Zwischen Tod und Leben - John (Frère) - E-Book

Zwischen Tod und Leben E-Book

John (Frère)

0,0

Beschreibung

Hat der christliche Glaube heute noch eine Chance, oder ist das Leben nicht schon bunt und mitreißend genug? Frère John lebt seit über vierzig Jahren in der Communauté von Taizé. Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage nimmt er die theologische Bedeutung des Karsamstags in den Blick. Dieser Tag zwischen Tod und Auferstehung kann uns den Glauben neu verstehen lassen als eine radikale, weltumspannende Wirklichkeit, als ein Weg zu einem Leben der Klarheit und der Hoffnung, ein Leben in der Welt, ohne von der Welt zu sein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 412

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Frère John, Taizé

Zwischen Tod und Leben

Den Karsamstag neu entdecken

Originalausgabe:

Terre de passage. Le samedi saint et la redécouverte de l’au-delà

Übersetzung aus dem Englischen: Kleine Schwester Teresa-Johanna von Jesus

© 2017 Ateliers et Presses de Taizé, 71250 Taizé Communauté, France

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Als Bibeltext ist zugrundegelegt

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2005

Umschlagmotiv: Frère Marc, Taizé

Covergestaltung: wunderlichundweigand

Innengestaltung: Barbara Herrmann, Freiburg

ISBN Print 978-3-451-38447-9

ISBN E-Book 978-3-451-81665-9

Inhalt

Hinführung

I Die Frage der Eschatologie

1 Das Dilemma

Ein Volk der Hoffnung

Das Ende des Zeitalters

Die Zeit ist erfüllt!

Schon und noch nicht

II Biblische Überlegungen zum Karsamstag

2 Eine allumfassende Solidarität

Das Totenreich

Der letzte Platz

Zu den Sündern gezählt?

Die Entwaffnung des Bösen

Den Toten verkündigen

Licht aus dem Osten

Ein paradoxer Sieg

3 Das Schweigen Gottes

Verbirg nicht dein Angesicht!

Verloren im Exil

Der Klang des Schweigens

Vom Schweigen in die Stille

4 Der Sabbat

Ein »nutzloser« Tag

Gott besteigt seinen Thron

Ein Tag der Freude, der Freiheit und der Ruhe

Jesus und der Sabbat

Samstag oder Sonntag?

Inspiration der Liturgie

Das heilige Triduum

III Der Raum und die Zeit des Karsamstags

5 Leben in den Randgebieten

Der Schwellenzustand

Zwischen Tod und Auferstehung

Johannes: In und doch nicht von dieser Welt

Paulus: Im Fleisch, aber nicht nach dem Fleisch

Außerhalb des Lagers

Der Papst und die Peripherie

Eine Mehrheitsreligion?

Die klösterliche Alternative

Eine neue Epoche?

6 Jetzt ist die Zeit!

Der Kairos ist hier!

Christus, unser Passah

Die Stunde Jesu

Das ewige Jetzt

Eine Zeit wie Musik und Tanz

Licht in der Dunkelheit

Lauf weiter!

Die Hoffnung kann nicht trügen

Und die Zukunft?

Eine Zeit, um zu bauen

Nachtrag: Ein Leben, das alle Hoffnung übersteigt

IV Ein Leben im Karsamstag der Geschichte

7 Leere und Fülle

Eine erfolgreiche Revolution

Die Tage des Messias

Geh durch das schmale Tor!

Der Karsamstag, ein Passah

Der Kairos als Wendepunkt

Eine Politik der verbrannten Erde

Technokratie und Kapitalismus

Und die Erfüllung?

Die sakramentale Logik

Freut euch im Herrn zu jeder Zeit!

Die andere Seite der Geschichte Jesu

Namen und Abkürzungen der verwendeteten biblischen Bücher

Hinführung

Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. (Lk 12,49)

Dieses Buch geht davon aus, dass der christliche Glaube eschatologisch ist. Was ist damit gemeint? Eschatologie bedeutet wörtlich: die Lehre von den letzten Dingen. Lange Zeit verstand man in den gängigen theologischen Abhandlungen darunter: Tod, Gericht, Himmel und Hölle. In diesem Buch wird Eschatologie in einem umfassenderen und zugleich grundlegenderen Sinn verstanden, welcher – stets nahe an den Worten der Bibel – deutlich macht, wohin die Nachfolge Jesu führt.

Für die Kirche ist es mittlerweile zu einer entscheidenden Frage geworden, wie sie sich selbst versteht: Wenn sie die Vorstellung derer übernimmt, die sie von außen betrachten, wird sie zu einer Religion unter anderen, mit einer bestimmten Lehre und bestimmten Gewohnheiten ritueller Art, welche die spirituellen Bedürfnisse einiger Zeitgenossen befriedigen. Oder aber sie besinnt sich auf das, was sie von den Schriften des Neuen Testaments her zu sein beansprucht, nämlich die geheimnisvolle und alles Erwartbare übersteigende Verheißung, dass die »letzten Dinge« bereits angebrochen sind, um diese Welt von Grund auf zu verwandeln. Wenn die Kirche diese Verheißung bezeugt und sie gewissermaßen selbst der Anfang deren Verwirklichung ist, stellt sich die Frage, an welchen Zeichen man diesen Prozess erkennen kann. Konkret gefragt: Was hat sich in unserer Welt dadurch verändert, dass vor 2000 Jahren in Palästina ein Mann gelebt hat, der zu Tode gefoltert wurde, in den Augen seiner Anhänger aber auferstanden ist und lebt?

Man kann dieselbe Frage auch noch aus einem anderen Blickwinkel stellen: Wird man dem christlichen Glauben gerecht, wenn man ihn als einen Aspekt betrachtet, der auf friedliche Weise neben den vielen anderen Aspekten des alltäglichen Lebens eines Menschen einhergeht? Oder liegt es nicht in der Natur des christlichen Glaubens, das ganze Leben zu umfassen und zu verwandeln? Für mich, der ich seit über 40 Jahren einer monastischen Gemeinschaft angehöre, ist diese Frage nicht theoretischer Art, sondern von vitalem Interesse. Doch auch für Christen, die vor den alltäglichen Herausforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Familie und der Arbeit stehen, stellt sich diese Frage, sofern sie beginnen, nach einem alles zusammenhaltenden Lebenssinn zu suchen.

Zwei Impulse halfen mir bei der Frage, worin die eschatologische Qualität des Glaubens für den einzelnen Menschen und für die Kirche besteht. Dies waren zum einen ein »Ungenügen« und zum anderen eine »Ahnung«!

Wenn Theologen darüber nachdenken, wie durch das Kommen Christi das Absolute in unser Menschsein eingetreten ist, sprechen sie oft von einer paradoxen Spannung zwischen »schon und noch nicht«. Die endzeitliche Verwandlung des Lebens und der ganzen Welt ist eine in der Gegenwart in Erfüllung gegangene Verheißung und zugleich eine noch ausstehende Zukunft. Man muss dankbar sein für diese Formel des »schon und noch nicht«. Doch sie beinhaltet auch die Versuchung, zu einer – im wörtlichen Sinn – »schlüssigen Formel« zu erstarren. Genau darin besteht für mich das »Ungenügen«: Diese Formel wird allzu schnell im Sinn einer Definition gebraucht, einer abschließenden Erklärung, die von allem weiteren Suchen entbindet. Anstatt das »schon und noch nicht« als den Anfang eines Weges zu verstehen, der zu immer tieferem Verstehen führt, macht man es zum Ende einer Sackgasse.

