Zwischen den Meeren - Sarah Moss - E-Book

Zwischen den Meeren E-Book

Sarah Moss

4,6

Beschreibung

Nur wenige Wochen nach der Hochzeit muss ein junges Paar sich wieder trennen – für ein ganzes halbes Jahr. Tom Cavendish fährt nach Japan, um Leuchttürme zu bauen; Ally, seine Frau, bleibt in Cornwall, wo sie ihren lang gehegten Traum erfüllt und ihre erste Stelle als Ärztin antritt. Der neue Status beschert ihr ungekannte Freiheit, doch während sie sich immer tiefer in die Arbeit stürzt und Tom versucht, sich an die fremde Kultur Japans zu gewöhnen, wird die Entfernung zwischen beiden immer größer und das Fundament ihrer jungen Ehe brüchig. Mit ihrer unvergleichlichen Mischung aus psychologischer Einfühlung und intellektueller Tiefe spannt Sarah Moss einen Bogen von Cornwall bis Japan und zeigt zwei Menschen voller beruflicher Entschlossenheit und innerer Einsamkeit, verbunden durch dieselbe Sehnsucht, die Sehnsucht nach dem jeweils anderen.

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mare

SARAH MOSS

Zwischenden Meeren

Roman

Aus dem Englischenvon Nicole Seifert

mare

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnetdiese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetunter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die englische Originalausgabeerschien 2015 unter dem Titel Signs for Lost Childrenbei Granta Publications, London.

Copyright © Sarah Moss 2015

© 2016 by mareverlag, HamburgCovergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, HamburgAbbildung [M]: Public DomainLektorat Meike HerrmannTypografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, HamburgDatenkonvertierung eBook bookwireISBN eBook: 978-3-86648-328-6ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-257-9www.mare.de

PROLOG

Zu Hause

Da ist ein Junge.

Durch die Blätter wirft die Sonne kupfernes Licht auf sein Haar. Er hört nicht, wie das Meer hinter den Bäumen auf das Ufer trifft, und er hört den Flügelschlag in den Kammern seines Herzens nicht. Die Bäume produzieren Sauerstoff, und die Lunge des Jungen dehnt sich, seine Rippen heben sich, das Blut in seinen Arterien rötet sich. Da ist ein Junge.

Da ist ein Vogel in der Nähe des Jungen. Der Vogel ist so groß wie die Hand des Jungen, er ist nicht braun, er hat die Farbe von nassem Stroh, die Sprenkel sehen aus wie Einkerbungen, und auf jedem Flügel sind zwei Kohlenstreifen, als hätte jemand den Vogel auf die Schnelle mit Ölkreide gezeichnet, und der Junge war so lange still, dass der Vogel gar nicht weiß, dass da ein Junge ist.

Der Junge wartet.

Die roten Ahornblätter leuchten grell wie Blut vor dem Grün des kornischen Gartens. Die Kaninchen suchen dort keinen Schutz, als würden sie das Fremde erkennen. Im Schwarzen Bambus versammeln sich keine Spatzen und Blaumeisen. Keine Fuchsspuren verunzieren den geharkten Kies, kein Reiher spiegelt sich neben den Trittsteinen, die nur bis in die Mitte des Teiches führen, der den Mond ansieht. Manchmal, nachts, landet die Eule auf dem Dach des Teehauses und wendet den Kopf, um im Mondlicht Ausschau nach Mäusen zu halten.

Zweige brechen, und durch die Blätter nähert sich ein Rascheln. Papa. Er summt. Denn kummen de Wörm un freten di op. Bitte nicht vor den Patientinnen, meine Lieben, sagt Mama. Oder wenigstens nicht mit solcher Begeisterung. Später wird es im Haus ein anständiges Abendbrot geben, mit den Patientinnen. Mama am Kopf des Tisches und Schmalzfleischbrote, Salat aus dem Garten, ein Biskuitkuchen aus Eiern, die Laurence heute früh vor der Schule aus dem Hühnerstall geholt hat. Nach der Schule wird er Klavier üben, Arithmetik, Haare waschen. Papa setzt sich an den Rand der Veranda und zieht sich die Schuhe aus. Er hat seine Socken mit der falschen Farbe gestopft.

Grüner Tee ist nicht immer zu bekommen, aber Papa hat von Bates am anderen Ufer eine neue Packung mitgebracht. Ein Schiff ist eingelaufen, wie er sagt. Papa kniet sich auf den Boden, um die glänzende Holzkiste zu öffnen, die Makoto ihm aus Tokio geschickt hat. Er nimmt den Primus heraus, mit dem man Wasser kochen kann. Er stellt die Tassen und die Teekanne, rau und schwer wie graue Kiesel, auf ein schwarzes Tablett, das glänzt wie Eis und mit goldenen Vögeln bemalt ist. Laurence hockt auf der Veranda und sieht zu. Papas Hose spannt. Laurence kann auch so knien, mit den Hacken unter dem Po, aber das quetscht ihm die Füße ein, und darum tut er es nicht.

»Eine Geschichte?«, fragt Papa. »Die Dachse und das Säcklein voll Gold? Der Reisende und die Fuchswelpen?«

Laurence lächelt Papa an und schüttelt den Kopf.

»Die Katze und der Teich, der den Mond beobachtet?«

Papa erzählt gern japanische Geschichten, in denen Tiere ihre Gestalt ändern und sprechen können.

»Erzähl mir, wie du unser Haus gebaut hast. Erzähl mir vom Garten.«

Papa lächelt. »Lass mich vorher noch Tee machen. Meine Gedanken sammeln.«

Schwarze Haarnadeln

Das weiße Cottage fühlt sich anders an, wenn Ally nicht da ist. Wie eine Fabrik, in der die Maschinen stillstehen, wie ein Segelboot auf windstiller See. Die Papiere auf seinem Schreibtisch tun einen Atemzug, als vom Fluss eine Brise herüberweht, und er bewegt die Finger in der Sonne, um seine Schattenhand auf der halb beschriebenen Seite größer und länger werden zu lassen. Es ist nichts Schlechtes, wenn ein Haus ausruht, wenn außer dem Summen seiner Gedanken und dem Kratzen seines Stifts auf dem Papier nichts geschieht. So war es, ehe sie geheiratet haben, ehe er sie mit hierherbrachte. Mit all meinem irdischen Gut beschenke ich dich. Die Schatten auf dem Rasen werden länger, der Vormittag kühlt auf einmal ab, als die Wolke an der Sonne vorbei und aufs Wasser in Richtung St. Mawes zieht. Er hält die Hand ins Licht, das stark genug ist, um durch seine Fingerspitzen zu leuchten, die Grenzen seines Ichs zu durchdringen. Er wendet die Hand und sieht zu, wie das Gewebe zwischen seinen Fingern durchscheinend wird. Vogelfüße, denkt er. Vielleicht geht er am Nachmittag an den Strand, baden. Kann Ally schwimmen, besitzt sie einen Badeanzug? Er stellt sie sich nass vor, im kurzen Kleid, das an ihren Beinen klebt, weiße Arme unter durchnässter dunkler Baumwolle. Los jetzt, wenn er nichts tut, hätte er sie genauso gut zu den Booten begleiten können. Er wendet sich seiner Arbeit zu.

Er liest etwas über Leuchttürme in Japan. Er stellt das Buch aufrecht hin und lehnt sich im Sessel zurück. Man sollte meinen, dass Leuchttürme bei Erdbeben besonders gefährdet sind. Vor seinem geistigen Auge sieht er einen Turm schwanken, sieht Risse im Mauerwerk entstehen, als das Gebäude sich verdreht wie ein gewrungenes Handtuch. Etwas Gläsernes fliegt in hohem Bogen durch die Luft, die Reflektorlampe in perfektem, glitzerndem Flug, bis sie unten auf den Felsen zerspringt und der Turm erzittert und fällt, das Land die Gebäude abschüttelt wie ein Schlafender seine Bettdecke. Die Wellen unten haben kehrtgemacht, laufen in die falsche Richtung, weil sogar der Pazifische Ozean aufgestört wird von den Umwälzungen des Grundes, auf dem er ruht.

Aber da täuscht man sich. Wenn sie ordnungsgemäß gebaut werden, halten hohe, säulenartige Gebäude einem Erdbeben stand. Türme kann man – im Gegensatz zu länglichen, niedrigen Häusern, in denen zumeist Menschen leben – so bauen, dass sie eher biegen, als zu brechen. Und man weiß heute, dass die besten Leuchttürme die sind, die stärker auf Wind und Wellen reagieren. Das Fundament muss sich mit dem Boden bewegen, auf dem es steht, aber wenn die Maurer gute Arbeit leisten, ist die Spitze, das Licht selbst, ein Ruhepol, Achse und Fixpunkt.

Die Sonne verschwindet erneut, und eine Möwe schreit, als wolle sie protestieren. Er schlägt Die Berichte der Asiatischen Gesellschaft Japans zu. Der Verfasser dieses Artikels, ein schottischer Ingenieur, mag die Japaner nicht. Sie lügen, schreibt er, weil sie so am leichtesten bekommen, was sie wollen, und manchmal auch ohne ersichtlichen Grund. Er beschreibt ihre »vollständige Gleichgültigkeit gegenüber den Anforderungen der Zeit und der Lebensumstände«. Sie sperren ihre Frauen ein und unterjochen sie und wissen mit einem Essig-und-Öl-Ständer nichts anzufangen. Womöglich wüsste dieser Verfasser aber mit dem japanischen Gegenstück genauso wenig anzufangen, was auch immer das sein mag. Wie unergründlich die Einheimischen sein mögen, das gehört zu den Dingen, die man doch lernen können müsste. Zu den Dingen, die er versuchen wird zu lernen.

