich fühle mich in keiner Situation unattraktiver als auf diesem Stuhl. Wenn ich gezwungen bin, mich 15 Minuten stoisch im Spiegel zu betrachten, wirkt jede meiner zahlreichen Poren noch größer, meine Haut noch fahler, die Falten tiefer und besonders unangenehm wird es, wenn sich Hassan mit der Schere meinem Hinterkopf, an dem es mit meinen jetzt 34 Jahren langsam lichter wird, widmet. Hassan verkündete mir bereits bei meinem ersten Besuch bei ihm mit schelmischem Blick eine „strahlende Zukunft“. Auf meinen irritierten Blick hin klärte er mich darüber auf, dass er damit nicht etwa meinen Lebensweg meint, sondern die „glänzend strahlende Glatze“, die mich in ein paar Jahren erwarten würde. Seitdem zögere ich meine Frisörbesuche bis auf das Maximum hinaus, bis meine Haare in einem nicht mehr vertretbaren Maß über die Ohren wachsen und ich aussehe wie Bismarcks Jagdhund.

Apropos Lebensweg. Mittlerweile habe ich drei Jahre meiner Weiterbildung zum Psychologischen beim Psychotherapeuten Verband für Verhaltenstherapie (VFVT) in Neuss absolviert. Rund zwei weitere Jahre stehen mir bevor, ehe ich mich hoffentlich nach der finalen Prüfung ganz offiziell Psychologischer Psychotherapeut nennen darf.

Der Weg bis hierhin war eher beschwerlich als leicht, denn die Weiterbildung zu absolvieren bedeutet unter anderem, gemeinsam mit seinem Ausbildungskurs unzählige Wochenenden in ranzig-muffigen Seminarräumen zu verbringen, in einer Psychiatrie zum Praktikantentarif zu arbeiten und darüber hinaus Patienten in einer Psychotherapeutischen Praxis zu behandeln. Hierfür zahlt man bis zu 20.000 Euro. Also alles kein Zuckerschlecken, erst recht nicht für mich. Bereits im Studium zählte ich eher zu den gemütlichen Kandidaten und überschritt die Regelstudienzeit um fünf Semester, da ich meine Zeit eher in verrauchten Kneipen und auf Kreisliga-Sportplätzen verbracht hatte, als die Vorlesungen und Seminare nachzubereiten.

Ich entschied mich trotzdem dafür, den steinigen Weg der Weiterbildung zu beschreiten, da ich nach dem Psychologiestudium nicht das Gefühl hatte, Menschen wirklich helfen zu können, obwohl ich offiziell den Titel „Psychologe“ tragen durfte. Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich vor dem Studium tatsächlich falsche Vorstellungen von den tatsächlich vermittelten Inhalten hatte. Ich dachte tatsächlich, dass ich danach ein grundlegendes Verständnis von Psychotherapie habe, musste aber erkennen, dass das Psychologiestudium hiermit recht wenig zu tun hat. Zwar wurde die Theorie grob beschrieben, wie die praktische Umsetzung aussah, blieb aber offen und wird explizit nur in der besagten Weiterbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten vermittelt, auf die ich mich dann also noch zähneknirschend einlassen musste.

Doch wie erwähnt, ist dieser Schritt bereits drei Jahre her und ich kann jetzt voller Stolz berichten, dass ich mit dem Besuch aller Theorieseminare bereits einen großen Batzen hinter mir lassen konnte. Vor rund vier Monaten traf sich unser Kurs das letzte Mal zum „Abschiedsseminar“ im Institut. In den drei Jahren lernten wir natürlich nicht nur, wie man psychische Störungsbilder behandelt, sondern auch viel über die anderen Kursteilnehmer und uns selbst. Teilweise entstanden sogar richtig gute und enge Freundschaften. So traf ich beispielsweise auf Lukas, den ich direkt ins Herz schloss, da wir ziemlich ähnlich ticken und den gleichen Enthusiasmus für das runde Leder und leckere Hopfenkaltschalen teilen.

Kann ich die Frisörbesuche für gewöhnlich nur schwer ertragen, fällt es mir heute um einiges leichter, denn unter die Anspannung mischt sich Vorfreude, wenn ich daran denke, wofür ich das hier gerade über mich ergehen lasse: Heute ist es soweit- Ein Wiedersehen des Kurses bei Fraukes Hochzeit steht an! Frauke war ebenfalls Teil unserer Gruppe und hatte mit Lukas und mir eigentlich nie wirklich viel zu tun.

Im Gegenteil hatte ich eher den Eindruck, dass sie von uns aufgrund unserer zugegebenermaßen stumpfen Blödeleien, die von außen betrachtet nicht immer förderlich für das konstruktive Vorankommen mit den Seminarinhalten waren, ziemlich genervt war. Frauke entsprach der klischeehaften Psychologiestudentin, die strebsam und gewissenhaft alle Lerninhalte nachbereitete, während Lukas und ich teilweise nicht mal wussten, welches Seminarthema am Wochenende auf dem Programm steht. Dennoch lud sie auch uns beide, genau wie alle anderen Kursteilnehmer, zu ihrer Hochzeit ein.

Auf die anfängliche Erleichterung, die Wochenenden nicht mehr in den miefigen Seminarräumen verbringen zu müssen, folgte schnell eine kleine Form von Sehnsucht.

Natürlich fehlte mir vor allem das Rumalbern mit Lukas, aber komischerweise vermisste ich aber auch die anderen Charaktere wie beispielsweise Christin, die wie ich aus Köln stammt und mit der ich daher oft gemeinsam zu den Seminaren fuhr, auch wenn sie mich manchmal mit ihrer angepassten und politisch überkorrekten Art zur Weißglut brachte. Oder Julia, die insbesondere Sonntagsnachmittags, wenn mein Hirn sich schon darauf einstellte, sich bei einer wohlverdienten Dönerpizza in Jogginghose auf der Couch die Bundesligazusammenfassung vom Wochenende reinzuziehen, mit zwanghaft kleinlichen Nachfragen die Dozenten penetrierte, obwohl alle einfach nur noch nachhause wollten.