Diese Versuchung besteht auch hinsichtlich vieler anderer dogmatischer Aussagen. Dogmen wollen ein Glaubensgeheimnis schützen und bewahren. Deshalb sind sie unverzichtbar, aber sie können und wollen die Glaubensgeheimnisse nicht abschließend erklären. Das bekannte Dogma des Konzils von Chalcedon (451 n. Chr.), dass Christus »wahrer Gott und wahrer Mensch« sei, wies falsche Auffassungen bezüglich der Person Christi zurück und gab der nachfolgenden theologischen Reflexion die Richtung vor. Wäre die Formel von Chalcedon als »letztes Wort« angesehen worden, hätte sie alles weitere Suchen und Vertiefen überflüssig gemacht. Ähnlich verhält es sich mit der in diesem Buch so wichtigen Formel des »schon und noch nicht« des Reiches Gottes in dieser Welt. Es wäre hochmütig und eingebildet, würde man ein göttliches Geheimnis endgültig ergründen wollen; vielmehr geht es darum, wie wir im Blick auf die endzeitliche Erfüllung als Christen unser Leben in der heutigen Welt führen können – inmitten dieser Spannung von »schon und noch nicht«. Dies betrifft vor allem die Haltung der Hoffnung: Worauf können wir berechtigterweise hoffen, wenn wir uns auf das Evangelium stützen? Und was ist dagegen im Blick auf das Göttliche bloße Illusion oder menschliches Wunschdenken?

Der zweite Impuls, der mich bei meinem Nachdenken über die Frage der Endzeit beschäftigte, war eine Ahnung, die ich schon lange in mir trug: Wir müssen uns einem ganz bestimmten Tag im Kalender zuwenden, der zumindest in der westlichen Kirche weitgehend in Vergessenheit geraten ist – dem Karsamstag. Vielleicht wurde dieser Tag schlichtweg deswegen vergessen, weil im Evangelium fast nichts von diesem Tag überliefert ist. Allerdings ist der Karsamstag genau der Tag, an dem Tod und Auferstehung Christi miteinander in Berührung kommen. Insofern stellt er einen guten Ausgangspunkt für eine Untersuchung dar, die den Übergang von Erde und Himmel, von Gegenwart und Zukunft, von Ende und Neuanfang in den Blick nimmt.

In Gesprächen mit anderen Menschen hat es mich oft erstaunt, wie viele unserer Zeitgenossen sich in der Situation des Karsamstags wiederfinden. Am Beginn eines neuen Jahrtausends scheint dieser Tag, an dem alles vollbracht, aber noch nichts sichtbar ist, zunehmend an Bedeutung zu gewinnen. Könnte man sagen, dass wir uns aus historischer Sicht in einer Art »Karsamstagsperiode« befinden, in einem Zeitalter, in dem sich unzählige Hoffnungen als illusorisch erwiesen haben und niemand weiß, was an ihre Stelle treten kann? Falls dem so ist, könnte diese, durch mein persönliches Interesse begonnene Untersuchung, auch für andere von Bedeutung sein.

Das vorliegende Buch beginnt mit einem einleitenden Kapitel, das sich mit dem Dilemma der christlichen Eschatologie beschäftigt und es mit dem Thema des Karsamstags in Verbindung bringt. Im darauffolgenden Teil werden verschiedene biblische Elemente des Karsamstags untersucht: Zunächst wird die Perspektive Jesu eingenommen und sein Hinabsteigen in das Reich des Todes betrachtet (Kapitel 2). Anschließend stehen die Jünger und ihre Erfahrung der Verlassenheit bzw. des Schweigens Gottes (Kapitel 3) im Vordergrund, worauf eine Abhandlung über die Bedeutung des jüdischen Sabbats (Kapitel 4) folgt. Schritt für Schritt wird offensichtlich, dass Jesu Übergang vom Tod ins Leben die Heraufkunft des wahren Sabbats zur Folge hatte: Dieser eröffnet einen neuen Raum und eine neue Zeit, die – eingewurzelt im Hier und Jetzt – ihre ganz eigene Logik hat. In Kapitel 5 und 6 wird versucht, diesen Raum und diese Zeit zu beschreiben. Im abschließenden Kapitel 7 fasse ich meine Beobachtungen zusammen und ziehe einige Schlussfolgerungen. Dadurch möchte ich zeigen, auf welche Weise die Wiederentdeckung des Karsamstags ein wertvoller Wegweiser sein kann, der sowohl unserem persönlichen Glaubensleben als auch dem Leben der Kirche eine neue Richtung im »Karsamstag der Geschichte« gibt, den wir, wie mir scheint, derzeit erleben.

I Die Frage der Eschatologie

1 Das Dilemma

Was bedeutet es, Christ zu sein? Auf diese Schlüsselfrage können unsere Zeitgenossen eine Vielzahl von Antworten geben. Ihre Bandbreite erstreckt sich von »ein guter Mensch sein« über »jeden Sonntag zur Kirche gehen« bis hin zur »Wiedergeburt durch die Begegnung mit meinem persönlichen Retter Jesus Christus«. Um jedoch eine maßgebliche, dauerhaft gültige Antwort zu finden, müssen wir uns den grundlegenden Schriften der Christenheit zuwenden, die uns als das Neue Testament bekannt sind. Wir wollen mehr oder weniger zufällig drei Texte herausgreifen, die unser Thema betreffen. Am Ende des Johannesevangeliums begründet der Evangelist, warum er schreibt:

Diese [Zeichen] aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende Leben habt in seinem Namen. (Joh 20,31)

Und zu Beginn des Evangeliums nach Markus geben uns die ersten Worte, die Jesus spricht, Aufschluss über die wesentliche Aussage seiner Botschaft:

Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! (Mk 1,15)

Schließlich schreibt der heilige Paulus an die Frauen und Männer, die in der griechischen Stadt Korinth als Erste an Christus als den Messias glauben:

Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. (1 Kor 15,20f.)

Messias, Gottes Sohn, Reich Gottes, Auferstehung der Toten … Das sind keine vom Verstand geprägten oder abstrakt philosophischen Vorstellungen. Es handelt sich um Begriffe, die sowohl uns als auch den meisten Menschen im Laufe der Zeitgeschichte nur schwer zugänglich sind und waren. Die Ausdrücke platzieren uns unmissverständlich in die Gedankenwelt einer bestimmten Gruppe von Menschen, in ihre Zeit und an ihren Lebensort – das jüdische Volk vor ungefähr 2000 Jahren. Die oben angewandte Sprache drückt die Hoffnung Israels aus, und die Texte behaupten, dass sich eben jene Hoffnung durch das Leben eines einzelnen, bestimmten Menschen – Jesus von Nazareth – jetzt erfüllt: Der Messias ist da, das Reich Gottes ist greifbar, die Auferstehung hat begonnen. Dies ist der Kern der von den Jüngern bezeugten »Guten Nachricht«. Um die wahrhafte Bedeutung des christlichen Glaubens zu verstehen, müssen wir daher mit einer Betrachtung der Weltanschauung jenes Volkes beginnen, in dem dieser Mann geboren wurde.

Ein Volk der Hoffnung

Einer der Gründe, warum sich das winzige Volk Israel von allen anderen Nationen unterscheidet, ist zweifelsfrei seine einzigartige Vision von der Geschichte der Menschheit. Die Erzählungen davon finden sich in den heiligen Schriften, die später von den Christen als das Alte Testament bezeichnet werden. Sie beschreiben die Handlungen eines Gottes, der anders ist als alle Götter. Er ist nicht einfach nur der Gott eines einzelnen Volkes, der im Wettstreit oder Schulterschluss mit anderen, ähnlichen Göttern steht, sondern er ist der Schöpfer und Herrscher des ganzen Universums. Und der Geschichte zufolge tritt dieser Gott in eine besondere Beziehung mit Israel, um aus dem Volk ein »Königreich von Priestern« (Ex 19,6) zu machen, ein lebendiges Zeichen seiner Gegenwart im Herzen der von ihm erschaffenen Welt.

Der Gott der hebräischen Bibel war weit davon entfernt, den Menschen gleichgültig oder abgeneigt zu begegnen. Vielmehr zeigte er sich leidenschaftlich um ihr Wohl besorgt. In seinem Grundwesen war er wohlwollend, »ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und reich an Gnade und Treue« (Ex 34,6), und das von ihm geschaffene Universum war »sehr gut« (Gen 1,31).