Er hört die Pforte ins Schloss fallen, steht auf und reckt sich, um Ally durch den Garten gehen zu sehen. Von hier oben wirkt sie perspektivisch verkürzt, ist auf Hut, Rock und Korb reduziert. Der Korb zieht ihren Arm nach unten; die Boote müssen eingelaufen sein. Eine Möwe, die auf dem Dach von Greenbank House Wache hält, verkündet Allys Rückkehr und erhält Antwort vom Schornstein von Symond’s Hill und dem Firstbalken von Penwerris House. Falls er dort draußen stirbt, denkt er manchmal, falls sein Schiff im Golf von Biskaya sinkt oder vor dem Horn, bevor er das Binnenmeer auch nur gesehen hat, werden die Möwen hier von seinem Tod künden, Wochen bevor der Bote den Weg entlangkommt. Die Haustür schließt sich leise. Sie achtet gewissenhaft darauf, ihn nicht bei der Arbeit zu stören, wie sie es im Haus ihres Vaters gelernt hat. Er wird zu ihr runtergehen; lieber mit seiner Ehefrau Zeit verbringen als mit morbiden Fantasien.

Sie kann die Wärme der Steinplatten durch ihre Schuhe spüren. Alle Kapitänshäuser auf der Dunstanville haben die Jalousien heruntergelassen, um die Sonne auszusperren, die von der Flussmündung herüberflackert und drüben in Flushing die Fensterscheiben aufblitzen lässt. Die Häuser dort auf der anderen Seite des Wassers sind wahre Verrücktheiten, mit an den Ecken klebenden Türmen, Mauerzinnen an den unwahrscheinlichsten Stellen und gotischen Ziersteinen, die in modernen Klinkerwänden prangen wie Geschwüre. Papa würde sie als persönliche Beleidigung betrachten, Ally aber kümmert es nicht. Sollen die reichen Männer ihr Spielzeug haben: Für uns andere ist es unterhaltsam, wenn nicht erbaulich, zu sehen, wie sehr diese äußeren Zeichen männlichen Reichtums den Tagträumen kleiner Mädchen gleichen. Der Affenschwanzbaum vor dem weißen Erkerfenster eines Kapitäns neigt sich über den Gehweg, die dunklen Äste prägen ein Muster auf den Putz des Greenbank Hotel. Angeblich hat Captain Motton ihn aus Afrika mitgebracht, zusammen mit einem Affen, der gestorben ist und nun ausgestopft in einer Glasvitrine auf seiner Anrichte steht. Falmouth gefällt ihr.

Sie wechselt den Arm, mit dem sie den Korb trägt, und lächelt, weil sie überlegt, was ihre Tante in London dazu sagen würde, dass sie, Dr. Moberley Cavendish, im Hafen um Fisch feilscht. Um diese Jahreszeit fahren die Boote, wie ihr die Haushälterin der Nachbarn gestern erzählte, im Morgengrauen raus und sind häufig am Mittag schon wieder zurück. Wenn das Boot voll ist, ist es voll, und je eher der Fang im Zug nach London liegt, desto besser. Wer Fisch will, tut gut daran, am Kai zu sein, wenn sie zurückkommen. Mrs. Trevethan bekommt den Fisch immer von ihrem Cousin; die meisten Leute hier kennen jemanden, der rausfährt, deshalb gibt es keinen Fischladen, wissen Sie? Aber solange die Hotels nicht vor ihr da sind, wird ihr schon jemand ein paar Makrelen oder einen Dorsch verkaufen. Mrs. Trevethan hat ihr nicht gesagt, dass der Fischkai stromaufwärts hinter dem Paketkai liegt, weil die Fischerboote weniger Tiefgang haben als die Hochseeschiffe, aber obwohl sie spät dran war, standen immer noch Kisten groß wie Särge voller toter Fische in der Sonne. Hunderte, dachte sie, vielleicht auch Tausende, und sogar ganz oben schlugen noch ein paar Schwanzflossen in der heißen Luft, taten Münder in silbernen Gesichtern lautlos ihre Empörung kund. Die Fische da oben leben noch, wollte sie zu den Männern sagen, die triefende Netze über die Steine hievten, wir haben einen medizinischen Notfall.

Ally rückt ihren Hut so zurecht, dass er ihr Gesicht beschattet. Sie hat noch nie Fisch zubereitet. Bei Mama gab es keinen. Vielleicht war in Manchester vor zwanzig Jahren kein Fisch zu bekommen. Vielleicht hätte sie weniger hochmütig sein und Tante Marys Angebot, sich von ihrer Köchin etwas beibringen zu lassen, nicht ausschlagen sollen. Ally hatte nicht bedacht, dass sie Tom damit die Haushaltsführung aufzwang, die sie bei Mama gelernt hatte. Aber auch in den Jahren bei Tante Mary in London hat sie einiges gelernt. Sie verlangt von Tom nicht, sich beim Frühstück zwischen Butter und Marmelade zu entscheiden. Sie bietet ihm Sahne zum Kaffee an und Zucker zum Tee. Und Fisch zuzubereiten kann doch nicht so schwierig sein. Man muss nur auf die eine oder andere Weise genügend Hitze zuführen, damit das Eiweiß stockt, und bedenken, dass gekochter Fisch zwangsläufig grässlich schmeckt. Den Ofen anzuheizen ist schwierig, außerdem ist es im Haus schon warm genug, also werden die Seezungen gebraten. Sie mag das Gewicht und den Schimmer ihrer neuen Kupferpfanne. Salzkartoffeln mit Minze aus dem Garten und zum Nachtisch die restlichen Pflaumen. Das ist doch eine Mahlzeit. Wenn er weg ist – nein, schon bei dem Gedanken ans Kochen, daran, dass es dann leichter wird, hält sie inne. Der Zeitpunkt seiner Abreise naht schnell genug. Es wird dauern, und sie wird Geduld brauchen. Geduld hat man immer, so wie man immer Luft zum Atmen hat, einfach weil es gar keine Alternative gibt. Sie öffnet die Pforte. Und jetzt wird sie den Fisch in die Küche bringen und Annie einen fröhlichen Brief schreiben, vom Baden im Meer und von den Fischweibern erzählen und ihrer Freundin versichern, dass das Eheleben in Cornwall mehr bedeutet als ein Exil von der Arbeit und den Freunden in London.

Aber da ist Tom, er kommt mit schwerem Schritt die bloße Holztreppe herab, legt von hinten die Arme um sie, als sie den Fisch aus dem Korb hebt. Er hat Haut statt Schuppen und unter der Rückenflosse die Narbe einer alten Wunde. Seine orangefarbenen Punkte sind verblasst.

»Ich dachte, du arbeitest«, sagt sie.

»Jetzt nicht mehr.« Er küsst ihren Nacken über dem hohen Kragen. »Es sollten unsere Flitterwochen sein.«

Sie lehnt sich für einen Moment an ihn, spürt seinen Atem in ihrem Haar. Sie haben nur so wenig Zeit. »Sind es aber nicht. Bring Mr. Penvenick nicht gegen dich auf. Wenn du doch zu tun hast …«

Seine Hand berührt durch die graue Baumwolle ihre Brust, und durch ihren Körper flackert eine Antwort. Aber, denkt sie, Mr. Penvenick wird sich aufregen, wenn dein Bericht nicht fertig ist, er wird dich tadeln, er wird enttäuscht sein, wo er dir bisher vertraut.

Er streicht ihr Haar beiseite. »Es gibt immer irgendwas zu tun. Lass den Fisch, Al.«

Sie senkt den Kopf, als er ihr den Kragen aufknöpft.

Vom Gewicht ihres Kopfes auf seinem Schlüsselbein wird ihm der Arm taub, aber er möchte, dass sie so liegen bleibt. Sie weiß vermutlich, wie viel der menschliche Kopf wiegt, denkt er. Vermutlich hat sie ein menschliches Gehirn in ihren bloßen Händen gehalten und es in eine Waagschale gelegt. Vor der Hochzeit wurden Witze gemacht, die keine Witze waren, darüber, dass eine Ärztin wenigstens wisse, was sie erwarte, und er in der Hochzeitsnacht gleich zur Sache kommen könne, ohne erst zu erklären, was wohin gehört. Beim vierten Glas Bier hatte der etwas jüngere George gesagt, es wäre beinahe, als würde er eine Witwe heiraten, wobei es gleichzeitig den Vorteil hätte, dass … Charlie zog ihn nach draußen, und als sie wieder hereinkamen, bat George ihn um Entschuldigung. Er hatte es nicht böse gemeint, er war nicht trinkfest und dachte nicht nach, bevor er den Mund aufmachte, aber Tom war seit seiner Schulzeit nicht mehr so kurz davor gewesen zuzuschlagen.

Sie legt den Kopf auf das Kissen, schiebt ihre Hand von seinem Bauch hoch zu seiner Brust. Er streichelt ihre Hüfte, die Kurve ihrer Taille. Ihr Haar hat sich an einer Seite gelöst, und auf dem Laken hinter ihr liegen verstreut ein paar schwarze Haarnadeln.

