Zwischen den Akten - Virginia Woolf - E-Book

Zwischen den Akten E-Book

Virginia Woolf

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

›Zwischen den Akten‹ »spielt« im Sommer 1939, und die politischen Veränderungen in Europa sind mitzudenken, wenn sie auch nicht beim Namen genannt sind - die Annexionen Österreichs und der Tschechoslowakei, die Bedrohung Polens, der Fall Barcelonas. Alles deutet auf eine bevorstehende Katastrophe, und der größte Teil des Romans wurde denn auch geschrieben, als die Katastrophe bereits geschehen war – die Niederlage Frankreichs, der »Battle of Britain« mit Blitzkrieg und drohender Invasion. Gegen diesen sichtbaren und am eigenen Leib im Süden Englands und in London erfahrenen Untergang der alten Welt lässt Virginia Woolf in ›Zwischen den Akten‹ noch einmal Revue passieren, was für sie England war, seine Geschichte und Literatur, Landleben und Mentalität – dramatisch gestaltet in einem großen historischen Bilderbogen, episodisch erzählt an einem einzigen Sommertag und voll von lyrischen »Einlagen«, häufig Zitaten, aber ebenso häufig auch nicht, sondern von einzelnen Charakteren »in Imitation« großer englischer Poesie produziert, nach- und anempfunden. Das »vollständige Ganze«, das Virginia Woolf vorschwebte, ist eine Art Gesamtkunstwerk, aber es hat zugleich, wie keiner ihrer früheren Romane, eine Leichtigkeit und Beiläufigkeit, auch den Anschein von Skizzenhaftigkeit, die vielleicht das Raffinement der Konstruktion übersehen lassen. Am 20. März 1941 schickte sie das Typoskript an John Lehmann, den Leiter der Hogarth Press, mit der Bitte, es zu lesen und ihr sein Urteil mitzuteilen - sie selbst halte den »sogenannten Roman« für »viel zu leichtgewichtig und skizzenhaft«, Leonard sei anderer Meinung. Lehmann war begeistert. Etwa am 27. März schrieb ihm Virginia Woolf noch einmal – der Roman sei zu töricht (silly) und trivial, sie wolle ihn gründlich revidieren, jedenfalls in dieser Form nicht publizieren. Als Lehmann diesen Brief erhielt, war sie bereits tot – am 28. März 1941 nahm sie sich das Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 251

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Virginia Woolf

Zwischen den Akten

Roman

Herausgegeben von Klaus Reichert

Übersetzt von Adelheid Dormagen

FISCHER E-Books

Inhalt

HinweisZwischen den AktenFortsetzungNachbemerkung
Hinweis

Das Manuskript dieses Buchs war zwar beendet, als Virginia Woolf starb, aber nicht abschließend für den Druck durchgesehen. Sie hätte vermutlich keine großen oder wesentlichen Änderungen daran vorgenommen, doch wahrscheinlich eine ganze Reihe von kleinen Korrekturen und Verbesserungen gemacht, bevor es zum Druck freigegeben worden wäre.

Leonard Woolf

Zwischen den Akten

Es war eine Sommernacht, und sie redeten in dem großen Zimmer, die Fenster offen zum Garten hin, über die Senkgrube. Der Grafschaftsrat hatte versprochen, Wasser ins Dorf zu leiten, aber nichts unternommen.

Mrs Haines, die Frau des Gutsbesitzers, gansgesichtig, mit Augen, die hervorquollen, als erspähten sie im Rinnstein etwas zum Runterschlingen, sagte affektiert: »Wie kann man bloß an solch einem Abend über dergleichen reden!«

Dann trat Schweigen ein; und eine Kuh hustete; und das führte sie dazu zu sagen, wie seltsam es sei, als Kind habe sie nie Angst vor Kühen gehabt, nur vor Pferden. Aber schließlich sei auch, als sie im Kinderwagen gelegen habe, ein großer Karrengaul eine Handbreit vor ihrem Gesicht vorbeigestreift. Ihre Familie, sagte sie zu dem alten Mann im Lehnstuhl, lebe seit vielen Jahrhunderten bei Liskeard. Die Gräber auf dem Kirchhof, die könnten das bezeugen.

Ein Vogel gab draußen glucksende Laute von sich. »Eine Nachtigall?« fragte Mrs Haines. Nein, Nachtigallen kamen nicht so weit nach Norden. Es war ein Tagvogel, der über all das Saftige und Sättigende des Tages, Würmer, Schnecken, Körner, noch im Schlaf in sich hineingluckste.

Der alte Mann im Lehnstuhl – Mr Oliver, Kolonialbeamter in Indien, pensioniert – sagte, die Stelle für die geplante Senkgrube befinde sich, wenn er recht gehört habe, an der Römerstraße. Von einem Flugzeug aus, sagte er, könne man noch immer deutlich die Narben sehen, die von den Britanniern hinterlassen worden seien; von den Römern; von dem elisabethanischen Herrensitz; und von der Pflugschar, als man in den Napoleonischen Kriegen den Hügel für den Weizenanbau beackert habe.