Bei dem Gedanken an das Wiedersehen und die ganzen Charaktere, die man auf ihre Arten und Weisen doch irgendwie alle lieb gewonnen hat, packt mich ein leichter Anflug von Euphorie.

Zwar spielt mein geliebter FC Köln heute im Abstiegskampf gegen Freiburg und ich muss auf das traditionelle Fußballgucken mit Marius, meinem Mannschaftskollegen bei unserer Kreisligatruppe Sportfreunden Auweiler-Esch II in der „Kaschemme“ verzichten, aber die unbändige Vorfreude auf das heutige Wiedersehen hat mir die Absage nicht wirklich schwer gemacht.

Auch Lukas ist mächtig motiviert. Vor drei Tagen schickte er mir ein Bild von sich in seinem heutigen Outfit: ein komplett beiger Anzug, darunter ein weißes, körperbetontes Baumwoll-Oberteil gepaart mit weißen Sneakern. Zudem gab er ein eindeutiges Ziel aus: „Angriffspressing bei Jette a la Jürgen Klopp“. Auf Jette, unsere alternativ-esoterische Leidensgenossin in der Weiterbildung, hatte Lukas die letzten drei Jahre immer ein Auge geworfen, konnte bei ihr aber aufgrund seines Rufs als vermeintlich leicht proletenhafter Kreisligafußballer, der seine Wochenenden lieber auf dem Sportplatz als auf einer Klimademo verbringt, nie wirklich landen.

Bei seinem Anblick wurde mir etwas mulmig. Zwar hatte ich vor einiger Zeit noch darüber nachgedacht, mir ebenfalls ein neues Outfit zuzulegen, aus Faulheit hab ich’s dann aber doch immer wieder vor mir hergeschoben. Ich stehe also weiterhin ohne neuen Style da und tat heute Morgen das, was ich bereits vor zwei Jahren an der Hochzeit meiner Cousine tat: Ich kramte meinen mittlerweile 15 Jahre alten Anzug vom Abiball heraus, den ich einst zusammen mit meiner Mutter bei C&A ergatterte. Zwar sitzt die Hose jetzt etwas straffer, noch straffer als vor zwei Jahren, aber alles noch im Rahmen. Auch beim Geruchstest bestand der Dress zu meinem großen Erstaunen, obwohl er vor zwei Jahren nach der besagten Hochzeit inklusive schweißtreibender Tanznacht ohne zu lüften oder auch nur irgendeine Art der Reinigung wieder im Schrank landete.

Nachdem ich die Tortur endlich durchgestanden und Hassan sein wohlverdientes Trinkgeld dagelassen habe, steige ich erleichtert in meinen klapprigen Fiat Punto und atme tief durch. Dabei stelle ich fest, dass der Schweiß nicht nur der vorherigen Anspannung geschuldet war, sondern zu einem nicht unwesentlichen Anteil auch der aktuellen Temperatur. Ich starte das Auto und das Thermometer zeigt bereits jetzt um halb elf 21 Grad an.

„Einfach geil, endlich frei und die Woche ist vorbei, nur du und ich, nur du und ich, wir zwei…“ Zu den Klängen von Wolfgang Petrys „Einfach geil“, meiner persönlichen Wochenendhymne aus den klirrenden Autoboxen läute ich für mich ganz offiziell die bevorstehenden Feierlichkeiten ein und steuere meine nächste Station an. Denn auch wenn es kein neues Outfit wurde, will ich mir wenigstens noch ein kleines Highlight zuzulegen. Nachdem wir uns gestern im Anschluss an das Freitagstraining mit den Sportfreunden geduscht hatten und ich mich in der Kabine fertigmachte, um meine Freundin Josefine, mit der ich seit nunmehr rund fünf Monaten zusammen bin, zum Essen auszuführen, hörte ich plötzlich hinter mir einen Aufschrei.

„Brooo, was ist das denn? Geht gar nicht, Alter!“ Irritiert drehte ich mich um und blickte in da fassungsloses Gesicht meines Mitspielers Julian. Der 21-jährige Jungspund zeigte voller Entsetzen auf mein Parfüm, das ich in der Hand hielt, um mir eine elegante Duftnote zu verleihen.

„Junge, was ist das?“ Auch Yannis, ebenfalls ein Mitspieler der jüngeren Generation, mischte sich ein.

„Hä, wieso? Was ist denn damit? Benutze ich seit Jahren. Champions League-Version vom adidas Parfüm, gibt’s im DM.“ Julian und Yannis guckten sich an und brechen in Gelächter aus.

„Aus dem DM… Hör auf, Paul! Da kannst du dich direkt mit nassem Katzenfutter einreiben! Du brauchst was Richtiges!“ Es folgte eine kurze Diskussion zwischen den beiden, welches Parfüm gerade das Angesagteste sei. Ich war erstaunt, wie viele verschiedene sie kannten und mit welchen für Beschreibungen sie um sich schmissen. Als ich mein Preislimit von 20 Euro nannte, einigten sich beide recht schnell und legten mir „Blue Jeans“ von Versace nahe. Yannis, der eher für verbale Aussetzer inklusive Beleidigungen mit Kraftausdrücken und Undiszipliniertheit bekannt war, fing an zu referieren und wirkte plötzlich wie ein Mann von Welt. „Blue Jeans“ sei ein „klassischer Oldtimer“ mit einer „herbblumigen Note aus Rose und Anis“, das auch „etwas grasiges“ habe.

„Aber halt auch ein bisschen Klostein… Aber passt schon, insgesamt schon eher weich, aber nicht so easy going, nicht so richtig abgerundet. Aber für 20 Euro top!“

Während ich mich gerade auf den Weg zur lokalen Douglas-Filiale mache, male ich mir aus, was mich heute erwarten wird. Wie wird die Location zur Hochzeitsfeier aussehen? Wer aus dem Kurs wird da sein?