Es ist keine große Einsicht vonnöten, um das Dilemma zu erkennen, das in dieser Sichtweise ihren Ursprung nimmt. Die Welt, die wir wahrnehmen und in der wir tagtäglich leben, scheint mit dieser Beschreibung ihres Schöpfers und seinen Absichten nicht übereinzustimmen. Das ist keine neue Entdeckung. Schon frühzeitig nahmen die Menschen die offensichtliche Unvereinbarkeit wahr, die zwischen einem guten Gott und einer nicht immer guten Welt bestand. Die Vorstellung von einem mächtigen und dafür weniger wohlwollenden Gott, oder anders ausgedrückt, das Bild eines wohlwollenden Gottes, dessen Macht beschränkt ist, scheint jeweils besser auf unsere Welt zuzutreffen als das Bild, das uns die Bibel von der Göttlichkeit gibt.

Für diese scheinbare Unvereinbarkeit zwischen einem allmächtigen und liebenden Gott und einer alles andere als perfekten Welt wurden verschiedene Lösungsansätze entwickelt. Bleiben wir auf einer rein spekulativen Ebene, dann ist keiner von ihnen vollauf befriedigend. Der allgemein bekannte Versuch, das Problem anzugehen, stellt die Wahlfreiheit des Menschen in den Mittelpunkt. Um sein Universum auszufüllen, ist Gott das Risiko eingegangen, Wesen zu erschaffen, deren Verhalten nicht im Voraus bestimmt ist. Die Menschen sind mit einem Verstand und mit einem Willen ausgestattet; sie versuchen, die Welt zu verstehen und daraus folgend zu handeln. Daher können sie sich irren oder sich aufgrund ihrer begrenzten Sicht sogar auf eine Weise benehmen, die zwar ihnen, nicht aber den Menschen und ihrem Umfeld nützt. Das von Gott eingegangene Risiko birgt in sich einen Verzicht: Gott will das Universum und die menschliche Gesellschaft nicht durch einen eigenmächtigen Entschluss auf die bestmögliche Weise leiten. Die göttliche Macht will vielmehr die Wahlfreiheit des Menschen respektieren. Daher ist Gott gezwungen, einen Weg zu finden, auf dem die Freiheit des Handelnden nicht aufgehoben, sondern so erhellt wird, dass der Mensch dem bestmöglichen Weg folgt.

Natürlich berücksichtigt die Bibel die Vorstellung von der menschlichen Freiheit. Sie tut dies allerdings nicht zuerst, um eine Rechtfertigung dafür zu liefern, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Sie erkennt sie eher als Teil des Problems. Wir suchen in der Bibel vergebens nach einer befriedigenden, intellektuellen Erklärung für den anscheinenden Gegensatz zwischen der Güte des Schöpfers und dem Zustand der erschaffenen Welt. Stattdessen finden wir eine mögliche Lösung: Die Bibel ist darum bemüht, uns eine Hoffnung zu schenken und diese zu umschreiben.

Diese Hoffnung kommt bereits auf den ersten Seiten der hebräischen Schriften zum Vorschein. Wenn die Bibel in ihrer Grundaussage die Geschichte von Gottes liebender Beziehung zu der von ihm geschaffenen Welt ist, dienen die ersten elf Kapitel des Buches Genesis als eine die Dramatik aufbauende Vorgeschichte. Sie erzählen eine Geschichte, die uns erklärt, weshalb die beschriebene Beziehung so problematisch ist und nur mit der Zeit aufgearbeitet werden kann. Wir entdecken ein Universum, das in sich gut und zugleich beschädigt ist, weil der Mensch dazu neigt, nicht in Übereinstimmung mit dem Weitblick des Schöpfers, sondern aus seinem eigenen, begrenzten Blickwinkel heraus zu handeln. Nichtsdestotrotz versichert uns die Bibel, dass weder das menschliche Fehlverhalten noch seine Ichbezogenheit dazu in der Lage sind, die guten und schöpferischen Absichten Gottes außer Kraft zu setzen. Selbst im äußersten Fall findet Gott noch immer einen rechtschaffenen Mann. Es ist Noah und die Geschichte von der großen Flut in Genesis 6 – 9, in der Gott es scheinbar bereut, die Menschheit überhaupt geschaffen zu haben. Durch diese eine Person und deren Familie kann alles einen neuen Anfang nehmen.

Gott ist quasi dazu in der Lage, den menschlichen Fehler in Gutes zu wandeln. Der Versuch, in Babel einen Turm zu bauen, der bis in den Himmel reicht (Gen 11), führt zur Verschiedenheit der Sprachen, durch die die Menschheit getrennt und zerstreut wird. Gleichzeitig und glücklicherweise folgt aus diesem vermeintlichen Fehler aber auch, dass die Erde bevölkert und ein Weg hin zu einer Einheit bereitet wird, die sich nicht in der Gleichförmigkeit ausdrückt, sondern in der Versöhnung der Unterschiede, die in einer umfassenden Einheit bewahrt bleiben.

Im 12. Kapitel des Buches Genesis findet sich der Übergang von der Vorgeschichte zur Geschichte an sich. Im dort beginnenden Bericht von Abraham erscheint das Thema der Hoffnung bereits als Leitmotiv der biblischen Erzählung. Es wird durch ein anderes, ihm verwandtes Motiv ausgedrückt, dem Motiv der Verheißung. Der unbekannte Gott, der eines Tages in das Leben des Patriarchen eintritt, kommt nicht, um ihn zu warnen oder zu verdammen, sondern mit der Verheißung eines Segens, der Verkündigung eines größeren Lebens. Und dieses Versprechen betrifft nicht nur ihn, sondern auch seine Nachkommen und, durch sie, die ganze Menschheit:

Der Herr sprach zu Abraham: Ziehe fort aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde! Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ich will dich segnen und deinen Namen groß machen; du sollst ein Segen sein. Ich werde segnen, die dich segnen, und die dich verwünschen, werde ich verfluchen! Durch dich sollen gesegnet sein alle Generationen der Erde. (Gen 12,1–3)

Die Verheißung von einem größeren Leben wird die treibende Kraft der Geschichte, und dies nicht nur im Buch Genesis, sondern in der gesamten hebräischen Bibel. In den folgenden Büchern wird sie durch politische Befreiungen und die Schenkung eines Landes dargestellt, aber sie erschöpft sich nie in einem bestimmten Handeln des göttlichen Wohlwollens. Stets reicht sie über sich selbst hinaus.

Es ist nicht immer einfach, einen zeitlichen Ablauf der biblischen Geschehnisse herauszuarbeiten, denn die Endfassungen einer Vielzahl der Bücher der Bibel haben im Laufe der Jahrhunderte eine lange und vielschichtige Entwicklung durchlaufen. Dennoch kann man annehmen, dass die ersten Äußerungen von einer Hoffnung in Verbindung zu einem besonderen Umstand standen: dem Sieg in einem Kampf, dem Ende einer gelungenen Reise, der Rückkehr aus einer Gefangenschaft. Gleichzeitig werden diese bestimmten Ereignisse in den Büchern der großen Propheten Israels jedoch als Zeichen von etwas Größerem und Bedeutsameren verstanden.

Auf den ersten Blick mag zum Beispiel der Ausdruck vom »Tag des Herrn« eine Art gewesen sein, die Aufmerksamkeit auf ein besonderes Eingreifen Gottes zu lenken, durch das er ein vom Feind belagertes Volk rettete. In Jesaja 9,3 verweist der »Tag von Midian« auf die Geschichte im Buch der Richter 6 –7, in der von Gideon berichtet wird, der mit einer Handvoll Männer und mit Gottes Beistand eine viel stärkere Militärmacht überwältigt. Schrittweise nimmt der Ausdruck »Tag des Herrn« jedoch eine weitaus umfassendere Bedeutung an, indem er für das Ende aller Unterdrückung und menschlichen Überheblichkeit steht, die vom Feuer der Leidenschaft Gottes vernichtet werden. In den prophetischen Büchern bedeutet der »Tag des Herrn« daher die absolute Vernichtung des Bösen, einschließlich des Bösen im Volk Israel selbst. Das erklärt auch, warum der Vorsatz einer Errettung zuweilen aus dem Blick schwindet und es eher so scheint, als sei sie zu fürchten (siehe Am 5,18 –20; Jes 13,6ff.; Zef 1,14ff.).

Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass dieser zerstörerische Moment einzig das nötige Vorspiel für den Beginn eines neuen Zeitabschnitts ist, in dem sich Gottes Verheißung an seine Getreuen endlich erfüllen wird:

An jenem Tag wird es geschehen: Der Herr wird die Hand zum zweiten Mal erheben, (…) um die Versprengten Israels wieder zu sammeln, um die Zerstreuten Judas zusammenzuführen. (…) An jenem Tag wirst du sagen: Ich preise dich, Herr. (…) An jenem Tag brauchst du dich nicht mehr zu schämen. (…) An jenem Tag wird man zu Jerusalem sagen: Fürchte dich nicht, Zion! Lass die Hände nicht sinken! Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein Held, der Rettung bringt. Er jubelt über dich voller Freude, er erneuert seine Liebe zu dir. (Jes 11,11f.; 12,1; Zef 3,11.16f.)

Was aus dem Blickwinkel derer, die einzig auf die Bewahrung ihrer trügerischen Vorteile und Sicherheiten bedacht sind, nichts als Vernichtung und Angst hervorruft, ist in Wahrheit ein Neubeginn, der Eintritt in eine erneuerte Welt.

Das Ende des Zeitalters

In den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung schafft die Hoffnung Israels bei den Menschen ein neues und umfassendes Verständnis der Weltgeschichte. Etwa sechshundert Jahre bevor Jesus von Nazareth geboren wurde, überfiel die babylonische Armee das winzige Königreich Juda, zerstörte den Tempel von Jerusalem und deportierte die führenden Männer des Volkes. Diese Katastrophe brachte für das Volk Israel dennoch unerwartete positive Auswirkungen: In Babylon, dem Land der Verschleppung und des Exils, hatten die Priester und Schriftgelehrten die Zeit und die Muse, ihre alten Traditionen zu sammeln und in einen zusammenhängenden Bericht zu fassen. So entstand das Herzstück der hebräischen Bibel, wie wir sie heute kennen. Ungefähr fünfzig Jahre später änderte sich die politische Lage in der Region erneut, und die Juden erhielten die Erlaubnis, in ihre Heimat zurückzukehren. Diese Heimkehr entsprach jedoch nicht den Erwartungen. Noch immer waren sie ein Volk in Gefangenschaft, noch immer wurden sie von einem feindlichen Reich beherrscht. Es hatte lediglich ein Wechsel der Machthaber stattgefunden.

In diesen Jahren war die Hoffnung Israels weniger mit besonderen Ereignissen verknüpft als vielmehr mit einer tiefgreifenden Veränderung der Umstände, unter denen das Volk leben musste. Israel erwartete die Schaffung einer neuen Weltordnung. Natürlicherweise wurde diese Hoffnung nicht von allen auf die gleiche Weise verstanden und zum Ausdruck gebracht. Es wäre falsch, sich an dieser Stelle eine Sammlung von dogmatischen Wahrheiten vorzustellen, die von allen in jeder Einzelheit akzeptiert wurde. Aber die grundsätzliche Aussage jener Erwartung, die auf einer Rückschau haltenden Lektüre der alten prophetischen Bücher und der Geschichte basierte und die durch die unglücklichen Ereignisse der Gegenwart aufgeladen war, formte dennoch ein einheitliches Ganzes. Die Hoffnung lautete in etwa folgendermaßen:

Gott wird einmal mehr in die Geschichte eingreifen und Partei für uns ergreifen. Gott wird alle unsere Feinde vernichten und es uns erlauben, als sein Volk in Frieden und Wohlstand zu leben. Er wird die zerstreuten Stämme wieder zu einem Volk vereinen. Diese Nation wird von ganzem Herzen zu Gott umkehren und den Bund halten, indem sie das Gesetz Gottes befolgt. Wenn die anderen Völker der Erde sehen, was Gott für sein Volk tut, werden auch sie nach Jerusalem kommen, um von Gott zu lernen und auf seinen Wegen zu gehen. Das wird der Beginn eines Zeitalters des Friedens sein, nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt. Keiner der Glaubenden wird von dieser Erfüllung ausgeschlossen sein; sogar die Toten werden daran Anteil haben. Und auch der übrige Teil der Schöpfung wird mit hineingenommen: »Dann wohnt der Wolf beim Lamm. (…) Alle Bäume des Waldes [ jubeln]« (Jes 11,6; Ps 96,12).

In einigen Schriften der vorchristlichen Zeitrechnung wird eine ganze Theologie in bildhafter Form ausgedrückt. Die meisten schafften es nicht bis in den sogenannten Kanon der Bibel, in die Liste der Bücher, die in unserer Bibel gesammelt sind. Eines der wenigen Bücher dieser Art, das in die Sammlung aufgenommen wurde, ist das Buch Daniel. Im siebten Kapitel dieses Werkes berichtet der Prophet von einer Vision, in der er vier Ungeheuer sieht, die aus dem Meer steigen. Am Ende folgt ihnen ein Wesen von menschlicher Gestalt, ein »Menschensohn«, der vom Himmel herabsteigt und dem »Macht, Herrlichkeit und Königsherrschaft« über alle Völker gegeben werden (Dan 7,14). Die Deutung dieser Vision besagt, dass es sich bei den vier Ungeheuern um vier »Könige« oder Großreiche handelt, die aufeinander folgen und die Nationen beherrschen, bis sie am Ende von den »Heiligen des Höchsten« abgelöst werden, dem geheiligten Israel. Dieses Buch wurde in einer Zeit geschrieben, in der das Volk der Bibel in Drangsal und Verzweiflung lebte, und kann demzufolge als Versuch angesehen werden, die Hoffnung der verfolgten Nation neu zu wecken und zu stützen. Letztendlich will es zum Ausdruck bringen, dass die gegenwärtigen Schwierigkeiten kein Versehen oder Fehler Gottes, sondern Teil der Entwicklung sind, die zur endgültigen Fülle der göttlichen Verheißungen führt.

Drei der am Anfang dieses Kapitels genannten Ausdrücke finden im Bild, das Israels Hoffnung beschreibt, leicht ihren Platz. Befassen wir uns zunächst mit dem Reich Gottes. Für die Menschen der Bibel ist Gott der Herrscher des Universums. Das Problem besteht darin, dass die Menschen das Gesetz Gottes nicht anerkennen, sondern es vorziehen, ihrer Willkür zu folgen und an den unglücklichen Folgen ihres Eigensinns zu leiden. Die Getreuen ihrerseits sehnen sich nach einer Zeit, in der Gott von allen als König anerkannt wird, so dass alle Völker »auf seinen Pfaden (…) gehen« (Jes 2,3) und zur wahren Freude finden. Wenn dies geschieht, wird die Welt tatsächlich zum »Reich Gottes«, einem Reich, in dem Gerechtigkeit und Frieden herrschen. Diese Erwartung wird besonders deutlich im zweiten Teil des Buches Jesaja formuliert:

Willkommen sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der den Frieden verkündet, der frohe Kunde bringt, der Heil ansagt und zu Zion spricht: Dein Gott ist König. (Jes 52,7)