»Sie erinnern sich doch nicht etwa …«, begann Mrs Haines. Nein, nicht daran. Hingegen erinnerte er sich – und er wollte ihnen schon erzählen woran, als es draußen ein Geräusch gab und Isa, die Frau seines Sohnes, eintrat, das Haar zu Zöpfen geflochten; sie trug einen Morgenrock mit verblaßten Pfauen darauf. Sie kam herein wie ein Schwan, der seine Bahn zieht; stieß dann auf ein Hindernis und machte halt; war überrascht, Gesellschaft vorzufinden; und brennende Lampen. Sie habe bei ihrem kleinen Jungen gesessen, dem es nicht gut gehe, entschuldigte sie sich. Worüber sprächen sie gerade?

»Haben uns über die Senkgrube unterhalten«, sagte Mr Oliver.

»Wie kann man bloß an solch einem Abend über dergleichen reden!« rief Mrs Haines erneut aus.

Was hat er wohl zur Senkgrube gesagt; oder überhaupt zu irgendwas? fragte sich Isa und neigte den Kopf in die Richtung des Gutsbesitzers Rupert Haines. Sie war ihm auf einem Wohltätigkeitsbasar begegnet; und bei einer Partie Tennis. Er hatte ihr eine Teetasse gereicht und einen Schläger – das war alles. Doch in seinem zerfurchten Gesicht spürte sie immer Geheimnisvolles; und in seinem Schweigen Leidenschaft. Bei der Tennis-Partie hatte sie das verspürt, und auf dem Basar. Jetzt zum dritten Mal, womöglich noch stärker, verspürte sie es wieder.

»Ich erinnere mich«, fuhr der alte Mann dazwischen, »meine Mutter …« Von seiner Mutter erinnerte er, daß sie sehr stämmig war; ihre Teebüchse unter Verschluß hielt; ihm jedoch genau in diesem Zimmer eine Byron-Ausgabe geschenkt hatte. Über sechzig Jahre sei das her, sagte er ihnen, daß seine Mutter ihm genau in dem Zimmer die Werke von Byron geschenkt habe. Er hielt inne.

»In ihrer Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht«,[1] zitierte er.

Und begann dann:

»So hat denn das Schweifen ein Ende beim Lichte des Monds.«[2]

Isa hob den Kopf. Die Worte bildeten zwei Ringe, vollkommene Ringe, die sie beide, sie und Haines, wie zwei Schwäne stromabwärts trugen. Seine schneeweiße Brust war aber von schmutzigem Entengrützgeschlinge umschlossen; und auch sie mit ihren Schwimmfüßen hatte sich verstrickt in ihren Mann, den Börsenmakler. Auf ihrem dreieckigen Stuhl sitzend, wiegte sie sich mit ihren hängenden dunklen Zöpfen, und der Körper, wie ein Polsterkissen in dem verblaßten Morgenrock.

Mrs Haines war sich des Gefühls bewußt, das die zwei umschloß, sie selbst ausklammerte. Sie wartete, wie man darauf wartet, daß der Orgelton ausklingt, ehe man die Kirche verläßt. Auf der Heimfahrt zum roten Gutshaus in den Kornfeldern würde sie es zerstören, wie eine Drossel einem Schmetterling die Flügel abpickt. Zehn Sekunden ließ sie verstreichen, stand auf; zögerte; und streckte dann, als hätte sie den letzten Ton verklingen hören, Mrs Giles Oliver die Hand hin.

Aber Isa, obwohl sie eigentlich im selben Augenblick wie Mrs Haines hätte aufstehen sollen, blieb sitzen. Mrs Haines glotzte sie aus ihren Gansaugen an, wie schlingend, »Bitte, Mrs Giles Oliver, erweisen Sie mir die Freundlichkeit, mein Vorhandensein zur Kenntnis zu nehmen …«, was diese gezwungenermaßen tat, sich endlich in ihrem verblaßten Morgenrock vom Stuhl erhebend, wobei die Zöpfe über jede Schulter fielen.

 

 

Pointz Hall, gesehen im Licht eines Frühsommermorgens, war ein Haus von mittlerer Größe. Es zählte nicht zu den Häusern, die in Führern erwähnt sind. Dazu war es zu unscheinbar. Aber dieses weißliche Haus mit dem grauen Dach und dem im rechten Winkel vorspringenden Flügel, ungünstig im tiefen Wiesengrund gelegen, der von Bäumen auf der Anhöhe darüber gesäumt war, so daß sich der Rauch zu den Krähennestern hochkräuselte, weckte den Wunsch, darin zu wohnen. Leute, die an dem Haus vorbeifuhren, sagten zueinander: »Ich wüßte zu gerne, ob das je zum Verkauf kommt.« Und zum Chauffeur: »Wer wohnt dort?«

Der Chauffeur wußte es nicht. Die Olivers, die das Anwesen vor etwas über einem Jahrhundert gekauft hatten, waren nicht verwandt mit den Warings, den Elveys, den Mannerings oder den Burnets; all den alten Familien, die untereinander geheiratet hatten und im Tod wie Efeuwurzeln verschlungen an der Kirchhofsmauer ruhten.