Zwei Stunden später sitze ich gemeinsam mit Josefine, meiner Herzensdame, und Lukas in Christins Auto und komme den Antworten auf meine Neugier ein Stück näher. Wir steuern zunächst die Kirche in Ruppichteroth, einem Ort zwischen Köln und Bonn, an. Das Thermometer zeigt mittlerweile 32 Grad, Christins Auto hat keine Klimaanlage und der „Blue Jeans“-Duft von Versace mischt sich zunehmend mehr mit dem Geruch meines kernigen Sommerschweißes. Als wir nach rund 45 Minuten Fahrt endlich ankommen, bin ich so nassgeschwitzt wie Kevin Kuranyi nach einem Vorbereitungslauf bei „Quälix“ Magath zu Schalker Zeiten. Auch Lukas hat sichtlich zu kämpfen, das weiße Baumwoll-Oberteil entpuppt sich als Fehler. Es zeigen sich große Schweißflecke unter den Achseln.

Vom Parkplatz aus ist schon eine festlich gekleidete Menschenmenge von rund 30-40 Personen zu sehen, die vor der Kirche wartet. Von Weitem erkenne ich bereits unseren Ausbildungskollegen Bertram und wir steuern direkt zielsicher auf ihn zu. Wir liegen gut in der Zeit, sodass wir noch Zeit für einen lockeren Plausch haben.

„Na ihr, schön euch zu sehen!“ Bertram grinst fröhlich und nimmt uns in den Arm. Seine lockere, gelassene Art, die er schon während den Theorieseminaren versprüht hatte, beeindruckt mich sofort aufs Neue. Mit Bertram kamen Lukas und ich immer sehr gut zurecht, auch wenn wir leider viel zu wenig Zeit miteinander verbrachten, da wir trotz der verspürten Harmonie abseits der Psychotherapie keine großen Gemeinsamkeiten hatten. Bertram ist ein gemütlicher Typ Anfang 50, der sich mit seinem Mann lässige Jazz-Platten bei einem abendlichen Glas Wein anhört, während Lukas und ich mit unseren Anfang 20-jährigen Mannschaftskollegen über Mädels und Fußball philosophieren.

Lukas Outfit erhält von Bertram mit anerkennendem Blick das Prädikat „très chic“, Josefine und Christin seien eine „Augenweide“, während mein Style völlig unkommentiert bleibt. Bertram selbst trägt eine Anzugshose, dazu ein hellblaues Hemd inklusive Hosenträger und Fliege, abgerundet von einem braunen Hut. Neben ihm steht ein rund 1,85m großer, durchtrainierter Mann mittleren Alters mit dunkelbraunem Haar und Dreitagebart in einem eleganten dunkelblauen Nadelstreifenanzug- Er erinnert mich an Ben Affleck.

„Darf ich vorstellen? Das ist mein Mann Konstantin!“ Konstantin kannten wir bislang nur aus Bertrams Erzählungen. Konstantin ist direkt ein sehr sympathischer Gesprächspartner und wir erfahren, dass sich die beiden am Bodensee gut eingelebt haben, nachdem sie ziemlich direkt nach unserem letzten Seminar ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlagerten, weil Konstantin dort als Zahnarzt bei einem guten Freund in dessen eigener Praxis einsteigen konnte.

Plötzlich tippt mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich rum und blicke in das Gesicht eines ungefähr Mitte 40 Jahre alten Mannes.

„Hallo Henning, kennst du mich noch?“ Ich bin etwas überfordert, denn ich habe den Mann noch nie in meinem Leben gesehen. Er ist etwas übergewichtig, trägt einen zu großen, komplett schwarzen Anzug, der mehr nach Beerdigung als Hochzeit aussieht, die Brille sitzt etwas zu weit vorne auf der Nase, sodass er mich über die Ränder hinweg anblickt, seine überaus volle Haarpracht steht etwas zerzaust vom Kopf ab.

„Ehm nee, sorry, ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich heiße nicht Henning.“

„Du bist nicht der Henning, der am 16. März Geburtstag hat?“ Der Mann hat einen starren Blick, sucht aber keinen Augenkontakt. Sein Ton ist bestimmt, aber irgendwie völlig emotionslos.

„Nee, ehrlich, Sie verwechseln mich. Ich heiße Paul und habe im September Geburtstag.“

„Ich dachte, du warst auch damals im Mettmann Haus mit mir.“

In meinem Kopf beginnt es zu rattern. Das „Mettmann Haus“ sagt mir etwas. Es ist eine pädagogische Einrichtung in Köln-Ehrenfeld.

„Ahh, Sie meinen bestimmt meinen Bruder. Der heißt Henning und war tatsächlich zu seiner Zivildienst-Zeit da. Ich sehe ihm etwas ähnlich, das höre ich häufiger.“

Der Mann schaut mich ausdruckslos an. Die Verwechslung stimmt mich allerdings etwas nachdenklich, denn mein Bruder Henning ist nicht weniger als gute 15 Jahre älter als ich und mittlerweile Ende 40. Zwar wird der „ungünstige Wirbel“ am Hinterkopf bei mir, wie schon erwähnt, größer und gleicht so langsam einer Mönch-Tonsur, was mich etwas neidisch auf das dichte, Monchichi-artige Haupthaar meines mir noch unbekannten Gesprächspartners werden lässt, aber auf Ende 40 wurde ich bis jetzt von noch keinem geschätzt. Um die Stille zu unterbrechen, stelle ich mich vor.

„Mein Name ist Paul. Wie heißt du denn?“

„Frank Strackmann.“

„Ah ja, hallo Frank. Schön dich kennenzulernen.“

Frank reagiert nicht auf meine Antwort und meidet den Blick, verharrt dabei einfach stumm auf der Stelle, sodass eine unangenehme Stille entsteht. Beim Nachnamen „Strackmann“, den auch Frauke bis zum Tag der standesamtlichen Hochzeit trug, macht es bei mir plötzlich Klick. In unserem Abschiedsseminar vor vier Monaten erwähnte Frauke, dass sie sich zukünftig auf Erkrankungen aus dem Autismus-Spektrum spezialisieren wolle, da ihr Bruder hierunter leide. Ca. ein bis drei Prozent der Bevölkerung sind autistisch. Die Mehrheit davon (ca. 75 %) fallen in die Kategorie Asperger-Autismus, was auch bei Frank der Fall zu sein scheint.