»Ich habe ganz vergessen«, sagt er und sammelt die Nadeln ein, »De Rivers hat uns zum Abendessen eingeladen.«

Sie hebt den Kopf, die Zufriedenheit, über die er sich so gefreut hat, ist aus ihrem Blick verschwunden. »De Rivers? Aus dem großen Haus an der High Street?«

»Ludgate House. Er möchte dich in Falmouth willkommen heißen.«

Sie setzt sich auf, bemerkt seinen Blick und zieht die Knie an, um ihre Brüste zu bedecken. »Warum sollte er das wollen?«

»Vielleicht macht es ihn stolz, eine preisgekrönte junge Ärztin in der Stadt zu haben.«

Sie schüttelt den Kopf. »Woher soll er denn von meinem Preis wissen? Und warum sollte ihm das irgendwas bedeuten?«

Er verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Der Riss in der Decke wird wahrscheinlich nicht größer geworden sein, seit er ihn zuletzt betrachtet hat. »Er weiß es, weil ich ihm davon erzählt habe. Und vergiss nicht, es stand in der Times. Jedenfalls habe ich die Einladung angenommen. Für Donnerstag.«

Verheiratete Männer sagen in solchen Fällen, sie müssten erst noch mit ihren Frauen sprechen; zu spät fällt es ihm ein. Er hat vorausgesetzt, dass sie einverstanden ist und dass sie Zeit hat. Ein bloßes Versehen, aber er hat sie und Annie über Männer reden hören, die nur so lange Verständnis für die Frauenbewegung haben, bis sie sich genötigt sehen, den Tee selbst einzuschenken. Vielleicht vertraut sie ihm noch nicht genug, als dass er sich solche Fehler erlauben könnte, vielleicht meint sie, er wolle das Sagen haben. Dann kann er nur versuchen, es zu erklären: Ich wollte mir nicht anmaßen, in deinem Namen zu sprechen, es ist vielmehr … Nun, ich habe vergessen, dass ich jetzt ein verheirateter Mann bin. Ich habe dich vergessen. Er wartet ab. Die Sonne der letzten Tage hat goldene Strähnen in ihr spatzenbraunes Haar gezogen.

»Na schön«, sagt sie. »Ich muss mein graues Kleid auslüften. Immerhin etwas, wovon ich Annie und Tante Mary in meinen nächsten Briefen erzählen kann.«

Er streckt den Arm aus und fährt mit den Fingern ihre fein gemeißelten Rückenwirbel entlang.

Die Umkehrung vonNoahs Arche

Hinter der Stadt geht die Sonne unter, das Abendrot versteckt sich westlich der Lizard-Halbinsel, doch jenseits des Meeresarms leuchtet der Hügel über Flushing in gebrochenem Rosa. Die Masten rund um den Hafen wiegen sich in einem Kaleidoskop aus Land und Himmel, das sich in den Wellen spiegelt. Zwei große Schiffe schieben sich an Pendennis Head vorbei, ihre Segel erschlaffen, als sie St. Mawes Castle passieren und das schützende Land erreichen. Nicht mehr lange, und er wird die andere Richtung nehmen, sehen, wie sich die Segel blähen, die Leinen sich klimpernd straffen und das Schiff sich gegen den Wind lehnt. Das Meer wird sich um ihn herum ausdehnen, während Falmouth, Pendennis, die Lizard-Halb insel, Cornwall im Nordosten kleiner werden. Und dann, nach ein paar Wochen, wird er in Japan sein. Er zieht Allys Arm fester um seine Rippen.

»Aus seinem Esszimmer hat man sicher einen schönen Blick«, sagt sie. »Ich bin gestern am Kai langgegangen und habe es von unten bewundert.«

»Penvenick zufolge ist das Haus ganz bemerkenswert, De Rivers ist offenbar Sammler. Da bekommst du endlich mal wieder schöne Bilder zu sehen.«

Das Haus ihres Onkels war voll mit Gemälden und Skulpturen. Nie zuvor hatte er in einem Privathaushalt eine lebensgroße Marmorstatue gesehen, und nun hat er Ally in ein Cottage geholt, dessen Wände allesamt zu feucht und uneben für Bilder wären, selbst wenn er welche besäße.

Sie reibt ihre Wange an seiner Schulter. »Ich kann nicht behaupten, dass ich sie vermisse. Und ich glaube kaum, dass Mr. De Rivers und ich den gleichen Geschmack haben.«

Geschmack. In ihrem Kopf sind ganze Welten, die er nicht betreten kann, Arten, Menschen und ihren Besitz zu kategorisieren, die ihm fremd sind.

»Ally?«, fragt er. »Ally, gehst du am Samstag mit mir in die Kunstgalerie?«

Die Galerie gibt es schon, seit er hier lebt. Sie ist eine Schenkung der Familie Yarrow an die Stadt gewesen, ein bisschen Kultur, um den Sinn der Seeleute und Geschäftsmänner zu verfeinern, er aber hat nur ein Mal den Fuß hineingesetzt, um einen Vortrag über neue Entwicklungen im Leuchtturmbau zu halten. Es gibt auch Konzerte, zu denen er nicht geht.

Sie sieht ihn an. »Natürlich, mit Vergnügen. Sie haben ein paar interessante Sachen. Aber ich weiß nicht, ob ich dir viel dazu sagen kann.«

»Bestimmt mehr, als ich bisher weiß.«

Ihre Hand streicht seinen Arm hinab und greift nach seiner. Sie mag die Innenseiten seiner Handgelenke, ein Teil seiner Anatomie, an den er vor der Hochzeit noch keinen Gedanken verschwendet hatte.

»Und du lernst gern dazu. Sag, Liebster, soll ich dir auch einmal eine Führung durch das Nervensystem und das Skelett geben?«

»Warum nicht?«, sagt er. »Ein Mann kann gar nicht zu viel wissen. Eine Frau natürlich auch nicht. Vielleicht taugt die menschliche Wirbelsäule ja als Vorbild für einen erdbebensicheren Leuchtturm.«

»Die Wirbelsäule ist eine Schwachstelle. Und nach allem, was du mir erzählt hast, dürften andere Säulen für dieselben physikalischen Probleme anfällig sein.«

Er küsst ihre Hand, und sie gehen die Stufen zur Haustür hoch.

Was die schöne Aussicht betrifft, hat sie richtiggelegen. Mr. De Rivers – ein Mann, der derartige Ähnlichkeit mit einem Frosch hat, dass man erstaunt ist, ihn eine Treppe hochgehen zu sehen – zeigt ihnen das ganze Haus, ehe sie sich setzen dürfen. Mit ihrer dunklen Eichentäfelung wirken die quadratische Diele und die flache Treppe wie eine Höhle, doch die Fenster über dem Meer leuchten wie die Canalettos, die sie in der Manchester City Art Gallery immer so bewundert hat. Die Geländerpfosten sind geschnitzte Gerstenähren. Die Bodendielen, blanke Schiffsplanken wie in allen Häusern dieser Stadt, knarzen, wenn man darauf tritt. Das Haus, erklärt Mr. De Rivers, ist mehr als zweihundertfünfzig Jahre alt. Er legt ihr die Hand an den Ellenbogen, der unter den kurzen Ärmeln des grauen Kleides bloß liegt, als helfe er ihr um die Treppenbiegung. Seine Hand ist feucht, sie würde sie am liebsten gleich wieder abschütteln. Neun Generationen wurden hier geboren und sind hier gestorben, denkt sie. Sein Daumen drückt sich in ihren Trizepsmuskel. Möglicherweise ist dies das älteste Gebäude, das sie je betreten hat. Trotzdem fühlt es sich vertraut an. Sie rückt von Mr. De Rivers ab, auf die andere Seite des Treppenabsatzes. Papas Haus wurde erst für ihn und Mama gebaut, mit modernem Ziermauerwerk und Erkerfenstern, aber wie das Haus von Papa wurde auch Ludgate House erbaut, um etwas darzustellen. Sechs Menschen würden hier nebeneinander auf die Treppe passen. Aus der Vertäfelung könnte man ein Schiff bauen, das tauglich für die sieben Weltmeere wäre, der Marmor der Kamine würde ausreichen, um eines ganzen Regiments geliebter Söhne zu gedenken. Ally betrachtet eine kleine Glaskugel auf einem Tischchen und unterdrückt ein Japsen, als aus dem Inneren etwas zurückschaut. Im düsteren Licht kann sie es nicht richtig erkennen; ein kleines Säugetier mit spitzer Nase und grauem Fell, das erstarrt unter einem nackten Ast kauert. Tom nimmt ihre Hand. Hinter Beistelltischen ragen Palmen in Töpfen auf, und in den dunklen Ecken schimmern weitere Glaskästen. Über dem Kamin steht ein geweihtragender Kopf von der Wand ab wie aufgespießt. Irgendwie bezweifelt sie, dass De Rivers den Tod dieser Tiere persönlich beaufsichtigt hat. »Meine Zentralamerika-Vi trine«, sagt De Rivers, als sie sich davor versammeln. Er greift wieder nach ihrem Arm, aber Ally sieht seine Hand kommen und tritt hinüber auf Toms andere Seite, als könne sie von dort besser sehen. Die Vögel im Inneren haben keine Vogelfarben, sie sind türkis, violett, scharlachrot und so klein, dass man sich kaum vorstellen kann, wie jemand sie getötet hat. Für eine Kugel sind sie nicht groß genug. Womöglich Chloroform, nachdem man sie mit einem Netz gefangen hat. Dann wurden die panischen Flügelschläge allmählich langsamer und hörten schließlich auf, die Köpfe hingen herab, während sich ein Film über die Augen legte. Die Herzen der Vögel müssen kleiner sein als der Nagel von Allys kleinem Finger und schneller schlagen, als man mitzählen kann.

»Sie waren in Zentralamerika?«, fragt Tom.