Erst seit etwas über hundertzwanzig Jahren lebten die Olivers dort. Und doch, stieg man die Haupttreppe hoch – es gab noch eine andere, eine bloße Stiege hinten für die Dienstboten –, hing da ein Porträt. Auf halbem Weg wurde eine Bahn gelben Brokats sichtbar; und wenn man oben anlangte, kamen ein schmales, gepudertes Gesicht und ein imposanter Kopfputz mit eingeflochtenen Perlen in Sicht; eine Art Ahnfrau. Sechs oder sieben Schlafzimmer lagen zum Gang hin. Der Butler war Soldat gewesen; hatte eine Kammerzofe geheiratet; und in einer Vitrine ruhte eine Uhr, die auf dem Schlachtfeld von Waterloo eine Kugel abgehalten hatte.

Es war früher Morgen. Tau bedeckte das Gras. Die Kirchturmuhr schlug acht. Mrs Swithin zog den Vorhang in ihrem Schlafzimmer auf – den ausgeblichenen weißen Chintz, der von außen gesehen so angenehm das Fenster mit seiner grünen Einfassung tönte. Da stand sie mit ihren alten Händen an der Haspe und stieß das Fenster mit einem Ruck auf: die verheiratete Schwester des alten Oliver; eine Witwe. Immer wollte sie sich ein eigenes Heim einrichten; vielleicht in Kensington, vielleicht bei Kew, so daß sie etwas vom Botanischen Garten hätte. Aber sie blieb den ganzen Sommer über; und wenn der Winter seine Nässe an die Scheiben weinte und die Abflüsse mit totem Laub verstopfte, sagte sie: »Bart, warum haben sie bloß dieses Haus in die Mulde gebaut, mit der Front nach Norden?« Worauf ihr Bruder sagte: »Offenbar, um der Natur zu entkommen. Brauchte es nicht vier Pferde, um die Familienkutsche durch den Matsch zu ziehen?« Danach erzählte er ihr die berühmte Geschichte von jenem großen Winter im achtzehnten Jahrhundert; als das Haus einen ganzen Monat lang vom Schnee blockiert war. Und die Bäume umgestürzt waren. So zog sich denn Mrs Swithin jedes Jahr, wenn der Winter kam, nach Hastings zurück.

Doch jetzt war Sommer. Die Vögel hatten sie geweckt. Wie sie sangen! und über das Morgengrauen herfielen wie eine Schar von Chorknaben über einen Kuchen mit Zuckerguß. Gezwungen zuzuhören, hatte sie nach ihrer Lieblingslektüre gegriffen – einem Abriß der Geschichte[3] – und die Stunden zwischen drei und fünf damit verbracht, sich Rhododendron-Wälder in Piccadilly vorzustellen; als der ganze Kontinent, damals, so erfuhr sie, noch nicht durch eine Wasserstraße geteilt, eine Gesamtheit war; bevölkert, so erfuhr sie, von elefantösen, seehundnackigen, wogenden, sich wälzenden, langsam sich windenden und, so ihre Vermutung, bellenden Monstern: dem Iguanodon, dem Mammut und dem Mastodon; von denen wir, dachte sie, als sie das Fenster aufstieß, wohl abstammen.

Sie brauchte fünf Sekunden an realer Zeit, an geistiger Zeit sehr viel länger, um Grace mit dem blauen Porzellan auf dem Tablett von dem lederhäutigen grunzenden Monster auseinanderzuhalten, das gerade, als die Tür sich öffnete, im dampfend grünen Unterholz des Urwaldes einen ganzen Baum auf einmal ausreißen wollte. Natürlich fuhr sie hoch, als Grace das Tablett abstellte und »Guten Morgen, Ma'am« sagte. »Plem-plem«, nannte Grace sie bei sich, da sie auf ihrem Gesicht den zwiegespaltenen Blick wahrnahm, der halb einer Bestie im Morast galt, halb einem Dienstmädchen in Kattunkleid und weißer Schürze.

»Wie diese Vögel singen!« sagte Mrs Swithin auf gut Glück. Das Fenster war jetzt offen; bestimmt sangen die Vögel. Gefällig hüpfte eine Drossel über den Rasen; rötliches Gummigeringel krümmte sich in ihrem Schnabel. Durch den Anblick verlockt, ihre imaginäre Rekonstruktion der Vergangenheit weiterzuführen, hielt Mrs Swithin inne; sie neigte dazu, die Grenzen des Augenblicks durch Flüge in die Vergangenheit oder Zukunft auszudehnen; oder seitwärts Flure und Wege entlang; aber da kam ihr die Mutter in den Sinn – ihre Mutter, die sie in ebendiesem Zimmer tadelte. »Sperr Mund und Nase nicht so auf, Lucy, der Wind schlägt sonst um …« Wie oft hatte ihre Mutter sie in ebendiesem Zimmer getadelt – »aber in einer sehr anderen Welt«, wie ihr Bruder ihr immer in Erinnerung brachte. Und so setzte sie sich zum Morgentee hin, wie irgendeine alte Dame mit ausgeprägter Nase, dünnen Wangen, einem Ring am Finger und der üblichen Zierde ärmlichen, aber würdevollen Alters, zu der in ihrem Fall ein goldfunkelndes Kreuz über dem Busen gehörte.