Personen mit einer Autismus-Spektrums-Störung leiden unter anderem unter Beeinträchtigungen beziehungsweise Auffälligkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation. Franks schräge Erscheinung inklusive der monotonen Stimmlage und der nicht vorhandenen Fähigkeit, den Blickkontakt zu halten, passen hierzu.

„Du hast da Schweiß.“ Frank unterbricht die Stille und deutet auf meine Achseln. Ich werde rot und mir wird noch wärmer, während alle Blicke auf die Schweißflecke wandern, die mittlerweile sogar schon am Sacko erkennbar sind.

„Hm, jaa… Ist schwer heiß heute“, stammele ich verlegen und kriege leider keine schlagfertige, lustige Antwort raus. Autisten sind meistens sehr ehrlich und direkt, was manchmal unangemessen oder unhöflich wirkt. Die Forschung davon aus, dass sowohl die Anatomie als auch die Funktionalität des Gehirns bei Autisten verändert ist, was wiederum zu emotionalen Defiziten und in der Folge nicht selten zu Problemen im Sozialleben führt. Der Hinweise auf meinen Schweißfleck ist also einfach eine reine Tatsachenbeschreibung, die man mit einem gewissen sozialen Gespür besser für sich behält, was Frank störungsbedingt aber fehlt. Zwar kann ich mir Franks Verhalten erklären, meine emotionale Reaktion und mein Schamempfinden werden hierdurch aber leider nicht gemildert.

„Sollen wir mal reingehen? So langsam setzen sich alle in Bewegung.“ Bertram erlöst mich und ich nehme den Vorschlag dankbar an. Mittlerweile ist die Hochzeitsgesellschaft auf locker 80 bis 90 Leute angestiegen. Leider kann ich keinen anderen Teilnehmer aus unserer Weiterbildung entdecken, was mich ein wenig traurig stimmt. Nachdem ich beim Abschiedsseminar noch bei Christins Äußerung, dass wir uns „ja sowieso alle regelmäßig wiedersehen werden“ innerlich mit den Augen rollte, stimmt es mich jetzt doch ein bisschen traurig, dass kein anderer außer Christin, Bertram, Lukas und mir aufgetaucht ist. Ich denke an unseren leicht psychopathischen Kollegen Georg. Dieser hatte sich während der Weiterbildung eigentlich immer nur über „nervige Patienten“ beschwert hatte und wollte das schnelle Geld mit möglichst wenig Aufwand machen. Ich male mir aus, wie er sich Zigarre rauchend mit irrem Joker-Lachen und den Füßen auf dem Schreibtisch seiner Privatpraxis tierisch darüber freut, wie er Lukas und mich über drei Jahre lang für seine Zwecke manipuliert und ausgenutzt hat, um uns dann einfach fallen zu lassen. Und was war mit Jette und Julia? Waren sie froh, sich nicht mehr mit Proleten wie uns die Wochenenden, um die Ohren schlagen zu müssen? Hat ihnen die gemeinsame Zeit denn nichts bedeutet…?

Auch Lukas scheint es ähnlich zu gehen. Leise raunt er mir enttäuscht zu: „Ey, wo ist Jette…?“

Gedankenverloren und etwas bedröppelt setze ich mich mit Josefine an meiner rechten Hand in Bewegung und bemerke plötzlich, wie Frank mich sehr dicht und unangenehm nah meiner linken Seite begleitet. Mir fällt dabei auf, dass seine Schritte sehr raumgreifend und staksig sind, die Arme hält er etwas zu steif neben dem Oberkörper, der Kopf ist leicht nach vorne gebeugt. Franks Gehstil erinnert mich an den eigenartigen Laufstils Erling Haalands, das norwegische Wunderkind des BVBs. Irgendwie wirkt alles etwas unkoordiniert, auch wenn das Haaland nicht davon abhält, am laufenden Band Torrekorde aufzustellen, was ich mir bei Frank aber nur sehr schwer vorstellen kann. Franks ungelenker Gehstil ist ebenfalls kein Zufall, sondern reiht sich ein in die besonderen Charakteristika seiner Krankheit. Der Grund für die motorische Ungeschicklichkeit liegt in Besonderheiten der Wahrnehmungsverarbeitung des eigenen Körpers im Raum bei Autisten.

„Wer ist das?“, raunt Josefine mir leise zu. „Und was will der denn von dir? Voll der Weirdo!“

„Erkläre ich dir gleich“, flüstere ich leise zurück. Auch nach 40-50 Metern befindet Frank sich weiterhin etwas zu dicht neben mir, sodass in mir ein leichtes Unbehagen aufsteigt und ich das Bedürfnis verspüre, Abstand zu gewinnen.

„So Frank, wir gehen etwas weiter nach hinten in der Kirche. Wir sehen uns bestimmt später nochmal“, sage ich in der Annahme, dass Frank jetzt endlich in die erste Reihe zu seiner Familie abdackelt.

Bertram und Konstantin steuern zielsicher eine Bank im hinteren Kirchen-Drittel an. Lukas, Christine, Josefine und ich folgen ihnen. Doch auch Frank zieht nach und zwängt sich neben mich in die Reihe, sodass zwischen uns wirklich kein Millimeter mehr Platz ist und sich unsere Arme berühren. Mit aufgesetztem Lächeln schaue ich ihn an. Frank erwidert meinen Blick mit starrer Miene. Auch wenn ich weiß, dass Frank sein Verhalten nicht gezielt steuert, geht er mir auf den Sack. Ich bin genervt.

Zum Glück erklingt endlich die Orgelmusik und Frauke betritt an der Seite ihres Vaters die Kirche. Alle Blicke liegen auf ihr und alle verfolgen andächtig und teilweise schon ergriffen mit ein paar Tränen in den Augen ihren Weg zum Altar.

Mit dem Einsetzen der lauten Musik wird Frank unruhiger und beginnt, nervös zu wippen und murmelt etwas vor sich hin. Ich verstehe nur: „VfB Stuttgart…52 Tore…“ Eine Frau in der Reihe vor mir dreht sich um und wirft uns einen bösen Blick zu. Ich versuche noch, entschuldigend zurückzuschauen, aber sie schüttelt nur mit dem Kopf. Ich gucke Frank nochmal eindringlich an und will ihn mit einem leisen „Pssscht“ zum Schweigen bringen.