Mr. De Rivers plustert sich ein wenig auf. Allys Finger erspürt die Innenseite von Toms Handgelenk, über dem Pulspunkt, wo sich unter zarter weißer Haut der Muskel wölbt. Sie mag diese Stellen an ihm, an denen sich Weichheit mit einer Stärke verbindet, die der weibliche Körper nicht kennt. De Rivers sagt etwas. »Aber nein, ich habe keine Zeit, mich auf dem Globus herumzutreiben. Die Mine läuft nicht von selbst. Aber wenn man die richtigen Leute kennt, ist es ein Leichtes, beinahe alles von überall auf der Welt zu bekommen. Captain Polwarth hat sogar Schrumpfköpfe aus Afrika in seiner Vitrine!«

»Menschenköpfe?«

»Verzeihen Sie, Mrs. Cavendish. Das ist kein Thema für Damen. Ich zeige Ihnen lieber meine chinesischen Fächer. Sind die nicht bemerkenswert? Man vermag sich die Mühe der Schnitzer kaum vorzustellen, nicht wahr?«

In einer Truhe aus Zedernholz liegen Seidenstoffe aus China, bemalt mit Tigern und Drachen. Im schwachen Licht sind die Farben kaum auszumachen, aber Mr. De Rivers ermuntert Ally, die Seide anzufassen, lässt sie in ihre Hände fließen und sieht ihr dabei ins Gesicht. Sie weicht seinem Blick aus und denkt an die Hände, die diesen Stoff gemacht haben. Papa würde er gefallen.

Es gibt eine Glasvitrine voller Porzellanfiguren, und – De Rivers zwinkert Tom zu – ganz am Rand stehen welche, die nicht unbedingt für die Öffentlichkeit geeignet sind. Es gibt eine weitere Truhe, für die ein kornischer Zimmermann geschnitzte chinesische Wandschirme auseinandergenommen und neu zusammengesetzt hat. Die Papierkörbe sind aus Elefantenfüßen gefertigt und die Kerzenhalter aus Elfenbein geschnitzt. Das hier ist ein Mausoleum, es ist die Umkehrung von Noahs Arche. Sie stellt sich vor, was für einen Lärm es machte, wenn all diese ausgeweideten Tiere zum Leben erwachten, wenn ihre Seelen inmitten einer Winternacht wiederkehrten, flatternd, brüllend, kreischend, wenn die Eichentäfelung splitterte und die Geländer brächen wie Bäume im Sturm …

Im Esszimmer sitzt am Kamin in der dunkelsten Ecke des Raums eine Frau über einen Stickrahmen gebeugt. Die Frau steht auf und hält den Rahmen dabei wie ein Taschentuch, als müsste sie gleich weinen. Sie ist größer als Ally, älter und trägt ein weiches, kaninchenfellfarbenes Abendkleid, das sie vom Haarschmuck bis zu den Schuhen sepiagetönt erscheinen lässt und nur knapp über ihren Brustwarzen endet. Ally senkt unwillkürlich den Blick, als wollte sie die Würde einer Patientin wahren; sogar sie weiß, dass ein solches Dekolleté einer festeren Polsterung bedarf.

»Meine Schwester. Deborah, Mr. und Mrs. Cavendish. Mrs. Cavendish, Miss De Rivers.«

Dr. Moberley Cavendish, denkt Ally, aber in den drei Monaten seit ihrem Abschluss hat sie schon begriffen, dass es Situationen gibt, viele Situationen, in denen mit einer solchen Bemerkung nichts gewonnen ist.

Sie streckt die Hand aus. »Sehr erfreut.«

»Mrs. Cavendish. Wie gefällt es Ihnen in Falmouth?«

Mr. De Rivers hat den Esstisch, eine Mahagonifläche von der Größe ihres Schlafzimmers, ans Fenster gestellt und sie, als frisch verheirateten Ehrengast, zu seiner Rechten platziert, von wo aus sie zusehen kann, wie Hügel und Meer langsam dunkler werden, dieselbe Farbe annehmen, und die ersten Lichter die Boote kitzeln. Als ein berüschtes Dienstmädchen die Suppe abräumt, wechseln draußen die Gezeiten, und die Schiffe schaukeln in der Dunkelheit. Trotz Toms Erklärungen erscheint Ally der Gezeitenwechsel noch immer geheimnisvoll, und bevor sie hierherkam, wusste sie nicht, dass er überhaupt so eindeutig erkennbar ist. Gestern erst hat sie gesehen, wie bei Niedrigwasser eine kleine Pause eintrat und dann langsam das erste Bächlein der hereinkommenden Flut anschwoll. Es war ganz deutlich – wie wenn ein Patient das Bewusstsein wiedererlangt.

»Mrs. Cavendish?«

Sie begegnet Toms Blick.

»Verzeihen Sie, Mr. De Rivers. Ihre wunderschöne Aussicht hat mich abgelenkt.«

Er lächelt. Er ist die Art Mann, dessen Lächeln einen zwangsläufig an ein Krokodil denken lässt. »Ich wage zu behaupten, dass unsere kleine Stadt recht faszinierend ist, wenn man London gewohnt ist. Und – war es nicht Manchester? Ich kenne die Stadt nicht, und ich kann auch nicht behaupten, dass mich London besonders anzieht. Ich habe als junger Mann dort gelebt, wissen Sie?«

Ally nippt an ihrem Wein. Ausgezeichneter Wein, so gut wie der, den Onkel James im Keller hat. »Manchester ist eine interessante Stadt. Der gesellschaftliche Wandel, der sich dort vollzieht, dürfte abgelegenere Teile des Landes erst in einigen Jahren erreichen. Und London habe ich mir nicht ausgesucht, es ist die einzige Stadt in Großbritannien, in der ich meine Ausbildung machen konnte. Ich war glücklich dort.«

Sein Gesichtsausdruck verhärtet sich kurz, als hätte sie etwas Unaussprechliches ausgesprochen, aber das Lächeln bleibt. »Und das werden Sie hier hoffentlich auch sein, meine Liebe.«

Tom legt die Gabel hin. »Meine Frau wird in Truro in der Anstalt arbeiten. Sie interessiert sich sehr für Nervenleiden.«

Mr. De Rivers hustet. Wenn er zu ersticken droht, denkt sie, wird er sich noch über meine Ausbildung freuen. Er greift nach dem Wasser.

»In der Irrenanstalt? Ihre Frau? Cavendish, was denken Sie sich denn dabei?«

Tom lächelt. Er kann jeden anlächeln. »Dr. Moberley Cavendish ist der Meinung, dass weibliche Irrenärzte dringend gebraucht werden. Schließlich ist die Mehrheit der Patienten weiblich, und ihre Leiden beginnen häufig in den kritischen Lebensphasen, in denen Frauen wünschenswerterweise von Frauen behandelt werden sollten. Fasse ich das richtig zusammen, Ally?«

Sie nickt. Noch wissen sie nicht, warum diese Einladung ausgesprochen wurde, aber Mr. De Rivers ist ein mächtiger Mann, der sich für Tom zu interessieren scheint. Mit ihrer Sache braucht er nicht zu sympathisieren.

»Ich beginne meine Tätigkeit erst, wenn Tom abgereist ist. Ich möchte so viel Zeit wie möglich mit ihm verbringen, und da ich hier niemanden kenne, brauche ich während seiner Abwesenheit natürlich eine Beschäftigung. Und welchen Beruf haben Sie in London ausgeübt, Mr. De Rivers?«

Mr. De Rivers’ Hemdbrust bläht sich über seiner Weste. »Ich hätte gedacht, unter solchen Umständen kehrt eine junge Dame ins Haus ihres Vaters zurück, aber wie ich sehe, haben Sie Ihren eigenen Kopf. Mein Vater hielt es für das Beste, dass ich für einige Zeit bei einem Ausfuhrhändler arbeite. Den Großteil unseres Blechs verkaufen wir auf Märkten in Übersee, und er legte Wert darauf, dass ich diesen Teil des Geschäfts verstehe. Ich muss sagen, ich war froh, nach Cornwall zurückzukommen.«

Ally nickt. »Das kann ich verstehen. Und bei der Gelegenheit haben Sie dieses herrliche Haus gefunden?«

Inzwischen kann sie das. Mama hat nie verstanden, dass nicht jede Schlacht jedes Mal geschlagen werden muss, und auch Höflichkeit ist ihre Sache nicht. Weibliche List, würde Mama sagen, die feige Taktik jener, die das Urteil von Dummköpfen fürchten und auf Weltlichkeit mehr geben als auf Erlösung. War Gottes Sohn auf Kriechertum und süße Worte angewiesen? Hatte er Angst, die Geldverleiher im Tempel zu verärgern?

Als die Damen hinausgehen, steht er auf, einer dieser Gentleman-Tricks, die er sich spät angeeignet hat. Ally hält den Blick gesenkt, sittsam. Ihre Frisur sitzt nicht mehr so straff, und entlang der blassen Kurve ihres Halses schlängelt sich eine einzelne Locke. Miss De Rivers tritt etwas zurück, um Ally vorangehen zu lassen in den Salon, wo sie im Dämmerlicht die Schar Kolibris, das Tigerfell und der Elchkopf erwarten. Er kann sich nicht vorstellen, worüber die beiden Frauen reden sollen.

Mr. De Rivers schweigt und nippt am Rest seines Burgunders, bis sich die Tür hinter den beiden schließt. Das Dienstmädchen räumt zwei Teller ab, lässt den Nachtisch aber noch stehen, und Mr. De Rivers holt dazu einen Portwein aus der Anrichte.