 

 

Die Kindermädchen schoben nach dem Frühstück den Kinderwagen auf der Terrasse hin und her; und beim Schieben unterhielten sie sich – formten keine Informationskügelchen und tauschten auch keine Gedanken aus, sondern rollten auf ihren Zungen die Wörter wie Bonbons; die, während sie sich bis zur Durchsichtigkeit verdünnten, Hellrot, Grün und Süße ausströmten. An diesem Morgen war die Süße: »Wie die Köchin dem's gegeben hat von wegen dem Spargel; wie ich, als sie geklingelt hat, gesagt hab: süß, das Kostüm, paßt genau zur Bluse«; und das brachte das Gespräch auf einen Verehrer, während sie auf der Terrasse hin und her gingen, die Bonbons rollten und den Kinderwagen schoben.

Es war ein Jammer, daß der Erbauer von Pointz Hall das Haus in einer Mulde errichtet hatte, wo es doch hinter dem Blumengarten und den Gemüsebeeten dieses hochgelegene Gelände gab. Die Natur hatte einen geeigneten Platz für ein Haus bereitgestellt; der Mensch hatte sein Haus in eine Mulde gebaut. Die Natur hatte ein grasbewachsenes Gelände bereitgestellt von einer halben Meile Länge und eben, bis es jäh zum Seerosenteich abfiel. Die Terrasse war ausladend genug, um den Schatten eines der mächtigen Bäume in all seiner Breite aufzunehmen. Dort konnte man hin und her spazieren, hin und her, im Schatten der Bäume. Zwei oder drei standen dicht beieinander, andere ließen Lücken. Ihre Wurzeln brachen den Grasboden auf, und zwischen diesen Rippen wuchsen grüne Sturzbäche und Kissen aus Gras, in denen im Frühling Veilchen sprossen oder im Sommer die wilden purpurroten Orchideen.

Amy sagte gerade etwas über einen Verehrer, als Mabel, die Hand am Kinderwagen, sich brüsk umdrehte, das Bonbon aufgelutscht. »Hör auf zu wühlen«, sagte sie brüsk. »Komm jetzt, George.«

Der kleine Junge war zurückgeblieben und stöberte im Gras herum. Dann streckte Caro, das Baby, ihr Fäustchen über die Ausgehdecke, und der Teddybär flog über Bord. Amy mußte sich bücken. George wühlte. Die Blume flammte in einer von Baumwurzeln gebildeten Nische. Membran um Membran zerriß. Sie flammte in sanftem Gelb, ein mildes Licht unter einem Film aus Samt; es erfüllte die Höhlen hinter den Augen mit Licht. All das innere Dunkel wurde zu einem Saal, nach Blatt riechend, nach Erde riechend, von gelbem Licht. Und der Baum war hinter der Blume; Gras, Blume und Baum waren eins. Auf den Knien, wühlend, erfaßte er die Blume in ihrer Gänze. Dann ein Keuchen und ein heißer Atem, und eine Flut grauen Zottelhaars fuhr zwischen ihn und die Blume. Mit einem Satz sprang er auf, kippte in seinem Schrecken um und sah auf sich ein furchtbares, spitzschnabliges, augenloses Monster zukommen, das sich auf Beinen bewegte und mit den Armen fuchtelte.

»Guten Morgen, Sir«, dröhnte ihn eine hohle Stimme aus einem Papierschnabel an.

Der alte Mann hatte ihn aus seinem Versteck hinter einem Baum angefallen.

»George, sag guten Morgen; sag ›Guten Morgen, Opa‹«, drängte Mabel den Jungen und schubste ihn zu dem Mann hin. Doch George stand mit offenem Mund da. George stand mit aufgerissenen Augen da. Dann knüllte Mr Oliver die Zeitung zusammen, aus der er sich den Rüssel geformt hatte, und zeigte sich in Person. Ein sehr hochgewachsener alter Mann mit funkelnden Augen, runzligen Wangen und einem Schädel ohne Haar. Er drehte sich um.

»Bei Fuß!« brüllte er, »bei Fuß, du Viech!« Und George drehte sich um; und die Kindermädchen drehten sich um mit dem Teddybär; alle drehten sich um und schauten nach Sohrab, dem Afghanen, der zwischen den Blumen tollte und tobte.

»Bei Fuß!« brüllte der alte Mann, als kommandierte er ein Regiment. Es war eindrucksvoll, für die Kindermädchen, wie ein alter Knabe seines Jahrgangs noch brüllen und so ein Viech zum Gehorsam zwingen konnte. Zurück kam der Afghane, schlängelnd, reumütig. Und als er sich zu Füßen des alten Mannes duckte, wurde ihm die Leine über das Halsband gestreift; die Schlinge, die der alte Oliver immer bei sich trug.

»Du wilde Bestie …, du böse Bestie«, grummelte er, sich herabbeugend. George schaute nur auf den Hund. Die haarigen Flanken wurden stoßartig eingezogen und wieder herausgepreßt; eine Schaumflocke hing an seinen Nüstern. Er brach in Weinen aus.