Doch während der folgenden Trauung wird es nicht besser. Im Gegenteil, Frank murmelt unentwegt vor sich hin, zwischendurch fragt er mich unter anderem nach meinem Geburtstagsdatum und wo Henning jetzt wohnt. Er winkt auch dem Hochzeitsfotografen, der sich gerade voll und ganz auf das Brautpaar konzentriert, und fordert ihn wie in einer Großraumdisco, die hauseigene Fotografen hat, mit einer Geste auf, ein gemeinsames Foto von ihm und mir zu machen. Der Fotograft schüttelt nur ungläubig mit dem Kopf, sodass ich nur entschuldigend mit den Schultern zucken kann. Den immer finsterer werdenden Blick der Dame vor uns registriert Frank nicht. Ich versuche immer, ihn mit möglichst knappen Antworten zum Schweigen zu bringen, was aber nur von mäßigem Erfolg gekrönt ist. Frank ist unkontrollierbar. Lukas, der weiter in der Bankmitte sitzt, bemerkt meine Not. Er kann sich nur mit offensichtlich großer Mühe kontrollieren, sein Lachen zu unterdrücken. Josephine, die zwischen uns sitzt, kommentiert das Ganze mit: „Ihr seid wieder so unmöglich, reißt euch doch bitte mal zusammen!“

Als die Trauung endlich vorbei ist, fällt mir ein Stein vom Herzen. Ich suche schnellstmöglich den Weg nach draußen und ziehe Josefine hinter mir her.

„Was war denn da los?!“, fragt sie ziemlich angepisst.

„Der hat einfach keine Ruhe gegeben, was soll ich denn machen?“, versuche ich mich zu entschuldigen. Just in dem Moment taucht Frank wieder auf. Er hat mich gesucht. Doch die Erlösung naht.

„Ach Frank, da bist du ja! Wir haben dich schon gesucht!“ Fraukes Vater kommt strahlend auf uns zu. „Aber wie ich sehe, hast du neue Freunde gefunden. Ich bin Wilfried, Fraukes Vater, freut mich!“ Nach kurzer Vorstellungsrunde widmet sich Wilfried anderen Gästen und nimmt Frank nach energischer Aufforderung, weil der zuerst bei uns bleiben möchte, mit.

Nach der Gratulation machen wir uns auf den Weg zur eigentlichen Hochzeitslocation, bei der wir nach rund zehnminütiger Fahrt ankommen. Mittlerweile brennt der Planet, das Thermometer zeigt 31 Grad. Die Feier findet in einem familienbetriebenen Hotel statt. Es ist umgeben von Wiesen und Wäldern und macht einen gemütlichen Eindruck.

Nachdem sich alle Gäste eingefunden haben, hält Fraukes Mann Benjamin, der mich an Edward Snowden erinnert, eine kleine Willkommens-Rede im Eingangsbereich des Hotels und mit einem Glas Sekt werden die Feierlichkeiten eingeläutet. Zwischen den geschmückten Stehtischen starten die ersten lockeren Plaudereien. Lukas scheint sich bestens mit Konstantin zu verstehen, Josefine und Christin unterhalten sich derweil angeregt über das neuste Ed Sheeran Album. Ich stehe etwas verloren herum und konzentriere mich daher erstmal aufs Sekttrinken und Käsehäppchen essen, um nicht zu unbeholfen zu wirken. Da ich mir nach drei Gläsern Sekt und rund doppelt so vielen Käsewürfeln aber irgendwie doch etwas doof vorkomme und sich das Käse-Sekt-Gemisch in meinem Magen-Darm-Trakt zu regen beginnt, greife ich auf eine altbewährte Taktik zurück, die ich auch an meinem Arbeitsplatz in der Klinik gerne nutze, um ein wenig Zeit von der Uhr zu nehmen oder aus unangenehmen Situationen zu entkommen. Da mich sowieso niemand beachtet, gehe ich, ohne ein Wort zu verlieren in Richtung der Toiletten und mache es mir dort in der hintersten Kabine mit meinem Handy bequem.

Nachdem ich mehrere Minuten in einem tranceartigen Zustand mit offenem Mund auf irgendwelchen Instagram-Meme-Seiten verbracht habe, gönne ich mir jetzt noch ein paar Minuten des FC-Spiels über die Sky Handy-App, auf die ich Dank den Account-Daten meines Vaters immer Zugriff habe. Seit kurzem bin ich zudem stolzer Besitzer einer 50 GB Datenflatrate, die mir Yannis, Mannschaftskamerad, Parfumberater und O2-Mitarbeiter in Personalunion, vor kurzem aufschwatzte und muss mir keine Gedanken mehr über ein vorzeitig aufgebrauchtes Datenvolumen machen. Rückblickend zu einem doch etwas teuren Preis, aber das Verkaufsargument mit dem gratis Tablet inklusive klang in dem Moment zu verlockend.

Nach dem ganzen Stress rund um Franks notgedrungene Betreuung fühle ich mich durch meine kleine Wellness-Einheit mittlerweile wieder einigermaßen gelassen, als ich plötzlich durch ein schamloses Furzkonzert aus der Kabine direkt nebenan aus meiner Entspannungsphase gerissen werde. Die Orchestrierung der Darmgeräusche und das angestrengte Schnauben, gepaart mit dem Kommentar „Maria und Josef“ deuten auf einen älteren Hochzeitsgast hin. Zeit zu gehen! Um die für mich immer sehr unangenehme Begegnung am Waschbecken in schweigender Stille nach einem ausgedehnten Toilettengang zu vermeiden, verharre ich aber nach der Spülung von nebenan noch etwas in meiner Kabine, um sicherzugehen, dass der Kollege von nebenan, die Toilette auch wirklich verlassen hat.

Wieder im Eingangsbereich angekommen, sehe ich wie alle Gäste gerade vor dem Hochzeitsfotografen für ein Gruppenfoto mit Frauke und Benjamin in der Mitte posieren.