»Darf’s eine Zigarre sein, Cavendish?«

Ally mag den Geruch nicht. »Für mich nicht, danke. Aber von diesen Walnüssen nehme ich noch eine.«

De Rivers reicht ihm den Korb. »Eigene Ernte. Ich habe auch einen schönen Feigenbaum. Trägt aber leider nicht jedes Jahr Früchte.«

»Das Klima ist wirklich mild. Wenn ich die Palmen und das Springkraut sehe, kann ich kaum glauben, dass ich in England bin.«

»Sicher nichts, womit Sie aufgewachsen sind. Wo war es noch gleich, Yorkshire?« Er schenkt großzügig Portwein ein. »Ich war noch nie dort. Gut, Cavendish, sollen wir übers Geschäftliche reden?«

»Ich dachte mir doch, dass Sie mir etwas zu sagen haben, Mr. De Rivers.«

Er möchte, dass Tom ihm aus Japan Seidenstoffe mitbringt. Kimonos, ja, auch, vielleicht einen für Miss De Rivers, aber einen besonders schönen hat er im Haus von James Poldoon hängen sehen, der Stoff gleichermaßen mit Applikationen und mit Stickerei verziert, was man so in Europa noch nicht gesehen hat. Poldoon habe seinen von einem Londoner Händler, aber er möchte etwas Echtes. Gehen Sie in die Werkstätten, junger Mann. Sehen Sie mit eigenen Augen, wie die Nadeln aufblitzen und die Farbe aufgetragen wird. Es wird Ihnen wohl nichts ausmachen, orientalischen Mädchen ein wenig bei der Arbeit zuzusehen, was? Er habe ein, zwei Sachen über diese Japanerinnen gehört … Jedenfalls werde er dafür sorgen, dass es sich für Tom lohnt. Er soll ihm etwas richtig Schönes mitbringen, eine ganze Wand soll es bedecken, damit Poldoon die Augen ausfallen, dann wird Tom es sich, wenn er das nächste Mal nach Übersee reist, leisten können, Ally in Florence Terrace zu lassen und nicht in dem feuchten kleinen Haus.

Tom schwenkt den Portwein in seinem Glas, Zentrifugalkraft kontra Schwerkraft. Bei der ersten Bewegung schwappt er beinahe über, die zweite stellt das Gleichgewicht wieder her. Er hatte gehofft, in einem halben Jahr wieder zu Hause zu sein.

»Wissen Sie, wo sich diese Werkstätten befinden, Mr. De Rivers?«

Mr. De Rivers bläst Rauch aus. »Das müssten Sie herausfinden. Zweifellos gibt es Reiseführer. Und meines Wissens gibt es in Osaka eine Gegend, die als Textilviertel bekannt ist.«

»Mein Auftrag bestünde darin, die Werkstätten ausfindig zu machen, eine Bestellung aufzugeben und die Ausführung zu beaufsichtigen? Ich würde erst abreisen, wenn Ihr Behang fertig ist, und Sie wollen, dass ich ihn in meinem Gepäck mitbringe, wenn ich zurückkehre?«

De Rivers lässt die Asche auf einen Teller fallen. Das Küchenmädchen wird ihn später sauber machen und wahrscheinlich über die Gedankenlosigkeit der Herren fluchen, die noch nie eine Frau abwaschen gesehen haben. »Genau so ist es. Und wenn Sie Unternehmerblut in den Adern haben, junger Mann, dann bringen Sie mit, soviel Sie tragen können, und verkaufen es auf eigene Rechnung.«

Der Portwein schwenkt in die andere Richtung. »Es soll eine kurze Reise werden. Mr. Penvenick kann mich nicht lange entbehren.«

»Penvenick! Kommen Sie, Tom, keiner von uns ist unersetzlich. Wenn Penvenick sechs Monate ohne Sie auskommt, werden ihn ein paar Wochen mehr schon nicht umbringen. Wie auch immer, Sie haben mich noch nicht gefragt, von welcher Summe wir sprechen.«

Er stellt sein Glas ab und sieht auf. Es reicht, denkt er, es reicht. Er schuldet diesem Mann gar nichts. »Das, Mr. De Rivers, liegt daran, dass meine Lage mich glücklicherweise nicht zwingt, an Geld zu denken, bevor ich an meinen Beruf oder an meine Frau denke.«

De Rivers lächelt. »Sie haben Biss, genau wie Ihre Frau. Ich sehe interessante Zeiten in Ihrem Haus voraus, Cavendish. Nehmen Sie das Mädchen mit, wenn Sie es ohne sie nicht aushalten. Sie fahren schließlich nicht nach Afrika, Japan ist ein zivilisiertes Land. Vor allem verglichen mit der Anstalt in Truro.«

Natürlich hat er daran schon gedacht. Penvenick hat es selbst vorgeschlagen. Die zusätzlichen Kosten wären unbedeutend. Er hat sich sogar einzureden versucht, dass Ally in Japan arbeiten könnte, denn sicher gibt es dort Frauen, auch Europäerinnen, die genauso dringend medizinischer Hilfe bedürfen wie ihre Schwestern zu Hause. Oder sie könnte sich ansehen, wie man in Japan die Geisteskranken versorgt, denn auch die wird es dort genauso geben wie hier. In Indien gab es schon Ärztinnen, lange bevor sich Frauen in Großbritannien überhaupt ausbilden lassen, geschweige denn praktizieren konnten. Japan ist nicht Indien. Tatsache bleibt, dass sie ihn nicht zu den Leuchttürmen begleiten könnte und wochenlang allein in einer Kolonie von Auswanderern leben müsste. Tatsache bleibt, dass sie ihrer Arbeit in der Anstalt erwartungsvoll entgegenblickt.

»Es ist unmöglich. Und ich denke nicht, dass Mr. Penvenick mir erlauben würde, Ihren Auftrag anzunehmen.«

»Seien Sie kein Dummkopf, Tom.«

De Rivers stellt sein Glas ab und nennt ihm die Summe.

Jacob’s Ladder

Die Möwen lärmen, vom Hafen tönt ein Schiffshorn herüber, drei Mal, wahrscheinlich verkündet der große Dampfer, der vor zwei Tagen einlief, seinen Aufbruch. Ally liegt zusammengerollt da. Er beobachtet, wie sich das Laken mit ihren Atemzügen hebt und senkt. Ihr Nachthemd, das er irgendwann gestern Abend aufgeknöpft hat, ist ihr über die Schulter gerutscht. Auf ihrem Schulterblatt sieht er einen blassen Leberfleck, der ihm noch nie aufgefallen ist. Vielleicht sehen wir im Schlaf alle jünger aus als im wachen Zustand. Sie hat sich das Laken um die Beine gewickelt, sodass für ihn nichts mehr bleibt, eine mit goldenem Flaum bedeckte Wade liegt entblößt in der Morgensonne. Kaum hat er sich daran gewöhnt, sein Bett zu teilen, wird er schon in einer Holzkoje hinter einem Schutzgeländer liegen und sich von den Wellen wiegen lassen. Er hat auf See immer gut geschlafen.

Das Zimmer hat sich durch Allys Ankunft nicht besonders verändert. Seine beiden Jacketts hängen an dem Haken an der Tür, seit ihre Kleider den Platz im Spiegelschrank einnehmen. Ihre besten Schuhe, zu hoch, als dass sie bequem darin laufen könnte, stehen unter seiner Kommode, und das graue Seidenkleid liegt über dem Stuhl, als wäre es ohnmächtig geworden, aber heute Morgen wird sie alles wegräumen. Die gestreiften Vorhänge filtern das Sonnenlicht wie eh und je, und die Tagesdecke, die seine Mutter ihm genäht hat, als er nach London ging, hängt zusammengefaltet über der Stange am Fußende des Bettes wie eh und je. Er denkt an das, was Ally ihm über das Haus ihres Vaters erzählt hat, an die Dornröschentapete, die er extra für sie und ihre Schwester May entworfen hat, an die Winter- und Sommervorhänge, die für anderes Licht und andere Farben im Salon sorgten, dem ersten mit der berühmten Herbsttapete ausgekleideten Raum. Er kennt das Haus nicht, man hat ihn nicht eingeladen, aber sogar seine Mutter kannte den Namen Alfred Moberley. Oh ja, die Vogelvorhänge, sagte sie. Mrs. Gummersall hat sie in Rosa. Im Haus von Allys Onkel James, wo er sie kennenlernte, gab es ebenfalls gemusterte Tapeten und Gardinen und Lampen und Sessel im Überfluss. Vielleicht sollte er vorschlagen, dass Ally das Cottage neu einrichtet, die Räume so herrichtet, wie sie es gewohnt ist. Wenn er den Auftrag von De Rivers annähme, hätten sie dafür mehr als genug.

Darauf bedacht, sie nicht zu stören, schiebt er sich unter der Decke hervor und tritt über das knarrende Dielenbrett an der Tür hinweg. Als Junge hat er sich an Sommermorgen manchmal in aller Früh aus dem Haus seiner Mutter gestohlen, um am Fluss zu angeln, oder einfach, weil er Lust zu einem heimlichen Ausflug hatte, ohne die Seitenblicke derer, die meinen, ein Junge allein könne nichts Gutes im Schilde führen. In diesem Haus musste er sich noch nie leise bewegen. Der Großteil des Gartens liegt im Schatten, nur auf die Rosen am Tor und die hohe Ziegelmauer, die ihr Cottage vom Garten der Nummer zwei trennt, scheint die Sonne. Die Küche im Keller ist kühl und dunkel, der gekachelte Boden unter seinen nackten Füßen kalt. Er hat sich immer staubig angefühlt, bis Ally kam. Er setzt den Wasserkessel auf und nimmt die Flöte ab, damit sie Ally nicht weckt. Sie hat am Samstag Brot gebacken, und in der Speisekammer sind Eier und der besondere Rauchtee aus Indien, der zu den bescheideneren Hochzeitsgeschenken von Tante Mary gehörte, nur ein kleines Zeichen, sagte sie, ein bisschen Luxus für die ersten Tage des Ehelebens. Ein Tablett haben sie nicht, aber ein Backblech tut es auch; er wird seiner Frau Frühstück ans Bett bringen. Seiner Braut. Auf dem Weg nach oben bleibt er stehen, balanciert das Tablett, dann öffnet er die Haustür und lässt den Tag herein.