Der alte Oliver richtete sich auf, die Adern geschwollen, die Wangen gerötet; er war wütend. Sein kleines Spiel mit der Zeitung war ein Reinfall gewesen. Der Junge war eine Heulsuse. Er nickte und schlenderte weiter, wobei er die zerknitterte Zeitung glattstrich und in seinem Bemühen, die richtige Zeile in der Kolumne zu finden, murmelte: »Eine Heulsuse – eine Heulsuse.« Doch ein Windstoß blähte das große Blatt auseinander; und über den Rand hinweg musterte er die Landschaft – wogende Felder, Heide und Waldungen. Umrahmt, wurde ein Bild daraus. Wäre er Maler gewesen, hätte er seine Staffelei hier aufgestellt, wo das Land, abgeriegelt von Bäumen, einem Bild glich. Dann legte sich der Wind.

»M. Daladier«, las er, als er die Stelle in der Kolumne fand, »ist es gelungen, den Franc abzuwerten.«

 

 

Mrs Giles fuhr mit dem Kamm durch das dichte Gewirr ihres Haars, das sie nach reiflicher Überlegung nie ganz kurz oder zu einem Bubikopf hatte schneiden lassen; und hob die Bürste aus reich bossiertem Silber, ein Hochzeitsgeschenk, das seinen besonderen Zweck darin hatte, Eindruck auf Zimmermädchen in den Hotels zu machen. Sie hob sie und stellte sich vor den dreiteiligen Spiegel, so daß sie drei separate Versionen ihres eher plumpen, aber hübschen Gesichtes sehen konnte; ferner, außerhalb des Spiegels, einen Streifen Terrasse, Rasen und Baumwipfel.

Drinnen im Spiegel, in ihren Augen, sah sie, was sie am gestrigen Abend für den zerfurchten, den schweigsamen, den romantischen Gutsherrn empfunden hatte. »Verliebt«, las sie in ihren Augen. Aber draußen, auf dem Waschtisch, auf der Frisierkommode, zwischen den Silberdosen und Zahnbürsten, war die andere Liebe; die Liebe zu ihrem Mann, dem Börsenmakler – »dem Vater meiner Kinder«, fügte sie hinzu, in das Klischee gleitend, das passend von der Literatur geliefert wird. Innere Liebe war in den Augen; äußere Liebe auf der Frisierkommode. Aber was für ein Gefühl war es, das sich jetzt in ihr regte, als sie oberhalb des Spiegels, im Freien, den Kinderwagen über den Rasen herankommen sah; zwei Kindermädchen; und George, ihren Kleinen, der hinterherzockelte?

Sie klopfte mit ihrer bossierten Bürste an die Fensterscheibe. Sie waren zu weit weg, um es zu hören. Das Rauschen der Bäume war in ihren Ohren; das Vogelgezwitscher; sonstige Geschehnisse des Gartenlebens, unhörbar, unsichtbar für sie selbst im Schlafzimmer, nahmen die draußen gefangen. Abgesondert auf einer grünen Insel, umrankt von Schneeglöckchen, belegt mit einer Zierdecke aus gefältelter Seide, trieb die unschuldige Insel unter ihrem Fenster. Nur George zockelte hinterher.

Sie wandte sich wieder ihren Augen im Spiegel zu. »Verliebt« mußte sie sein; da seine physische Gegenwart gestern abend im Wohnzimmer sie so berühren konnte; da die Worte, die er sagte, als er ihr eine Tasse Tee reichte, ihr den Tennisschläger reichte, sich an einer bestimmten Stelle in ihr derart festsetzen konnten; und so zwischen ihnen lagen wie ein Draht, sirrend, schwirrend, vibrierend – sie suchte, in den Tiefen des Spiegels, nach einem Wort, das auf die unendlich raschen Vibrationen eines Flugzeugpropellers zutraf, den sie einmal bei Morgengrauen in Croydon beobachtet hatte. Schneller, schneller, schneller sauste, brauste, surrte er, bis alle seine Blätter zu einem einzigen wurden und das Flugzeug aufflog und davon, davon …

»Wohin es geht, wohin's uns weht, wir wissen's nicht, es kümmert uns nicht«, summte sie. »Fliegend sausend durch irisierendes, sommerlich still pulsierendes …«

Der Reim war »Licht«. Sie legte die Bürste weg. Sie griff zum Telefon.

»Drei, vier, acht, Pyecomb«, sagte sie.

»Mrs Oliver am Apparat … Was für Fisch gibt's heute morgen? Kabeljau? Heilbutt? Seezunge? Scholle?«

»Abzuschütteln, was uns bindet hier«, murmelte sie.

»Seezunge. Filets. Bitte rechtzeitig zum Lunch«, sagte sie laut. »Mit einer Feder, einer blauen Feder … fliegend steigend durch das Licht … abzuschütteln, was uns bindet hier …« Die Worte waren es nicht wert, ins Notizbuch geschrieben zu werden, das wie ein Haushaltsbuch eingebunden war, falls Giles Verdacht schöpfen sollte. »Verfehlt« war das Wort, das auf sie paßte. Sie kam zum Beispiel nie aus einem Geschäft heraus mit dem Kleidungsstück, das sie bewunderte; auch die eigene Figur, abgehoben gegen den Ballen dunklen Hosenstoffs in einem Schaufenster, gefiel ihr nicht. Füllig in der Taille, mit großen Gliedern und, ihr Haar ausgenommen, nach der neuesten, eng anliegenden Mode gekleidet, sah sie nie aus wie Sappho oder einer der schönen jungen Männer, deren Photos die Wochenillustrierten zierten. Sie sah genau nach dem aus, was sie war: Tochter von Sir Richard; und Nichte der beiden alten Ladies in Wimbledon, die so stolz darauf waren, O'Neils zu sein, Nachfahren der Könige von Irland.