„Oh, der Paul ist gar nicht drauf! Der war bestimmt auf Toilette“, ruft jemand plötzlich. Es ist Frank und seine unverblümt direkte Art, durch die ich direkt von 80 Augenpaaren gemustert werde. Scheinbar hat mich keiner wirklich vermisst, eine rettende Nachricht von Josefine oder Lukas hatte ich jedenfalls nicht aufs Handy bekommen.

„Eh, hehe… Ne, ehm, musste kurz telefonieren“, stammle ich vor mich hin. Um der Situation zu entfliehen, dränge ich mich schnell zwischen Josefine und Lukas, hierbei rempel ich etwas unbeholfen noch zwei mir unbekannte Hochzeitsgäste an. Während der Fotograf erneut dirigiert und Posingempfehlungen gibt, raunt mir Lukas leise lachend zu: „Na, warst du kacken?“ Nachdem ich ihm einen Ellenbogenstoß versetzt habe, geht es weiter mit dem nächsten Programmpunkt: die Hochzeitstorte wird angeschnitten. Dazu kredenzen Fraukes Brautjungfern, die von Lukas sehr intensiv gemustert werden, ein Buffet an selbstgebackenen Cupcakes.

Als ich mir gerade den ersten Bissen in meinen Blaubeer-Cupcake gönne, taucht schon wieder Frank neben mir auf. Er sieht mich wieder bohrend an und sagt dabei: „Der FC steigt nicht ab.“ Ich kann nicht direkt antworten, weil meine Zunge damit überfordert ist, die doch etwas zu große Menge an Teig- und Blaubeerstücken in meinem Mundraum zu koordinieren. Während ich krampfhaft versuche, den Bissen runterzuschlucken, herrscht wieder eine komische Stille. Dankenswerterweise schaltet sich Lukas in das Gespräch ein.

„Bist du denn FC-Fan?“

Frank antwortet mit einem kurz angebundenen: „Ja“, lässt aber nichts Weiteres mehr folgen. Nach zehn Sekunden des Schweigens spricht Frank Lukas an.

„Du siehst aus wie Jonas Hector.“ Dass Lukas mit dem Kölner Sunny Boy und Frauenschwarm Jonas Hector verwechselt wird, während Frank mich für meinen 15 Jahre älteren Bruder hält, versetzt meinem Ego den nächsten Dämpfer… Lukas lacht. Frank mustert Lukas eingehend.

„Wieso lachst du?“ fragt er trocken. Lukas wirkt etwas verunsichert und belustigt zugleich.

„Ja, also ich meine ich spiele zwar auch Fußball, aber mit Jonas Hector wurde ich bis jetzt noch nicht verglichen.“

„Aha. Wo spielst du Fußball?“, fragt Frank.

„Ich spiele beim Beueler SC.“

„Moment mal, beim Beueler SC sagt du? Ehrlich jetzt? Mit denen haben wir uns früher immer hitzige Duelle geliefert. Ich habe jahrelang bei Schwarzrheindorf gespielt.“ Konstantins Interesse ist geweckt. Schlagartig steht er mit einem einzigen großen Schritt neben uns und scheint erleichtert zu sein, sich aus dem Small Talk mit Josefine und den anderen über den Pollenflug im Mai, in dem laut Christine „vor allem die Kiefer Hochkonjunktur“ hat, verabschieden zu können.

„Ach echt? Was für ein Zufall. Dann hast du bestimmt auch gegen meinen Onkel gespielt, der war bei Beuel jahrelang Zehner und 1995 im legendären Aufstiegsspiel gegen Schwarzrheindorf dabei.“, sage ich.

„In der Saison 94/95 war der FC Zehnter in der Bundesliga mit 32:36 Punkten, das war noch vor der Einführung der Drei-Punkte-Regel“, grätscht Frank gewohnt emotionslos dazwischen. Lukas und Konstantin gucken sich irritiert an, wohingegen mir langsam klar wird, was es mit Franks Fußball-Genuschel in der Kirche und seinen offensichtlich vorhandenen Statistik-Kenntnissen auf sich hat. Asperger-Autisten haben häufig ein ganz bestimmtes Sonderinteresse, dem sie mit Begeisterung nachgehen. Diese Sonderinteressen können sehr unterschiedlich sein und sind meist sehr sonderbar. Beispielsweise könnte ein solches für den Busfahrplan von Castrop-Rauxel bestehen oder für Schmelzpunkte verschiedener Metalle. Oder halt für Fußballstatistiken wie bei Frank.

„Eh ja, wow. Du bist ja ein Statistik-Genie, Frank“, kommentiert Lukas anerkennend, ehe Konstantin wieder zurück zum eigentlichen Thema lenkt.

„Moment mal, dein Onkel war 10er in dem Aufstiegsspiel? Das ist aber nicht der Günther Segert oder? Von dem Spiel habe ich heute noch Alpträume…“ Lukas Augen werden groß.

„Doch, doch. Der Günther ist der Bruder meines Vaters.“

„Das gibt’s ja nicht“, lacht Konstantin. „Sei mir nicht böse. Der Günther war ein überragender Typ und Fußballer, aber da waren auch viele Jungs bei, die das Viereck beim Tetris gedreht haben.“

„Das Viereck beim Tetris drehen? Das macht keinen Sinn“, merkt Frank nüchtern an und schüttelt den Kopf. Aufgrund der eingeschränkten Fähigkeit in der sozialen Interaktion und Kommunikation neigt er dazu, das Gesprochene häufig sehr wörtlich zu nehmen. Lukas und meine Blicke treffen sich, er nickt wissend und scheint jetzt auch gerafft zu haben, was bei Frank Phase ist, während Konstantin weiter etwas irritiert ist und das Thema wieder aufnimmt.

„Eh ja… Jedenfalls hatten es die Duelle immer richtig in sich. 1999 standen wir uns auch im Pokalfinale gegenüber, das weiß ich noch als wäre es gestern. Der Günther hat damals die entscheidende Hütte gemacht. In den Duellen sahen wir echt immer schlecht aus…“

„Im DFB Pokal Finale 1999 hat Werder Bremen gewonnen, Frank Rost hat den entscheidenden Elfmeter gegen Bayern München verwandelt.“

„Wow, Frank du weißt ja wirklich einiges“, sage ich anerkennend, um Franks deplatzierte Einwürfe irgendwie in das Gespräch zu integrieren und um ihn nicht allzu komisch dastehen zu lassen.