Obwohl viele Menschen die hoffnungsvolle Sehnsucht nach einer Zeit teilten, in der Gott seine Absicht von einer Welt des Schalom – des Friedens, der Erfüllung und des Wohlstands – zur Vollendung bringen würde, gab es doch keine Einigkeit darüber, wie dies genau geschehen sollte. Würde Gott allein handeln, oder würde er Menschen in den Dienst nehmen, um sein Ziel zu erreichen? In gewissen Kreisen, die noch immer von der Erinnerung an die großen Könige der Vergangenheit geprägt waren und an den prophetischen Hoffnungen auf eine Erneuerung festhielten, existierte die Erwartung, dass ein neuer David, ein fähiger und siegreicher König kommen würde, um den großen Tag der Rechtfertigung einzuleiten. Die Feinde Israels würden vernichtet, und die Nation könnte in Ausrichtung auf das Gesetz Gottes neu aufgebaut und zum Anziehungspunkt für die ganze Menschheit werden. Die Gestalt des Königs wurde als »der, der kommen soll« (vgl. Lk 7,19) und insbesondere als der Mashiach, der Messias oder der Gesalbte Gottes, bezeichnet. Mehrere Absätze in den prophetischen Schriften stützen diese Erwartung. Besonders Jesaja spricht von einem kommenden König, der, nachdem er die Mächte des Bösen überwunden hat, den Frieden und die Gerechtigkeit wiederherstellt (9,5f.). Von Gottes Geist erfüllt, leitet er ein Zeitalter der weltweiten Versöhnung ein (11,1– 9). In einem anderen Abschnitt wird dieser Mensch, der aus dem Geburtsort Davids, der kleinen Stadt Bethlehem (Mi 5,2–5) stammen sollte, seltsamerweise als demütige Person beschrieben, die alle Waffen des Krieges zerstören und ein allumfassendes Reich des Friedens ausrufen wird (Sach 9,9f.). Die bedeutsamen biblischen Passagen tragen eine Vieldeutigkeit in sich und widersprechen sich zum Teil sogar. Es kommt auch vor, dass eine andere Persönlichkeit (ein großer Prophet wie Elija oder Mose, ein Vorbild der Rechtschaffenheit …) von der Allgemeinheit als »der, der kommen soll« bezeichnet wird. Dennoch ist es unbestritten, dass ein bedeutsamer Strang im Hoffnungsnetz der Israeliten an die Erwartung des »Menschensohnes« geknüpft war, an die Erwartung eines Menschen, der als Instrument Gottes die lang ersehnte Erfüllung bringen würde.

In den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung wurden die verschiedenen Aspekte der Hoffnung in zwei aufeinanderfolgende geschichtliche Zeitabschnitte zusammengefasst. Die Gläubigen lebten in »dieser Zeit«, der Gegenwart, in der Gottes Pläne noch immer von den Mächten des Bösen durchkreuzt wurden und das Volk Gottes in politischer und spiritueller Gefangenschaft dahinsiechte. Sie sehnten sich nach der »kommenden Zeit«, in der dieser unglückliche Zustand aufgehoben und durch eine Zeit der Gerechtigkeit, des Friedens und der Versöhnung ersetzt würde. In diesem Zusammenhang wird zum ersten Mal der Gedanke von einer Auferstehung der Toten thematisiert. Zu der Zeit, als Israel vom hellenistischen Großreich erobert wurde, starben manche Juden den Märtyrertod, um ihrem Glauben an das ihnen offenbarte Wort Gottes und der Tradition ihrer Vorfahren treu zu bleiben. Den Gläubigen schien es undenkbar, dass diese Menschen, die ihr Leben für Gott gegeben hatten, im Reich des Todes bleiben und so vom Lohn der kommenden Welt ausgeschlossen sein würden. So breitete sich in Israel die Überzeugung aus, dass am Ende der Zeit die Gerechten aus dem Staub auferstehen und am neuen Zeitalter Anteil haben würden: »(…) der König der Welt wird uns zu einem neuen, ewigen Leben auferwecken, weil wir für seine Gesetze gestorben sind« (2 Makk 7,9).1 Im Buch Daniel betrifft die Auferstehung von den Toten nicht nur die Gerechten, sondern alle Menschen. Allerdings unterscheiden sich die Auswirkungen der Auferstehung je nach der Art des zuvor geführten Lebens:

Viele von denen, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zu ewigem Leben [oder: Leben in der kommenden Zeit], die anderen zur Schmach, zu ewiger Schande [oder: Abscheu in der kommenden Zeit]. Da werden die Einsichtigen leuchten wie der Glanz des Himmels, und jene, die viele zur Gerechtigkeit geführt haben, wie die Sterne in alle Ewigkeit. (Dan 12,2f.)

Auch wenn es eine große Vielzahl von Einzelheiten, verschiedenen Bildern und Kategorien gab, die nicht immer leicht auf einen Nenner zu bringen waren, ist es nicht zu leugnen, dass die Religion Israels vor unserer Zeitrechnung von einer hoffnungsvollen Erwartung geprägt war und dass sich diese in Zeiten politischer und sozialer Widerstände verstärkte. Zuweilen konnte diese Hoffnung sogar peinigend sein, so z. B. in dem langen Gebet im neunten Kapitel des Buches Daniel. Zusammenfassend sagt der Prophet dort: »Ja, Herr, wir haben Schlechtes getan, und wir sind nicht würdig, dass du uns hilfst. Aber komm und hilf uns – nicht, weil wir es verdienen, sondern allein aufgrund deines Erbarmens.« Diese Sehnsucht nach einem neuen und endgültigen Eingreifen Gottes, das endlich alles Falsche der Geschichte zum Guten wendet, bestimmt die Atmosphäre, in der Jesus und seine ersten Jünger gelebt und gehandelt haben.

Die Zeit ist erfüllt!

Kehren wir nun zur Ausgangsfrage des Kapitels zurück: Was bedeutet es, ein Christ zu sein? Wenn wir die Frage vor dem Hintergrund ihrer historischen Einwurzelung im Leben und in der Religion des Volkes Israel betrachten, ist die Antwort eindeutig. Ein Jünger Jesu zu sein, bedeutete für seine jüdischen Zeitgenossen, in der Gewissheit zu leben, dass Gott seine Treue und Gerechtigkeit bezeugt, indem er sein Versprechen an das Volk Israel jetzt erfüllt (vgl. 2 Kor 1,20). Jesus ist der verheißene Messias, der Christus. Es gibt keinen anderen (Apg 2,36; 4,12). Er hat das Reich Gottes auf dieser Erde begründet (Mt 12,28; Lk 17,21). Aus dem Grabe auferstanden, ist er »der Erstgeborene der Toten« (Kol 1,18; vgl. Röm 8,29). Seine Auferstehung bezeugt unanfechtbar, dass »diese Zeit« und »diese Welt« im Begriff sind, zu vergehen; sie haben ihr Ende erreicht (1 Kor 10,11; Hebr 6,5; 1 Petr 1,20; 1 Joh 2,8).

Wenn wir jedoch diese Ansprüche mit den tatsächlichen Gegebenheiten unserer Welt vergleichen und die Situation unseres Planeten vor und nach dem Leben und Tod Jesu Christi betrachten, können wir ein gewisses Unbehagen nicht einfach vom Tisch fegen. Tatsächlich hat kein großer kosmischer oder historischer Umbruch stattgefunden. Die menschlichen Gesellschaften scheinen auf ihre eigene, vergnügliche Weise weiterzuleben, und dies mit allen dazugehörigen Begleiterscheinungen – Krieg, Gewalt, Armut, Ungleichheit, Habgier und Grausamkeit. Ein paar Heilungen und Austreibungen von bösen Geistern, einige erstaunliche, aber kurzlebige Wunder, kleine Gruppen überzeugter Anhänger in den Städten des Mittelmeerraumes, die behaupten, dass ein verurteilter Verbrecher noch immer lebendig und unter ihnen gegenwärtig sei, wenn auch auf andere Weise als zuvor … Die Bilanz war nicht so eindeutig, dass ein objektiver Beobachter zwangsläufig überzeugt worden wäre.