Der Küchenfußboden ist gewischt, ordentlich geschrubbt und trocken gefeudelt. Sie hat zum ersten Mal Toms Sachen gewaschen, hat zugesehen, wie seine Ärmel und Hosenbeine im Wasser schwammen und sich um ihre Unterkleider und Blusen schlangen. Bitte, hat Tom gesagt, ich habe keine Ärztin geheiratet, damit sie meine Hemden auswringt. Das ist unter deiner Würde, Al, gib es raus. Er hat es immer so gemacht. Warum, sagte sie, damit ich faul herumsitzen kann wie eine feine Dame, während sich eine andere Frau abmüht? Kannst du dir vorstellen, was Mama dazu sagen würde? Sie hat alles gewaschen, aber Tom besitzt keine Mangel. Es ist ein schöner Tag. Die Haushälterin der Nachbarn hat ihr Holzklammern gegeben, die sie nicht mehr benötigt, nachdem sie ihre Dienstherren überzeugt hat, die neuen mit Metallfedern zu kaufen, und Ally hat zwischen der Stechpalme und dem Zaun eine Leine gespannt. Nichts spricht dagegen, dass sie sich hinsetzt, vielleicht sogar in den Garten, in dem Blätter herumliegen, und noch einmal Professor Brownes Buch über Irrenanstalten liest. Mit der Hausarbeit ist man nie ganz fertig, man könnte immer noch die Vorhänge waschen oder irgendetwas abstauben, aber ihr neuer Status als Ehefrau darf ihrer eigentlichen Arbeit nicht im Wege stehen. Faulheit, sagt Mamas Stimme in ihrem Kopf, den Nachmittag genusssüchtig verplempern, während vor der eigenen Haustür Elend und Verzweiflung herrschen. Die Stimme hat recht: Es gibt in Falmouth Gassen, so infernalisch wie die in Manchester, wo Mama sich Tag für Tag, Monat für Monat damit plagt, Frauen, die nicht lesen und schreiben können, beizubringen, wie sie ihre Kinder ernähren, ihre Häuser sauber halten und ihre Kleidung waschen, ohne dass es ihr besonders gedankt würde; wo sie gefallenen Mädchen und erkrankten Prostituierten zeigt, dass das Leben andere Wege für sie bereithält. Hier gibt es offene Abwasserkanäle, die ins Meer fließen, und mangelernährte Kinder, die vor der Bäckerei betteln. Frauen in welker Pracht stehen bei jedem ankommenden Schiff bereit und frequentieren die Bars am Hafen. Ally könnte jetzt gerade dabei sein, Körper und Seelen zu retten wie Mama, statt auf den Steinstufen neben der Kamelie Kissen zurechtzulegen, auf denen sie es sich bequem machen kann. Sie könnte versuchen, Unterstützer für eine Besserungsanstalt für diese Frauen zu gewinnen, oder ihnen und ihren Kindern wenigstens medizinische Hilfe anbieten. Ihr fällt ein, wie sie den Bewohnerinnen von Mamas Heim als Achtzehnjährige erzählte, sie wolle sich nach ihrem Abschluss um Frauen kümmern, die nirgendwo anders hin und sich keinen Arzt leisten könnten, die mitsamt ihren Kindern starben, weil sie nicht einmal die grundlegendste Versorgung erhielten. Und jetzt widmet sie sich dem Studium chimärischer Geisteskrankheiten, dem am wenigsten geachteten Zweig der Medizin. Noch auf dreihundert Meilen Entfernung spürt sie Mamas Enttäuschung. Sie schlägt das Buch auf.

Die Geschichte der Geisteskrankheiten, schreibt Browne, enthülle ein paar furchtbare Wahrheiten. Unter anderem die, dass der Geist zum Wahnsinn erzogen werden kann, dazu, sich selbst zu zerstören. Dies ist der Ausgangspunkt eines im Kern optimistischen Arguments: Wenn der Geist zum Wahnsinn geführt oder getrieben werden kann, wenn eine gesunde Person verrückt werden kann, dann muss dieser Prozess doch umkehrbar sein. Warum sollte jemand, der einmal im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, diesen Zustand nicht wiedererlangen können? Browne preist »das wohlregulierte Bemühen, die tugendhafte Genügsamkeit, die festen Prinzipien eines hochgebildeten Geistes«. Über Allys Kopf kreischt eine Möwe. Die Blätter der Kamelie sind fast so dunkel wie die Dornen der Stechpalme, nun glänzen beide im gleißenden Sonnenlicht. Ein hochgebildeter Geist führt ihrer Erfahrung – und der Erfahrung sämtlicher ihr bekannter Frauen – nach weder zu tugendhafter Genügsamkeit noch zu festen Prinzipien. Ihrer Ansicht nach erschüttern Klugheit und Bildung die tugendhafte Genügsamkeit vielmehr, eine Erschütterung, die jede Frau während ihrer Ausbildung erleben sollte. Browne befasst sich natürlich vor allem mit dem männlichen Geist.

Sie liest weiter: »Wer sich der Pflege der Irren widmet … muss unter ihnen leben; er muss ihr häuslicher Partner sein; er sollte sich beschäftigen, womit sie sich beschäftigen; er sollte sich tagsüber mit ihnen unterhalten und den Selbstgesprächen lauschen, die sie in der Abgeschiedenheit ihrer Zellen führen. Er muss den Wahnsinn unter den Wahnsinnigen beobachten, analysieren, anpacken und in der Verfassung und Veranlagung jedes Individuums nach dessen hochwirksamen Waffen suchen und nicht in allgemeinen Regeln oder universellen Angaben.« Der Beruf des Irrenarztes wird sich aber nur durch die Entdeckung allgemeiner Regeln und universell gültiger Angaben durchsetzen, denkt sie, und trotzdem stimmt es. Jeder Geist hat seine eigene Geschichte, seinen eigenen Weg ins Verderben, und vielleicht kann diese Geschichte, wenn man sie sich erst mal vergegenwärtigt, zurückverfolgt werden. Wie sie und Browne sehr wohl wissen, liegt die Schwierigkeit darin, in den Anstalten eine Ordnung einzuführen, die das ermöglicht. Darin, zwischen den vielfältigen Geisteskrankheiten Raum zu schaffen für Erzählungen irgendeiner Art. Sie ertappt sich dabei zu überprüfen, ob die Wäsche trocknet, als könnte sie irgendetwas anderes tun.

»Wollen wir einen Spaziergang machen, Dr. Moberley Cavendish, kann Ihr bedeutendes Werk so lange warten?« An ihren Händen kleben Mehl und Butter, ihre Fingernägel sind unangenehm verkrustet. Mama hielt Gebäck für ungesund, besonders für junge Mädchen, und zu Hause gab es nie welches, Tom aber liebt es. Und in Japan wird er keinen Kuchen bekommen.

Sie versucht, für ihn zu lächeln, doch ihre Augen werden feucht. Jetzt beginnt er, ihr letzter Abend. Von diesem Moment an werden die Minuten dahineilen wie die Stiche einer Nähnadel. Unauftrennbar, unwiederbringlich.

»Wenn Sie einverstanden sind, zu ausschweifend später Stunde zu Abend zu essen, Mr. Cavendish. Im Buch steht, es wäre von Vorteil, wenn der Teig eine Weile ruht.«

Er streckt die Hand aus. »Haben Sie mich denn nicht in der Hoffnung auf Ausschweifungen geheiratet? Komm, ich war den ganzen Tag im Büro eingesperrt, und vom Meer weht ein schöner frischer Wind.«

Sie versenkt die Hände in dem Becken mit kaltem Wasser, kratzt die Butter unter ihren Fingernägeln hervor, schüttelt die Hände trocken, um kein Handtuch waschen zu müssen. Wenn sie sich jetzt auch ins Gesicht Wasser spritzt, sieht er, dass sie aufgewühlt ist.

»Und deine Schürze?«

Was schert sie die Schürze? Sie verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Finden Sie das keinen angemessenen Aufzug für einen Abend der leidenschaftlichen Vergnügungen? Vielleicht haben Sie recht.«

Sie nehmen den oberen Weg, gehen vom Cottage aus die Steinstufen zu Penwerris Terrace hoch, wo eine Reihe Kapitänshäuser steht. Die Sonne steht noch hoch am Himmel, und die weiß verputzten Fassaden leuchten hell wie Laken, die in der Sonne trocknen. Auf den Firstbalken und Schornsteinen verkünden die Möwen, dass Tom und Ally näher kommen, die Schreie umkreisen sie von oben, und unter ihnen schmiegt sich die Stadt an den Hang, unten arme Leute in grauem Stein, ganz oben reiche in weißer Farbe. Vor ihnen bändigen schmiedeeiserne Zäune rosafarbene Fuchsien und rankende Glyzinien, deren violette Blüten herabhängen wie Weintrauben. Hinter einem Fenster sieht sie die Herbsttapete, von der sie lange Zeit dachte, Papa habe sie nur für den Salon zu Hause entworfen.