Eine gar schlichte, schmeichlerische Dame, auf der Schwelle stehenbleibend zu dem, was sie einmal das »Herz des Hauses« genannt hatte, auf der Schwelle zur Bibliothek, hatte einmal gesagt: »Gleich nach der Küche ist die Bibliothek doch immer der angenehmste Raum im Haus.« Dann fügte sie hinzu, als sie über die Schwelle trat: »Bücher sind die Spiegel der Seele.«

In diesem Fall eine getrübte, eine fleckige Seele. Da nämlich der Zug über drei Stunden brauchte, um dieses entlegene Dorf mitten im Herzen Englands zu erreichen, wagte keiner eine solch lange Fahrt, ohne gegen etwaigen Geisteshunger gewappnet zu sein, ohne sich am Kiosk ein Buch zu kaufen. Somit zeigte der Spiegel, der die erhabne Seele zeigte, gleichermaßen die gelangweilte Seele. Niemand konnte beim Anblick des Mischmaschs aus Groschenromanen, die Wochenendgäste dort hinterlassen hatten, behaupten, der Spiegel zeige immer die Qual einer Königin oder das Heldentum König Harrys.

In dieser frühen Stunde eines Junimorgens war die Bibliothek leer. Mrs Giles mußte die Küche aufsuchen. Mr Oliver stapfte noch immer über die Terrasse. Und Mrs Swithin war natürlich in der Kirche. Die leichte Brise aus wechselnden Richtungen, vom Meteorologen vorhergesagt, bewegte den gelben Vorhang hin und her, Licht werfend, dann Schatten. Das Feuer graute, erglühte dann, und der Große Fuchs schlug gegen die untere Fensterscheibe; schlug, schlug, schlug; wiederholend, daß, wenn nie ein menschliches Wesen käme, nie, nie, nie, die Bücher vermodern würden, das Feuer aus und der Große Fuchs an der Scheibe tot wäre.

Durch die Unbändigkeit des Afghanen angekündigt, trat der alte Mann ein. Er hatte seine Zeitung gelesen; er war schläfrig; und so versank er in den mit Chintz bezogenen Sessel, den Hund zu seinen Füßen – den Afghanen. Die Nase auf seinen Pfoten, das Hinterteil hochgezogen, sah er wie ein steinerner Hund aus, Hund eines Kreuzritters, der noch in den Reichen des Todes den Schlaf seines Herrn bewacht. Der Herr jedoch war nicht tot; träumte nur; schläfrig sah er wie in einem Spiegel, dessen Glanz fleckig geworden ist, sich selbst, einen jungen Mann mit Helm; und eine herabstürzende Kaskade. Aber kein Wasser; und die Hügel, plissiertem grauem Stoff gleich; und im Sand einen Reif aus Rippen; einen Ochsen, madenzerfressen in der Sonne; und im Schatten des Felsens Wilde; und in seiner Hand eine Flinte. Die Traumhand ballte sich; die wirkliche Hand lag auf der Armlehne, die Adern geschwollen, jetzt aber bloß von bräunlicher Flüssigkeit.

Die Tür öffnete sich.

»Störe ich?« sagte Isa entschuldigend.

Natürlich tat sie es – zerstörte Jugend und Indien. Es war seine Schuld, denn sie hatte darauf bestanden, seinen Lebensfaden so fein zu spannen, so weit. In Wirklichkeit war er ihr, während er sie beim Schlendern durch den Raum beobachtete, dankbar fürs Fortsetzen.

Viele alte Männer hatten allein ihr Indien – alte Männer in Klubs, alte Männer in Zimmern nahe der Jermyn Street. Sie in ihrem gestreiften Kleid, flüsternd vor den Bücherregalen, setzte ihn fort: »Das Moor liegt finster unterm Mond, rasche Wolken tranken letzte Abendblässe …[4] Ich habe Fisch bestellt«, sagte sie laut und wandte sich um, »ob er allerdings frisch ist, kann ich nicht versprechen. Aber Kalbfleisch ist teuer, und uns allen hier hängt Rind und Hammel zum Hals raus … Sohrab«, sagte sie und blieb vor ihnen stehen, »was hat er denn getrieben?«

Sein Schwanz wedelte nie. Er ließ nie die Bande der Gezähmtheit gelten. Entweder duckte er sich oder er biß. Jetzt starrten seine wilden gelben Augen sie an, starrten ihn an. Er hielt den Blick länger aus als sie beide. Dann erinnerte sich Oliver.

»Dein kleiner Junge ist 'ne Heulsuse«, sagte er verächtlich.

»Ach«, seufzte sie, auf eine Armlehne, wie ein Fesselballon, von einer Myriade haarfeiner Bande zur Gezähmtheit gepflockt. »Was ist denn passiert?«

»Ich hab die Zeitung genommen«, erklärte er, »so …«

Er nahm sie und knüllte sie zu einem Schnabel über seiner Nase. »So«, sei er hinter einem Baum hervor auf die Kinder zugesprungen.