Es ist wahr, dass sich die Botschaft Jesu dank der Begeisterung der Glaubenden, deren Leben durch das Christus-Ereignis auf den Kopf gestellt worden war, rasch ausbreitete. Für einige war dies bereits Beweis genug für ihren göttlichen Ursprung. So auch für Origenes, einen wichtigen christlichen Gelehrten, der zu Beginn des 3. Jahrhunderts schrieb:

Unser Jesus, dem es zum Vorwurf gemacht wird, dass er aus einem Dorfe stammt, das zudem auch nicht in Griechenland gelegen ist, und auch nicht einem Volke angehört, das bei der großen Menge in Ansehen steht, und der geschmäht wird, weil er »der Sohn einer armen Handarbeiterin« war und »wegen Armut« sein Vaterland verließ und »in Ägypten um Lohn diente«, (…) er hat es vermocht, die ganze von Menschen bewohnte Erde im höheren Grade in Bewegung zu setzen, nicht bloß als der Athener Themistokles, sondern auch als Pythagoras und Plato und einige andere Weisen oder Könige oder Feldherren irgendwelchen Landes der Erde.2

Aber selbst wenn das Christentum im Laufe von drei Jahrhunderten von einer verfolgten Sekte zur offiziellen Religion des Römischen Reiches wurde, steht außer Frage, dass diese Entwicklung nicht zur Begründung des Reiches Gottes auf dieser Erde geführt hat. Im Gegenteil! Man könnte sogar argumentieren, dass die Lehre vom Friedensfürst in vielen Fällen dazu gedient hat, den »Alltagsbetrieb« aufrechtzuerhalten, und dass sich die menschliche Gesellschaft auch nach der Einführung des Christentums nicht relevant von dem, was sie vorher war, unterscheidet. Unser Problem wird an dieser Stelle auf den Punkt gebracht: Wie kann die Kluft gedeutet werden, die sich auftut, wenn wir auf der einen Seite die Bedeutung des Lebens und der Lehre Jesu sehen, die seine Jünger vor dem Hintergrund der heiligen Überlieferungen Israels auslegen, und auf der anderen Seite die tatsächliche Situation der Welt im Allgemeinen und der Menschen im Besonderen? Wo ist die langersehnte neue Zeitrechnung? Inwieweit unterscheidet sich das Leben derer, die Jesus Christus als den Messias anerkennen, von dem ihrer nichtgläubigen Zeitgenossen? Und welche Auswirkungen hat das für den Rest der Menschheit? Wurden die Verheißungen tatsächlich erfüllt?

Um der christlichen Sichtweise gerecht zu werden, ist es wichtig zu verstehen, dass sowohl Jesus selbst als auch die ersten christlichen Schriften eine wichtige Veränderung für die von uns bis hierher ausgelegte Geschichte bedeuten. Ganz einfach gesagt: Jesus erfüllt die Hoffnung Israels, aber die Art, wie er sie erfüllt, entspricht nicht den Vorstellungen der Menschen. Auch wenn der Schreiner aus Nazareth in den Augen seiner Jünger wirklich der erwartete Messias ist, so ähnelt dieser Messias doch in keiner Weise dem siegreichen Sohn Davids, wie er von der Allgemeinheit heraufbeschworen wurde. Er unternimmt keinen Kriegszug, um das auserwählte Volk von seinen Feinden zu befreien, sondern verbringt seine Zeit damit, in einer gewissen Zurückgezogenheit zu heilen und zu lehren. Aus menschlicher Sicht ist er ein Versager, dessen Leben als verurteilter Krimineller endet. Auch das Reich Gottes wird nicht durch äußere Zeichen sichtbar (vgl. Lk 17,20). Jesus selbst vergleicht es mit einem Senfkorn, das verborgen bleibt, bis der Keim den Boden durchbricht, oder mit einem Sauerteig, der unmerklich den Teig verändert (Mt 13,31–33). Ein anderes Gleichnis spricht von einem Sämann: Er »schläft … und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen wächst, und der Mann weiß nicht, wie« (Mk 4,27). Dieses Gleichnis verweist uns auf die Geduld und auf die Zeit, derer es für die Entwicklung und Begründung des Gottesreiches bedarf.

Müssen wir daraus nun folgern, dass die Lösung unseres Problems darin besteht, der biblischen Hoffnung einfach eine nachfolgende Etappe anzufügen? Dies würde bedeuten, dass das Leben, der Tod und die Auferstehung Jesu den Beginn der Endzeit markieren, aber auch, dass eine weitere Zeitperiode vonnöten ist, um sichtbare Ergebnisse zu erlangen. Nach allem, was geschehen war, erlebten die sich nach einer Zukunft sehnenden Israeliten des Altertums eine Beschränkung ihrer Sichtweise; sie schoben verschiedene Zeitabschnitte zu einem einzigen zusammen, so wie der Wanderer eine Bergkette aus der Ferne erblickt: Er sieht nur die hohen Gipfel, nicht aber die tiefen Täler, die vielleicht zwischen ihnen liegen.

Das Kommen des »Reiches Gottes in seiner ganzen Macht« (Mk 9,1) als Ergebnis eines schrittweisen Entwicklungsprozesses zu erklären, der mit dem Tod und der Auferstehung Jesu zusammenhängt, ist besonders der modernen westlichen Welt ein zugänglicher Gedanke. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert setzte sich im europäischen Bewusstsein fast gewaltsam die Meinung von einem unwiderruflichen und unaufhaltsamen Fortschritt durch. Ihren Ursprung nahm diese Vorstellung in England. Sowohl der Naturforscher Charles Darwin als auch die Geisteswissenschaftler John Stuart Mill und Herbert Spencer sowie der Theologe John Henry Newman fanden im Begriff der Evolution ein kraftvolles Argument, um den aktuellen Zustand der Welt zu erklären. Selbst als das übermäßig optimistische Verständnis von Begriffen wie »Fortschritt« und »Entwicklung« durch die barbarischen Schrecken des vermeintlich erleuchteten 20. Jahrhunderts auf eine harte Probe gestellt wurde, dienten diese Ausdrücke als geistige, der Realität Sinn verleihende Grundkategorien. Erst in unserer heutigen Zeit scheint das Gedankengefüge einen schnellen Zerfall zu erleben, besonders und seltsamerweise unter dem Druck eines unerbittlichen technischen Wandels und einer Überfülle an Informationen. Die junge Generation nimmt die Wirklichkeit weniger als fortlaufenden Prozess, sondern vielmehr als eine Folge unverbundener Ereignisse wahr, die auf den verschiedenen Kanälen ihrer »Apps« ablaufen. Die Ordnung des Tages ist die Zerstückelung, ohne dass wir schon um die Auswirkungen dieser auf unsere Gesellschaften wüssten.

Eine »chronologische« Erklärung für eine herausgezögerte Hoffnung, nach der Gott einfach nur ein wenig mehr Zeit bräuchte, um seine Arbeit zu tun, ist daher letztendlich und zweifelsohne unzureichend, um die biblischen Gegebenheiten zu verstehen. Grund dafür ist zuallererst die Tatsache, dass die moderne Vorstellung von der Entwicklung im Gedankengut des Altertums schlicht und ergreifend nicht vorkam. Der große deutsche Bibelwissenschaftler Joachim Jeremias bemerkte dies bereits vor etwa 50 Jahren in seiner wegweisenden Studie über die Gleichnisse Jesu:

In beiden Gleichnissen ist nicht etwa eine Entwicklung geschildert, das wäre abendländisch gedacht. Der Morgenländer denkt anders, er fasst Anfangs- und Endstadium ins Auge, für ihn ist in beiden Fällen das Überraschende: die Aufeinanderfolge zweier grundverschiedener Zustände. (…) Der moderne Mensch geht übers Ackerfeld und blickt nach unten und sieht eine biologische Entwicklung. Die Männer der Bibel gehen über das gleiche Ackerfeld und blicken nach oben und sehen ein Gotteswunder nach dem anderen, lauter Auferweckungen aus dem Tode.3