»Ally?«

Erschrocken dreht sie sich um. Als er ihr den Heiratsantrag gemacht hat, klang seine Stimme nicht so ernst. Vielleicht sagt er es im letzten Moment doch noch. Komm mit. Ich kann nicht ohne dich fahren, das schaffe ich nicht. Egal, was es für deine Berufstätigkeit bedeutet, komm mit. Das kann ich nicht, würde sie sagen. Und doch. Ja.

»Ich hoffe …« Er hält inne. »Du weißt … Ally, ich bin sicher, die Zeit wird schnell vergehen, wenn wir uns erst mal daran gewöhnt haben. Wenigstens wussten wir beide von Anfang an, dass diese Trennung auf uns zukommt. Und du hast dann ja deine Arbeit, du brauchst keine Zerstreuung zu suchen. Briefe benötigen heute nur noch ein paar Wochen, wusstest du das? Vielleicht lesen wir unsere Briefe in fünfzig Jahren wieder und denken …« Seine Hand schließt sich fester um ihre. »Denken an all die gemeinsamen Jahre.«

Ihr Rock schwingt um ihre Schuhe, über die Pflastersteine, als sie einen Fuß vor den anderen setzt. Es sind jetzt noch weniger Minuten übrig als beim Verlassen des Hauses, als beim Überqueren der Straße. Sie sollte etwas erwidern, seine Vignette über ihr gemeinsames Alter ausschmücken.

Es gibt nichts zu sagen. Sie gehen weiter, jetzt oberhalb der Bücherei und der Galerie, und sie folgt ihm durch die Kopfsteinpflastergasse, wo die Männer vor dem Pub sie beobachten. Einer sagt etwas über sie, und die anderen lachen. Ihr Rock, denkt sie, ihr Rock, der in London für eine wohlhabende Akademikerin geschneidert wurde, ist hier zu eng. Sie halten ihn für unanständig. Oder hat ihr Haar sich gelöst, oder hat eine Möwe ihre Kleidung beschmutzt? Tom wartet unten, den Ellbogen gebeugt für ihre Hand.

»Tut mir leid, Ally, ich dachte, du wärst näher bei mir.«

Sie hakt sich bei ihm ein. »Jetzt bin ich es ja.«

Für diesen Abend, für diese eine Nacht. Der frische Wind, den er wollte, beruhigt ihr Gesicht wie ein kühles Tuch.

»Gehen wir auf den Hügel?«

Sie laufen wie üblich Richtung Gyllingvase, wo er gern die vom Atlantik hereinkommenden Schiffe beobachtet. Aus dem blauen Wasser, wie die Leute hier sagen, von weit draußen, als wäre das Wasser an der Küste nicht blau.

»Wir können auch Jacob’s Ladder nehmen«, sagt sie, »das geht mit dem Rock.«

Das erste Mal hat er sie an einem heißen Nachmittag hierhergeführt, und sie merkte an, sie könne nicht für Eleganz garantieren, wenn sie die einhundertzwölf Steinstufen vom Marktplatz hinaufsteigen solle. Aber er mag Jacob’s Ladder, auch weil sie vollkommen unnötig ist, ein unerhörtes Werk der Ingenieurszunft, wie die bauliche Großtat eines kleinen Jungen, der mit Bauklötzen spielt.

»Gut. Dann steigen wir die Treppe zusammen hoch.«

Oben sind Kinder, die Murmeln spielen, und als Ally und Tom sich ihnen nähern, kommt eine Glaskugel auf sie zugerollt und hüpft an ihnen vorbei nach unten. Sie hört ihren eigenen Ausruf. Die Murmel wird kaputtgehen, in winzige Splitter zerschellen, und ihr blaues Herz wird brechen. Die Jungen stehen auf und gucken. Ihre Hosen sind löchrig und ihre nackten Füße dreckig, die Haare lang und ungekämmt. Dem Kleinsten steht der Mund offen.

»Es ist zu steil, versucht nicht, sie zu kriegen«, sagt Tom. »Hier, damit könnt ihr euch eine neue kaufen. Wem gehört sie?«

Das Kind nimmt den Penny, aber die Murmel ist heil unten angekommen. Kugeln, das hat er ihr mal erzählt, sind die stabilsten Körper. Fugen und Kanten bedeuten Schwachstellen. Hinter der Felskuppe kommen sie an den Villen von Florence Terrace vorbei, und endlich sehen sie auf den Atlantik und die vertrauten Windungen der Flussmündung herab. Über den Hang bis zum Meer erstrecken sich große Anwesen, neuer als die Kapitänshäuser, samtige Rasenflächen, mit Palmen und blühenden Büschen verziert. Unterhalb davon sind Rollstühle und Kinderwagen zu sehen, fein säuberlich aufgereiht an der gepflasterten Promenade, darunter springen dunkelblau und weiß die Wellen, und ganz hinten, dort, wo das Meer zum Himmel wird, sammeln sie sich und stürzen auf die Manacle-Felsen ein. Wenn man die Manacles sehen kann, muss es ein klarer Tag sein. Ihre Hand umfasst Toms Arm fester, und plötzlich sieht sie ihre ertrunkene Schwester vor sich, die nassen Röcke, die sich May um die Beine gewunden haben, das Haar, das um ihr Gesicht schwebt, als sie sinkt und ihr Mund sich öffnet, überrascht oder um letzte Worte zu sprechen, Das habe ich nicht gewollt oder Ich liebe dich oder –

»Ally?«

»Entschuldige, Tom. Es tut mir leid.«

Nicht weinen. Das kann er nicht gebrauchen: Schwäche, Hysterie, blank liegende Nerven an diesem letzten Tag. Er kennt sie stark. Er hat eine Ärztin geheiratet, keine Patientin. Sie beißt sich auf die Lippe.

»Weißt du inzwischen, wie lang du in Singapur sein wirst?«

Er streichelt ihre Hand. »Das hängt wohl vom Wetter ab und davon, wie schnell wir vorankommen. Wahrscheinlich ein paar Tage. Penvenick bezahlt mir ein Hotel, damit ich vom Schiff runterkomme. Er meint, bis dahin werde ich mehr als bereit sein für einen Landspaziergang. Und dann kann ich natürlich auch Briefe abschicken.«

Sie nickt. Tom, wie er herumläuft, sein flotter Schritt unter tropischem Himmel, festen, fremden Boden unter den Füßen.

»Sicher wirst du dir gern die Stadt ansehen.«

Sie stellt sich vor, auch dort zu sein, an seinem Arm, unter tropischem Himmel, den Duft unbekannter Früchte und Blumen in der Nase. Sie stellt sich vor, sie stünde an der Reling eines Schiffes, am Horizont ein neues Land, im Gesicht ein warmer Wind. Doch er fragt nicht.

Sogar die Möwen schlafen, aber durch den Spalt zwischen den Vorhängen kann er die Nacht langsam schwinden sehen. Heute ist es so weit. Der Umriss neben der Tür ist sein Koffer, der auf ihn wartet. Ally liegt eng zusammengerollt, mit dem Rücken zu ihm, als wäre er bereits weg, als gäbe es für sie keinen Trost. Diese Reise ist ein Verrat. Obwohl sie von dieser Trennung wussten, bevor sie beschlossen zu heiraten, obwohl sie ihn nicht gebeten hat zu bleiben und weiß, dass Penvenicks Pläne unabänderlich sind, ist es ein Verrat. Statt hinaus in die Nacht zu schleichen, den Tau auf dem Gras einzuatmen und die roten Rosen an der Pforte und Cornwall fest unter den Füßen zu spüren, schmiegt er sich an seine Frau, nimmt sie in die Arme, wiegt ihre Brust in seiner Hand und ihren Kopf an seiner Brust, denn es kann, kann sogar sehr gut, das letzte Mal sein.

Eine kunstvolle Anordnungaus Pflanzen und Steinen

Die Schiebetüren stehen eine Handbreit offen, und durch die Lücke sieht man die Außenwelt, ein Streifen aus Blättern und Borke und Regen zwischen den Papierfenstern, die ihn an Buchseiten erinnern, an die leeren Flächen ungeschriebener Briefe. Die Blätter haben die unterschiedlichsten fleischigen Grüntöne, manche sind rot umsäumt, beben wie Zimbeln, angeschlagen von Regentropfen. Hinter dem Prasseln des Regens hört man irgendwo Wasser fließen, das müssen die Bambusrinnen sein, die ihm vorhin aufgefallen sind, oder es gibt da draußen einen Springbrunnen. Er streckt die Hand nach der Schiebetür aus, zögert. Das gespannte Papier wirkt so empfindlich. Die Frau, deren Namen er selbst dann nicht aussprechen könnte, wenn er ihn verstanden hätte, hat die Türen wahrscheinlich genau so hingeschoben, wie sie es wollte. Was maßt er sich an, Veränderungen vorzunehmen an ihrem Haus? Also nähert er sich der Lücke mit den Augen, ein Kind, das in einen Raum linst, den es nicht betreten darf, ein Dienstbote am Schlüsselloch. Es ist – wahrscheinlich – ein Garten. Für eine derartig kunstvolle Anordnung von Pflanzen und Steinen braucht es Hände, menschlichen Verstand. Sein Blick misst den Raum zwischen den ausgreifenden Ästen und den kauernden Steinen, erfasst, wie die Kurven des Kiesweges den Betrachter in die grünen Schatten unter den Büschen ziehen. Keine Blumen, keine Beete. Keine geraden Linien und dennoch ein Garten. Er spürt einen Blick im Rücken, und da steht sie, in ihren Pantoffeln. Er wird sich daran gewöhnen müssen, dass diese Häuser die Bewegungen ihrer Bewohner verschweigen. Wenn man hinguckt, kann man alles auf einmal sehen, guckt man aber nicht, hört man, bevor es zu spät ist, nichts.