„Ja, ich weiß alles“, antwortet Frank in einem neutralen Ton, der nicht so wirkt, als wolle er damit prahlen. Konstantin lacht.

„Ach ja? Wer war denn in der Saison 1998/1999 Tabellenfünfter?“

Ohne zu zögern sagt Frank: „Der 1. FC Kaiserslautern mit 57 Punkten.“ Das Lachen schwindet langsam aus Konstantins Gesicht, der uns verunsichert anguckt.

„Eh, echt jetzt ja? Moment mal… Das muss ich prüfen.“ Skeptisch blickend zückt er sein Iphone, ehe er mit hochgezogenen Augenbrauen bestätigt: „Du hast Recht… Und 1993/1994? Wer war damals 13.?“

„Dynamo Dresden“, kommt es von Frank wie aus der Pistole geschossen. Nachdem Konstantin auch das wieder überprüfte und anerkennend nickt, machen er und Lukas sich daraufhin einen Spaß daraus, Frank die verschiedensten Statistiken zu entlocken. Sie kriegen sich nicht mehr ein, während bei mir das schlechte Gewissen wach wird. Ich ziehe Lukas kurz zur Seite.

„Ey, ihr könnt den doch nicht hier so ausfragen und euch über den lustig machen!“

„Ach Paul, beruhig dich mal, Mann! Hol mal den Stock aus dem Arsch. Der hat doch auch seinen Spaß! Wir machen uns nicht über ihn lustig, sondern haben gemeinsam Spaß. Du weißt doch auch, was die Dozentin gesagt hat zu Autismus. Mit der Festplatte und so!“ Die Dozentin in unserem Weiterbildungsseminar erklärte uns damals, dass bildlich bei Asperger-Autisten das Betriebssystem Linux läuft, während bei dem Großteil der anderen Menschen Windows auf der Festplatte ist. Die Prozesse laufen halt einfach anders ab, sind dadurch aber nicht zwangsläufig „gestört“ oder schlecht.

Während sich Lukas mit dieser Erklärung wieder abwendet, ist auch Bertram sichtbar genervt und verdreht die Augen, als sein Mann erneut irgendeine belanglose Statistik aus der Saison 2006/ 2007 abfragt. Ich nutze die Gelegenheit, gerade mal aus Franks Fokus verschwunden zu sein und habe ein längeres, cooles Gespräch mit Bertram, in dem wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand bringen und die Ausbildung nochmal Revue passieren lassen. Wieder überkommt mich das Gefühl vom Abschiedsseminar, als ich erkannte, wie schade ich es fand, mich so wenig mit Bertram ausgetauscht zu haben.

„Liebe Gäste, bitte alle mal kurz herhören.“ Fraukes Mann Benjamin hat sich ein Mikro geschnappt.

„Ich würde euch bitten, dass ihr euch so langsam rüber in Richtung eurer Plätze begebt, damit wir gemeinsam zu Abend essen können.“ Bertram und ich schlendern rüber in den benachbarten Raum. Lukas und Konstantin, die neuen besten Freunde, lassen sich bereits an den mit Namensschildern beschrifteten Plätzen an einem runden Tisch nieder. Bei den beiden angekommen, halte ich Ausschau nach meinem Namen. Etwas verwundert stelle ich fest, dass die Namensschilder von Josefine und mir nicht an dem Tisch zu finden sind. Josefine, die inzwischen ebenfalls am neuen Ort des Geschehens eingetroffen ist, schaut mich verwundert an.

„Wo sind unsere Plätze?“ Schulterzuckend gucke ich sie an und drehe mich zu dem Tisch hinter mir. Dort sehe ich unsere Namen. Scheinbar ist der Plan, dass wir Tafelrunde gemeinsam mit den mir völlig unbekannten Personen Hannelore, Waltraud, Joachim, Reinhardt, Marianne und Rolf bilden Mir entweicht ein enttäuschter Seufzer, während ich sehnsüchtig zum Nachbarstisch gucke, an dem sich der Rest unserer Truppe niederlässt, ohne auch nur die kleinste Notiz davon zu nehmen, dass wir getrennt wurden.

Noch bevor ich meinen Unmut gegenüber Josefine äußern kann, steht plötzlich Frauke neben mir.

„Hey Paul, sorry, das wollte ich dir eben schon sagen. Wir haben es nicht ganz geschafft, die Plätze so anzuordnen, dass jeder, der sich kennt, beieinander sitzen kann. Wir mussten ein bisschen durchwürfeln, sonst hätte es nicht hingehauen. Benjamins Freunde aus dem Wirtschaftsingenierwesen-Studium sitzen hier bei Lukas und Co.“ Just in dem Moment lassen sich vier Jungs an dem Tisch nieder, die aussehen wie Mark Forster samt Band. Mein Blick verfinstert sich.

„Zwei weitere Plätze passen da nicht mehr ran. Aber ich dachte mir, dass du damit vielleicht am wenigsten ein Problem hast. Wie hat Richi damals noch gesagt? Sozialer Jongleur? Da musste ich wieder dran denken, als wir den Sitzplan erstellt haben und direkt schmunzeln. Ihr sitzt jetzt bei meinen Großeltern und deren Geschwistern.“ So schnell wie Frauke erschienen ist, war sie auch schon wieder weg.