Wo wir ein zu erwartendes und gleichmäßiges Wachstum sehen, nimmt der Mensch der Antike Gegensatz und Geheimnis wahr. Gleichzeitig bedeutet dies keine grundlegende Ablehnung einer Vorstellung von der Dauer, die für die Gründung der neuen Welt vonnöten ist, von Geduld, Beharrlichkeit und der langsamen Verwandlung des Empfangenen. Wie wir sehen werden, ist die Dauer der Zeit in der Tat eine entscheidende Dimension des Evangeliums, aber sie erklärt nicht aus sich selbst heraus die in der Tiefe ablaufenden Bewegungen. Die Wirklichkeit ist weitaus vielschichtiger und gegensätzlicher, als es uns ein schlichtes Entwicklungsmodell glaubhaft machen will. Um es anders auszudrücken: Die Zeit des Gottesreiches ist nicht einfach nur die Verlängerung unserer gewöhnlichen, menschlichen Zeit oder ihre Ausdehnung bis zum Erreichen des Ziels. Die Zeitrechnung des Gottesreiches ist eine eigene Zeit für sich. Sie kann weder auf die kosmische noch auf die biologische oder psychologische Zeit beschränkt werden und ist für den Menschen in kein leicht verständliches Begriffsmuster zu fassen.

Schon und noch nicht

Die einzigartige Beschaffenheit der Zeitrechnung des Himmelreichs bedeutet, dass jede Aussage über diesen Begriff den Beigeschmack eines Gegensatzes in sich trägt. Die das Ende der Zeit betreffenden Aussagen im Neuen Testament wurden oftmals untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass sie sich in zwei klare Gruppen einteilen lassen. Auf der einen Seite steht eine ganze Reihe von Texten, die sich direkt auf die Hoffnung Israels beziehen und zweifelsfrei darlegen, dass diese Hoffnung durch das Kommen des Messias Jesus – genauer gesagt, durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung von den Toten – erfüllt worden ist. Auf der anderen Seite findet sich eine gleichberechtigt aussagekräftige Sammlung von Versen, denen zufolge die Erfüllung noch aussteht. Dort erscheint sie als das Ziel eines glühenden und freudigen Wartens der Glaubenden auf Jesus als den Messias. Diese Zweiteilung, die sich in dem Ausdruck »schon hier und jetzt, und doch noch nicht« zusammenfassen lässt, hat im vergangenen Jahrhundert sowohl die Neugier als auch den Erfindergeist der Forscher bewegt. Es wurden unzählige Versuche unternommen, um das Problem zu lösen. Der einfachste, aber auch am wenigsten überzeugendste Ansatz besteht darin, sich schlicht und ergreifend nur um eine der beiden Themengruppen zu kümmern. Bezieht man sich auf den zuvor aufgezeigten Ansatz einer »Entwicklung«, wird der Gedanke des »schon hier« verharmlost. Folglich wird es schwierig zu erkennen, welche grundlegende Veränderung das Leben und der Tod Jesu ausgelöst haben. Ist das Evangelium nur eine Erweiterung der jüdischen Lebensart, durch die die Heiden in eine noch zu erwartende Verheißung mit einbezogen werden sollen? Wenn dem so ist, wird dadurch die Neuheit der Botschaft Jesu auf gefährliche Weise abgeschwächt. Es steht außer Zweifel, dass einige der ersten Christen versucht haben, ihrer Identität auf diese Weise Sinn zu verleihen. Gleichzeitig wurde der Ansatz jedoch bekämpft, besonders von Paulus. Seine Sichtweise und seine Theologie, die besonders deutlich im Brief an die Galater zum Ausdruck kommen (vgl. z. B. Gal 3,8 –14; 5,1– 6), wurden für das gesamte Christentum zum Maßstab.

Im Gegensatz dazu stellen einige Forscher unter Bezugnahme auf das Johannesevangelium das »schon hier« in den Vordergrund, schenken dabei allerdings dem »noch nicht« zu wenig Bedeutung. Diese sogenannte »präsentische Eschatologie« hat verschiedene Ausprägungen. In ihrer extremsten Form deutet sie die Bilder von einer endgültigen Erfüllung nur als mythische Redeweise, die den Andrang der Gläubigen fördern soll. Sie besagt, dass alles Wesentliche im Zusammenhang mit der Entscheidung für oder gegen Jesus im Hier und Jetzt geschieht. Im Hinblick auf ein Leben im Jenseits entspricht eine solche Einstellung dem angewandten Agnostizismus, der in unserer Zeit selbst unter überzeugten Christen anzutreffen ist. Warum sollen wir in einer Gesellschaft, die von einer wissenschaftlichen Weltanschauung geprägt und durchdrungen ist, unsere Zeit mit der Sorge um etwas verschwenden, das niemals eindeutig bewiesen werden kann? Wir wollen uns auf das Hier und Jetzt konzentrieren, auf das, was wir tun können und sollen. Solche Gläubigen halten selten inne, um die tiefgreifenden Folgen dieser Verminderung ihres Glaubens zu überdenken. Paulus hat seinerseits auch dies bereits auf den Punkt gebracht: »Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher dran als alle anderen Menschen« (1 Kor 15,9).

Eine dritte Gruppe schließlich lässt den Gegensatz von einem »schon hier und jetzt« und einem »noch nicht« im Raum stehen und kümmert sich nicht allzu sehr um einen möglichen Widerspruch. Tatsächlich entspricht diese Haltung am besten der Logik des Glaubens. Im Umgang mit der göttlichen Wirklichkeit, die von ihrem Ursprung her alles menschliche Verstehen übersteigt, ist es einleuchtend, dass unser Verstand das Zusammenspiel aller beteiligten Elemente nie vollständig begreifen kann. Die sich scheinbar widersprechenden Aussagen stehen zu lassen, ist eine Möglichkeit, das Geheimnis4

des Übernatürlichen zu wahren. Durch den Verzicht auf eine voreilige Systematisierung wird das menschliche Denkvermögen für die Welt Gottes offengehalten. Die christliche Kirche hat sich in ihren dogmatischen Formulierungen stets in diese Richtung bewegt. Wir brauchen nur an die namhafte Definition zu denken, die im Jahr 451 während des Konzils von Chalcedon herausgearbeitet wurde. Sie erklärt die Person Christi als »wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch derselbe (…), unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt«. Auch hier zeigt sich die scheinbare Unmöglichkeit als der beste Zugang zum Geheimnis. Ziel der Definition eines Dogmas ist es nicht, eine eindeutige Erklärung zu liefern, sondern vielmehr unzureichende Erklärungen auszuklammern, die Gott auf die Grenzen unseres menschlichen Verstandes beschränken. So hält das Dogma das Feld für weiterführende Untersuchungen offen.

So wichtig es also ist, die offensichtlich gegensätzlichen Aussagen in Treue zu den biblischen Überlieferungen aufrechtzuerhalten, um zu einem tieferen Verständnis der Glaubensgeheimnisse vorzustoßen, so wichtig ist es auch, sich nicht mit der Nebeneinanderstellung von Gegensätzen zu begnügen. Dies würde den Glauben auf Unverständlichkeit reduzieren und ihn letztlich für absurd erklären. Eine gesunde Einstellung nutzt den augenscheinlichen Gegensatz als Ausgangspunkt, um tiefer zu gehen. Sie sieht in der scheinbaren Ausweglosigkeit einen Ansporn, um über sich selbst hinauszuwachsen und sich so dem unergründlichen Geheimnis Gottes anzunähern.