»Und er hat geflennt. Er ist ein Feigling, dein Junge.«

Sie runzelte die Stirn. Er war kein Feigling, ihr Junge nicht. Und sie verabscheute das Gezähmte, das Besitzergreifende; das Mütterliche. Und er wußte es und tat es absichtlich, um sie zu ärgern, das alte Scheusal, ihr Schwiegervater.

Sie schaute weg.

»Die Bibliothek ist doch immer der angenehmste Raum im Haus«, zitierte sie und ließ ihre Blicke an den Büchern entlang schweifen. »Spiegel der Seele« waren die Bücher. The Faerie Queene und Kinglakes Crimea; Keats und Die Kreutzersonate[5]. Da standen sie, reflektierten. Was? Welches Heilmittel war für sie in ihrem Alter – dem Alter des Jahrhunderts, neununddreißig – in Büchern zu finden? Buchscheu war sie, wie die anderen ihrer Generation; und kanonenscheu auch. Doch wie jemand mit rasenden Zahnschmerzen seinen Blick in einer Apotheke über grüne Flaschen mit vergoldeter Schnörkelschrift schweifen läßt, ob nicht eine davon Heilung enthalte, erwog sie: Keats und Shelley; Yeats und Donne.[6] Oder vielleicht kein Gedicht; eine Biographie. Die Biographie Garibaldis. Die Biographie Lord Palmerstons.[7] Oder vielleicht nicht die eines Menschen; die einer Grafschaft, Die Altertümer von Durham; Berichte der archäologischen Gesellschaft von Nottingham. Oder überhaupt nichts Biographisches, sondern Wissenschaft – Eddington, Darwin oder Jeans.[8]

Keins der Bücher stillte ihre Zahnschmerzen. Für ihre Generation war die Zeitung ein Buch; und da ihr Schwiegervater die Times weggelegt hatte, griff sie danach und las: »Ein Pferd mit grünem Schweif …«, was phantastisch war. Als nächstes: »Die Garde in Whitehall …«, was romantisch war, und dann, Wort zu Wort fügend, las sie: »Die Kavalleristen sagten ihr, das Pferd habe einen grünen Schweif; aber sie fand, daß es ein ganz normales Pferd war. Und sie schleppten sie zur Wachstube in der Kaserne, wo man sie auf eine Pritsche warf. Dann zog ihr einer der Kavalleristen einen Teil der Kleider aus, und sie schrie und schlug ihm ins Gesicht …«

Das war real; so real, daß sie auf der mahagonigetäfelten Tür den Torbogen von Whitehall sah; durch den Torbogen die Wachstube; in der Wachstube die Pritsche, und auf der Pritsche schrie das Mädchen und schlug ihm ins Gesicht, als sich die Tür (denn es war tatsächlich eine Tür) öffnete, und herein trat Mrs Swithin, in der Hand einen Hammer.

Sie näherte sich in Schlängellinie, als wäre der Boden unter ihren schäbigen Gartenschuhen flüssig, und sich nähernd, schürzte sie die Lippen und lächelte ihren Bruder von der Seite an. Kein Wort fiel zwischen ihnen, als sie zum Eckschrank ging und den Hammer, den sie, ohne um Erlaubnis zu bitten, genommen hatte, wieder an seinen Platz legte, zusammen mit – sie öffnete die Faust – einer Handvoll Nägel.

»Cindy – Cindy«, grollte er, als sie die Schranktür schloß.

Lucy, seine Schwester, war drei Jahre jünger als er. Der Name Cindy oder Sindy, man konnte ihn so oder so schreiben, war die Koseform von Lucinda. Mit diesem Namen hatte er sie gerufen, als sie Kinder waren; als sie ihm nachgetrottet kam, wenn er angeln ging, und aus Wiesenblumen feste Sträußchen gebunden hatte, wobei sie einen einzelnen langen Grashalm wieder und wieder drum herum geschlungen hatte. Einmal, sie erinnerte sich, hatte sie den Fisch vom Angelhaken nehmen müssen. Das Blut hatte sie entsetzt – »Oh!« hatte sie geschrien –, denn die Kiemen waren blutverschmiert. Und er hatte gegrollt: »Cindy!« Der Spuk jenes Morgens auf der Wiese war in ihren Gedanken, als sie den Hammer wieder ins Fach legte, wo er hingehörte, und die Nägel in ein anderes, wo sie hingehörten; und den Schrank schloß, mit dem er es immer noch so genau nahm, da er dort immer noch sein Angelzeug aufbewahrte.

»Ich hab das Plakat an die Scheune genagelt«, sagte sie und gab ihm einen kleinen Klaps auf die Schulter.