Sie kniet sich hin, senkt den Kopf beinahe bis auf den Boden, als wäre er einer ihrer Götter. Seine Knie knacken, und seine Hose spannt an den Oberschenkeln, als er es ihr gleichtut: Selbst wenn es falsch sein sollte, zeigt er damit hoffentlich seine guten Absichten. Ihr Haar bleibt perfekt in Form. Alle Frauen haben blauschwarzes Haar, die Farbe schwerer Blutergüsse, und es sieht aus, als müsse es sich kalt anfühlen. Er steht auf. Seine Knie schmerzen. Sie üben diese Haltungen von Kindheit an, wie er gelesen hat, trotzdem versteht er nicht, wie sich ein menschlicher Körper derart zusammenfalten kann, ohne Schaden zu nehmen. Muskeln, Knochen und Blutgefäße sind doch bei allen Menschen gleich?

Sie murmelt etwas und setzt sich auf die Fersen, macht eine Handbewegung. Essen? Ist in Japan jetzt Essenszeit? Als er aufwachte, gab es ein Getränk, das wie eine Mischung aus Kaffee und Tee schmeckte, eine Schale mit klebrigem Reis und eine Art klare Suppe. Wenn der Student ankommt, wird er ihn fragen. Bring es mir von Grund auf bei, wird er sagen. Tu so, als wäre ich ein Wilder, ein Kind, das von Wölfen aufgezogen wurde, und erklär mir das Schlafen und das Aufwachen, wie man seine Blase und Gedärme leert, wie man badet. Erklär mir, was ich essen soll und wann und wie, und im Gegenzug bringe ich dir bei, wie man Leuchttürme baut. Das ist doch kein schlechtes Geschäft. Sie lächelt ihn an, kommt geschmeidig auf die Beine und geht davon, still wie eine Katze. Er hat keine Ahnung, was vor sich geht, scheint aber immerhin niemanden beleidigt zu haben. Er weiß nicht, wann der Student kommt; Makoto wird dich morgen besuchen, hat man ihm gesagt. Er würde gern rausgehen, Japan unter den Füßen spüren, seine Luft riechen, seine Vögel singen hören und seinen Wind in den Blättern. Er hat Hunger. Er lässt sich auf eines der quadratischen Kissen sinken und holt Fulhams Bauingenieurwesen hervor, die Sieger-Ausgabe, die Professor Fulham für ihn signiert hat. Fürs Erste muss er warten.

Bis sie zurückkommt, hat sich das Licht im Raum verändert. Hinter den Vorhängen am Eingang nähern sich Füße und die untere Hälfte eines gelben Kimonos, und dann flattert der Vorhang im Durchgang zu seinem eigenen Zimmer blau und weiß. Er fragt sich, was sie gemacht hat, während er las. Sie trägt ein Tablett, das innen schwarz lackiert und in poliertes Bambusholz mit genuteten Ecken eingefasst ist, darauf stehen umgedrehte Becher und Schalen. Sie geht auf die Knie, das Tablett bleibt in der Horizontalen. Sie setzt es auf dem Tisch ab, von dem er eilig den Fulham nimmt. Sie spricht, deutet zur Tür. Sie hat zwei leere Schalen mitgebracht, oder zwei henkellose Tassen. Makoto?

Zu Toms Erleichterung trägt Makoto einen Anzug und auf dem kurzen Haar einen Filzhut, und als Tom sich erhebt, streckt Makoto ihm die Hand entgegen.

»Mr. Cavendish. Freut mich.«

Makoto verbeugt sich, während er ihm mit festem Griff die Hand schüttelt.

»Ganz meinerseits. Mr. Makoto?« Ist Makoto ein Vor- oder ein Nachname?

»Wie war Ihre Reise?«

Als träfen wir uns in London, denkt Tom. Makoto betont das Englische seltsam und lässt Laute aus, als sänge er den Text des einen Liedes zur Melodie eines anderen, ansonsten aber spricht er vollkommen korrekt.

»Sehr angenehm. Sind Sie selbst erst kürzlich aus England gekommen?«

Makoto verbeugt sich erneut. »Aus Schottland. Ah, Sie lesen Fulham? Ich hatte die Ehre, ihn kennenzulernen.«

Wie albern, sich darüber zu wundern. Er wusste, dass Makoto in England studiert hat.

»Ich habe bei ihm studiert. Wir korrespondieren. Er hat mir geraten, herzukommen.«

»Er ist ein großer Mann. Ich war sehr geehrt.«

Geehrt, denkt Tom, ein Wort, das ihm überall begegnet, wo er etwas über Japan liest. Ob es auf Japanisch nur ein einziges Wort dafür gibt, oder kennen die Japaner vielleicht genauso viele Abstufungen von Verbindlichkeit wie die Eskimos von Schnee? Die Frau, die wie eine Dienstbotin in der Ecke gestanden hat, tritt vor, verbeugt sich und spricht, und diesmal versteht Tom, dass er gebeten wird, sich zu setzen und Tee zu trinken.

Der schmale Streifen Landzwischen zwei Meeren

Vom Fuß der Auffahrt wirkt die Anstalt in Truro beinahe wie der Landsitz eines englischen Gentleman. Mit Mittelbau und Säulengang, Gebäudeflügeln zu beiden Seiten und einem Grundstück, das sich über den ganzen Hang erstreckt. Erst aus der Nähe betrachtet lassen die Gitter an den oberen Fenstern und die fehlenden Vorhänge darauf schließen, dass dieser Ort keine Gemütlichkeit verheißt. Der Haupteingang wird nicht benutzt, es sei denn, man erwartet die Inspektoren und das Komitee. Sie folgt dem Kiesweg bis zum Pförtner auf der Rückseite des Hauses. Der Himmel ist düster, und sie verlangsamt ihren Schritt, will den Regen noch auf der Haut und den Kleidern spüren, ehe sie diese Hallen betritt. Drinnen ist die Luft schlimmer als in der Anstalt in Chelsea, in der sie nach ihrer Prüfung hospitiert hat. Dr. Crosswyn sagt, er nehme den Geruch schon lange nicht mehr wahr, aber sie überfällt er jedes Mal wieder. Wir würden allesamt so riechen, jeder Einzelne von uns, hätten wir nicht die Möglichkeit zu baden, wären wir unseren eigenen Körpern und ihren Bedürfnissen zu sehr entfremdet, um zu merken, dass Blase und Gedärme sich füllen. Hättest du dein Gesicht auch von Jesus abgewandt, hat Mama immer gesagt, als er verdreckt und krank aus der Wüste kam? Bist du eine derart feine Dame, dass du dir deinen Schöpfer nur parfümiert und in sauberer Kleidung vorstellen kannst? Mama konnte die Füße gefallener Frauen waschen und die Wunden von Straßenkindern verbinden; die Wangen ihrer eigenen Töchter küssen oder ihnen übers Haar streichen konnte sie nicht. Und für die Verrückten empfand auch Mama keine Nächstenliebe, für die, die keine Besserung zu geloben vermochten und keinen Nutzen aus ihren Ratschlägen zogen.

Es fängt an zu regnen, feinste Tropfen, gerade schwer genug, um herabzufallen. Niesel, wie Tom sagt, der lieber echten Regen hätte und den dafür seltener, aber Ally gefällt, wie die Tropfen sich an Blätter, Gras und Haar heften, als komme das Wasser nicht vom Himmel, sondern bilde sich dort, und ihr gefällt, wie der Niesel den schmalen Streifen Land zwischen zwei Meeren einhüllt. Diese Hügelkuppe ist einer der Orte, von denen aus man sie beide sehen kann. Ally geht noch langsamer. Der Pförtner wird sie im Regen herumtrödeln sehen und denken … Nun, er wird denken, sie hätte den Verstand verloren, weil sie nicht auf schnellstem Weg nach drinnen flieht.

In der Anstalt sind zu viele Stimmen. Lauschen Sie ihren Selbstgesprächen, sagt Browne. Es ist kein neuer Gedanke, dass die Anstalt erst wahnsinnig macht, dass die Irren ihren Irrsinn gegenseitig verstärken. Aber genau das reizt sie an ihrem neuen Beruf: Wie kann man den Geist systematisch heilen? Ihr geht es nicht um eine Klassifizierung der Geisteskrankheiten, sondern um die Vorstellung, Seelen zu heilen. Wenn bestimmte Lebenslagen wahnsinnig machen, muss es doch auch welche geben, die heilen. Aber vermutlich nicht für zweitausend Menschen auf dieselbe Weise und zur selben Zeit. Sie merkt, dass der Pförtner tatsächlich zu ihr hinsieht, und winkt.

»Morgen, Doktor.« William gehört zu den Menschen, die sie gern so nennen. »Schönes Wetter für die Jahreszeit.«

»Dem Garten tut der Regen gut«, sagt sie. Sie lächeln sich an. William ist ein ehemaliger Patient, ein Mann, der nach zehn Jahren Inhaftierung nicht wusste, wohin. Und Allys professioneller Einschätzung nach ist er der zurechnungsfähigste Mensch auf dem gesamten Gelände.