In diesem Buch versuche ich, die eben beschriebene Methode auf den Begriff der christlichen Eschatologie, oder einfacher gesagt, auf das christliche Leben selbst anzuwenden. Wo liegen die Berührungspunkte zwischen dem »schon hier und jetzt«, das die biblische Hoffnung im Kommen Jesu Christi erkennt, und dem »noch nicht« einer scheinbar noch unerfüllten Sehnsucht? Können wir auf diese Frage eine Antwort finden, die nicht nur ein schlichter menschlicher Kompromiss ist und in der Anteile beider Seiten teils angenommen und teils verworfen werden, um ein Tertium Quid, eine dritte Aussage zu treffen? Wagen wir uns unter die Oberfläche vor, um in Gott die Dimension zu finden, in der die Wahrheit beider Begriffe unberührt ist und geschützt wird wie eine Facette einer viel größeren Wirklichkeit?

Um auf diese Weise vorzugehen und eine Wechselbeziehung beider Seiten herauszustellen, ist es wichtig, ihren gemeinsamen Berührungspunkt zu finden. In einem früheren Artikel über das Kreuz Christi5

habe ich bereits versucht, auf diesen Punkt einzugehen: Im Bekenntnis, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, ist die Stellung des Bindewortes »und« von entscheidender Bedeutung. Auch wenn sich diese Verbindung innerhalb einer Zeit umsetzt und demnach eine Geschichte hat, ist sie von ihrem Grundwesen her nicht chronologisch zu verstehen. Die klarste Aussage hierfür sind die Male der Nägel am Körper des Auferstandenen (siehe Joh 20,27). Die Auferstehung löscht die Bedeutung des Kreuzes nicht aus, sondern zeigt uns dessen volle Bedeutung. Umgekehrt wird für die, die mit den Augen des Glaubens schauen (vgl. Mk 15,39), die Wirklichkeit des »ewigen Lebens« bereits im Tod Jesu offenkundig. Für den Evangelisten Johannes ist dieser Tod eine Verherrlichung (siehe Joh 12,23f.; 13,31f.; 17,1); Jesus wird in der Tat »erhöht« (siehe Joh 3,14; 8,28; 12,32).

Wenn wir die Berichte von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu lesen, finden wir den Ort, an dem die beiden Dimensionen zusammenkommen und sich sogar überschneiden. Zwischen Prozess, Folter und Tod Jesu am Karfreitag und der Entdeckung des leeren Grabes sowie dem Erscheinen des auferstandenen Herrn am »ersten Tag der Woche« liegt ein weiterer Tag. Traditionell ist er uns als Karsamstag bekannt. Dieser Tag wird in den Evangelien kaum erwähnt. Im Lukasevangelium, das vor allem für Nicht-Juden geschrieben ist, findet sich mit einem einzigen Satz die noch ausführlichste Referenz: »Am Sabbat aber hielten [die Frauen] die vom Gesetz vorgeschriebene Ruhe ein« (Lk 23,56b). Man könnte nun meinen, dass nicht viel über einen Tag gesagt werden kann, an dem offensichtlich nichts geschieht und die Geschichte eine Pause einzulegen scheint. Befinden wir uns noch in der Zeit der Erwartung, oder haben wir die Schwelle zu einer neuen Zeitrechnung bereits überschritten? Die offensichtliche Unbestimmtheit und Verborgenheit dieser »Unterbrechung« lässt uns ahnen, dass sich hier mehr verbirgt, als wir mit dem bloßen Auge zu erkennen vermögen. Ausgehend von dem uns in der Schrift vorliegenden Stückwerk wollen wir daher den Versuch wagen, die Bedeutung dieses Tages aus verschiedenen Blickwinkeln heraus zu untersuchen. Wir stützen uns dabei auf die Annahme, dass der Karsamstag die Grundstruktur des christlichen Lebens zusammenfasst, indem er eine erfüllte Hoffnung in die Welt bringt, die zugleich doch auch Hoffnung bleibt.

II Biblische Überlegungen zum Karsamstag

2 Eine allumfassende Solidarität

Um den Karsamstag als einen Mikrokosmos des christlichen Lebens zu verstehen, müssen wir uns ihm aus verschiedenen Richtungen annähern. Für die Untersuchung der Zeit, die auf den Kreuzestod Jesu folgte, ist es zunächst wichtig, zwischen dem Blick Jesu von innen und dem Blick derer zu unterscheiden, die von außen auf diese Zeit schauen.

Wir beginnen damit, die Situation aus der Perspektive Jesu zu betrachten. Ein Grundgedanke des christlichen Kerygmas6 ist die Aussage, dass Jesus »am dritten Tag« oder »nach drei Tagen« von den Toten auferstand. Die Ausdrücke finden sich sowohl in den Evangelien (Mt 16,21; 27,63f.; Mk 10,34; Lk 13,32; 24,7; vgl. Joh 2,19) als auch in der Apostelgeschichte (Apg 10,40) und in den Paulusbriefen (1 Kor 15,4). Dies deutet auf ihre tiefe Verwurzlung in der frühchristlichen Überlieferung hin. Auch wenn besondere biblische Textstellen wie zum Beispiel Exodus 19,11.16 und besonders Hoseja 6,2 einen Beitrag zur Übernahme und Beibehaltung der Worte geleistet haben, ist ihre wichtigste Aussage, dass zwischen dem Tod und der Auferstehung Jesu eine entscheidende Zeitspanne lag. In der Bibel weist eine Frist von drei Tagen auf eine Zeitdauer hin, die ausreicht, um Gewissheit zu schaffen.7

Der Begriff unterstreicht, um es anders auszudrücken, zuallererst die Tatsache, dass Jesus wirklich tot war (vgl. Joh 11,39; vier Tage). Diese Feststellung ist von besonderer Wichtigkeit. Einerseits war es in der Antike schwer, den genauen Todeszeitpunkt eines Menschen festzustellen, andererseits kursierte damals eine Vielzahl von Geschichten über Personen, die scheinbar gestorben waren und dann ganz überraschend wieder zum Leben erwacht waren. Der Glaube an die Auferstehung unterscheidet sich hier klar von dem, was wir heute »Nahtoderfahrung« nennen. In anderen Zeiten und an anderen Orten wurde eine solche Erfahrung als eine Zeitspanne angesehen, in der die Seele direkt nach dem Tod nahe am Körper blieb und unter bestimmten Umständen in diesen zurückkehren konnte. Im Gegensatz dazu wird die Auferstehung Jesu »am dritten Tag« als ein Ende und ein wahrhafter Neubeginn dargestellt, als ein Geschehen, das durch keines der uns in dieser Welt zur Verfügung stehenden Erklärungsmodelle greifbar gemacht werden kann.

Das Totenreich

Um in unseren Überlegungen einen Schritt weiterzugehen, wollen wir nun genauer untersuchen, wie das jüdische Volk zur Zeit Jesu den Tod und das Schicksal der Verstorbenen verstand. In Israel, wie in fast allen Gesellschaften der Antike, bedeutete der Tod ausdrücklich nicht das absolute Verschwinden eines Menschen. Nach dem Tod wurde der Leichnam in ein Grab gelegt und damit dem Element Erde, aus dem er gekommen war, zurückgegeben (»Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück«; Gen 3,19). Genauso kehrte der den Menschen belebende Geist oder Lebensatem zu Gott zurück (Ps 104,29; 146,4). Was blieb, war ein Schatten, der körperlose Rest einer Person, der sich mit den anderen Toten unter der Erde verband, um ein Schattendasein der Passivität und Kraftlosigkeit zu führen. In späteren Überlegungen nahm dieser »Rest« des Menschen eine klarere Form an. Die Philosophen nannten ihn Seele, der Volksmund sprach von Geistern oder Gespenstern. Platon und seine Anhänger erkannten in der Seele schließlich den echteren, göttlichen Teil des Menschen. Ihrer Argumentation folgend, stellte der Tod eine Befreiung von den Zwängen der Materie dar. Im Gegensatz hierzu wurde der körperlosen Seele im Volk Israel nie eine besondere Eigenständigkeit zugesprochen. Der Tod stellte immer einen Verlust dar. Bestenfalls wurde die Seele als Ort einer möglichen Auferstehung gesehen, mehr jedoch galt sie als das Überbleibsel einer Person.