Die Worte waren wie der erste Schlag eines Glockengeläuts. Sobald der erste erklingt, hört man den zweiten; sobald der zweite erklingt, hört man den dritten. Als daher Isa Mrs Swithin sagen hörte: »Ich hab das Plakat an die Scheune genagelt«, wußte sie, daß diese als nächstes sagen würde:

»Für die Aufführung.«

Und er würde sagen:

»Heute? Beim Jupiter! Das hatte ich vergessen!«

»Wenn's schön wird«, fuhr Mrs Swithin fort, »spielen sie auf der Terrasse …«

»Und wenn's regnet«, fuhr Bartholomew fort, »in der Scheune.«

»Und wie wird's nun?« fuhr Mrs Swithin fort. »Regnet's oder wird's schön?«

Und dann, zum siebenten Mal in Folge, schauten beide aus dem Fenster.

Jeden Sommer, jetzt den siebenten Sommer, hatte Isa dieselben Worte gehört; vom Hammer und den Nägeln; von der Aufführung und dem Wetter. Jedes Jahr fragten sie sich, würde es regnen oder schön werden; und jedes Jahr kam es – so oder so. Dasselbe Glockengeläut ertönte aufs neue, nur hörte sie dieses Jahr unter dem Geläut: »Das Mädchen schrie und schlug ihm ins Gesicht mit einem Hammer.«

»Im Wetterbericht«, sagte Mr Oliver und blätterte die Zeitung durch, bis er ihn fand, »heißt es: Wind aus unterschiedlicher Richtung; angenehme Durchschnittstemperatur; zeitweilig Regen.«

Er legte die Zeitung fort, und sie blickten alle zum Himmel, um festzustellen, ob der Himmel dem Meteorologen gehorchte. Zweifellos war das Wetter unbeständig. Grün war es im Garten; gleich darauf grau. Hier brach die Sonne durch – ein unendlicher Freudentaumel, der jede Blume, jedes Blatt ergriff. Dann zog sie sich voll Mitleid zurück, das Gesicht verhüllend, als meide sie es, auf menschliches Leid zu blicken. Etwas Unstetes, Asymmetrisches und Ungeordnetes hatten die Wolken an sich, wie sie sich verdünnten und verdickten. Gehorchten sie ihrem eigenen Gesetz oder gar keinem? Manche waren nichts weiter als weiße Haarsträhnen. Eine, hoch oben, in weiter Ferne, hatte sich zu goldfarbenem Alabaster verfestigt; war aus unvergänglichem Marmor geformt. Jenseits davon war Blau, reines Blau, Schwarzblau; ein Blau, das nie heruntergesickert war; das amtlicher Registrierung entgangen war. Es fiel nie als Sonne, Schatten oder Regen auf die Welt, sondern ignorierte den kleinen bunten Erdball völlig. Keine Blume fühlte es; kein Feld; kein Garten.

Mrs Swithins Augen wurden glasig, als sie es anschaute. Isa dachte, ihr Blick sei unverwandt starr, weil sie Gott dort sah, Gott auf seinem Thron. Aber da ein Schatten im nächsten Augenblick auf den Garten fiel, lockerte und senkte Mrs Swithin den starren Blick und sagte:

»Es ist sehr veränderlich. Ich fürchte, es wird regnen. Wir können nur beten«, fügte sie hinzu und befühlte ihr Kreuz.

»Und für Schirme sorgen«, sagte ihr Bruder.

Lucy wurde rot. Er hatte ihrem Glauben einen Schlag versetzt. Als sie »beten« sagte, kam es von ihm: »Schirme«. Sie bedeckte das Kreuz halb mit den Fingern. Sie wich zurück; sie duckte sich; aber im nächsten Augenblick rief sie aus:

»Ah, da sind sie – die Herzchen!«

Der Kinderwagen kam über den Rasen.

Auch Isa blickte dorthin. Was für ein Engel sie war – die alte Frau! Auf diese Weise die Kinder zu begrüßen; gegen jene Unermeßlichkeit und gegen die Unerbietigkeit des alten Mannes ihre knochigen Hände einzusetzen, ihre lachenden Augen! Wie mutig, Bartholomew und dem Wetter zu trotzen!

»Er sieht wie das blühende Leben aus«, sagte Mrs Swithin.

»Erstaunlich, wie rasch sie wieder auf den Beinen sind«, sagte Isa.

»Sein Frühstück hat er doch gegessen?« fragte Mrs Swithin.

»Jeden Bissen«, sagte Isa.

»Und das Baby? Kein Anzeichen von Masern?«

Isa schüttelte den Kopf. »Unberufen«, fügte sie hinzu und klopfte auf den Tisch.

»Sag mal, Bart«, wandte sich Mrs Swithin an ihren Bruder, »woher kommt das? Auf Holz klopfen, Holz berühren … Antäus, hat der nicht die Erde berührt?«

Sie wäre, dachte er, eine sehr kluge Frau geworden, wenn sie ihren Blick auf eins gerichtet hielte. Aber dieses führte zu jenem; und jenes zu etwas anderem. Was zum einen Ohr hineinging, ging zum anderen hinaus. Und alle wurden von einer immer wiederkehrenden Frage, wie es eben nach Siebzig geschieht, umkreist. Die ihre lautete, sollte sie in Kensington wohnen oder in Kew? Doch jedes Jahr, wenn der Winter kam, tat sie keins von beidem. Sie nahm sich möblierte Zimmer in Hastings.

»Holz berühren; Erde berühren; Antäus«, murmelte er, die verstreuten Teile zusammenfügend. Lemprière[9]