Grimmig murmele ich ein: „Jaja… `Der soziale Jongleur´…“ vor mich hin, während ich innerlich einen Fluch in Richi Hock ausstoße. Richi Hock begegnete unserem Weiterbildungskurs damals im Rahmen der sogenannten „Selbsterfahrung“. Hier sollen angehende Therapeuten wie wir unter Anleitung von erfahrenen Therapeuten die Patientenrolle und damit verbundene Gefühle selbst erfahren. Das Ziel ist es, in angeleiteten Übungen Klarheit über eigene psychische Blockaden und förderliche Mechanismen zu erlangen. Richi Hock, der vollschlanke Schwabe mit Halbglatze und schrägen Hemdkreationen, der auf den ersten Blick wie der nette, etwas zu coole und junggebliebene Onkel rüberkam, entpuppte sich allerdings als phrasendreschender Therapeut, der die Seminarzeit eher mit Pause machen und Wein trinken verbrachte. Er verpasste mir damals das Kompliment des „sozialen Jongleurs“, was er sicherlich bereits vor mir bereits zahlreichen Teilnehmern seiner Kurse wahllos zukommen ließ.

Mit einem leisen Seufzer lasse ich mich resigniert nieder. Nach und nach füllt sich der Raum und die Namen der mir unbekannten Tischnachbarn bekommen Gesichter. Die sich niederlassenden Herrschaften sehen aus wie eine Abordnung des CSU-Ortsverbands Dietmansried und gucken wie nach einer krachenden Wahl-Niederlage. Ich versuche meiner mir aufgezwungenen Rolle als „sozialer Jongleur“ gerecht zu werden und stelle mich vor, Josefine tut es mir gleich. Alles, was wir ernten, sind skeptische Blicke.

Eine Frau, es müsste Waltraud sein, fragt: „Aha und woher kennen Sie das Brautpaar?“, was allerdings eher misstrauisch als interessiert wirkt. Nachdem ich darüber aufklärte, dass Frauke und ich uns aus der Weiterbildung zum Psychotherapeuten kennen, zieht Waltraud naserümpfend die Augenbrauen hoch, beugt sich rüber zu ihrem Mann, jedenfalls vermute ich, dass er der Mann ist, und flüstert ihm etwas ins Ohr. Daraufhin herrscht betretenes Schweigen. Wo bin ich hier gelandet? Ich drehe mich rum in Richtung Lukas, in der Hoffnung Blickkontakt aufnehmen zu können. Aber Lukas interessiert sich weiterhin überhaupt nicht für mich. Er stößt gerade mit Konstantin an, beide dürften schon ein paar Umdrehungen getankt haben. Ich ernte nicht mal einen belustigten Blick für meine missliche Lage…

Aber nicht nur uns gegenüber herrscht eine eisige Distanz, auch untereinander wird nicht gesprochen. Ich habe zwar keinen blassen Schimmer, was zwischen den einzelnen Leuten vorgefallen ist, aber irgendwas muss passiert sein. Es wirkt so, als säßen Josefine und ich in einer zerstrittenen Konstellation aus Angehörigen der Nachkriegsgeneration, die sich nichts mehr zu sagen haben, weil alle miteinander abgeschlossen haben. Weil sich alle anschweigen und Josefine und ich die einzigen sind, die miteinander sprechen, werden wir mit Argusaugen betrachtet und jedes einzelne Wort mitgehört, was dazu führt, dass ich unsere Diskussion über unser Urlaubsziel im Sommer schnell abwürge und mich einfach auf das Biertrinken konzentriere. Als mehrere Kellner endlich das Essen bringen, fällt mir ein kleiner Stein vom Herzen, weil sich zu der unangenehmen Stille wenigstens etwas gesellt, auf das sich jeder konzentrieren kann. Mir schmeckt es hervorragend, doch Waltraud hat an allem etwas auszusetzen. Die zum Hauptgang servierte Ente bezeichnet sie als „Gummiadler“, über das Gemüse mutmaßt sie, dass das „wohl noch im Hamburger Hafen“ sei, der Spargel gleiche einer „Klobürste“.

Die Zeit vergeht nur langsam und zieht sich hin wie Kaugummi. Aufgrund des nicht vorhandenen Gesprächsflusses an unserem Tisch kann ich immer wieder aufschnappen, was Lukas und sein angehimmelter Konstantin in meinem Rücken lachend bequatschen. Gerade ziehen sie über die „Primaten vom FC Graurheindorf“ her, wohl ein Fußballverein aus dem Bonner Bereich, den die neuen besten Freunde durch ihre aktive Zeit gut kennen.

„Weißt du, Lukas, die konnten schon gut kicken. Aber wenn man sich dann mal kurz nach Abpfiff mit denen unterhalten hat… Junge, hör mir auf. Da siehst du als Zahnarzt direkt Potential für zwei Eigentumswohnungen. Da könnte ich alle Esszimmer kernsanieren…“ Lukas kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus und hängt dem ach-so-tollen Konstantin an den Lippen. Meinen Groll sieht man mir offenbar an, denn auf einmal spüre ich Josefines spitzen Ellenbogen in den Rippen, gepaart mit der Ermahnung „nicht so eine Flappe zu ziehen…“. Die patzige Antwort, die mir auf der Zunge liegt, schlucke ich runter, als ich merke, dass Waltrauds Blick schon wieder auf uns liegt. Stattdessen balle ich gedanklich die Faust in der Tasche. Hinter mir höre ich irgendwann, wie sich jetzt auch Mark Forster und seine Band in das immer süffiger werdende Gespräch einklinken. Der Tisch schweißt sich zu einer Einheit zusammen. Ich schnappe Wörter wie „Bier-Diplom“, „Erstsemesterparty“, „Beer-Pong-Championsleague“ und „Hausverbot“ auf. Zwischendurch immer wieder Gelächter von Bertram, Christine und den anderen.

Gefrustet entschließe ich mich dazu, den Blick wandern zu lassen. Er bleibt an Fraukes Tisch hängen. Dort sitzt neben den Trauzeugen und den Eltern des Brautpaars auch Frank. Der wippt gerade mit dem Oberkörper und murmelt wieder irgendetwas vor sich hin, wahrscheinlich wieder Fußballstatistiken wie in der Kirche. Frank hat wie viele Menschen aus dem Autismus-Spektrum stereotype Verhaltensweisen, also beispielsweise sich wiederholende Bewegungen besonders in Stresssituationen. Bei Reizüberflutung haben Autisten dadurch das Gefühl, zumindest einen Teil der Situation (nämlich ihr eigenes Verhalten) kontrollieren zu können und sorgen so für einen Spannungsabbau.